Wuppertalsperre

Huh! Hah! Oh, oha!

Die Geräusche sind unmißverständlich. So nah sind die Stimmen, wenn ich mich ein bißchen recke, müßte ich die beiden sehen können. Tatsächlich, da schimmert ein Kopf durchs Gezweig. Also bin ich heute nicht alleine hier. Das ist gar nicht verkehrt. Wenn andere auch so verrückt sind wie ich, stehen wir schon zu dritt gegen eventuelle behördliche Spaßverderber. Erheitert entkleide ich mich und stopfe die Sachen in den Rucksack.

Huah, ist das kalt. huh, ist das kalt, ist das kaaaahalt!

Wieso, ich bin doch noch gar nicht drin?

Kaaaahalt! Huh!

Boje umschnallen, Schwimmbrille auf und rein ins Wasser. Das Wasser verändert sich mit der Zeit, höre ich die Stimme, jetzt ruhiger, sagen. Nach ein paar schnellen Zügen Kraulstil sehe ich einen Frauenkopf mit Schwimmbrille ufernah vorbeidümpeln. Das Gesicht der Schwimmerin ist zum Ufer gewandt, sie sieht mich nicht, oder, so mein Eindruck, sie will mich nicht bemerken. Und mit wem spricht sie eigentlich? Mit sich selbst? Oder mit dem Hund, der am Ufer steht und uns einigermaßen fassungslos zusieht? Dabei muß ich ihr recht geben, das Wasser verändert sich, nicht alleine seine Temperatur, sondern auch seine Textur, die Art der Reibung, die es auf die Haut ausübt. An manchen Tagen ist es härter, wie grobkörnig, an anderen weich, geschmeidig, durchlässig. Manchmal ist es schwerer, dann wieder wiegt es fast nichts. Schon die Art, wie es in seinem Talbett liegt, ist wandelbar. Mal ist der Raum zwischen den Hängen wie mit Blei ausgefüllt, dann wieder scheint die Flüssigkeit so beweglich wie Nebel, mal wirkt die Masse prorös, spröde, dann wieder kompakt; oder luftig, oder aufgerauht, oder schwammartig-dicklich. Wenn es sehr kalt ist, beißt das Wasser wie Chili oder Pfeffer.
Weil man sich als die einzigen zwei Schwimmer auf zehn Quadratkilometer Wasserfläche schlecht ignorieren kann, wünsche ich guten Morgen, als ich vorbeischwimme. Ich habe schon ein Sprüchlein auf den Lippen wie, daß bei so viel Andrang demnächst die Überfüllung drohe, aber die Frau scheint nicht zu Späßen aufgelegt. Tatsächlich scheint es ihr unangenehm zu sein, daß da noch jemand im Wasser ist. Als hätte ich sie bei etwas Unziemlichem ertappt.

Oder bin ich derjenige mit der Unziemlichkeit?

Später unterhalte ich mich mit einer Freundin darüber. Ich hätte, sage ich, der Mitbadenden fast ein Scherzwort zugerufen, oder zurufen wollen, aber die Dame habe nicht so ausgesehen, als würde sie Spaß verstehen. Die Freundin, etwas streng, meint, wer als Frau alleine schwimmen gehe, wolle nicht angesprochen werden. Das sei zwar, erwidere ich, idiotisch, aber dann hätte ich, indem ich mich auf ein Guten Morgen! beschränkte, alles richtig gemacht. Nicht auszudenken, scherze ich, ich hätte auf die Badehose verzichtet. Die Freundin behauptet, das würde sie persönlich weniger stören als irgendwelche Kontaktaufnahmen. Oder würde ich mich gern ansprechen lassen, wenn ich in Ruhe meine Bahnen ziehen wolle? Ein Witzchen machen, finde ich, ist noch nicht ansprechen, aber die Freundin beharrt darauf, irgendwelche Witze oder Fragen, nee nee. Das läßt mir keine Ruhe. Ausnahmsweise nämlich habe ich mich mal gefreut, nicht der einzige Schwimmer zu sein auf weitem Spiegel. So etwas verbindet ja auch. Und zudringliche Menschen pflegen nicht so weit zu gehen, als Vorwand der Kontaktaufnahme ins Wasser zu steigen, wenn sie es ursprünglich nicht vorgehabt hätten. Und ganz bestimmt nicht mit Schwimmbrille und Boje hinter sich, da scheinen mir die Absichten klar zu sein. Aber vielleicht, vermute ich, sehe ich das anders, weil ich mich als Mann grundsätzlich nicht bedroht fühle. Wie sich das anfühlt, wird man als Frau wahrscheinlich so wenig begreifen, wie wir Männer das Gefühl ständiger latenter Bedrohung begreifen können, das Frauen zur zweiten Natur wird, wenn sie heranwachsen. Jedenfalls war ich fast ein wenig bestürzt, daß diese aus meiner Sicht spaßige Begegnung von der anderen Seite möglicherweise als so wenig lustig wahrgenommen worden ist. (Meine eigene Vermutung ist, daß der Schwimmerin bei meinem Anblick klar wurde, daß ihre Selbstgespräche mitgehört worden waren, und daß ihr das peinlich war. Huh!, Hah! Kahalt! — Mir wäre das jedenfalls peinlich gewesen.)

Ich lasse die Schwimmerin hinter mir, schwimme ein paar hundert Meter die Länge des Tals vor, quere zur anderen Seite rüber, schwimme zurück, und als ich mich wieder meiner Ablegestelle nähere, ist niemand mehr zu sehen auf der Wasserfläche, nicht Hund nicht Schwimmerin, die Verstecke und Einstiegsstellen am Ufer sind alle leer. Was an Stimmen zu hören ist, tönt von den entfernten Wegen übers Wasser. Ich steige ans Ufer, wo mein Rucksack in der Sonne leuchtet, und ziehe mich um, ohne einem Menschen mit meinem Anblick zu nahe zu treten.

