Orthographisches (3): Von Schwierigkeiten & Reformen

In einem alten Spruch heißt es: Die Wiederholung ist die Mutter der Bemühungen (repetitio est mater studiorum). Das mag besonders dort gelten, wo das Ziel der Bemühungen weniger im Begreifen, als im wiederholten richtigen Handeln besteht, also dort, wo eine Fertigkeit so lange trainiert, eine Regel so lange angewandt werden soll, bis sie ganz verinnerlicht ist und ihre richtige Anwendung kein Überlegen mehr voraussetzt. Ein solcher Bereich ist etwa das Lernen unregelmäßiger Verben, oder etwa das Autofahren, wo die Wahl des richtigen Ganges, das Blinkersetzen, das Kuppeln nicht erst nach reiflicher Überlegung, sondern reflexhaft ausgeführt werden muß; es gilt für andere Tätigkeiten, wie Segeln, Klettern, Fallschirmspringen; und es gilt auch beim Schreiben, in der Anwendung von Orthographieregeln. Das Lernen fällt um so leichter, je zahlreicher die relevanten Situationen auftreten. Für die Bewohner einer Ebene ist das Am-Berg-Anfahren schwerer zu lernen als für den Fahranfänger, der in einer Bergregion fahren lernt, da die Situationen, in denen es eingeübt werden kann, für ersteren selten sind. Unregelmäßige Verben sind deshalb leicht zu erlernen, weil es gerade die häufigsten Verben sind, die Unregelmäßigkeiten zeigen, und man daher um ihren ständigen Gebrauch nicht herum kommt. Durch ihren häufigen Gebrauch aber prägen sie sich gerade ein.

Und in der Rechtschreibung heißt das, daß eine Schreibung um so schwerer anzutrainieren ist, je seltener sie vorkommt. Von daher ist es völlig abwegig, sich Gedanken über den Erwerb der Regeln für die Schreibung von s, ss und ß zu machen: Die Situationen, in denen diese Entscheidung gefällt werden muß, sind derart zahlreich, daß ihre reflexhafte Beherrschung bei einigermaßen regelmäßigem Schreiben nicht lange auf sich warten lassen wird. Die Schreibenden wußten vor der Reform, daß sie wußten, mußten, Mus, und Ruß schreiben mußten – ohne darüber nachdenken zu müssen, ebenso wie niemand beim Schalten darüber nachdenkt, in welcher Reihenfolge Kupplung, Gaspedal und Schalthebel in Gebrauch zu nehmen seien. Freilich wußte noch nie jemand, wie man Hawaii, Spaghetti oder Chicoree schrieb. Aber wer empfände es als Zumutung, als peinlich oder unwürdig, bei so seltenen und gefühlsmäßig „schwierigen“ Wörtern zum Wörterbuch greifen zu müssen?

Regeln wie die, wann welches S-Zeichen zu schreiben ist, haben daher keinerlei Vereinfachungsbedarf. Das Ziel des Schreibenlernens ist ohnedies nicht, die Regeln anwenden zu können, sondern unbewußt richtig zu schreiben, so wie man sich auch beim Autofahren nicht mehr Gedanken über die Reihenfolge von Kupplung und Gas machen darf. Und auch wäre es wohl ein mühsames Geschäft, bei jedem dass die Nach-Kurzvokal-kommt-Doppel-s-Regel zu memorisieren und anzuwenden. Schreiben lernen heißt automatisch richtig schreiben lernen.

