Autor: solminore
Παρακλαυσίθυρον
Ein Ort, der nur uns zwei gehört hat, und nun beansprucht ihn ein dritter, der Rechtmäßige, der Legitime, beansprucht, was ich, als illegitimer amator, nicht beanspruchen darf. Vielleicht liegt es daran, daß ich jeden Ort, an dem ich mich einmal heimisch gefühlt, den ich mir anverwandelt habe, als mein Territorium anschaue; vielleicht liegt es daran, daß Orte für mich wie Personen sind, Wesen, gute Dämonen, fühlbar von Laren und Penaten regiert; vielleicht auch daran, daß es nicht viele Orte gibt, die uns allein gehörten; oder ich bin einfach nur entgegen meiner Gewohnheit rasend eifersüchtig — jedenfalls ist es ein Schmerz, der neu und überraschend ist. Aber weh tut nicht, daß ihr euch küßt und vielleicht miteinander schlaft, wie es euer Recht ist; sondern allein, daß ihr es dort tut.
Martial 1,25
Gib doch endlich, Faustinus, die Bücher heraus deiner Feder!
Aus der gelehrsamen Brust fördre zutage das Werk,
das selbst das feine Athen mit Recht nicht verreißen wird können,
noch Roms greise Kritik stillschweigend mag übersehn.
Fama steht vor der Tür, und du scheust dich, hinein sie zu bitten?
Warum verdrießt’s dich, der Müh’ Frucht auch zu bringen nach Haus?
Zwar Papier ist geduldig. Doch magst auch siegreich im Werk du
weiterleben, vom Ruhm wirst du nichts hören im Grab.
Ede tuos tandem populo, Faustine, libellos
et cultum docto pectore profer opus,
quod nec Cecropiae damnent Pandionis arces
nec sileant nostri praetereantque senes.
Ante fores stantem dubitas admittere Famam
teque piget curae praemia ferre tuae?
Post te uicturae per te quoque uiuere chartae
incipiant: cineri gloria sera uenit.
Unsichtbar
Ich sitze auf dem Baumstumpf, wo ich immer sitze, und trinke mein Bier in der rasch anziehenden Abendkälte. Der Wald ist noch winterkahl, hell, die Bäume stehen weit und einzeln. Nur das alte Laub ist lebendig, läßt sich von einem kaum merklichen Windhauch reizen. Es klingt wie der Tritt von Tieren, aber mein Ohr läßt sich längst nicht mehr ins Bockshorn jagen. Ich muß mehrere Äste von dem Plateau entfernen, die der Wind aus den naiven Pfadfinderlagern herausgebrochen und wie Knochen über den Grund verstreut hat. Um den Platz stehen Eichen, die Äste verkrampft zum Himmel gereckt. Im vergangenen Winter ist ein mehrere Meter langer Ast abgebrochen und hängt jetzt in der Gabel eines jüngeren Baums. Jedesmal scheint der Ort, wenn ich ihn nach Wochen oder Monaten wieder aufsuche, verändert, umgebaut, nach neuen Richtungen offen. Aber wie sehr ich mich auch strecke und den Winkel wechsle, den auf der Karte verzeichneten Hochstand habe ich noch nie gesehen, sehe ich auch diesmal nicht. Also bin ich doch wohl auch unsichtbar? Für wen auch immer: Noch sind Stimmen im Wald. Der behelmte Kopf eines Fahrradfahrers erscheint und schwebt an meinem Platz über dem Sichtschutz des Unterholzes vorbei. Erschreckend nahe, aber ich weiß, daß sich vom Weg aus der Blick sofort im Unterholz verliert, daß es unmöglich ist, den Fleck, wo ich gleich das Tarp aufspannen werde, zu identifizieren. Man muß nur in die Hocke gehen, schon ist man nicht mehr Teil der wohnenden Welt. Auf dem Hinweg hat noch eine Spaziergängerin wenige Schritte von dem versteckte Pfad entfernt meinen Weg gekreuzt; ein anderer ist zweihundert Meter voraus gegangen. Keiner hat mich bemerkt, wie ich ins Gebüsch geschlüpft bin. Jetzt schieben sich Stimmen heran, heran und vorbei. Menschen kehren heim, für die der Wald sich in ihrem Rücken voller Fremdheit schließt, wo er mich schützend aufgenommen hat. Dann bin ich allein, der letzte. Bis Mitternacht werde ich schlafen, ehe mich die Kälte weckt, bis ein Uhr weiterdämmern, dann aufgeben und durch die Vollmondnacht nach Hause wandern. Jetzt aber geht erst einmal der Mond auf und malt Fensterquadrate auf den Grund. Die Stimmen sind verhallt. Fern, im Ort, schlägt eine Kirchturmuhr acht. Das Laub krabbelt über den Grund. Ein Käuzchen ruft.