Drei linguistische Beobachtungen

Über Sinn und Bedeutung: ein neuer Ausdruck der Jugendsprache fragt nach dem Sinn, wo eigentlich nur eine ablehnende Haltung oder so etwas wie milde Entrüstung transportiert werden soll. Neulich in der Bahn unterhalten sich zwei Schülerinnen über Vornamen. Ein Mitschüler von ihnen heißt Wolfgang, sie finden den Namen unmöglich. „Wie kann man sein Kind Wolfgang nennen?“ sagt die eine von ihnen, „Wo. Ist. Der. Sinn?“ Eine andere Mitschülerin heißt Susanne. Wo ist der Sinn? Susanne, meint eine, sei ein Name für Tanten und Großtanten. (Als wären die schon immer Tanten und Großtanten gewesen.) Einen Moment bin ich entsetzt, doch dann rechne ich ein bißchen. Die sich da unterhalten, sind dreizehn oder vierzehn. Und mir kommt Susanne völlig normal vor, weil ich altersgemäß schon nicht mehr der Vater, sondern wohl eher schon der Großvater der beiden sein könnte und also der Generation genau der Großtanten angehöre, die als meine Mitschülerinnen Susanne, Yvonne, Sibylle, Monika, Sandra, Michaela hießen, nur daß sie damals noch keine Großtanten waren. Ich dagegen finde, wie kann man sein Kind nur Emilia oder Greta nennen? Das ist ein Name für Großeltern! Wo ist der Sinn?

Busfahren ist eine stete Quelle linguistischer Puzzle und Preziosen. Auf einer anderen Fahrt belausche ich zwei junge Frauen, in Ausbildung oder Studium befindlich, aber um Jahre jünger, als ich in ihrem Alter war. Daß sie gebildet sind, daran besteht nicht der geringste Zweifel (einmal sagt die eine zur anderen „Dafür bist du nicht die geeignete Kontrollgruppe“), aber das Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch, das die zwei unter sich verwenden, ist haarsträubend. Für echtes code switching ist die Aussprache im Englischen, ansonsten für deutsche Lernsprecher ausgezeichnet, dann doch nicht native genug. Das ganze geht auch weit über die übliche Beliebtheit von Anglizismen hinaus. Ein Beispiel (geht um einen Typen): „Ich wäre halt nicht so confused und hurt und mad, wenn er sich wenigstens mal melden würde.“ Das geht so weit klar; aber dann fällt wieder und wieder ein anderes Wort, aus dem ich nicht schlau werde, ich kann es nicht einmal phonetisch auflösen. Es reimt sich auf rigid oder Bridget oder doch eher auf gadget? Und es scheint als Affirmation verwendet zu werden: „Ich wäre halt nicht so hurt, verstehst du?“ — „Rigid!“ „Man kann doch nicht mit dem besten Freund ins Bett!“ — „Gadget!“ Ich rätsele. Widget? Bridge it? Fudge kit? Zum Glück weiß ich, wen ich da fragen muß. Eine meiner Nachhilfeschülerinnen klärt mich auf: nicht Bridget, nicht gadget, legit heißt es, kurz für legitimate, und es bedeutet so viel wie „ganz recht“, „unbedingt“, „das kannst du laut sagen“.

Voll schöön! Voll süß! — Was ich schon länger geahnt habe, bestätigt mir Jutta Allmendinger im Gespräch mit Tilo Jung. Frauen werden oft ihrer Stimme wegen nicht ernst genommen. Zu hoch, zu schrill, zu süß, nicht laut genug: Es lasse sich experimentell nachweisen, so Allmendinger, daß man Menschen mit tiefer, sonorer Stimme eher zuhört und leichter Glauben schenkt, als solchen mit hoher, gar schriller Stimme. Nun mag man das für einen Fluch der Anatomie halten, der halt noch zu den übrigen anatomischen Flüchen hinzutritt, mit denen Frauen ohnehin schon beladen sind und an denen sie nichts ändern können. Aber eine hohe Stimme mag anatomisch bedingt sein, Schicksal ist sie nicht. Ein Bekannter, der von Berufs wegen viel vor Publikum sprechen muß, belegte an der Uni einen Stimmbildungskurs. Beeindruckt von den Fähigkeiten des Dozenten, eines Schauspielers, erzählte er mir von den Problemen, die eine der Teilnehmerinnen mit ihrer Stimme hatte: zu piepsig, zu flach, zu wenig tragfähig, nicht überzeugend. Der Schauspieler, so mein Bekannter, riet ihr, sie solle sich beim Sprechen vorstellen, daß sie gerade total genervt sei und ihren Frust ablasse. Treffer! Mein Bekannter sagte, der Effekt sei fulminant gewesen, die Stimme der Teilnehmerin habe völlig anders geklungen, nicht etwa genervt, sondern volltönend, sonor und voller Autorität. Also, liebe Frauen auf dem Podium, am Rednerpult, beim Vorstellungsgespräch, in der Diskussion mit Freunden: Erwartet nicht, daß man euer Gezwitscher ernst nimmt und laßt das Voll-schön-Gesäusel. Dann hört man euch viel lieber zu. Zumal, was die einen säuseln, als Klischee auf alle anderen abfärbt. Und bevor jetzt wieder eine den Finger hebt und mich des victim blamings bezichtigt: Man kann schmollend erwarten, daß die Welt sich ändere und gefälligst auch die eigene Piepsstimme ernst nehme. Oder man kann trickreich den Effekt einer tieferen Stimme für sich nutzen. Entscheidend ist eben nicht nur, wie wir auftreten, sondern auch, wie wir uns anhören. Gilt für alle, auch für Männer. Nur daß die nicht zum Säuseln neigen. Legit!

Hürxberg

Die Scheunenwand, stumpf von Wolken. Rechts eine Taube auf der Telegraphenleitung. Genau das könnte Frieden sein. Ein Abend, verschlafenes Spatzenrufen, brütende Wärme, die Scheunenwand, die den Sonnenschein von heute abend vergessen hat, Tauben, gespannte Drähte. Alles sehr still, seit langem verstummt, schlummernd. Nichts zu tun, keine Aufgaben, keine Pflichten, keine Sorgen. Dem Tag hat man geweiht, was zu weihen war, nun ruhen die Glieder, und die Augen auf der Scheunenwand. So oft geschautes Gemäuer, man kann sich nicht sattsehen daran. Man findet überall etwas zum Sich-nicht-sattsehen-Können. Überall, allezeit. Man schaut, und es kommen die Vögel. Man schaut, und sie fliegen wieder davon. Man schaut, und der Abend wird. Wird mit Wolken und Himmel, mit Drähten und Tauben und Mauerstein. Wird und ist geworden und geht und war.