Wer eine komplexe Rechtschreibung nur wegen ihrer Komplexität anprangert, möge sich nur einmal Schriftsysteme ansehen, deren Erwerb ein Leben dauert, weil zigtausende von Zeichen memoriert werden müssen, und sich dann fragen, ob die Schwierigkeiten, denen deutsche Schüler ausgesetzt sind, in irgendeinem Verhältnis stehen zu den Leistungen, die chinesischen oder japanischen Schülern (und Erwachsenen, das Lernen neuer Zeichen hört dort nie auf) abverlangt werden. Das Argument ist nicht zwingend, relativiert aber die Umstände. Im übrigen, um einem weitverbreiteten Mißverständnis entgegenzuwirken: Sicherlich ist das Schreiben – wie alle komplexeren Tätigkeiten – eine Frage des Talents. Allerdings gilt dies kaum in dem Maße, daß nur den Talentierten das korrekte Schreiben gelänge: Jeder und jede kann schreiben lernen. Einzig der dafür erforderliche Aufwand mag sich je nach Veranlagung von Schüler zu Schüler unterscheiden. Die einzige Ausnahme stellen echte Legasthenie, SLI (specific language impairment) Agraphie nach Gehirntrauma und ähnliches dar – Störungen, die nie vollständig heilbar sind, und für die die Betroffenen überhaupt nichts können. In solchen Fällen wäre aber auch der allereinfachste Fall einer Alphabetschrift – die phonemische Schrift – eine schier unüberwindlich schwierige Materie. Legastheniker sind nicht etwa außerstande, ein paar Regeln zu lernen, ihr Problem reicht tiefer, und sie machen Fehler, die selbst aus der Sicht eines Analphabeten widersinnig erscheinen müssen. So haben sie etwa allergrößte Schwierigkeiten, aus der Beobachtung der Folge von Lauten eines Wortes auf die Reihenfolge der Buchstaben zu schließen, und schreiben demnach wirre Folgen von Lauten, etwa utlena statt Lauten. Abseits dieses speziellen Problems, das in einer schriftlosen Kultur gar nicht bemerkt würde, sind sie in keiner Weise behindert. In einer hochgradig auf Schrift basierenden Kultur sehen sie sich natürlich auch in Fächern wie Mathematik, Physik oder Biologie den größten Hindernissen ausgesetzt. Zu meinen, einem Legastheniker sei mit einer systematisierten, vereinfachten Rechtschreibung geholfen, ist ein großer Irrtum; für alle gesunden Schüler aber gibt es überhaupt keine Entschuldigung, warum sie nicht eine Handvoll arbiträrer Regeln lernen können sollten. Jedenfalls ist der Aufwand, der von ABC-Schützen und ihren Lehrern betrieben werden muß, das Schreiben zu erlernen, gegenüber den Energien, die in das Projekt „Neue deutsche Rechtschreibung“ seit Mitte der achtziger Jahre geflossen sind, ein alberner Klacks.

Auf der anderen Seite ist es zugegebenermaßen geradezu lächerlich, eine komplexe Rechtschreibung als Erziehungsmittel und intellektuellen Prüfstein aufzufassen, und zu jammern, mit der alten Rechtschreibung gehe ein Stück Tugend, ein Stück Anspruch, ja, ein Stück Kultur dahin. Warum, so muß man doch fragen, steigern wir dann nicht die Komplexität, warum machen wir die Orthographie nicht noch schwieriger, damit sich die Jugend an ihr erprobe und an ihr wachse und reif werde? Wäre das nicht die Konsequenz derer, die um die Bildung der Jugend besorgt sind, weil die neuerdings dass und muss und so genannt schreiben soll? Es spricht zwar nichts für die alten Regeln als solche; es spricht aber einiges dagegen, sie ändern zu wollen. Das heißt, die Vorteile der neuen Regeln, oder irgendeiner anderen Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung sind so minimal, daß es am besten wäre, man ließe alles beim alten. Denn es gibt auch noch den anderen Spruch, nämlich daß zweimaliges Wiederholen mißfällt: Bis repetita non placent. Eine Rückkehr zu den alten Regeln jetzt, wo der Schaden schon angerichtet ist, erscheint denn auch wie ein Schildbürgerstreich, so leid es mir um die Schreibung ist, mit der ich selbst großgeworden bin (und die ich nicht mehr ablegen werde).

