es ist nicht die frage was als nächstes kommt.
ein kulgelschreiber malt zähe linien auf ein blatt papier. darunter erstirbt ein trockenes gekritzel. innen hallt es lateinisch wieder. draußen steht das telephon, wie eine verschwörung sämtlicher ungenutzter möglichkeiten, ein schlechtes gewissen, eine allegorische statue.
allegorien mag ich nicht. allegorien sind aufdringlich, besserwisserisch, sie schreiben immer ein bißchen vor, wie man zu denken habe. allegorien sind ein-zu-eins. wenn man den anfang hat, hat man alles, die fäden sind endlich, ich aber liebe das offene und ausfransende, ausufernde, auswegende, liebe das stets deutbar bleibende, das schillernde eins-zu-vielen. auch alles, was sich entzieht. wer berührt Hajime am ende an der schulter? welche von beiden, das zimmermädchen oder die transsexuelle, ist noch am leben? gibt es noch ein gespräch mit Midori? für viele sind das unerträglich offene fragen (sie sind nicht beantwortbar, da sie nach und also außerhalb der geschichte liegen), für mich nicht. ich mag es, aber nicht deshalb, weil es zum weiterspinnen auffordert, nicht deshalb, weil es noch etwas zu tun gibt, nicht deshalb, weil man sich eine antwort für die fragen ausdenken kann, nein: einfach, weil die letzte antwort stumm bleibt. nie hab ich es leiden können, wenn in einem schulbuch die aufgabe gestellt wurde: wie könnte die geschichte weitergehen? sie geht nicht weiter, sie ist zuende erzählt. punkt. was jetzt noch bleibt, ist nur im leser, nicht in einem ohnehin nur hypothetischen weiter. die geschichte und also das, was erzählt werden soll, sind hier und genau hier zuende. der rest ist die stille des danach.
eine stille, die alles, was man zuvor gelesen hat, empfängt und aufnimmt und in kreuzweisen bögen widerspiegelt.
spiegel sind besonders schön in der literatur. ich mag spiegel, in wirklichkeit wie in büchern. man kann alles mit ihnen machen. sie sind überall, pupillen, wassertropfen, autolack, schaufensterscheiben, überhaupt fenster, wasserflächen, klar, weingläser mit und ohne wein, erloschene monitore, uhrgläser, löffel, ein aufgeschlagenes ei, früher einmal telephonhörer, öl, chromgegenstände aller art. die spiegelung kann exakt sein oder das gespiegelte geheimnisvoll verändern, etwas subtrahieren oder hinzufügen, verzerren, verbiegen, verfärben. verunklaren, mit geheimnissen umwittern, oder bloßstellen, hervorheben, betonen. etwas aussehen-lassen-wie. aussehen-lassen-als-ob. spiegel sind manchmal masken.
masken gibt es bei mir nicht im zimmer. jetzt spüre ich ihr fehlen. ich brauche eine maske. nicht für mein eigenes gesicht oder ein fremdes, nein: ich brauche eine maske mit nichts darunter, damit ich mir ein gesicht dahinterdenken kann. jedes nur mögliche gesicht, und wie es wirkt, unsichtbar hinter der maske.
und wie sich die maske selbst verändert durch das gesicht, das sie verbirgt. oder mehrere gesichter, die sich hinter der maske drängen, herauswollen, gegeneinander und gegen die maske streiten, von der maske in schach gehalten werden: ein schweigender lärm, an meiner zimmerwand.
aber das bringt mich nicht weiter. der kugelschreiber ist zerbrochen, das telephon hat zweimal geklingelt, die versammlung ist flüsternd auseinandergestoben. jetzt kommen sie alle zurück zu mir. in den flur mit den kisten von aussortiertem. ich will loswerden, wegwerfen, verschenken. zurückgeben, endlich, den geruchlos gewordenen bademantel, der alles, was er von dir einmal angenommen hatte, ausgeatmet hat. ein lebloses hemd. meine alten schulhefte. bücher. in bonn gibt es auf der poppelsdorfer allee, ziemlich weit unten, am bahnhof, einen bücherschrank unter freiem himmel. da kann, wer will, bücher hineinstellen und herausnehmen, wer will. da kommen die bücher hin, die ich loswerden will. neulich habe ich mal wieder eines mitgenommen, ein glücksgriff, „Robinson“, eine erzählung von einer niederländischen schriftstellerin, die hier keiner kennt. jetzt längst vergriffen, zu unrecht.
zeit für einen kaffee. zuletzt losgeworden bin ich fünf bildbände über fabelwesen, hexen, magier, kobolde und entrückte länder, gekauft als teenager, nie richtig hineingesehen, was wollen die noch in meinem regal. dazu noch „Die letzten Abenteuer dieser Erde“, mit einem jugendlich-vollbärtigen Reinhold Messner auf dem umschlag, Jacques-Yves Cousteau aus einem u-boot herausblinzelnd, eine straße, ein berg, ein ozean. weg damit. helden einer versunkenen zeit. es hat etwas tieftrauriges, wie das schwindet. bezüge schwinden. ich habe dann jedesmal das gefühl, selbst nicht mehr aufgehoben zu sein in der welt. andererseits, was war das schon für eine welt, als es noch neun planeten gab und dallidalli und wadenwärmer, die heutzutage, wo sie keiner mehr haben will, sicher immer noch genauso funktional wären wie damals.
sage mir was für bücher du weggibst und ich sage dir wer du bist. ich hasse phrasen, weswegen ich diesen satz ohne kommata (früher sagte man auf griechisch kommata, heute kommas, aber ich kann nicht einsehen, warum ich das mitmachen sollte, ich sage auch mobiltelephon und niemals h–, weil das ein unwort ist, ein wort, das aussehen soll wie, das klingen soll wie, ohne es zu sein), ohne kommata also, schreibe. ich hätte auch alles mit bindestrichen schreiben können, aber dann sagt der editor, ich spinne.
editoren aber, bloße deterministische realisation vorhergesehener abläufe, die sie sind, sollten ihre klappe halten.
ich weiß ohnehin am besten, wer ich bin, weshalb ich mich auch strikt gegen jede form von psychoanalyse wehre, deren erklärungswille und -anspruch ich immer als anmaßung empfunden habe. auch in büchern. jedenfalls aber konnte ich mich nur schwer von der Tlingonischgrammatik trennen (was wohl ein Psychologe dazu zu sagen hätte?); schwer gefallen ist mir auch „Die Entdeckung des Himmels“, andererseits auch wieder nicht, weil ich es einer zeit las, an die ich mich am liebsten nicht mehr erinnere.
so geht es ja überhaupt mit büchern, daß sie mit einer zeit des eigenen lebens verbunden sind, und die frage ist, ob es überhaupt eine neutrale lektüre geben kann, eine objektive lektüre, oder ob sich nicht in die wahrnehmung der geschriebenen und gelesenen welt die tatsachen, gefühle, meinungen, stimmungen der gelebten welt einmischen und ungebeten mitwirken. bereichernd kann das für beide welten sein oder störend, hindernd, mißtönlich vom einen ins andere hineinschallend, sich vordrängend, so daß man hinterher gar nicht mehr weiß, warum man nun so mißgestimmt ist, des buches wegen, oder weil die welt einem wieder mal auf der nase herumtanzt.
natürlich ist auch der weg denkbar, daß das eigene leben literatur wird. manchmal handele ich so, wie es mir für eine geschichte stimmig vorkommt, eine seltsame form von aberglaube, ich bekomme von einer frau ihre telephonnummer, frage mich einen halben tag lang, ob ich sie am abend anrufen soll, verliere in einer warteschlange den zettel, höre, wie mir jemand hinterherruft, sie haben da was verloren, und beschließe, ich rufe an. und am ende mache ich es doch nicht. ich will dem keine macht über meine entscheidungen einräumen. könnte ich aber. weil es stimmig wäre. oder ich nehme einen bestimmten weg, weil er in einem roman, der mein leben abbilden würde, szenisch passend wäre. ähnlich die auswahl des nächsten buchs. oder ob ich ins kino gehe oder lieber einen spaziergang zum grab jennifer helds mache. bestimmte orte bekommen eine symbolische dimension, sind aufgeladen mit bedeutung, werden zu einer art text, der bestimmt, was als nächstes passieren kann und was nicht, der festlegt, an welchem punkt meiner lebensgeschichte, in welcher geistesverfassung oder auch an welchem punkt meiner eigenen entwicklung ich mich befinde; ein text, der kreisläufe und wiederholungen ebenso anzeigt wie fortschritte und entwicklungen, oder manchmal auch geschehnisse und begegnungen auf eine bestimmte weise einfärbt, klassifiziert oder prismatisch aufbricht, indem er ihnen einen bestimmten modus, eine bedeutung, einen zweck, eine aussageform zuweist oder abspricht und damit ihre deutungsmöglichkeiten, ihre interpretatorischen spielräume, festlegt oder verunklart, einengt oder ausweitet. oder ich verwebe durch gezieltes hören und wiederhören ein musikstück leitmotovisch in den ablauf meiner tage und absichten. lasse es abfärben auf bestimmte vorbereitungen, ein treffen, eine wanderung, ein gespräch, einen abschied. das kann soweit gehen, daß ich dann umgekehrt von der welt erwarte, sie möge ihrerseits von literarischen kräften beherrscht sein und, indem sie meinem motivischen handeln literarisch entspricht, wahrmachen und eintreten lassen, was ich mit meinem motivischen handeln vorausweisend vorweggenommen wissen will. wer denkt, das sei nur ein literarisch-intellektuell verbrämter schamanismus, hat so unrecht nicht.
merkwürdig ist, daß sowohl die zeit, die die Tlingonischgrammatik, als auch die zeit, die die „Entdeckung des Himmels“ umgibt, schwere zeiten waren, weil sie mit der trennung von einer freundin zu tun hatten. wie eigentlich alle schwere zeiten immer in derselben weise schwere zeiten waren. es hatte immer mit einer frau zu tun. größere nöte habe ich nie gekannt. ob das daran liegt, daß ich viel glück hatte im leben oder daran, daß mir anderes unglück nie als so bedeutsam erschien, weiß ich nicht. wahrscheinlich ersteres. andere bücher, an denen schwere zeit haften geblieben ist, sind: „Morbus Kitahara“, „Die Tage müssen anders werden, die Nächte auch“, „Sommerhaus, später“, „Marie Antoinette“, dies nur exemplarisch.
und die frage ist: was werde ich als nächstes weggeben? und die frage ist: was werde ich dereinst zuletzt weggeben haben, als wäre es ein teil meines lebens, der überflüssig geworden ist und unbequem.
draußen immer noch das telephon.