Wuppertalsperre

Schon beim dritten Besuch ein alter Vertrauter: der Felsenfleck an der Höchstener Landzunge. Ab da geht es wirklich ins Offene, entferne ich mich definitiv von Rucksack, Handtuch und Klamotten. Das Wasser still, glatt, dunkel, mein Kielwasser die einzige Kräuselung, ich enpfinde fast ein Bedauern darüber, die glattgestrichene, perfekte Fläche zu zerschneiden, und nehme mit Befriedigung zur Kenntnis, daß das Wasser sich hinter mir wieder zum kratzerlosen Spiegel schließt.

Etwas unangenehm nur, gegen das Sonnenlicht zu schwimmen, mit zunehmend beschlagener Brille, das bewaldete Ufer verliert die Konturen und tritt in eine schattige Nichtentfernung ein. Rechts ein paar hundert Meter weg die wie gewaltsam ins Wasser tretenden Säulen der Krähwinkler Brücke, leuchtend in der Morgensonne. Autolärm fliegt von dort übers Wasser. Jenseits davon wird unweit der lächerliche Schwimmbezirk der einzigen offiziellen Badestelle des ganzen Stausees liegen, eingepfercht durch eine Bojenkette, damit niemand übermütig werde. Schon was ich während der ersten fünf Minuten zurückgelegt habe, ist dreimal so lang wie die Strecke zwischen Strand und Kette, und dafür soll ich auch noch Geld bezahlen?

Ich schwimme, umsonst und draußen. Unbeaufsichtigt, unversichert und frei.

Der schönste Moment war vielleicht, wo vier, fünf Meter vor mir zwei Gänse vom Wasser aufflogen, einen Strauß silbriger Trofen hinter sich her ziehend, in meiner Erinnerung werden die Tropfen minutenlang schwerelos in der Luft hängen.

Wenn ich das noch ein paarmal mache, bin ich für für jedes gekachelte Wasser verloren.

Wuppertalsperre

Einige Male in meinem Leben habe ich sehr schlimm gefroren, schlimmer als Zähneklappern, so schlimm, daß man sich vom Tod angehaucht fühlt. Ich weiß die Male noch genau: in der klirrenden Morgenfrühe, knapp 5000 m über und bei einem zweistelligen Celsiusbetrag unter Null, auf einem Gletscher unterhalb des Wayna Potosí, nach einer Nacht, in der ich vor Frost nicht schlafen konnte, darauf wartend, daß die Tour endlich begönne und wir uns warm gehen könnten; nach einem Bad im Freibad vor Jahren im September, wo mich die Kälte in der Umkleidekabine heimsuchte wie ein böser Geist; oder das stygische Frösteln, wenn man bei Fieber auf die Toilette muß; oder erst neulich einmal nach einem eisigen Bad auf dem windigen Weg vom Beckenrand zur heißen Dusche, zum Glück gab es eine.

Es ist eine Kälte, die das letzte Flämmchen Wärme, das irgendwo zwischen Magen und Wirbelsäule flackert, auszulöschen droht. Ein Gefühl von Elend, das jedes bloße Bibbern weit hinter sich läßt.

Zweihundert Meter sind es an der Talsperre von einem Ufer zum anderen, hin und zurück vierhundert, neulich bin ich das geschwommen, die Strecke ist ein Klacks, fünf Minuten hin, fünf Minuten zurück, man glaubt, gar nicht richtig im Wasser gewesen zu sein, wenn man sich hinterher abtrocknet, und denkt, eigentlich ist man erst richtig geschwommen, wenn man das Doppel zweimal hinter sich gebracht hat. Achthundert Meter, zwanzig Minuten, das sind gerade mal 16 Freibadbahnen, normalerweise schwimme ich 40.

An diesem windigen und bewölkten Tag Mitte Juni kehre ich, nachdem ich nach zweihundert Metern kabbeligen Wassers die Bucht wieder erreicht habe, wo meine Sachen auf mich warten, noch einmal um und schwimme die Strecke zum zweiten Mal. Die Sonne kommt heraus und schneidet tanzende Bahnen in die grüne Tiefe, gleich fühle ich mich in meinem Vorsatz bestärkt, das Wasser flimmert, der Himmel zeigt fahles Blau, die Ufer scheinen näher zusammenzurücken. Ich bin allein auf dem Wasser, mitten auf dem weiten Wasser, hundert Meter vom nächsten Ufer entfernt, und alles jubelt in mir vom Gefühl, Widerstandskraft zu haben und stark zu sein. Ich erreiche das andere Ufer, betrete zum zweiten Mal den Grund mit den algigen Steinen hinter der überfluteten Weide. Schwimmbrille reinigen, ein Moment Pause, bis sich der Atem etwas beruhigt hat. Los geht’s, murmele ich und mache mich auf den Rückweg. Noch merke ich nichts. Ich merke auch noch nichts, als ich abermals die Hälfte hinter mir habe. Auch als ich in die Bucht steuere, merke ich noch nichts. Sicher, es ist kalt, und die Arme sind schwer und müde, aber so kalt ist es nun auch wieder nicht. Wie kalt es wirklich ist, wie kalt ich innerlich bin, ausgekühlt bis zu dem kleinen Flämmchen zwischen Magen und Wirbelsäule, merke ich erst, als ich mich schon abgetrocknet habe. Wind kommt auf und droht den letzten Rest Wärme aus mir herauszublasen, so fühlt es sich an. Ich zerre am T-Shirt, sehne mich nach bloßem Freibadbahnenbibbern, im Vergleich zu dem hier mollig warm, muß mich setzen, um die Hose anzuziehen, ich kann das Gleichgewicht nicht mehr halten, ich schluchze vor Frustration, weil ich das Hosenbein nicht über die feuchte Ferse gezogen kriege.

Zum Glück vergißt man schnell, und was bleibt, ist nicht das Elend des erbärmlichen Frierens, sondern der Triumph, das Glück und jene Überzeugung der eigenen Kraft und Stärke, die nur Schwimmen in kaltem Wasser vermitteln kann. Wie beim Schwimmen alles ins Lot kommt: “I can dive in with what feels like a terminal case of depression and step out again a whistling idiot”, schreibt Roger Deakin, und ich kann das nur bestätigen.