Frohe Ostern
Unterwegs
Wie ein Mensch langsam sichtbar wird, wie die Gestalt des Mädchens, die doch schon zuvor, bevor ich sie ansprach, weil sie auf meinem reservierten Platz gesessen hat (ihr Kopfnicken wissend, einverstanden, als hätte sie schon darauf gewartet, und zwar auf mich, als hätte sie nicht irgendeinen Fahrgast sondern diesen erwartet), vollständig gewesen ist, erst nach und nach sich zusammenfügt, als hätten die einzelnen Aspekte ihrer Erscheinung, erschreckt von meinem Auftreten, bis auf das Elementarste der Silhouette, der Figur, des Blicks, erschrocken das Weite gesucht, um erst in der Dauer der Zugfahrt von Köln nach Mannheim wieder zu der Form zurückzukehren. Ich mustere verstohlen die mir Gegenübersitzende, nachdem ich mich, schmollend, weil der Zug so voll ist, bis hinter Bonn in mein Buch vergraben habe (auch ich fortgescheucht, aber an einen inneren Ort, von dem ich nun langsam zurückkehre, um das Mädchen zu betrachten), korrigiere erst meinen flüchtigen Eindruck von vorhin auf älter, dann wieder zurück auf jung, als ich begreife, daß sie die Stirn in Falten legt, wenn sie etwas Aufmerksamkeit schenkt, und daß diese gespannte Grimasse ihr Gesicht älter erscheinen läßt. Älter oder jünger, ich komme zu dem Schluß, daß sie schön ist, auf eine sanfte, verletzliche, zweimaliges Hinschauen erfordernde Art, wie eine Illustration in einem alten Märchenbuch. Rotbraunes Haar, braune Augen. Bis sie endlich etwas ißt (einen Apfel, in den sie krachend beißt, was zu ihrer weichen, fließenden Erscheinung einen seltsamen Widerspruch bildet), bis sie also für kurze Zeit die untere Gesichtshälfte entblößt, rätsele ich herum, wie ihr Mund aussehen mag. Größer als erwartet (aber habe ich wirklich etwas erwartet? Solche Enthüllungen sind eigentlich immer gegen jede Erwartung, was so gut ist wie zu sagen, es gab keine Erwartung, mit der man den überraschenden Eindruck vergleichen könnte), ihre Lippen sind voll, die Mundpartie wirkt wie ein süßes Tier, das man plötzlich in einem leergeglaubten Terrarium findet, nicht nur äußerlich, sondern auch in seiner Schüchternheit, seiner Einfalt fast, seiner Selbstverlorenheit. Ehrlich wie ein Kind, und wie ein Kind leicht zu entrüsten, leicht zu verwundern. Mit ihrem Begleiter, einem Jungen, spricht sie in einer seltsamen Sprache, irgendwas Germanisches, der Zug fährt nach Zürich, ist es eine schweizerische Mundart? Später fällt mir auf, daß aus dem Mund des Mädchens dieses Idiom sich wie eine Fremdsprache anhört, mit deutscher Lautung, das r hinten in der Kehle, die Endkonsonanten stimmlos und scharf aspiriert, wie es nur Sprecher des Deutschen hinkriegen; irgendwann fällt ein Wort, eine Phrase, upstaan oder opstaan, ek denk, om dat ek, die mir das Idiom als Niederländisch kenntlich macht. Auch das Zögern, mit dem sie manchmal nach Worten sucht, läßt erkennen, daß sie eine Fremdsprache spricht. Manchmal scheint sie das Niederländische mit deutschen Phrasen zu vermengen, als würde sie gleich in die ihr vertrautere Sprache zurückfallen. Sie