Was wollten wir?
Frei sein, uns anpassen, Erfolg haben, Geld haben, eigene Wege gehen, unabhängig sein, stolz sein, es recht machen, davonkommen, ein Leben haben. Was sonst. Blöde Frage. Was sonst, war es je anders? Waren wir etwas besonderes, nur weil wir die ersten waren, die das Netz kennen sollten und die Zeit nach dem Netz ebenso wie die Zeit davor erfahren hätten? Daß wir fortan, heimgekehrt in die Alltäglichkeit und unsere alten Leben, mobil würden telephonieren können, ja müssen? Daß es fortan in dem Land, das wir verlassen hatten, verlassen zu haben glaubten, vielmehr, ein Unwort wie Handy gab? War es das, was uns ausmachte? Daß wir Händie sagten? Daß wir zurückkehrten in eine Welt der Achselrasur und der sogenannten Globalisierung, die man uns vormachte wie so vieles? Daß es nun „EU“ und nicht mehr, wie in der Welt, die wir verlassen hatten, aus der wir kurzzeitig ausgetretene waren, „EG“? Daß wir in vielerlei Hinsicht die letzten Unschuldigen waren? Daß wir die ersten (und letzten) waren, die profitierten von dem, was unsere Eltern in Kommunen, Straßenschlachten, Universitätsaulen, in fremden Betten, mit dem Mund zwischen fremden Beinen, Kundgebungen, hinter Flüstertüten und Barrikaden, in Stundenhotels und auf Open-Air-Festivals erkämpft, erstritten, erredet, erdiskutiert, und schließlich auch erfickt hatten (und die dann doch heirateten, Kinder bekamen – uns – und sich eine Reihenhaushälfte zulegten)? Daß wir die Früchte davontrugen als erste und letzte, die wirklich einmal frei gewesen waren, ebenso schwanger wie kinderlos bleiben durften, abtreiben, austragen, nach Schweiß riechen oder Deo benutzen, Beruf, Hausfrau, bärtiger Töpfergesell, Banker, alles drin, die letzten, die sich noch entscheiden durften zwischen BH oder Schwabbeln, zwischen Achselbusch und antiseptischer Glätte, zwischen Holzhütte und danish design, die letzten, die noch eine Wahl hatten, ehe wieder ein neues Diktat sich klammheimlich durch die Hintertür einschlich – das Diktat der sogenannten Freiheit, die längst keine mehr war (wen wundert’s?)? Und das ganze mühelos, ohne Kampf, den ja unsere Eltern ausgefochten hatten … Aber:
Machte uns das aus? War das unsere Generation? Das schon? Waren das wir?
Jetzt, wo ich das schreibe, im Später, an das ich mich in DER STADT fortwährend erinnerte, sind wir schon Historie, haben schon die Jüngeren wie die Älteren den Stab über uns gebrochen, sind wir schon eine Generation, eine Kategorie, beurteilbar und beurteilt, erwägbar und erwogen, kritisiert, verfehmt oder gelobt, jedenfalls seziert, auseinandergenommen, analysiert, bis nichts mehr von uns übrig war, bis nichts mehr blieb als Feuilletonartikel über die „heute 30jährigen“. Geschrieben von Alterslosen, die über jeden Verdacht, sie könnten (auch sie!) einer Generation angehören oder angehört haben, dem Verdacht, auch sie könnten bedingt und Kinder ihrer Zeit sein, wundersam erhaben waren.
Die „heute 30jährigen“ – die plötzlich, ohne, daß uns jemand um unsere hilflose Meinung gefragt hätte, wir waren. Mein Gott, das waren wir selbst! Und wir konnten es nicht einmal leugnen, wir waren ja um die 30. Kein Ausweg. Man brauchte uns nur nach dem Paß zu fragen. Wie auch immer wir uns verhielten, wir steckten in einer verdammten Schublade fest. Nicht auszudenken, was für eine Maske wir plötzlich trugen, eine Maske, die andere heimlich und in aller Stille für uns angefertigt hatten, um sie uns jetzt, wo wir uns nicht mehr wehren konnten (hatte uns jemand gewarnt?), umzuhängen. Und dann mit dem Finger auf uns zu zeigen.