Zu guter letzt noch zwei gänzlich utopische Vorschläge für eine wirklich systematisierte Rechtschreibung, der eine gemäßigt, der andere radikal. Zuerst der radikale. Erstens: Lang- und Kurzvokale werden systematisch auseinandergehalten, etwa nach Vorbild des Finnischen durch Doppeltschreibung des Langvokals, oder nach dem Vorbild des Ungarischen und Tschechischen mit Akzent auf dem Langvokal (das würde aber neue Tastaturen erfordern, die auch Umlaute mit Akzent, oder wie im Ungarischen mit zwei Akuten zuließen). Sämtliche Konsonantverdopplungen (außer natürlich die mit einer Morphemgrenze zwischeneinander) werden dadurch überflüssig. Zweitens: Stimmhafter s-Laut wird mit z, stimmloser mit s geschrieben; das überflüssige z als Kombination von t und s, sowie das noch skurrilere tz werden abgeschafft. Sch wird durch ein kürzeres Zeichen ersetzt (das spart Zeit, Druckerschwärze, Papier und Tipparbeit). Wie sähe nun ein solcher Text aus? Jédenfals nicht mér glaich als Deutś erkenbár. Áber meinen zí nicht, das man zich śnel daran gewőnen könte? Natűrlich müste man auch fuks und akse vereinfachen. Dí śreibung von eu und ei kan – da zí eindeutig und óne ausnáme ist, beibehalten wérden. Diftonge zind zówízó imer lang.

Weniger gewöhnungsbedürftig, sofort einführbar, ohne jeden Aufwand zu erlernen und auch schon vielerorts praktizierte Wirklichkeit: die Kleinschreibung. Nur noch Eigennamen und Satzanfänge groß. Doch dieses Thema soll uns ein andermal beschäftigen.

Orthographisches (2): S-Laute des Deutschen und ihre Schreibung

Orthographisches (1): Sprachregeln und Schreibregeln

Die Hauppt-Punckte der Reformae / trefflichst dar-gestellet / unt mit eyn pfiffige Critica / nicht ohn mancherley bißig Spott / gar kurzweylig commentiret