sprechen, soviel läßt sich erraten, über die Fahrt, mehrmals kommt der Name der Stadt Köln vor. Das Mädchen ist zerstreut, macht einen Denkfehler, korrigiert sich: Achso, von Köln! Ich vermute, sie hat sich Sorgen gemacht, ihr Platz mir schräg gegenüber könnte auch noch von jemandem mit Reservierung beansprucht werden. Dann wird ihr aufgegangen sein, daß der Platz ab Köln reserviert war, drei Stationen zurück, da wird jetzt keiner mehr kommen. Der Junge sagt etwas, das wie ein belustigtes Ach, Marijkje klingt. Habe ich das richtig gehört, ist das ihr Name? Wie passend für ein Mädchen, das Niederländisch spricht. Zwischen Mainz und Mannheim fragt sie den Jungen, wo sich die Toilette befindet, und der Junge zeigt die Richtung. Sie steht auf, bleibt eine Weile weg. Ich nehme mir vor, ihre aufrechte Gestalt nicht zu beobachten, versuche, mich ins Buch zu vertiefen, will den Blick nicht heben, hebe den Blick, und in genau dem Moment kommt sie zurück. Im Gehen sieht sie noch schmaler aus als im Sitzen, mit den zusammengeklappten, sortierten Gliedern. Ihre Schlankheit grenzt an Magerkeit, ich frage mich, ob sie eine Eßstörung hat, dem äußeren Eindruck nach, dieser Verletzlichkeit nach, die sie ausstrahlt, ist sie der Typ dafür. Als sie sich wieder gesetzt hat, fallen mir ihre langen Fingernägel auf, schade, weniger künstlich-kunstvoll als vernachlässigt, sind sie an den schlanken, anmutigen Händen (Märchenhände, auch sie) fehl am Platz. (Passend wären allerdings bis aufs Blut abgenagte.) Auf dem Handrücken hat sie einen Schriftzug, wie es Leute tun, die sich etwas auf die Hand schreiben, das sie nicht vergessen wollen (auch dazu ist sie der Typ), ich versuche, es zu entziffern, aber, P. bgdiseren oder so ähnlich, ich werde nicht schlau daraus. Sie kämmt mit den Fingern Strähne für Strähne, die sie sich über die Schulter gelegt hat, ihr Haar und nimmt eine Unterhaltung mit dem Jungen auf. Es fällt das Wort Irritacie (Irritatie?), mehrmals, een leichte irritatie, dann irgendwas, das mich an einen Arztbesuch denken läßt, und schließlich sagt sie lebhaft etwas, das klingt wie soll ich jetzt etwa ein Jahr warten?, worauf der Junge beschwichtigend die Hand hebt. Der Gedanke kommt mir, ob das Mädchen krank, ob die zwei vielleicht auf der Reise zu einem Spezialisten in der Schweiz sind. Einmal reicht sie ihre Hand — die mit dem Schriftzug — zu dem Jungen hinüber, der sie nimmt, einen Moment hält und streichelt. Ihre Hand ist schmal, sie sieht aus, als könnte sie dem Mädchen jederzeit verloren gehen. —
(Dezember 2021)
Wenn wir es schon so etwas Simples nicht hinkriegen, wie eine Uhrumstellung einfach bleiben zu lassen — die Sommerzeit kann exemplarisch für das Unvermögen der Menschheit stehen, aus schädlichen Erzählungen wieder herauszufinden.
Jeden Tag beginnen, als beträte man als ungebetener Gast ein fremdes Haus.
Aequinoctium
März und kein Dach. Die Bilder hängen im Freien, auf Koffern
hocken die Winde. Kein Ort, Zeit, wo du wärest zu Haus.
Ich sammle Tage an, an die ich nicht gerne zurückdenken werde.