Eine heiße Dusche gibt’s hier nicht, nur eine anstrengende, unter anderen Umständen schweißtreibende Fahrradfahrt nach Hause; aber nicht einmal die erste anstrengende Steigung vermag mich aufzuwärmen, vom Ins-Schwitzen-Geraten gar nicht erst zu reden. Noch zu Hause in der warmen Küche, nach einer Stunde Radeln und zwei heftigen Anstiegen, fröstelt mich. “Ich habe immer noch eine kalte Nase”, sage ich zu meiner Frau, die mich lachend auf die Spitze derselben küßt.

Solstitium

Der Hügel bebt, von Hörnern angestoßen,
die Lüfte tragen Pelz, sind wild wie Narren
und Mandeln stürzen weiß wie süße Schloßen.

Vom Kraut entblößt, liegt Lehm in wüsten Barren,
wie peinlicher Gedanke. Furchen, Fluchten
versenken einen festgefahrnen Karren.

Die Bäche phantasieren sonder Zuchten,
wo sie im Dunkel stehen. Schräge Weisen
verfehlen ihren Ton in Flüsterbuchten.

Ein Lichtgang saugt sich fest an Wolkenschluchten.
Der Horizont kommt her auf schwarzen Gleisen.

Heddesheim

Der Regen, in der Nacht noch ergiebig gefallen, hat erst gegen Morgen aufgehört. Die Wiese ist noch so naß wie das letzte Mal. Ich ziehe mich um und stopfe Hemd und Hose in den Rucksack, darüber kommt die Regenjacke. Laut Anzeige hat das Wasser 18°, doch fühlt es sich so kalt an, daß mir der Atem stockt. Vielleicht hat es mit der Erwartung zu tun. Wer auch mit 15° klarkommt, unterschätzt die 18° und hält den Widerstand für geringer. Tatsächlich zeigen die drei Grad Unterschied erst nach dem Schwimmen ihre Wirkung, wenn das postnatatale Zähneklappern ausbleibt. Ein paar Züge Brust, um mich zu gewöhnen, dann Kraul mit Atmen im 2-3-2-Rhythmus. Ich schwimme am Ufer entlang bis zur Bojenkette, die den zivilisierten Teil des Sees, wo Schwimmen erlaubt, vom wilden, wo es verboten ist, trennt, in der Absicht, mich an der Leine bei der Überquerung zu orientieren. (Man neigt beim Kraulen dazu, stark abzudriften, wenn keine Bodenmarkierungen den Kurs vorgeben.) Was dazu führt, daß ich nach ein paar Zügen kräftig mit einer Boje zusammenstoße. Immer ist da die leise Versuchung, einfach unter der Leine durchzutauchen und in den gesperrten, größeren Teil des Sees hinauszuschwimmen, ins Freie, Offene, Wilde hinaus. Ins Unbegrenzte. Aber natürlich lasse ich es bleiben. Nicht aus Angst, jedenfalls nicht vor dem unzivilisierten Wasser. Vor der Natur fürchte ich mich nicht, vor ihr habe ich Respekt. Mit den Menschen geht es mir umgekehrt. Die Natur kann man lernen, den Menschen nicht. So fürchte ich nur Menschen und ihren Glauben an Erzählungen. Zum Beispiel diejenige Erzählung, die einigen von ihnen die feste Überzeugung eingibt, mir ein Bußgeld aufbrummen zu können. Und auch da fürchte ich nicht den Verlust des Geldes, sondern ihre strengen, strafenden, zivilisierten Augen. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen: In Ruhe gelassen werden. Deshalb habe ich mir ja auch Bewegungsformen gesucht (mein Gestrampel oder Schweifen Sport zu nennen, weigere ich mich, Sport ist etwas für die Modernen), bei denen ich allein sein kann, das Laufen, das Wandern und eben auch das Schwimmen, letzteres vorzugsweise bei schlechtem Wetter und draußen, vorzugsweise in einem See. In einer überfüllten Halle oder im sonnenmilchgetrübten Becken des Freibads ist es nämlich Essig mit dem In-Ruhe-gelassen-Werden. Da ist eine Bojenkette ein geringes Übel, läßt sie doch zum Schwimmen so viel Platz, daß von Ufer zu Ufer im zivilisierten Bereich vier Olympiabahnlängen liegen. Zum In-Ruhe-Gelassen-Werden gehört aber eben auch, von Behörden aller Art unbehelligt zu bleiben, auch deswegen achte ich die Bojenkette.

An deren anderen Ende riecht das Ufer faulig, ich sehe zu, daß ich schräg zum Sandstrand quere; wieder die Gewächse wie beim letzten Mal, deren Spitzen aus der trüben Tiefe auftauchen, ihre Blätter sehen verschlammt aus, als trügen sie einen Niederschlag von etwas vor langer Zeit zum Grund Gesunkenem wieder ans Licht empor. Und dann, aus dem Augenwinkel, eine träge Bewegung, ein Wälzen, ein kurzes Gerinnen der schlammigen Grünheit zu Körper und Form. Es ist das erste Mal, das ich hier Fische sehe. Meine Freundin Rhea hat welche gesehen, neulich am Dümpfhaubsee. Ich noch niemals.

Fische, und dann Sonne. Geblendete Atemzüge nach links, grünuferige rechts. Ein kurzer Halt am Ponton, wie alles in dieser Frühe am See, bei diesem Wetter, verlassen und lustlos, dann zurück zu meinen Kleidern. Keine zwanzig Minuten sind vergangen, seit mir der Atem stockte beim Hineingehen, aber es reicht mir. Runter mit der albernen Badehose, noch ein Schokoriegel auf der Bank, ein paar Atemzüge innehalten. Das Blubbern wieder aus den Ohren kriegen. Die Bäume stehen still rings ums Wasser, in den Büschen schlagen die Nachtigallen. Drei, vier Schwimmer sind draußen. Die Pontons treiben träge und kalt und warten auf Sommer.