und morgen?

Und morgen?
Ich sehe mich schon, klein und elend und bis in die innersten kammern und gefäße hinunter ungenügend in meinem neuen zum anlasse erstandenen pullover und dem habit-rouge-duft an der s-bahn-haltestelle schlottern, voller ekel über jedes obsolet gewordene attribut der vorbereitung, das mir nun an mir selbst naiv, pathetisch, lächerlich, clownesque, traurig, hilflos und in dieser hilflosigkeit beschämend vorkommen muß –
Ja, so sehe ich mich schon (Noch bevor wir auch nur einen einzigen blick gewechselt haben. Warum? Weil ich ein elender pessimist bin. Warum noch? Weil ich schlechte erfahrungen in letzter zeit habe machen müssen, was dieses thema angeht. Und noch? Weil ich mir nichts zutraue und weil ich mal wieder viel weiter bin, zu weit.) Wie mich wappnen? Stolz sein, stark sein, schön sein? (und genau letzteres bin ich nun mal nicht)? Das haupt erheben, nase in den wind, brüllen vor kraft und donnernd lachen, wenn morgen die sache aus ist, bevor sie begonnen hat?
Nein. Ich bringe das nicht zuwege. Ich bin schwach und fühle mich schwach. Also werde ich in einem neuen pullover an der haltestelle sitzen, den ich mir vom leib reißen möchte, und die chancen stehen gar nicht mal so schlecht, daß es zu allem auch noch regnen wird.

.