Tempora mutantur
Es gibt nicht viel Konstanteres und Älteres in meinem Leben. Zwanzig Jahre — kaum ein Ereignis, ein Anfang, eine Errungenschaft, die nicht in diese Zeit hineinragen, von ihr grundiert würden. Darin enthalten sind zwei Kanzlerwechsel; die Huygenssonde; drei Päpste; ein Austritt aus der EU. In zwanzig Jahren wird ein Mensch erwachsen. Trägt ein Nußbaum zum ersten Mal Früchte. Dieses Blog ist jünger als der Beginn dieser Zeit. Mein Lateinstudium ist jünger. Zweimal die Wohnung gewechselt. Das Wandern in der Eifel begonnen. Den Marathon. Ja, selbst meine Ehe ist jünger, ihr Beginn liegt schon mitten in diesem Strom, der nun endet. Und was endet da! Nie hab ich das gewollt, daß der Beruf einen solchen Raum gewinnt. Nun will mir kaum etwas Bedeutsameres einfallen als die in diesem Rahmen eingefaßten, gehaltenen und geordneten Vormittage. Etwas, das halt auch noch da ist, nebenher mitläuft, keine besondere Wichtigkeit in mein Leben wirft, so hab ich es haben wollen, so hab ich es mir eingerichtet. Mag sein, es ist sogar gelungen, aber im Rückblick fühlt es sich nicht so an. Da stellt es sich vielmehr heraus, als hätte alles Schöne seinen Halt in dieser Routine; als hätte alles Schlimme auch seinen Trost darin gehabt. Routinen sind unterschätzt, in unserer alles Neue preisenden, aufgeregten Welt bringt man sie gerne mit Langeweile und einem Alltag zusammen, dem regel- und reflexhaft das Farbwort grau beigegeben wird. Für mein Leben sind sie immens wichtig, die Routinen, ohne bin ich unglücklich. Es ist indessen schwer, sehr schwer, in Routinen hineinzufinden und noch schwerer, sie auch gelingen zu lassen.
Abnehmend
Das einzige, was zunimmt, ist die Angst.
Und das war nun also auch dieses Jahr, und nichts mehr daran zu korrigieren. Gestern beim Einschlafen meinen Kummer mit dem Gedanken besänftigt, daß, egal wie es gewesen wäre, ich doch an diesem wie an allen Jahren immer etwas fehlen finden würde.
Egal, wie sehr man plant; wie streng man sich an die Vorsätze hält; wie genau man durch die Zeit steuert, wie sorgfältig man Orte zum Verweilen auswählt, Wege ansteuert, Verrichtungen einübt und Rituale: es bleibt ein unverfügbarer Rest, der sich einstellen muß, damit gelingt, was gelingen soll. Es muß sich etwas dazugesellen, eine Gnade, ein Segen, der durch nichts zu erzwingen ist, ja, sich vielleicht sogar umso mehr entzieht, je mehr man ihn herbeizuziehen versucht. Es ist nur sehr schwer, sich zu öffnen für etwas, das sich vielleicht nicht einstellen wird. Und unmöglich zu merken, daß man es gerade erfährt, in dem Moment, wo es sich doch einstellt. Wenn man die Berührung spürt, ist sie schon vorbei. Man spürt sie nicht, niemals, man hat sie immer erst gespürt.
Solstitium
Spuren im Schnee, die uns folgten, wie waren wir Teil unsres Rätsels.
Einst, als noch nichts uns befahl, Teil auch der Lösung zu sein.
Ich finde inzwischen diese Filme oder Romane zum Kotzen, die einen wie auch immer gearteten “Gegenschlag” oder “Rachefeldzug” der Natur gegen die Menschheit in Szene setzen. Ja, damit ist uns allen geholfen, wie? Soll uns das aufrütteln, oder was? Indem eine Fiktion unsere Sehnsucht nach Strafe erfüllt, danach, endlich von einer höheren Gewalt in unsere Schranken gewiesen zu werden? Indem wir uns ausmalen, wie die Natur zurückschlägt, suhlen wir uns in unserer eingestandenen Schuld und fühlen uns so richtig wohl dabei, wie eine Wildsau im Schlamm. Der Grund für die Freude an solchen Erzählungen dürfte eine ebenso verführerische wie trügerische Katharsis sein. Na, geht’s jetzt besser? Wer sich vom Grauen eines “Schwarms” oder von Ameisen, die die Herrschaft übernehmen, oder sonst einem Kokolores anwehen läßt, darf sich für einen Moment auf der richtigen Seite wähnen, wie die Propheten, wie die Autoren der Sintflutgeschichte. Wir lesen den “Schwarm” oder das Alte Testament und fühlen uns schon vom Grusel genug bestraft. Zumindest aber sind wir ja im Lager der Aufgeklärten, derer, die sich so ein fiktives Szenario überhaupt antun, die den Mut haben, sich den düsteren Visionen überhaupt zu öffnen. Derer, die noch ein Gefühl für Gerechtigkeit, mithin der eigenen Schuld haben. Der zweite Grund liegt darin, daß wir in einer solchen Fiktion nicht mehr verantwortlich sind. Wir sind darin nicht mehr die Obermacker des Planeten. Etwas ist größer als uns, und endlich müssen wir nicht mehr wählen. Endlich tut jemand was. Endlich wird für uns entschieden. Wir brauchen nicht mehr gut zu sein! Herrlich. Diese Befreiung ist schon einen Weltuntergang wert. Ist ja nur Fiktion.