Orthographisches (2) S-Laute des Deutschen und ihre Schreibung

Und nun wird es etwas schwieriger. Wie in jeder Sprache, so gibt es auch im Deutschen Eigenschaften von Lauten, die relevant sind, da mit ihnen Wörter unterschieden werden, und solche, die irrelevant sind, weil ihr Vorhandensein oder Fehlen ein Wort vielleicht verfremdet aber nicht in ein anderes Wort oder ein Unwort überführt. Eine Eigenschaft der ersten Art ist die Stimmhaftigkeit, deren Fehlen oder Vorhandensein Wörter unterscheidet: was beginnt mit einem stimmhaften, Faß mit einem stimmlosen Laut, und es ist die Stimmhaftigkeit allein, die die beiden Wörter voneinander unterscheidet.
Ein Laut, der die Kraft hat, Bedeutungen zu unterscheiden, heißt Phon (bzw. Allophon); er repräsentiert eine abstrakte Einheit, die die Linguisten Phonem nennen, dies aber nur der Genauigkeit halber.
Für unsere Untersuchung ist nun wichtig, daß es Stellungen gibt (vor oder nach anderen Lauten, am Wortanfang, oder -ende, zwischen Vokalen etc), in denen nur Laute mit ganz bestimmten Merkmalen vorkommen können, so daß in diesen Stellungen die unterscheidende Kraft eines bestimmten Merkmals gleichsam aufgehoben scheint: So steht im Deutschen am Wortende immer nur ein stimmloser Laut, niemals ein stimmhafter. Dies führt dazu, daß dort die Stimmhaftigkeit nie für die Bedeutungsunterscheidung relevant sein kann, denn dazu müßten ja beide Laute, der stimmhafte wie der stimmlose an derselben Stelle erscheinen dürfen. Also gibt es eine Menge Wörter, die sich im An- und Inlaut durch Stimmhaftigkeit unterscheiden, wie z. B. Gasse/Kasse, rauben/Raupen, Waden/waten, kein Wortpaar jedoch, dessen Glieder sich voneinander einzig und allein im Auslaut durch dieses Merkmal unterschieden. Merkmale wie Stimmhaftigkeit, die zumindest in manchen Stellungen Wörter voneinander unterscheiden, heißen distinktive Merkmale.
Im Deutschen gibt es zwei S-Laute: einen stimmhaften wie in reisen und einen stimmlosen, wie in reißen. Die Stimmhaftigkeit ist beim S-Laut, wie bei fast allen deutschen Konsonanten, distinktiv. Die Distinktion ist jedoch aufgehoben im Wortanlaut, wo (hochsprachlich) nur stimmhaftes s erscheint, im Wortauslaut, wo (gleich den anderen Konsonanten) nur der stimmlose Laut vorkommt. Tatsächlich ist sie nur in einem einzigen Kontext distinktiv: intervokalisch nach einem langen Vokal oder Diphthong (Doppelvokal). Und hier kommt nun das ß ins Spiel. Das Drama der beiden S-Laute ist nämlich, daß es nicht wie bei den anderen Stimmhaft-stimmlos-Paaren zwei Schriftzeichen gibt, die, unabhängig von Stellung und Unterscheidungsvermögen den stimmhaften und den stimmlosen Laut bezeichnen, sondern es gibt ihrer drei, und in die Entscheidung, wo s, ß oder ss zu schreiben ist, fließen immer Betrachtungen nicht nur der Stimmhaftigkeit, sondern auch der Vokallänge und der Stellung mit ein. Um die Sache noch weiter zu verkomplizieren kann einer der drei Zeichen, nämlich s, je nach Stellung sowohl den stimmhaften als auch den stimmlosen Laut schreiben: Sonne (stimmhaft, Anlaut), Geheimnis (stimmlos, Auslaut); das ist auch gar nicht dumm, wenn man bedenkt, daß die Stellung allein schon bestimmt, welcher Laut auftritt; also ist die Information über Stimmhaftigkeit im Anlaut irrelevant, da dort sowieso nur der stimmhafte Laut vorkommt, und ebenso irrelevant im Auslaut, weil dort nur der stimmlose Laut auftritt. Der einzige Kontext, in dem eine Unterscheidung im Schriftzeichen sinnvoll ist, ist intervokalisch nach Langvokal oder Diphthong. Diese Unterscheidung leistete und leistet nach wie vor das ß, das einen stimmlosen S-Laut in intervokalischer Stellung nach Langvokal oder Diphthong schreibt: reisen, aber reißen.