Flüstern

ist ausgeflocktes dunkel wenn du dich räusperst wackelt der mond manchmal flüstert es aus rohren und ein frosch im hals und finger flüstern manchmal auf haut und eine straßenecke sieht zu wie zweimal mantelkragen unter einer straßenlaterne die in ein anderes zimmer dringt wo gesichter einander unsichtbar auf dem harten teppich vorm bett flüsterzeichen geben wo eben hingesunken die leiber püffe und knüffe von okklusiven und vokalen auf wange und lippen und hals unterbrochen von küssen das flüstern bist du „du“ flüstert es, „du“ flüstern und im blinden der geruch deines speichels in kirchen wird oft, in manchen museen, und morgens um fünf im überlandbus vor der abfahrt wenn der motor noch stumm ist und die sitze knarzen knistern heißt flüstern anorganisch, haare können es, wenn alles sehr still ist im zimmer mit straßenlaterne und weizenfelder können es verwandte sind wispern das ins wortlose hineinreicht oder raspeln scharren und rascheln das können auch kleider beim abstreifen flüstern hat keine farbe nur graustufen flüstern ist der schatten der stimme flüstern trocknet schnell ein und verliert den geruch flüstern ist seine eigene beschreibung flüstern wäre durchsichtig, hielte man es ins licht flüstern können auch blätter und tüten vögel können es nicht der regen vielleicht

.

Obwohl mir Ratschläge

obwohl mir ratschläge unheimlich sind und es wohl immer bleiben werden, zumindest die konkreten: es geht voran und es geht ganz leicht. ganz leicht! und zwar deshalb, weil ich (fast) alles darf. weil ich es mir endlich erlaubt habe, wenn nicht in der geschichte, so doch in der neuen. dabei überrasche ich mich selbst, in mehrfacher hinsicht. mein anderes ich, das ich der geschichte, das doch auch ich selbst ist/bin, handelt/handele in einer weise, wie ich es ihm/mir nie zugetraut hätte. ich frage mich, was er/ich von sich/mir selbst halten mag …
die begegnung mit der silbernen prostituierten beispielsweise ist so gar nicht typisch für den autor.

Manchmal war alles wild, und man hätte glauben können, der Aufbruch finde schon morgen statt. Die Zeitungen schrieen den Passanten Schlagzeilen ins Gesicht, die Hochglanzmagazine spuckten Buntheiten in die Menge, und das Scharren und Schlurfen und Stöckeln und Stampfen unzähliger Füße schwoll und fiel, brauste und wallte und füllte machtvoll die Straßen.
Aber die blieben ja da. Die schlurften und würden weiter schlurfen in alle wirbelnde Zeit, und die Zeit, ja: Die würde sie packen und fortwirbeln, daß nichts von ihnen bliebe. Die wußten nicht einmal von der Existenz der Stadt, deren Straßen sie in Unkenntnis auslatschten. Blieben da, taub für jeden Ruf, innerlich blind für die Küsten und Gestade, verhaftet wie sie waren einer Stadt, die sie nur duldete, in der sie nicht zu Hause waren. Oder allzusehr heimisch.
So saßen wir an jenen wilden Tagen in der Mensa und peitschten Worte über unsere Köpfe, verliebt in uns selbst, gefesselt ein jeder vom Sog seiner Worte, ein jeder allein mit seiner kleinen Sehnsucht, seiner sehnsuchtsvollen Winzigkeit. Ein Zagen war in uns immer. Aber in den wilden Augenblicken verlangte dieses Zagsein nach einem Gegenbeweis. Sofort und ein für allemal. Wir redeten uns um Kopf und Kragen. Sprachen vom Bleiben und meinten den Aufbruch. Sprachen von Literatur, von Geldverdienen, von Karriere, von wirtschaftlichen Erwägungen, vom Weiterkommen, der Börse, den Aussichten, sprachen von Tabellen, leierten Statistiken herunter, lobten Aussichten, bezweifelten Prognosen.
Sprachen und sprachen und sprachen. Und meinten: Das Leben.

ankunft

ich kam an,

während der mond aus dem wasser stieg wie ein alter freund. er flimmerte, als sei auch er älter geworden, als hätten ihn die jahre wackelig werden lassen, aber vielleicht fröstelte er auch nur ein wenig, denn die nächtliche brise, die von see kam, roch schon nach herbst. oder fürchtete auch er sich vor dem neuen? ich sah ihm lange in die augen, aber er antwortete nicht. als

das schiff kam,

duckte er sich und verschwand, schüchtern wie er nun einmal ist, in einem zerfledderten

strahlenkranz,

als schäme er sich ein bißchen, daß er sich so lange mit mir beschäftigt hatte. ich nahm es ihm nicht übel. er kommt ja wieder, dachte ich und warf mir die jacke über die dunklen schultern.