Zum Kotzen finde ich auch diese selbstgefällige Attitüde, mit der manche Zeitgenossen das Artepitheton unserer eigenen Spezies in Anführungszeichen zu setzen belieben, also Homo “sapiens” sagen, “sapiens”, höhö, wobei sie sich selbst natürlich implizit von den Anführungszeichen wieder ausnehmen, als gehörten sie schon deshalb nicht zu den nur vermeintlich Verständigen, weil sie solche Distanz einzunehmen imstande sind. Nicht wahr? Und dann steigen wir wieder ins Auto, bestellen ein fettes Steak und planen die nächste Reise in die Karibik. Und pflastern unseren Vorgarten, ohne daß uns in den Sinn kommt, daß jedes ausgezupfte Unkraut genau davon handelt, was wir gerade als gruselige Fiktion im “Schwarm”, ja, geben wir es ruhig zu, genossen haben. Es ist wie eine Beichte, und die Buße macht auch noch Vergnügen — weil sie uns von den wahren Umweltsäuen distanziert. Das sind nicht wir, neinnein! Wißt ihr was? Es ist geheuchelt und widerlich. Ihr sagt “sapiens”, höhö, aber ihr könnt nicht dumm sein wollen. Was tut ihr, um zu beweisen, daß ihr es nicht seid? Es ist dumm, an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt; sich selbst aber als dumm zu bezeichnen — und munter weiterzusägen, das ist … das ist … ich weiß auch nicht mehr, was das ist. Ihr könnt auch nicht wollen, daß die Natur wie in den Filmen und Romanen oder der Herr in der Bibel ernst macht und Konsequenzen zieht, also schreibt und lest nicht so einen Unsinn, tut lieber was. Oder, noch besser, tut nichts, laßt bleiben. Laßt bleiben, was ihr gerade vorhattet. In aller Regel ist es nämlich nicht gut für das Leben auf diesem Planeten.
Grube Marie
Auf dem Burgenweg von Würxheim nach Hürxberg an der “Grube Marie” vorbeigekommen, dem aufgelassenen spätmittelalterlichen, im 18. Jahrhundert für kurze Zeit noch einmal bewirtschafteten Blei- und Silberbergwerk. Auf den Infotafeln sollen längliche Kleckse, über ein Geländeschema mit einem Bach und Wegläufen gelegt, die Stollen darstellen, die unter Bach und Weg im Grund verlaufen, da, wo ich jetzt vor der Infotafel stehe, unter meinen Füßen also. Sich tief unter einem Waldbach durch einen Stollen zu bewegen, ist eine paradoxe Vorstellung, aber offensichtlich war sie schon für mittelalterliche Bergleute nicht zu abwegig. Jede Abbauphase ist in einer anderen Farbe dargestellt, an Unübersichtlichkeit kaum zu überbieten, aber gerade das macht die Anlage so geheimnisvoll und anziehend, manche Kleckse haben die Form von Höhlen und stellen eine Assoziation mit ägyptischen Grabkammern her. Den Eingang (“Lebensgefahr! Betreten verboten!”) versperrt eine Wellblechplatte, die mit einem Vorhängeschloß gesichert ist. Dahinter Dunkelheit, aus der es modrig riecht, links gerade noch zu erkennen: eine Art Lore, ein metallenes Ding, vermutlich auf Rädern. Eine weitere Infotafel zeigt Photographien: Gänge mit niedrigen Felsdecken, Besucherstege, Lampen, Geländer, im Hintergrund mehr Stollen, mehr Dunkelheit. Ich stelle mir die Arbeiter des Mittelalters vor, fünfzehntes Jahrhundert, keine Maschinen, jede Verrichtung, vom Stollenvortrieb bis zur Wasserhaltung, mußte mit menschlicher oder tierischer Arbeitskraft erledigt werden. Mit welchen Gefühlen sind die Kumpels damals hier eingefahren (oder vielmehr gegangen, denn eine Fahrkunst gab es nicht), in dieses modrige Dunkel, das mir noch Jahrhunderte später durch den Spalt entgegenmieft? Ich schaue auf zu den Bäumen, den Eichen und Buchen, deren Wurzeln dort unten hineinreichen müssen. Anzusehen ist ihnen nichts. Nichts von den Unruhen im Grund, dem gestörten Gestein, den zerrissenen Muskeln der Erde. Die Wege liegen voll von Eicheln, es sind die gleichen Früchte wie schon vor sechshundert Jahren. Eine Bank mit etwas Herbstlaub darauf steht an der Wegbiegung. Niemand, scheint es, kommt hier je vorbei. Die Bank wird nicht so lange überdauern wie die Grube.