Nun wären die Verhältnisse nach Langvokal beschrieben, was noch einfach war. Wie aber schreibt man nun einem S-Laut nach Kurzvokal? Nach Kurzvokal erscheint intervokalisch im (Hoch-) Deutschen immer nur der stimmlose S-Laut. Mit welchem Zeichen soll man ihn nun schreiben? Nicht mit ß – denn dieses steht ja nur nach Langvokal. Aber auch nicht mit s – denn das dient ja schon der Schreibung des stimmhaften Lauts, ebenfalls nach Langvokal. s und ß bezeichnen also immer auch die Länge des vorangehenden Vokals. Mit anderen Worten, die Folge Vokal-s-Vokal enthält immer einen stimmhaften S-Laut nach Langvokal, die Folge Vokal-ß-Vokal immer einen stimmlosen S-Laut nach Langvokal.
An dieser Stelle ist ein kleiner Ausflug vonnöten. Es gibt nun im Deutschen generell keine eindeutige Schreibung zur Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen. Ein mit einfachem Vokalzeichen geschriebener Laut kann lang oder kurz sein, weswegen zur Kennzeichnung eines kurzen Vokals der folgende Konsonant verdoppelt wird. Umgekehrt gibt es eine Reihe von Schreibungen für lange Vokale, die gleichsam nicht das Vokalzeichen selbst verändern, oder an ihm ausgeführt werden: Dehnungs-h, Doppelvokal und Dehnungs-e. Die Verdoppelung des nachfolgenden Konsonanten zur Markierung der Vokalkürze gibt es natürlich auch beim s. Und so schreibt man -ss- zur Bezeichnung der Vokalkürze; daß dieser Laut stimmlos sein muß, folgt aus der Stellung (nach Kurzvokal hochsprachlich nur stimmloses s!). Man kann nicht Mase schreiben, weil dort das s stimmhaft und der Vokal lang ist. Man kann auch nicht Maße schreiben, weil dort zwar der S-Laut stimmlos, der Vokal aber immer noch lang ist. Also schreibt man Masse/Maße/Masern. Das ist nun schon in nuce die Schreibregel nach neuer Rechtschreibung. So viel Erklärungsaufwand ist also schon für die neue Rechtschreibung nötig, wenn man die Hintergründe verstehen will. Nach alter Rechtschreibung gab es eine einschränkende Zusatzregel. Sie ist sehr einfach und lautet: Gerät ss im Zuge einer Beugung oder Ableitung an den rechten Silbenrand, verwandelt es sich in ß. Das ist alles. Zu schwierig? Das ss in müssen etwa verwandelt sich in der Wortform mußt oder muß in ß, ebenso wie in müßt und gemußt. Das ss in küssen verwandelt sich im Singular Kuß in ß. Doch Vorsicht: Wenn es keine Wortform gibt, in der überhaupt jemals ss geschrieben wird, dann ist die Regel null und nichtig. Sie gilt nur als Beziehung zwischen Wortformen mit intervokalischem ss und Wortformen, in denen dieses ss nicht mehr intervokalisch ist, sondern am rechten Silbenrand steht. Daher schreibt man nicht *wenigess, *Resst, *Rosst oder *Rasst (oder *wenigeß, *Reßt *Roßt, *Raßt), weil es zu diesen keine verwandten Wortformen oder Ableitungen mit S-Laut in intervokalischer Stellung gibt.
Aber leider leider … gibt es Ausnahmen. Sie betreffen vor allem den Auslaut von Wortstämmen mit Langvokal. Hier ist die Schreibung einfach nicht voraussagbar. Laut Regel müßte man Apfelmuß schreiben, da Langvokal. Natürlich ist es überflüssig, weil im Auslaut keine stimmhaften Laute vorkommen, dennoch wäre es systematischer. Dasselbe gilt für aus (aber man schreibt außen, weil die Stellung relevant ist!), und auch für Eis. Für Wörter wie Maus kann argumentiert werden, daß die verwandten Wortformen (Mäuse) einen stimmhaften Laut haben. Und umgekehrt ist die Schreibung Geheimnis regelwidrig, weil es eine korrespondierende Wortform mit ss gibt (Geheimnisses, Geheimnisse).
Der einzige Ausweg aus dem Dilemma wäre eine konsequente Markierung von Lang- und Kurzvokalen und entweder die Schreibung von s für jeden stimmhaften Laut und nur für diesen, und von ß für jeden stimmlosen Laut; oder aber die Einführung eines neuen Zeichens für den stimmhaften Laut und die Schreibung von s für den stimmlosen (dies würde auch dem Umstand Rechnung tragen, daß s in den allermeisten Sprachen einen stimmlosen Laut, z den entsprechenden stimmhaften Laut bezeichnet). Eine die Tradition und das vertraute Schriftbild halbwegs wahrende Kennzeichnung von Lang- bzw. Kurzvokalen ist aber unmöglich, wie wir unten sehen werden.