.

eines morgens
war der sommer
vorbei. ich sah es
am luftballon der
in einem weißdorn
hängengeblieben war
am rostigen nagel
der in einem bretterzaun
stak am abgelegten helm eines
arbeiters am butterbrot in seinen
schwieligen händen
bunt wippten die schultaschen über
den weg die zeitung knisterte leise
überm kaffee und von nebenan
drang wieder ein telephongespräch
durch die wand
stundenlang
als wäre man taub
geworden so
fehlten die vögel

Am Fluß

Als ich mich noch einmal umwandte, saß er unverändert, das Kinn in der Hand, die grauen Augen zur Erde gerichtet. Das letzte, was ich sah, war, wie er einen Stein aufhob, ihn nachdenklich in der Hand drehte, dagegenblies und ihn dann dem Steinmännchen zufügte. Neben ihm stampfte der Fluß über die Steine. Gedankenverloren wischte er sich einen Spritzer von der Wange. Die Föhren woben ihm wippende Schatten ins Haar.
Kurze Zeit später hörte ich wieder meine Schritte.
Ich verstand nicht, was er mir mit seinem letzten Wort hatte sagen wollen. Vor einem Streif Sonne im Gras blieb ich stehen. Hinter mir lärmte, gedämpft durch den Moränenkamm, der Fluß. Die Föhren rauschten leise. Ich fragte mich, ob ich noch einmal zurückgehen sollte und verwarf es. Er hatte gesagt, was er sagen wollte oder konnte. Käme ich nun zu ihm zurück, er wäre vielleicht gar nicht mehr da, wie er es selbst gerade gesagt hatte von ihr. Er hatte mich nicht angesehen, als er es sagte, er hatte in den Fluß geblickt, wo sein Spiegelbild geduldig in einer Woge hängend stieg und fiel. Doch auch sein Spiegelbild hatte er nicht angesehen. Vielleicht hatte er auch gar nichts gesagt, ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt gesprochen, oder ob nicht seine Lippen nur geformt hatten, was ich zu hören glaubte.
„Sie ist fortgegangen.“
Und so suchte ich wieder die Orte auf, die den Fall ihrer Füße auch gekannt hatten, das Ufer, den Wall, den Hohlweg, die Bank und die Hütte im Wald, jene Orte, die von ihr wußten, und wo ich nun mit meiner Frage alleine blieb. Wohin?
Er hätte mir keine Antwort gegeben.
Am Abend aber …

Meine Mitbewohnerin am Wochenende, über einem Glas Wein in der Küche, also, sie mache sich keine Sorgen um mich.
Wie schön, wenn wenigestens die anderen mein Leben gelassen sehen können. Man sollte das selbst auch einmal ausprobieren, dachte ich, und wurde froh.
Ein Dornfelder, übrigens.

Also, ich tus.
Noch im jetzigen finanziell günstigen Immatrikulationsstatus die restlichen Scheine machen, dann umschreiben, zwei, drei Semester die 650 Einheiten neuer Währung berappen, Prüfung machen, Staatsarbeit schreiben, so richtig mit allem pipapo, und dann auf dem Amtsweg bewerben. Anders wird das nichts. Seiteneinstieg schön und gut, aber bei mir wäre es schon eher durch den Noteingang und mit Gewalt. Ich habe ja Latein nicht studiert, nicht einmal auf Magister, nicht einmal im Nebenfach – alles was ich habe, ist die (MA-)Zwischenprüfung und einen Hauptseminarschein. Da nimmt mich keiner, nicht einmal zur Krankheitsvertretung.

Orthographisches (1): Sprachregeln und Schreibregeln

Wannimmer im deutschsprachigen Raum über das leidige Thema der Orthographie verhandelt wird, geschieht dies mit ebensoviel emotionalem Engagement wie völliger Unkenntnis der einfachsten linguistischen Zusammenhänge und unter Vorbringung derselben und aberderselben von ebendieser Unkenntnis zeugenden Argumente; dies will ich zum Anlaß nehmen, mich einmal in aller Ausführlichkeit dazu zu äußern.
Es empfiehlt sich vielleicht, zunächst die Hauptirrtümer zur besseren Übersicht aufzulisten:

  1. Verwechslung von Sprache mit Orthographie sowie Unkenntnis der Eigenarten des Sprachwandels und Unkenntnis des Wesens von Orthographieregeln. Vielleicht das meistgehörte Argument gegen die Rechtschreibreform bzw. gegen eine Regulierung überhaupt ist die Vorstellung, unsere Sprache könne auf alle möglichen Arten „Schaden“ nehmen. Die neuen Regeln „verhunzen“ unsere Sprache. Die Reform „schade“ der Sprache. Sprache sei „ein Kulturgut“, das man nicht „kastrieren“ dürfe. Und so weiter.
  2. Unkenntnis der Phonologie des Deutschen. Wie sich besonders in der Diskussion um das „ß“ beobachten läßt, kennt kaum jemand derer, die hier eine ganz entschiedene Meinung geharnischt vortragen, die zugrundeliegenden phonologischen und darauf bezugnehmenden orthographischen Regeln.
  3. Der dritte Irrtum betrifft die angebliche bessere Lernbarkeit oder Schwierigkeit der alten oder neuen Schreibung. Ein Teilaspekt dieses Irrtums besteht darin, zu glauben, wir seien uns beim Schreiben der Regeln ständig bewußt. Dieser Irrtum verkennt die Mechanismen des Lernens, wie beispielsweise, daß am einfachsten zu lernen ist, was am häufigsten angewandt werden muß.
  4. Ein vierter Irrtum verkennt die Beweggründe der Befürworter und Ablehner einer vereinfachten Rechtschreibung.

Bevor ich mich dem ersten Punkt widme, noch eine Anmerkung. Die folgenden Ausführungen beziehen sich natürlich nur auf Alphabetschriften. Das sind Schriften, die sich den Umstand zunutze machen, daß jede Sprache nur eine begrenzte Zahl von Lauten aufweist (das sogenannte Phoneminventar), die in immer anderen Kombinationen eine (prinzipiell) unbegrenzte Zahl von Wörtern bilden können. Eine Sonderform, und vielleicht die Idealform der Alphabetschriften ist die phonemische Schrift: Ihr Vorzug besteht darin, daß sie ein Zeichen für jeden Laut der Sprache hat, und jeder Laut genau ein Zeichen, das ihn abbildet. Einfacher ausgedrückt: Man weiß immer, wie man etwas Geschriebenes auszusprechen oder etwas Gehörtes zu schreiben hat.