Schichten
“Mit einer gut funktionierenden Nase können Sie hier und da Faulgase wahrnehmen.” Das lese ich auf einer Infotafel, die das Gelände, ein lichter Pappelwald, als 1978 stillgelegte, renaturierte Mülldeponie ausweist. Minuten zuvor hatte ich mich über den Duft von vergammeltem Kohl gewundert, der zart in der Luft schwebte, und in Hundekot seinen Ursprung vermutet. Die Vorstellung, über vier Jahrzehnte alten Hausmüll zu laufen, ist nicht allein deshalb reizvoll, weil, was in zwei Metern Tiefe als vermoderte Schicht beginnt, Überreste von Gegenständen enthalten muß, die auch ich in meiner Kindheit hätte weggeworfen haben können, eine Capri-Sonnen-Tüte, eine Fritt-Verpackung, ein Sammelalbumtütchen, Durchschlagspapier, eine Audiokassette mit Bandsalat und andere heute vielleicht vergessene Dinge. Es hat auch seinen Reiz, darüber nachzudenken, daß diese Dinge unter meinen Füßen Spuren gelebter Leben sind, daß die Verpackungen, Staubsaugerbeutel und Porzellanscherben einmal in einem Einkaufswagen, in einer Besenkammer, in einer Küche standen, betrachtet, befühlt, benutzt wurden, Teil eines Alltags von Menschen waren, die in irgendeiner Beziehung zu ihnen standen — und daß diese Dinge jetzt da unten irgendwo immer noch liegen und vielleicht über die Hand nachgrübeln, die sie einst fortwarf; während einer wie ich dort langgeht, über den Schatten der Dingwelt, die einmal der Welt der Lebenden angehörte, und nun nicht mehr — aber immer noch, am Ende einer seltsamen Kausalkette (wie alles am Ende einer solchen Kette) existiert und, grübe man es aus, mit einiger Eingebung und Phantasie wohl auch noch — als Erzählung, als Zentrum eines Kontexts — deutbar wäre. Es braucht keine Archäologie dazu. Zur Faszination trägt auch jener komplizierte Nimbus bei, der stets anziehend wirkt an Aufgegebenem, Verlassenem, Zurückbleibendem. Die Geisterstadt Prypjat, aufgelassene Bergwerke, Schiffsfriedhöfe, geflutete Tunnel, Wracks am Grund des Ozeans, verstummte Raumsonden auf dem Mars. Gelebtes Leben, Reste, was übrig bleibt — aber auch Spuren, Geschichten und in den Geschichten die Geister, die darin wurzeln, die auf sublime Art manifeste Vergangenheit, die in den Gegenständen weiterwirkt, den Gebäuden, den überwucherten Straßen, den zerfallenden Artefakten. Man möchte sich eine besondere Spezies intelligenter Archivarwesen vorstellen, die sich überall dort ansiedeln, wo menschliches, in Narrativen sich artikulierendes Leben verschwunden ist, nachdem es dort längere Zeit ansässig war, auf seine Umwelt einwirkte und katalogisierbare Spuren hinterließ. Jemand, stelle ich mir vor, muß davon noch leben. Nicht im materiellen Sinn, nicht, indem es alte Kaffeefilter frißt. Sondern, indem es sich von sublimen Mustern abgelegten Lebens nährt, den morphogenetischen Prägungen praktizierter Lebensbewältigung, von den Geistern, den sedimentierten Schichten der Geschichten.