Orthographisches (1): Sprachregeln und Schreibregeln

Orthographisches (3): Von Schwierigkeiten & Reformen

Orthographisches (1): Sprachregeln und Schreibregeln

Wannimmer im deutschsprachigen Raum über das leidige Thema der Orthographie verhandelt wird, geschieht dies mit ebensoviel emotionalem Engagement wie völliger Unkenntnis der einfachsten linguistischen Zusammenhänge und unter Vorbringung derselben und aberderselben von ebendieser Unkenntnis zeugenden Argumente; dies will ich zum Anlaß nehmen, mich einmal in aller Ausführlichkeit dazu zu äußern.
Es empfiehlt sich vielleicht, zunächst die Hauptirrtümer zur besseren Übersicht aufzulisten:

  1. Verwechslung von Sprache mit Orthographie sowie Unkenntnis der Eigenarten des Sprachwandels und Unkenntnis des Wesens von Orthographieregeln. Vielleicht das meistgehörte Argument gegen die Rechtschreibreform bzw. gegen eine Regulierung überhaupt ist die Vorstellung, unsere Sprache könne auf alle möglichen Arten „Schaden“ nehmen. Die neuen Regeln „verhunzen“ unsere Sprache. Die Reform „schade“ der Sprache. Sprache sei „ein Kulturgut“, das man nicht „kastrieren“ dürfe. Und so weiter.
  2. Unkenntnis der Phonologie des Deutschen. Wie sich besonders in der Diskussion um das „ß“ beobachten läßt, kennt kaum jemand derer, die hier eine ganz entschiedene Meinung geharnischt vortragen, die zugrundeliegenden phonologischen und darauf bezugnehmenden orthographischen Regeln.
  3. Der dritte Irrtum betrifft die angebliche bessere Lernbarkeit oder Schwierigkeit der alten oder neuen Schreibung. Ein Teilaspekt dieses Irrtums besteht darin, zu glauben, wir seien uns beim Schreiben der Regeln ständig bewußt. Dieser Irrtum verkennt die Mechanismen des Lernens, wie beispielsweise, daß am einfachsten zu lernen ist, was am häufigsten angewandt werden muß.
  4. Ein vierter Irrtum verkennt die Beweggründe der Befürworter und Ablehner einer vereinfachten Rechtschreibung.

Bevor ich mich dem ersten Punkt widme, noch eine Anmerkung. Die folgenden Ausführungen beziehen sich natürlich nur auf Alphabetschriften. Das sind Schriften, die sich den Umstand zunutze machen, daß jede Sprache nur eine begrenzte Zahl von Lauten aufweist (das sogenannte Phoneminventar), die in immer anderen Kombinationen eine (prinzipiell) unbegrenzte Zahl von Wörtern bilden können. Eine Sonderform, und vielleicht die Idealform der Alphabetschriften ist die phonemische Schrift: Ihr Vorzug besteht darin, daß sie ein Zeichen für jeden Laut der Sprache hat, und jeder Laut genau ein Zeichen, das ihn abbildet. Einfacher ausgedrückt: Man weiß immer, wie man etwas Geschriebenes auszusprechen oder etwas Gehörtes zu schreiben hat.

Rechtschreibregeln sind, wie überhaupt die ganze Fixierung von Sprache mittels Schriftzeichen, etwas Künstliches und Gemachtes. Schreibregeln sind von ihrer Natur her immer explizit. Ihre Formulierung und Erlernung erfordert ein Nachdenken und ein Sich-bewußt-Werden, wie überhaupt die Erfindung der Schrift eine intellektuelle Leistung war. Schrift ist sekundär, der Sprache nachgeordnet. Deshalb verändern sich Schreibregeln auch nicht (jedenfalls nicht, solange es eine amtliche oder ähnlich für alle verbindliche Regelung gibt), es sei denn, jemand beschließt eine Änderung. Weil aber einerseits Schreibregeln ersonnene und starre Konstrukte, Sprachen andererseits sich fortwährend wandelnde Regelsysteme sind, folgt daraus, daß jede Orthographie irgendwann entweder historisch einen älteren Sprachzustand abbildet oder bewußt geändert werden muß, wenn sie dem aktuellen Sprachzustand folgen soll. Bestes Beispiel für eine historische Schreibung: die englische Rechtschreibung. Warum schreibt man „enough“ und „laugh“ statt, sagen wir, „inaf“ und „laf“? Weil die Aussprache früher anders gewesen ist, die diese Aussprache abbildende Schreibung sich aber nicht geändert hat: Früher wurde laugh etwa „lach“ gesprochen (vgl. dt. lachen), und der Velarlaut noch plausibel mit „gh“ wiedergegeben. Die Veränderung des Velarlauts zum Labial hat die Schrift nicht mitgemacht, daher klaffen jetzt Schreibung und Aussprache auseinander. Historische Schreibungen haben nun Vorteile und Nachteile. Vorteile haben sie besonders für historische Sprachwissenschaftler; für die übrigen Benutzer des Alphabets ist es unerheblich, ob sie wissen, daß laugh früher „lach“ gesprochen wurde, oder daß Ziegel ein lateinisches Lehnwort ist (eigentlich müßte man es „tiegel“, oder gleich „tegula“ schreiben). Die Nachteile liegen auf der Hand.