Rechtschreibregeln sind, wie überhaupt die ganze Fixierung von Sprache mittels Schriftzeichen, etwas Künstliches und Gemachtes. Schreibregeln sind von ihrer Natur her immer explizit. Ihre Formulierung und Erlernung erfordert ein Nachdenken und ein Sich-bewußt-Werden, wie überhaupt die Erfindung der Schrift eine intellektuelle Leistung war. Schrift ist sekundär, der Sprache nachgeordnet. Deshalb verändern sich Schreibregeln auch nicht (jedenfalls nicht, solange es eine amtliche oder ähnlich für alle verbindliche Regelung gibt), es sei denn, jemand beschließt eine Änderung. Weil aber einerseits Schreibregeln ersonnene und starre Konstrukte, Sprachen andererseits sich fortwährend wandelnde Regelsysteme sind, folgt daraus, daß jede Orthographie irgendwann entweder historisch einen älteren Sprachzustand abbildet oder bewußt geändert werden muß, wenn sie dem aktuellen Sprachzustand folgen soll. Bestes Beispiel für eine historische Schreibung: die englische Rechtschreibung. Warum schreibt man „enough“ und „laugh“ statt, sagen wir, „inaf“ und „laf“? Weil die Aussprache früher anders gewesen ist, die diese Aussprache abbildende Schreibung sich aber nicht geändert hat: Früher wurde laugh etwa „lach“ gesprochen (vgl. dt. lachen), und der Velarlaut noch plausibel mit „gh“ wiedergegeben. Die Veränderung des Velarlauts zum Labial hat die Schrift nicht mitgemacht, daher klaffen jetzt Schreibung und Aussprache auseinander. Historische Schreibungen haben nun Vorteile und Nachteile. Vorteile haben sie besonders für historische Sprachwissenschaftler; für die übrigen Benutzer des Alphabets ist es unerheblich, ob sie wissen, daß laugh früher „lach“ gesprochen wurde, oder daß Ziegel ein lateinisches Lehnwort ist (eigentlich müßte man es „tiegel“, oder gleich „tegula“ schreiben). Die Nachteile liegen auf der Hand.

Sprachregeln dagegen sind nicht gemacht, sind nicht explizit und werden spontan erworben. Ihre Kenntnis ist unbewußt, und ihre explizite Formulierung ist so schwierig, daß sich dafür eine eigene Wissenschaft entwickelt hat: die Linguistik. Mit anderen Worten: jeder Mensch ohne spezielle Beeinträchtigung kann sprechen, ohne die Regeln der Grammatik bewußt zu kennen. In dieser Hinsicht gleicht das Erlernen der Rechtschreibung ein bißchen dem Erlernen einer Fremdsprache, deren Regeln meistens auch bewußt gelernt werden. Schreibregeln sind also der Sprache nachgeordnete, künstliche, explizit formulierte Abbildungsregeln, die durchaus mit Verkehrsregeln vergleichbar sind. Es ist nun leicht einzusehen, daß eine Änderung der Schreibregeln die Sprache völlig unangetastet läßt. Eine Sprache ist prinzipiell von jedem sie abbildenden Schriftsystem zu trennen. Befürworter der alten Rechtschreibung können sich daher schwerlich auf „die deutsche Sprache als gewachsenes Kulturgut“ berufen, in das man nicht eingreifen dürfe. Natürlich ist die deutsche Sprache ein gewachsenes Kulturgut; als solche ist sie aber von den zufälligen Gegebenheiten ihrer schriftlichen Fixierung unabhängig. Es schert die Sprecher des Deutschen wenig, ob sie „so genannt“ oder „sogenannt“ schreiben. Es hat keinerlei Einfluß darauf, wie die Sprecher sprechen, und also keinerlei Einfluß auf die Sprache. Auch die deutsche Rechtschreibung ist in gewissem Sinne ein gewachsenes Kulturgut; das sind aber auch die Verkehrszeichen und das DIN-A4-Format und fünfstellige Postleitzahlen. Ich kenne nur wenige, die sich beispielsweise über die neuen Bahnübergangsschilder und die Adaption des Eisenbahn-Ikons an moderne Verhältnisse beschweren würden. Zwar hat die Schriftlichkeit als solche durchaus einen Einfluß auf die Sprache, da sie, sofern es eine Alphabetschrift ist, lautliche Aspekte der Sprache den Sprechern bewußt machen kann, und weil sie auch die mündliche Rede beeinflußt, wenn nämlich Schriftsprache im mündlichen Bereich Vorbildfunktion übernimmt. Dieser Einfluß gilt aber für jede Form der Schriftlichkeit; es ist nachgerade albern zu meinen, die Schreibung von ss oder von ß habe irgendeinen Einfluß auf Deutsch als Sprache. An der Abschaffung des leidigen th in Wörtern wie Thor, Thür, That ist die deutsche Kultur auch nicht zugrundegegangen (obwohl der Kaiser darauf bestand, daß weiterhin Thron geschrieben werde). Ob und inwiefern nun das gewachsene Regelsystem einer Orthographie ein schützenswertes Kulturgut ist, das genau ist die Frage. Franzosen und Engländer würden hier sicher zugunsten des Schutzes plädieren. Dies ist aber kein Streit, der mit Argumenten des Nützlichen entschieden werden kann: Das müssen die Verfechter der alten Orthographie einsehen.

