Das war im November: Asberg

Wenn jetzt eine Faust aus dem Wasser sich streckte, mit einem Schwert darin, und dies Schwert dreimal schüttelte, ehe sie wieder verschwände — man wäre an diesem Ort kaum erstaunt. Schilf hilft dem Nebel, ans Ufer zu kommen, die Bäume treten einen Schritt zurück und angeln nach Schlick, eine unhörbare Ursache wirft Ringe zur Wasserfläche hinauf. Ein Zucken von Schatten, und drüben, wo kaum das andere Ufer sichtbar wird, scheint es schon Abend zu werden.

Eine Erle streckt ihre fast ganz entlaubten Äste übers Wasser. Der Grund ist aufgeweicht, schlammig, von grauschwarzem Erlenlaub bedeckt. Der Pfad hierher, nicht leicht zu finden, windet sich durch Gestrüpp. Das Wasser, eher fühl- als sichtbar, zeigt sich erst, wenn man fast hineintritt, und verleibt sich Sumpfflächen ein, die die Grenze zwischen Land und See verschwimmen lassen. Ist das schon Spiegel mit treibenden Blättern oder Blätter, die über einer Schlucht hängen? Ein Vexierspiel, in der die Luft selbst spiegelnde Schichten einzieht, die sich als Trug erweisen und das Auge taumelnd weiterstürzen lassen. Wagte man hier zu schwimmen, bliebe man vielleicht aufgehängt zwischen den Spiegeln gefangen, eisig und zappelnd.

“Du willst doch jetzt nicht etwa ins Wasser?” Dazu ein Himmel, aus dem das Licht diffus und richtungslos ohne Schatten und ohne Reflexe fällt.

Aber ich habe die Schnürsenkel bereits gelöst und lehne mich mit dem Rücken an die Erle, um die Socken abzustreifen. Ringsum herrscht tiefe Stille, die Geräusche einer Landstraße kommen aus einem Traum, der seine Ränder nicht mit diesem Ort teilt.

“Na, doch.” Meine Stimme klingt wie in einem Karton. Irgendwo hinter den nebligen Brombeeren und Erlen sind Spaziergänger mit Hunden unterwegs, laufen Jogger in grellen Klamotten herum, aber diese Sphäre haben wir verlassen, indem wir uns über die Warnung von umgestürztem Baumstamm und Gestrüpp hinweggesetzt haben.

Braunes Laub drückt sich zwischen die Zehen. Meine tapfere Begleitung bietet mir ihren Arm als Kleiderständer. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich weiß, was ich tue. Wie jedesmal bei solcher Gelegenheit weiß ich aber selbst nicht mehr, ob ich das weiß. Das Wasser ist still, grau, vollgesogen vom Nebel, der über dem Ufer hängt wie eine bergende Hand. Mehr als anderswo bin ich Fremdkörper, Eindringling, unerwünscht, nur kurz geduldet. Wäre das Wasser wärmer, würde es wahrscheinlich schmeicheln, wäre weich und kühl wie die Gewandfalten auf einem Renaissancegemälde. Kalt wie es ist, unter acht Grad sicherlich, gleicht es eher einer Ritterrüstung, schwerem Stahl, der auf jeden Zentimeter Haut drückt. Ich habe die Mütze aufgelassen, untertauchen kommt nicht in Frage, fünf, sechs Schwimmzüge bringen mich in Sichtweite einer hinter Erlenbestand verborgenen Bucht, der See öffnet sich. Plötzlich stürzt ein Reiher aus dem Wald, schwingt sich so nah in die Luft, daß ich meine, den Flügelstrom im Gesicht zu spüren. Ich drehe mich auf den Rücken. Das Wasser färbt die Haut kupferfarben. Besonders klar ist es nicht. Der Nebel setzt sich unter Wasser fort. Und still ist es, sehr still, das Plätschern der Schwimmzüge weithin das einzige Geräusch. Sagenstill. Visionen- und Illusionenstill. Ich bin zu beschäftigt mit meinem Körper und seinen Signalen, um in diesem Moment zu sehen, was zu sehen gewesen wäre. Fern am Ufer wartet meine Wanderfreundin, und mir schmerzen die Glieder vor Kälte. Das hier ist etwas völlig anderes als vorgestern am Dümpfhaub. Als hätte der November über Nacht beschlossen, ernst zu machen. Mit kräftigen Stößen sehe ich zu, das ich schlammigen Grund gewinne, und taumele lange Augenblicke später ans Ufer. Meine Wanderfreundin reicht mir strahlend das Handtuch. Hast du ihn gesehen, fragt sie.
Nein, wen?
Den Eisvogel!