Sprachregeln dagegen sind nicht gemacht, sind nicht explizit und werden spontan erworben. Ihre Kenntnis ist unbewußt, und ihre explizite Formulierung ist so schwierig, daß sich dafür eine eigene Wissenschaft entwickelt hat: die Linguistik. Mit anderen Worten: jeder Mensch ohne spezielle Beeinträchtigung kann sprechen, ohne die Regeln der Grammatik bewußt zu kennen. In dieser Hinsicht gleicht das Erlernen der Rechtschreibung ein bißchen dem Erlernen einer Fremdsprache, deren Regeln meistens auch bewußt gelernt werden. Schreibregeln sind also der Sprache nachgeordnete, künstliche, explizit formulierte Abbildungsregeln, die durchaus mit Verkehrsregeln vergleichbar sind. Es ist nun leicht einzusehen, daß eine Änderung der Schreibregeln die Sprache völlig unangetastet läßt. Eine Sprache ist prinzipiell von jedem sie abbildenden Schriftsystem zu trennen. Befürworter der alten Rechtschreibung können sich daher schwerlich auf „die deutsche Sprache als gewachsenes Kulturgut“ berufen, in das man nicht eingreifen dürfe. Natürlich ist die deutsche Sprache ein gewachsenes Kulturgut; als solche ist sie aber von den zufälligen Gegebenheiten ihrer schriftlichen Fixierung unabhängig. Es schert die Sprecher des Deutschen wenig, ob sie „so genannt“ oder „sogenannt“ schreiben. Es hat keinerlei Einfluß darauf, wie die Sprecher sprechen, und also keinerlei Einfluß auf die Sprache. Auch die deutsche Rechtschreibung ist in gewissem Sinne ein gewachsenes Kulturgut; das sind aber auch die Verkehrszeichen und das DIN-A4-Format und fünfstellige Postleitzahlen. Ich kenne nur wenige, die sich beispielsweise über die neuen Bahnübergangsschilder und die Adaption des Eisenbahn-Ikons an moderne Verhältnisse beschweren würden. Zwar hat die Schriftlichkeit als solche durchaus einen Einfluß auf die Sprache, da sie, sofern es eine Alphabetschrift ist, lautliche Aspekte der Sprache den Sprechern bewußt machen kann, und weil sie auch die mündliche Rede beeinflußt, wenn nämlich Schriftsprache im mündlichen Bereich Vorbildfunktion übernimmt. Dieser Einfluß gilt aber für jede Form der Schriftlichkeit; es ist nachgerade albern zu meinen, die Schreibung von ss oder von ß habe irgendeinen Einfluß auf Deutsch als Sprache. An der Abschaffung des leidigen th in Wörtern wie Thor, Thür, That ist die deutsche Kultur auch nicht zugrundegegangen (obwohl der Kaiser darauf bestand, daß weiterhin Thron geschrieben werde). Ob und inwiefern nun das gewachsene Regelsystem einer Orthographie ein schützenswertes Kulturgut ist, das genau ist die Frage. Franzosen und Engländer würden hier sicher zugunsten des Schutzes plädieren. Dies ist aber kein Streit, der mit Argumenten des Nützlichen entschieden werden kann: Das müssen die Verfechter der alten Orthographie einsehen.

Orthographisches (2): S-Laute des Deutschen und ihre Schreibung

Orthographisches (3): Von Schwierigkeiten & Reformen