Orthographisches (2): S-Laute des Deutschen und ihre Schreibung

Orthographisches (3): Von Schwierigkeiten & Reformen

[ohne titel]

lassen
abwärtslos sich
liebfrauenkirch
glocken
auf
nichts sagen lippchenläppchen
pfeiftief
reibeflächig zerglitt
ver-
spelzenschwamm
gezitter? drehweggreif
auswall jaja, in
leere
stelldicheinander
feuchtfröhliches und
steh-greif-dichtung
runen
des atmens
hieroglyphen-hyphten
epen
in
flüssigharz

.

Greinstraße

sitze am schreibtisch vor dem leeren teller, draußen bläst ein grauer himmel durch die pappeln, ich denke, ich schreibe. gleich geht’s nach hause. vom verwalten zum kaffee, vom kaffee zum buch, zum wochenende. vielleicht werde ich einmal lateinlehrer, vielleicht. vielleicht schreibe ich ein buch irgendwann. der sommer geht. höchste zeit, weiterzuwarten. einstweilen schreibe ich tagebuch und gedichte. und briefe an die fremde
ans draußen.

.

(1)

es ist sturm in der welt.

hast du gelächelt, ASTARTE?

ein klang war, ein wort … ein schlüsselbund fiel zu boden im hof … ein mund lachte … ein warmer leib drehte murmelnd sich um … schweiß duftete … motoren brummten vorbei, und dazwischen
streckte
sich die stille
eine fliege folgte dem zeiger der uhr…
da
dämmerte es … erst später, dann:

.

Insel

Und der Wein? Der Wein?
Es gibt tatsächlich solche Orte, die zu einem Moment oder Momente, die zu einem Ort passen, und vielleicht ist ja auch die Zeit nicht an jedem Ort gleich, sondern schmeckt überall ein bißchen anders, bekommt Falten, streckt sich, flattert, rauscht, bleibt an den Fingern haften, wird transparent oder flüchtig oder ganz ganz schwer. Auf einer Insel bin ich gerne, mit Sonne vollgesogen wie ein Schwamm, zerkratzt von Zikaden, ein Bier, lustige Stimmen, Dünung. Es klingt wie Urlaub, aber das meine ich nicht.
Urlaub ist Zeitvertreib. Wer aber will die Zeit vertreiben, anstatt sie festzuhalten und die Ewigkeit in einem Zikadenflügel schwingen zu sehen?

.

Die Stadt (1)

im spiegel betrachten sich
geduldig wie schwäne
die wachsfigurenlippen
ewig lächelnd, zwei etruskische götter
einander unerkannt
gewogen im gläsernen grab

kein gott aber haust
zwischen den schenkeln
jenseits der versiegelten scham
weder stempel noch staubblatt
schließen die schweißnaht

jugendfrei preßt
sich rechts an links
kein spielraum für
erektile plastikträume
am boden unter
geschwollener hüfte
vergessen die schlüpfer
schamlos das licht auszumachen
und dazwischen
ein finger, ein arm
über geschloßnen lippen, schweig
und sie schweigen

alsobbrüste verspiegelt
ein museumsstück

es fliedert, fliedert
im wartesaal
riefen nahebei

die handtäschchen, gekleidet
in plastisches rosa
und mit den fäustchen
hielten umklammert sie
schlanke hoffnungen

und auch
wieder haltestellenweise
hingekippt schlotternde milch
der schoß so hart
daß die hose zum knie
marsupialisch durchhängen
muß

da sieht man sich selbst
wie den schatten des
etruskischen gotts
das lächeln geklemmt
unter den arm
überblendet von rasendem lärm

drüben, über der ampel, wo indes
wie die schablone
eines nebentraums
die brüste abermals gerannen
zu kunstharz und vinyl

.

Sicher könnte man weit weniger erlebt haben als ich.
Einen Andengipfel und mehrere schöne Berge der Alpen habe ich erstiegen, in einem Orchester gespielt, als Schauspieler bin ich auf der Bühne gestanden, hab viel studiert, manches gelernt, noch mehr wieder vergessen, was, zusammengenommen, einen Schatz ergäbe.
Ich war allein in vielen Zügen, auf vielen Bahnhöfen hab ich mir die Menschen angeschaut. Ich war ein Jahr unter fremden Zungen, deren Schlag ich nachzumachen und zu verstehen lernte, dort, in der Stadt am Ende des Jahrtausends. Sah südlichen Marmor weiß und unantastbar wie Perlen im Mondlicht glänzen, während unten der Abgasgestank den Atem vergiftete.
Ich war allein und ich war unter Freunden. Ich war keusch und ich war unkeusch. Ich war ehrlich, ich habe gelogen. Oft habe ich verzweifelt und glücklich geliebt und bin oft verzweifelt und glücklich geliebt worden. Ich war still, ich war laut. Ich war klein und ich war groß.
Einmal war ich auf der andern Seite der Erde. Habe mir von einem Indianer obszöne Phrasen auf Aymara vorsagen lassen (die ich dann alle, sehr zum Amüsement des Indianers, nachsprechen mußte); lag dort krank und elend in einem erbärmlichen Hotelzimmer, neben dem Bett ein mit verschiedenerlei Exkrementen gefüllten Eimer. Genas, wurde stark, stand auf. Bestieg den Berg, fand Menschen und Wege und viele Rätsel. Speiste mit einer japanischen Soziologin allabendlich Avocados und Brot und Korbkäse. Ich lag in der Wildnis allein in meinem Zelt, und der Wind, der die Plane befingerte, hörte sich an, als strichen neugierige Tiere draußen umher. Ich war in der Nacht allein unter den Sternen. Dort bin ich ins schwarze Wasser gestiegen und hatte keine Furcht vor der bodenlosen Tiefe, in die meine Füße traten. Ich bin ins Meer getaucht mit nichts als dem bißchen Luft, das meine Lungen aufnehmen konnten, habe in der Sonne gelegen und schlaflos zitternd in eisigem Frost, während tief unten in den Tälern lautlosfern Gewitterblitze zuckten. In andern Nächten wieder deckte mich der erschöpfte Duft zweier herber Körper, die sich wundgeliebt hatten, zu, und ich schlief. Ich habe geschrieen vor Lust und vor Lust schreien gemacht. Ich habe empfangen und gegeben. Ich habe getröstet und ich habe Schmerz verursacht. Manchmal habe ich sogar etwas verstanden.
Man hätte weniger erlebt haben können als ich. Und doch ist es nicht genug.