Heddesheim

Ein zweites Mal im See, nach einem 5-km-Marsch im Regen, an einer Stelle mußte aufs Feld ausgewichen werden, den Weg hatte eine Pfütze, eigentlich schon ein kleiner Weiher, unpassierbar gemacht. Endlich erscheint zwischen den Büschen die Wasserfläche, der See übt einen Sog aus, das Versprechen, gleich ins Wasser steigen zu können, läßt den Schritt noch einmal schneller gehen. Die Klamotten klamm, die Schuhe durchnäßt, erreiche ich das Kassenhäuschen. Umziehen im überdachten Bereich bei den Schließfächern, die feuchten Kleider in den Spint gestopft, das Handtuch im zusammengeklappten Schirm geschützt zum Steg mitgenommen, die Wiese ist durchnäßt, das Regenwasser quillt zwischen den Zehen. Luft 13°, Wasser wohl nach 24 Stunden Regen keine 18° mehr. Es fällt schwerer als gestern, nimmt mir bei den ersten Zügen den Atem. Ein paar Züge Brust, dann Kraul, bis der Sauerstoffbedarf das Atmen schwierig macht. Rhythmuswechsel, alle 2, 3, 2 Armschläge atmen, so läßt es sich durchhalten. Der See läßt sich vollregnen, blinzelt, konzentriert sich auf seine Mitte, meditiert, vergißt sich selbst. Die glitzernden Schwebstoffe fehlen heute. Das Wasser hat eine helle, transparente Leichtigkeit an der Oberfläche, als bestünde es aus Schichten verschiedener Elemente, bei jedem Atmen durchbricht das Gesicht diese Schicht, als würde man durch eine Glasscheibe tauchen, auf der sich Tropfen gesammelt haben. Darunter liegt die kompakte Masse der grüntrüben Tiefe, undurchdringlich, einförmig, dick.

Heddesheim

Der See im Regengetröpfel. Im Frühjahr ist selbst eine wolkengetrübte Wasserfläche kein trauriger Anblick. Auch der verrammelte Kiosk, die zusammengeklappten Sonnenschirme, die leere, nasse Liegewiese, das alles ist von einer unerschrockenen Fröhlichkeit. Alles muß erst noch werden, und es wird: die Bäume umstellen das Ufer wie Sportler vor dem Wettkampf, das Grün lacht von Vögeln, die durchnäßte Wiese quietscht wie frisch gebohnert. Das Wasser ist kühl, nicht kalt, 18° sagt die Anzeige bei der Badeaufsicht. Bei dieser Temperatur bleibt es ein neutrales Element, ohne besondere Eigenschaften. Es duldet den Schwimmer weniger, als daß es ihn ignoriert. Die Sichttiefe ist größer als am Dümpfhaubsee, am Uferrand tauchen plötzlich die Fäden von Bewuchs aus der Tiefe auf, und der Grund wird schon mehrere Meter vom Strand entfernt sichtbar. Merkwürdig ist das Glitzern von Schwebstoffen, das letztes Jahr um diese Zeit fehlte.

Profy

Es ist kaum glaubhaft, doch tatsächlich dreht sich das Gespräch bei Tisch zwischen Chr. und den Eltern um Gesundheit. Cholesterinwerte, Thyroxinwert, Statine. Das volle Programm. Natürlich wird auch über anderes gesprochen. Aber in den Ansätzen ist es genau das, was meine Eltern einmal belustigt verachtet haben. “Alte Menschen sprechen fortlaufend über nichts anderes als Krankheit”, haben sie immer halb amüsiert, halb betrübt festgestellt. “Wer da noch nicht krank ist, wird es.” Und mein Bruder, paar Jahre jünger als ich, fängt jetzt schon an, Dinge gewandt im Munde zu führen, deren Namen auf -itis und -ose enden. Das Paradox ist natürlich: was man vermeiden will, um genau darum muß man sich kümmern. Wer gesund bleiben will, muß sich, wofern er keine 20 mehr ist, mit Krankheiten beschäftigen. Wieder einmal stelle ich fest, an Gesundheit freut sich nur, wem sie selbstverständlich ist.

Oft habe ich gedacht, ich bin zu spät geboren worden. Zehn, fünfzehn Jahre eher, und ich wäre Professor geworden, weil es die natürlichste Sache der Welt gewesen wäre (so wie es für viele halbwegs begabte Leute eine Generation vor mir die natürlichste Sache der Welt war, sie sind in ihre Lehrstühle quasi hineingeschlittert, wenn sie das wollten, die meisten wollten sowieso nicht). Aber das ist ein Irrtum. Ein paar Jahre eher, ein paar hundert Kilometer woanders, und ich wäre nicht einmal aufs Gymnasium gegangen. Oder hätte mir an irgendeinem erzkonservativen Establishment die Stirn blutig geschlagen. So aber hatte ich das Glück, es nicht selbst tun zu müssen, sondern die Errungenschaften der blutigen Stirnen der 68er-Generation voll genießen und auf eine Schule gehen zu dürfen, wo das halbe Kollegium, heute würde man sagen, links-grün versifft war. Ich spreche mit einer Wandergefährtin darüber, und sie meint dazu, dann wäre ich eine Generation eher wohl ein sehr guter Realschüler geworden. Wahrscheinlich. Aber dabei wäre ich intellektuell verhungert. Alles, was ich gut gekonnt hätte, hätte mich nicht gereizt. Ich wollte immer etwas, das zu groß war für mich. Diese Feststellung berührt noch gar nicht den Ehrgeiz und das Geltungsbewußtsein. Ich wollte als Person meinen intellektuellen Bedürfnissen genügen. Zwar war ich auf dem Gymnasium. Aber egal, in welchem Maßstab, ich habe immer über die Verhältnisse meines Talents leben wollen. Meine intellektuellen Bedürfnisse waren zu groß für meinen Intellekt.