Geographie
Ein Eichhörnchen im Kirschbaum; die kaum knöcheltiefe, kieselklare Oure; die Ebene mit Blumenwiesen nach der einen, Gerstenfeldern nach der anderen Seite; die Hügel in der Ferne, deren Füße in der Tiefe verborgen im Fluß stehen; eine Ortschaft an den Hang geklebt, die wir kennen müssen und nach Auskunft der Karte tatsächlich kennen. Nasse Hunde interessieren sich für die Brötchentüte und stolpern über den Rucksack, Grabmale stehen in Grüppchen beieinander, beschattet von voluminösen Eichen. Symboliken des Untergangs, kirchenartige Oberflächen im Bogengang, Inschriften, die von einem Grauen berichten, das an diesem wunderschönen Ort ungreifbar und fern ist. Eine Art Dankbarkeit stellt sich ein, darüber, daß dieser Ort, indem er an das Böse erinnert, es für uns weit wegführt, an einen anderen, verschlossenen Ort voller Dunkelheit. Hier aber käme man gern öfter her, Friede strömt von den Eichen, dem Gras, dem Mäuerchen, das Licht steht ringsum in den Feldern, am Fluß ziehen die Weiden stromauf und stromab wie sanfte Herden.
Alte Wege, vertraute Orte flüchtig aufgesucht, wir haben es eilig, nach Hause und ins Bett zu kommen. Ich sage, hier haben wir uns über Iain M. Banks unterhalten, meine inneren Landkarten sind voll von solchen Orten, die mir, egal wo, Wehmut nach etwas Verlorenem einflößen. Je älter ich werde, desto mehr bevölkert sich die Geographie meiner Erinnerungen mit unerreichbaren Orten der Zeit und der Sehnsucht.
Aequinoctium
Nichts ging verloren. In Schwärmen zahllos, zählten den Flug, auf
Heller und Pfennig genau, Vögel den Winden ins Buch.
Hürxberg am Ellerntubel
Und der Weg hinunter, der halbwilde Weg den Bach entlang hinunter zum Wasserbehälter (wo man die Ebene sieht, die ganze Heimat auf einmal im Blick), da ist das Licht viel später, als es die Uhr sagt, und ich gehe ihn in der Dämmerung, dabei ist es erst vier Uhr, die Septembersonne noch warm und hoch am Himmel, ich gehe ihn in einer dämmrigen Abendstunde, allein deshalb, weil ich hier nach Hause gehe, wie ich nirgends auf der Welt jemals nach Hause gehen werde.
Und das ist alles so fraglos wirklich: die unverputzte Scheunenwand mit den Fenstereinlassungen ohne Scheiben, die roten Ziegelsteine zwischen den grauen, wie ein Strickmuster, die helle Mauer, die von einer Sonne, die man nicht direkt sehen kann, angestrahlten Dächer, und dahinter die grauen Regenwolken, vor denen das Mauerwerk noch heller strahlt, wie ein frisch restauriertes Fresko, das wir, nachdem wir es nur in Braun- und Grautönen kannten, nun zum ersten Mal in seiner echten Farbenpracht betrachten.
Die echte Farbenpracht. Was aber ist echt? Warum ist es echt? Und was verbindet mich mit diesem Anblick, daß ich die Sehnsucht verspüre, hier Abend für Abend zu sitzen und nichts weiter zu sehen als die Scheunenwand, eine Fläche, auf der meine Gedanken kommen und gehen? Mauern, Ziegel, Firste, alles so fest wie auf einem Bild, auf etwas Gemaltem. Wirklicher als echt. Manchmal ziehen eine Handvoll Sperlinge, ein Schwarm Stare vorüber, als hätten meine Gedanken, mir in ihnen abhanden gekommen, Freiheit erlangt.