Draußen murmeln die Gespräche. Draußen. Irgendwo da draußen, hinter Tür, Vorhang, Schleier, Flußgebraus, Wand, Mauer, Lichtkegel. Ich verstehe kein Wort. Aber es muß so köstlich sein, ihre Sprache zu sprechen, ihre Gedanken zu denken, ihre Richtigkeiten und Instinkte zu kennen und sich dort, bei ihnen frei, völlig frei und dieses Lebens teilhaftig zu bewegen. Inwendig, diese Wände? Widerstände, die überwindbar wären, wegtrainierbar, wegrationalisierbar, wegtherapierbar? Krank bin ich nicht. Einsam bin ich nicht. Sähe mich einer von außen: faktenweise alles in bester Ordnung. Warum habe ich immernochwieder das Gefühl, am falschen Ufer zu stehen, vereinsamt und ohne Zugang zur Welt, weitab von Licht und heiterem Lärm? Als ob ich etwas durchstoßen müßte, von dem ich gar nicht weiß, wo es ist, beginnt oder aufhört. Eine Grenze zu überschreiten. Eine verborgne, nachgebende, unsichtbare Grenze. Aber ich weiß nicht einmal, wo sie ist, diese Grenze. Geschweige denn, wie ich sie überschreiten sollte.

Mein Mantra: Waswillstdudennnoch? Was. Willst. Du. Denn. Noch.
Noch immer. Daß mir nur so zum Beispiel jemand ein unmoralisches Angebot unterbreitete. Einfach so. Das so unmoralisch gar nicht wäre. Das ich in den längsten Zeiten meines Daseins gar nicht hätte annehmen können oder wollen. Nur selten wäre der Gedanke seiner Verwirklichung Herr geworden und ins Wollen gemündet, wenn es denn wirklich …: Daß mir etwas Lebenssaftiges geschehen wäre. Etwas von Mittendrin, unerwartet, unerhofft. Einfach so, anstrengungslos, an-streng-ungs-los.

Warumabergeradedies?

Die Dinge und Köstlichkeiten, von denen andere erzählen, die ihnen einfach so widerfahren sind, (an-streng-ungs-los) warum geschahen sie nicht mir einfach so einmal? Warum bin ich nicht mittendrin, warum nie ein Beteiligter (denn so kommt es mir vor), warum immer nur Zuschauer. Aber wie sollte ich denn mittendrin sein, wo ich längst dort war?
Ich verstehe das nicht, und es trifft auch gar nicht zu, dennoch kenne ich das Gefühl, kenne es als Beobachtetes. Ich sehe und finde und ahne mich selbst und diese Grenze in einem anderen, oder etwas von ihm in mir: Meinem Vater. Das Muster, sein Muster, sein Vergeblichwünschen, es wiederholt sich, in verdünnter Form und tritt so wieder auf in mir. Ich habe so viel von dem gehabt, wovon er nur im Traum … und doch. Das Gefühl, es bleibt. Es ist seins. Seiner ist auch so ein Fall. Tun wollen, haben wollen, was die andern doch auch … Wildheit wollen – und seins auch: dieser Wildheit gar nicht gewachsen scheinen. Maßlos scheinen und unangemessen in diesem Verlangen. Nicht allein, daß ein Zebingemännlein nie ein Supermann sein wird, nicht einmal, wenn er sein halbes Leben in der Muckibude verbringt, sich neu einkleidet, einen coolen Gang probt und eine tiefe, sonore Stimme, nein, nicht allein das. Er wird einfach nicht einer-von-denen-sein-denen-es-zufällt. Er ist einer, dem es nicht zufällt und nicht zufallen wird, labitur et labetur in omne volubilis aevum
Was, … du?
Du????
Du ausgerechnet? Nein, mein Lieber, das vergiß mal hübsch. So einer bist du nicht, so einer wirst du nie sein. Du verkennst, wer du bist, deine Grenzen. Das ist nicht für dich. Du bist Durchschnitt. Nicht einer von den Überfliegern, Unerreichbaren, Genialen, Schönen. Nicht einer von denen, die Ernst machen.

Gib dich zufrieden. Bleibe du du selbst, ein Wicht, mit deinem Wichtdasein zufrieden. Bescheide dich. Steige weiter auf Andengipfel.

Genau. Darum geht es. Darum ist es schon immer gegangen. Ich verkenne meine Grenzen nicht. Ich weigere mich, sie zu akzeptieren.

Bonn, Ende des letzten Jahrtausends