Dümpfhaubsee

Und dann ist doch niemand am See. Der Wasserspiegel steht hoch, die kleine Bucht, wo ich mich schon zweimal entkleidet habe, ist überflutet, der Stein, auf dem ich meine Kleider gelegt habe, liegt mehrere Zentimeter unter der Oberfläche, wegen der Böschung kommt man vom Weg nicht zu der flachen Uferstelle. Ich muß mich am Steg festhalten und den Weg ins Wasser an Steinen vorbei navigieren, zu blöd, wenn ich jetzt stürzte und mir an diesem verlassenen Ort etwas bräche, noch dazu im eisigen Wasser. Achso, eisig. Wie kalt mag es sein? Gefühlt so wie es jedesmal in diesem Winter war, egal wann, egal an welchem Gewässer. Laut Thermometer 11° (an der Würbeltalsperre), aber das glaube ich nicht, es müssen weniger sein. Die Witterung ist kühl an diesem Morgen, regnerisch, auf dem Weg hierher mußte ich mehrmals den Schirm aufspannen. Eben ist die Sonne rausgekommen, jetzt zieht es sich wieder zu, und gleich beginnt es auch zu tröpfeln. Trotz dem ruppigen Wetter campieren unweit Leute. Oben, auf einer Wiese auf dem Plateau, habe ich etwas abseits hinter Gebüsch ein Zelt gesehen. Aber niemand ist jetzt unten am See. Niemand da, aber es kann jeden Moment jemand vorbeikommen, und dann will ich schon im Wasser sein oder es schon hinter mir haben, ich kann nicht erklären, warum, mir macht es nichts aus, nackt vor Leuten zu stehen, aber mich vor Leuten auszuziehen, da hätte ich erhebliche Hemmungen. Ich hampele etwas herum; wie immer, wenn es schnell gehen soll, bin ich unkoordiniert, zudem darf die Unterbekleidung weder auf den feuchten Grund gelangen noch unbedeckt bleiben, aber die Jacke rutscht immer wieder vom Kleiderberg hinunter. Nässe ist überall. Wie Reste eines Festes, verwelkte Rosen vielleicht, erloschene Kerzen, treibt pflanzlicher Detritus auf dem See. Weiter draußen kräuselt eine Brise die Oberfläche, verspielt wie Seifenblasen, eine Zone unerreichbaren Wassers im Schatten der Felswände, dämmervoll, daß es scheint, als träte das Gewässer dahinter in eine Höhle ein. Meine zehn klammen Schwimmzüge bringen mich nicht einmal an den Rand der Nachbarschaft des Vorbereichs dieser Zone.

Krieg oder Frieden (Ovid, Fasti 3, 207-228)

Längst sind nach dem Raub der Sabinerinnen mit gemeinsamen Nachkommen Tatsachen geschaffen worden, und die Sabinerinnen haben sich in ihrem neuen Leben als Römergattinnen recht gut eingelebt, da kommt es beinahe zum Krieg mit den beleidigten Vätern der Geraubten. Die Gattin des Romulus, selbst eine Sabinerin, weiß beherzten Rat, wie ein Krieg zu verhindern sei:

“o pariter raptae, quoniam hoc commune tenemus,
     non ultra lente possumus esse piae.
stant acies: sed utra di sint pro parte rogandi
     eligite; hinc coniunx, hinc pater arma tenet.
quaerendum est viduae fieri malitis an orbae.
     consilium vobis forte piumque dabo.”
consilium dederat: parent, crinesque resolvunt
     maestaque funerea corpora veste tegunt.
iam steterant acies ferro mortique paratae,
     iam lituus pugnae signa daturus erat,
cum raptae veniunt inter patresque virosque,
     inque sinu natos, pignora cara, tenent.
ut medium campi scissis tetigere capillis,
     in terram posito procubuere genu;
et, quasi sentirent, blando clamore nepotes
     tendebant ad avos bracchia parva suos.
qui poterat, clamabat avum tum denique visum,
     et, qui vix poterat, posse coactus erat.
tela viris animique cadunt, gladiisque remotis
     dant soceri generis accipiuntque manus,
laudatasque tenent natas, scutoque nepotem
     fert avus: hic scuti dulcior usus erat.

“Schwestern im Geraubtsein! Nun haben wir dieses gemein, und
     artig im Stillen sein weiterhin können wir nicht!
Schon sind die Heere bereit — wem die Götter den Sieg sollen schenken,
     wählt nur! Hier der Mann, dort zückt der Vater das Schwert.
Wählt, ob ihr lieber verwaist sein wollt, oder lieber verwitwet!
     Ich aber rate euch artig, biete euch kräftigen Rat.”
Kräftig war der Rat: sie folgen, zerwühlen ihr Haar und
     streifen ein Trauergewand über den gramvollen Leib.
Schon stand die Phalanx bereit, bereit zu Stahl und Verderben,
     schon holt der Herold Luft, Kampfschall zu blasen ins Horn,
als die Entführten zwischen die Väter und Gatten sich werfen,
     jede gedrückt an die Brust, Pfand ihrer Liebe, das Kind.
Wie sie zerrauften Haares die Mitte des Feldes erreichen,
     beugen sie flehend das Knie, flehen sie kniend am Grund.
Und da streckten die Ärmchen, als hätten sie alles begriffen,
     zärtliche Rufe im Mund, Enkel nach Großvätern aus.
Welches schon konnte, das rief nach dem Großvater, den es erkannte,
     welches konnte noch kaum, fand sich gezwungen dazu.
Waffe und Zorn sinkt den Männern zugleich, sie bergen die Schwerter,
     Schwäher und Tochtergemahl geben einander die Hand,
halten die lobreichen Töchter im Arm, auf dem Schilde den Enkel
     trägt der Opa, denn so taugte viel schöner der Schild.

Nachtrag zu Karneval

Muß nicht auffallen, wie sehr die Wahl eines Karnevalskostüms vom Geschlecht bestimmt wird? Die Frauen und Mädchen gehen als Prinzessinnen, Elfen, Meerjungfrauen oder schinken sich einfach nur mit Kranz, Glanz, Flitter und Glitter, als kämen sie alle geradewegs aus der Redaktion der Zeitschrift Lillifee (voll süß!) — wo aber sind sie alle, die Astronautinnen, Chirurginnen, römischen Soldatinnen, Piratinnen, Wikingerinnen, Feuerwehrfrauen, die ganzen Larven, für die sich ihre männlichen Mitfeiernden vorzugsweise entscheiden? Es scheint, als wollten die Närrinnen nicht mal imaginär bei den Jungs mitspielen. Darüber mal bei der nächsten Debatte über Geschlechtergerechtigkeit nachdenken.