Ich habe nichts gesehen, wieder einmal war ich nicht da, nicht wach, nicht bereit. Ich sehe die Dinge immer erst später, am Schreibtisch, nicht klarer, aber schärfer umrissen in der imaginären Erinnerung. Blau, blitzend, eine Fremdwimper im seitwärts taumelnden Blick, im Davonzucken kaum zu registrieren, ein Wahrzeichen der Stille an diesem Ort, ein Siegel, das uns ausschließt von hier, eine Linie, die wir nicht übertreten können, und kämen wir auch mit Booten, Flößen, Plattformen, rückten mit Kameras und Tauchausrüstung dem See zu Leibe. Wir könnten nie einen Ort mit dem Vogel teilen.

Ich trockne mich schnaufend und schnaubend ab, das Handtuch bekommt schiefergraue Flecken, die noch Wochen später sichtbar sind, ich lasse mir von meiner Frreundin die Klamotten einzeln geben und zwänge zuletzt die eisigen Füße in die Schuhe, in denen kein Rest Wärme zurückgeblieben ist. Brombeergestrüpp, Erlenbüsche, sumpfiger Weg, dann die Stacheldrahtrollen, die zukünftige Besucher demnächst schon weit vor dem Ufer stoppen werden, unter einem umgestürzten Baum durchgeklettert, dann sind wir wieder auf dem Wanderweg und in der Welt der grellen Joggingklamotten, Bell00-Tüten, Funktionsjacken und Händiegelaber. Im Blick zurück sieht der Ort hinter den drahtigen Vegetationsschichten unzugänglicher aus als jemals ein durch Stacheldraht abgeriegelter Bezirk. Um uns laufen und hasten und quasseln Menschen; da hinten aber, nunmehr unerreichbar, läßt der Vogel sein unglaubhaft-blaues Gefieder leuchten, niemandem zu Gefallen als nur ihm selbst.

Das war im November (2)

Noch einmal Wuppertalsperre. Vergessen, auf die Uhr zu schauen. Mit dem Gefühl, eigentlich wäre die ganze Strecke bis zum anderen Ufer zu schaffen, etwa bis zur Hälfte geschwommen. Es reicht ja nicht, die 180 Meter bis dorthin zu schaffen; man muß ja auch wieder zurück. Andererseits, was soll passieren? Ich würde bestimmt nicht vor Erschöpfung absaufen, sollte es am Ende doch anstrengend werden. Inzwischen sind bestimmte exquisite Kälteempfindungen bereits vertraut, und darauf kommt es wohl an: wiederzuerkennen, was mit einem passiert, während man in 8° kaltem Wasser eingetaucht ist. Wiedererkennen, und, was sich als Abfolge von Phasen wiederholt, als Wegemarken nehmen. Wissen, bis zu diesem Punkt ist alles gut, was danach kommt, probiere ich besser nicht weitab von Ufer, Handtuch und warmen Klamotten aus.

Das Wasser ist ohne Glanz, von kleinen Wellen bewegt, grau unter dem tief hängenden Himmel. Morgens noch Regen, auf dem Weg noch ein paar Spritzerchen, mehr nasse Luft als echte Tropfen. Mehrere Kranichzüge, Minuten vorm Erscheinen schon durch Trompeten angekündigt, ziehen vorbei, eine Weile löst ein Zug den nächsten ab. Wie schön das wäre, denke ich, ein solcher Kranichzug würde über den Talsperrensee fliegen, während ich im Wasser bin. Zwanzig Minuten später ist es tatsächlich so weit. Ich höre sie, bevor ich sie sehe, drehe mich auf den Rücken, und da sind sie, tauchen in den Glasrand der Schwimmbrille, viel tiefer, scheint es, aus der Perspektive des Schwimmers als von Land aus gesehen, und lauter auch, ein schönes Dreieck athletischer Flieger, und ich denke an jenen Moment, da ein Reiher in Zeitlupe übers Wasser strich, im Sommer, gar nicht so lange her, und bin glücklich.