Wuppertalsperre

Nach den beiden Bädern in der Nordsee wieder an der Talsperre im Wasser gewesen. Der Tag war sonnig, elf Grad Lufttemperatur. Gegen zehn Uhr kam ich warmgelaufen an der Vorsperre an. Je nach Lichteinfall war das Wasser klar bis auf den hellen, steinigen Grund hinunter, oder im Gegenlicht abweisend-opak, ölig, nicht einmal zum Spiel mit dem Wind aufgelegt. Nur wenige Menschen unterwegs, eine ältere Dame verunsicherte ich, als ich auf der Suche nach meinem Plätzchen wieder ein Stück umkehrte (und ihr aus ihrer Perspektive zu folgen schien). Hoher Wasserstand, die Stelle von letztem Jahr unauffindbar. Zuletzt wieder die zweitbeste Stelle genommen, dort stand das Wasser so hoch, daß ein bequemer Absatz, sonst wahrscheinlich mehrere Meter von der Wasserlinie entfernt, jetzt einen Fußbreit unmittelbar darüber lag. Am ertasteten Grund beim Hineingehen war jedenfalls die Stelle nicht zu erkennen. Steil geht es hinab, nach drei Schritten bin ich eingetaucht, hektisch atmend. Es ist eisig wie immer, und doch auf subtile Weise garstiger, schwieriger. Härter. Ich kürze ab, zwei Schwimmzüge müssen reichen, einmal auf den Rücken gedreht, mit den Beinen gestrampelt. In diesem Moment beruhigt sich die Atmung wieder. Eine Art Zuversicht stellt sich ein: Ich habe es wieder geschafft. Zwei Züge zurück, bis ich Grund unter den Füßen habe: so noch einen Moment untergetaucht bleiben, dann raus. Keine Minute hatte das Bad gedauert. Gelauscht, geschaut: Die Wege waren alle leer. Ich griff zum Handtuch. Kein Mensch bekam den entzückenden Anblick des 50jährigen, nur mit einer Wollmütze und Badelatschen bekleideten Mannes mit, der sich die nasse Gänsehaut von den winterweißen Gliedern wischte.

Sauattrappe

Das Problem mit der KI ist überhaupt nicht, ob und welche menschlichen Tätigkeit künstliche Systeme ersetzen; ist nicht, wo KI besser sein könnte als der Mensch. Das wahre Entsetzen über KI, und das wird in den Debatten immer übersehen, kommt aus einer anderen Möglichkeit: daß die KI – und sie hat die ersten Schritte jenseits dieser Schwelle längst getan – das Vertrauen untergräbt, es in der Kommunikation noch mit einem Menschen zu tun zu haben, und also, ob überhaupt Kommunikation stattfindet. Denn anders als Watzlawick behauptet setzt Kommunikation ein bewußtes Gegenüber mit kommunikativen Absichten voraus. (Nicht jedes Aussenden und Interpretieren von Zeichen ist Kommunikation.) Wo das nicht gegeben ist, ist die Kommunikation, na ja, nur eine Simulation oder schlimmer: eine Täuschung. Der Zuchteber, der, mit Duftstoffen bis zur Raserei gereizt, auf eine Sauattrappe geführt wird, um sich seinen Samen abzapfen zu lassen – er mag den Turnbock, auf dem er hockt, für eine echte Partnerin halten. Selbst wenn seinem Trieb nichts fehlt: Würden wir nicht sagen, daß diesem masturbatorischen Betrug etwas zutiefst Trauriges anhaftet? Solange ich weiß, daß ich mit einer Maschine kommunikative Masturbation betreibe, ist gegen KI nichts einzuwenden; das Unbehagen beginnt mit dem verunsichernden Gedanken, es vielleicht nicht zu wissen. Was, wenn ich nicht weiß, ob der Popsong, der mich zu Tränen rührt, nur das auf meine Gefühle hin berechnete Produkt einer Maschine ist? Ob der Roman, der mich aufwühlt, nicht auf genau meine Aufwühlung von einem Algorithmus maßgeschneidert worden ist? Auch die Beziehung zwischen Künstler, Werk und Rezipient ist eine Form der Kommunikation; ist etwas, das zwischen Menschen stattfindet; ist ein Audruck menschlicher Beziehungen – worauf das Menschliche exklusiv Anspruch hat. Mehr noch: Kunst ist etwas, das den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnet: es ist wie Sprache und Lachen ein nicht-akzidentielles Wesensmerkmal. Insofern läßt es sich per definitionem nicht durch eine Maschine ersetzen. Und so wollen wir uns auch nicht von einer Maschine zu Tränen anrühren, nicht von einem künstlich maschinell erzeugten Text aufwühlen, nicht von einem synthetischen Witz zum Lachen bringen lassen. Warum nicht? Weil die Maschine nicht mitlacht. Weil die Maschine nicht weiß, was Tränen sind, oder was es bedeutet – wie es sich anfühlt – aufgewühlt zu sein. Als kommunikativer Akt setzt das Sich-Rühren-Lassen – wie alle Kommunikation – ein fühlendes Gegenüber und also: Empathie voraus. Kommunikation spiegelt uns ein denkendes Wesen, das uns versteht und uns aufgreift und uns verwandelt zurückschenkt. Lassen wir uns von einer Maschine zu Tränen rühren, sind wir nichts weiter als ein verzückter Eber auf seiner Attrappe. Man darf auch nicht immer nur die Perspektive der (Kunst)Rezipienten einnehmen, weil zu jeder Rezeption immer ein Kunstschaffen gehört. Es ist nie die Rede davon, daß die KI den Zuhörer, Leser, Zuschauer wird ersetzen können. Das auszuklammern bedeutet, die kommunikative Rolle des Kunstschaffenden zu ignorieren. Die Tätigkeit des Künstlers ist nur das andere Ende der künsterischen Kommunikation, und der Künstler braucht sein Publikum, wie das Publikum den Künstler braucht, damit die Kommunikation zustande kommt. Wer kein Problem mit der Vorstellung hat, Computer könnten uns demnächst Romane schreiben oder Filme drehen, darf auch kein Problem damit haben, Computer könnten demnächst die Bänke im Auditorium füllen und im Theater der Vorstellung applaudieren. Oder gehen wir noch einen Schritt weiter: Was, wenn Computer beides tun? Wenn Computer betrachten, was Computer gemalt, lesen, was Computer gedichtet, hören, was Computer komponiert haben? Wo wäre der Sinn? Es ist immer die Rede davon, daß die KI vieles überflüssig macht: Fließbandarbeiter, Kassierer, Setzer, Raumpfleger, demnächst Busfahrer, vielleicht bald Krankenpfleger, Sportjournalisten oder Nachrichtentexter – aber ganz gleich, was noch alles: die KI kann dem Menschen den Menschen nicht ersetzen. So wie wir die Liebe, Sex oder gutes Essen nicht an Maschinen delegieren können. Den Menschen dem Menschen nicht ersetzen heißt auch: Sich selbst nicht ersetzbar zu sein. Denn der Kommunikationscharakter der Kunstproduktion und -rezeption bestimmt Kunst noch nicht ganz. Kunst findet auch ohne Publikum statt. Vor etwa 10000 Jahren nahm ein Künstler oder eine Künstlerin ein Stück Walknochen zur Hand und schnitzte daraus die Figur eines Rentiers im Galopp. Das Stück ist äußerst fein gearbeitet und fußt auf exakter und sorgfältiger Beobachtung. Man darf sagen, es ist mit Hingabe, ja Liebe gefertigt. Jemand, ein Mann oder eine Frau, hat sich damals die Mühe gemacht, aus einem Stück unnahbarer Materie etwas zu machen, das mehr war als ein Werkzeug; etwas, das für ein anderes einstehen konnte; etwas, das Bedeutung hatte. Was immer der Grund war – es war diesem Menschen wichtig, sonst hätte er oder sie nicht soviel Mühe darauf verwendet. Mühe nicht nur auf dieses eine Stück, denn um die Figur so genau schnitzen zu können, bedarf es langer Übung, bedarf es zahlloser mißlungener Zwischenschritte, in denen der Künstler sich an die Perfektion der Darstellung angenähert hat. Was wir sehen können, ist das ferne Ende, das Ergebnis eines langen, von Frustration und Rückschritten, Durchbrüchen, Aha-Erlebnissen und Triumphen geprägten Lernprozesses. Warum hat dieser Mensch damals das auf sich genommen? Wir wissen es nicht genau – aber wenn wir ehrlich sind, können wir uns doch hineinfühlen, sind wir diesem Menschen ganz nah, kennen seinen Impuls, jedes Mal, wenn wir einen Stift nehmen und gedankenverloren eine Figur kritzeln. Wir kennen alle diesen Moment, wo etwas, das wir formen wollten, tatsächlich gelingt. Und wir bewundern die, denen es besonders gut gelingt. Können – wollen – wir diesen Moment an eine Maschine delegieren? Was wäre der Sinn, wenn wir es tun? Wir treiben ja auch Sport und quälen uns an Bestzeiten und Rekorden ab, obwohl eine Maschine schneller wäre. Was war das Gejammer groß, als in den nuller Jahren ein Automat den damals amtierenden Schachweltmeister schlug. Bewundern und feiern wir jetzt den Automat? Man stelle sich vor, es erhöbe sich ein Geheul, weil ein Auto den Weltrekordhalter auf der 100-m-Distanz schlägt. Man bedenke: Roboter auf dem Rasen statt Menschen bekämen vielleicht auch die interessanteren Spiele hin, wenn man sie so programmiert; und man könnte sie so programmieren, daß sie niemals foulen. Aber eins könnten sie eben nicht: triumphieren. Und was vielleicht noch bedeutsamer ist: Sie könnten auch niemals scheitern. So wie eine Sauattrappe keinen Liebeskummer haben kann.

Insulationen (3)

An der Raiffeisenbank in Nebel hängen Immobilienangebote aus. Zu verkaufen ist neben einem Baugrund in Nebel für eine halbe Million Euro (nur das Grundstück) eine Eigentumswohnung in Wittdün. Erdgeschoß, 2 Zimmer (Wohn- und Badezimmer), 45 qm, 25 qm Nutzfläche, kein Balkon, kein Garten, von einem Keller ist auch nicht die Rede, 405.000, Hausgeld 290. Wer dem Zentrum entfliehen, die Sehnsucht aufgeben und sich den Rand der Welt zur Heimat machen will, muß reich sein oder Verwandte auf der Insel haben. Uns anderen, den Habenichtsen, Pechvögeln und Enterbten, bleiben nur das Nahe, das Innere und die Städte.

Insulationen (2)

Gefurchte, genarbte, von selbstähnlichen Kräuselmustern ausgemalte Flächen; oder Flußdelten, Zopfmuster, weder dem Mineralischen noch dem Aquatischen ganz zugeordnete Materie; Zwischenwesen, verflüssigter Sand, geronnenes, zu ornamentalen Diagrammen halberstarrtes Wasser; zarte Gebilde, unverwechselbar einmalig wie Schneeflocken, nur durch die Kraft von Oberflächenspannung zusammengehalten, emergente Struktur: man scheut sich, diesen Arbeiten von Wellen, Strömung, Regen und Wind ins Handwerk zu pfuschen und darauf etwas so Profanes wie Fußspuren zu setzen. Es fühlt sich an, als würde man einem Künstler über die Leinwand latschen. Aber diese Welt ist sowieso ständig in Bewegung, und die fraktalen Furchen im eben erst trockengefallenen Schlick, sie werden bei der nächsten Flut mitsamt den gepfuschten Fußpuren darauf verschwinden — um bei der nächsten Ebbe neugeschaffen wieder aufzutauchen, ohne Gedächtnis, ohne Spuren, ohne Erinnerung an die Schuhsohlen, die hier zwölf Stunden zuvor ein paar Sandkörner verschoben haben, flüchtiger als ein Gedanke. Die Hybris besteht darin, anzunehmen, man könnte sich hier dauerhaft aufprägen; Rücksicht nehmen zu sollen, Schonung walten zu lassen, darin liegt die eigentliche Selbstüberschätzung. Du bist nichts, Mensch. Du bist so wenig, daß du nicht einmal Rücksicht nehmen kannst. Mit deinen Vibramsohlen, deinem Outdoor-Outfit, deinen Brillengläsern und Fernrohren bist du weniger als ein Sandkorn, leichter als der Wind, der das Sandkorn an seinen Platz in den unerschöpflichen Ordnungen trägt.