Das war im November (1)

Spaziergänge vom Bahnhof Obertwiern hinauf zum Dümpfhaub. Jede Woche jetzt ein- oder zweimal der Weg. Erst Spätsommer- dann unmerklich Herbstregister im Laub, die Wege beginnen zu nuscheln und mit den Zähnen zu knirschen. Erste verhüllte Vormittage, kalt wird es trotzdem nicht, ich komme jedes Mal verschwitzt am See an, streife vorm Bad ein feuchtes T-Shirt von den Schultern. Blätter fallen, jedes einzeln und wie zufällig. Als ginge der Herbst die verbleibenden nichts an. Ich aber ginge den Herbst gern, oder der Herbst mich, etwas an.

Und so, in einer Beziehung wechselseitigen Etwas-Angehens, wäre ich wieder so sehr Teil der Welt wie ihr melancholischer Beobachter. (Muß ich deshalb so verzweifelte Dinge unternehmen, wie im November im See schwimmen — ist es der Versuch, die Trennung zur Welt durch Schmerz zu überwinden? Weil die Welt mir anders nicht als durch eisiges Wasser auf der Haut zu brennen kommt?) Ein Vers: “Erster Versuch: Melodie. Die das Blaue der Ferne herbeizieht.” Der Herbst bleibt fern, keine Musik zieht ihn ins Nahe. Selbst der Schlaf ist sachlich und gut. Die Wege: bereitwillig. Doch ohne Seele, nicht mit dem Herzen dabei, nicht bei mir. Es ist eine seltsame Beiläufigkeit in allem, eine Routine, über der man das Erstaunliche vergißt. Oder man vom Erstaunlichen als seinesgleichen — vergessen wird.

Dümpfhaubsee

Neue Erfahrung von Kälte. Das Thermometer zeigt 7° Wassertemperatur, mit gutem Willen und scheelem Blick 7,5°. Neulich schon bis fast zur Hälfte des kleinen Sees am Dümpfhaub zurückgelegt, gestern dann wirklich die Hälfte, bis an die Stelle, wo sich das Gewässer weitet. Meine zehn klammen Schwimmzüge bringen mich nicht einmal an den Rand der Nachbarschaft des Vorbereichs dieser Zone, schrieb ich im Frühjahr; inzwischen bin ich da, wohin zu gelangen damals unmöglich schien. Beim Zurück dann ein erstaunliches Brennen in den Oberarmen. Keine Schwäche; aber eine spannende neue Empfindung; ein Gefühl von Wärme, wie von einem Panzer. Die Atmung macht noch Probleme, tauche ich den Kopf ein (in der graugrünen Wassersäule schweben hydrostatisch aufgehängte Blätter und vermitteln ein Gefühl von Tiefe und Räumlichkeit, deren es der trüben Brühe sonst ermangelt), will mir der Atem stocken, man muß eine Weile untergetaucht bleiben, und sich zum Ausatmen zwingen. Immerhin schmerzt die Stirn nicht mehr, das war vor zwei Tagen noch sehr unangenehm. Was sonst noch schmerzt, davon will ich lieber schweigen … Was bei normalen Wassertemperaturen nicht auffällt, daß ich rechts nicht so gut atme wie links, wird, je kälter das Wasser, desto deutlicher.

Wuppertalsperre

Huh! Hah! Oh, oha!

Die Geräusche sind unmißverständlich. So nah sind die Stimmen, wenn ich mich ein bißchen recke, müßte ich die beiden sehen können. Tatsächlich, da schimmert ein Kopf durchs Gezweig. Also bin ich heute nicht alleine hier. Das ist gar nicht verkehrt. Wenn andere auch so verrückt sind wie ich, stehen wir schon zu dritt gegen eventuelle behördliche Spaßverderber. Erheitert entkleide ich mich und stopfe die Sachen in den Rucksack.

Huah, ist das kalt. huh, ist das kalt, ist das kaaaahalt!

Wieso, ich bin doch noch gar nicht drin?

Kaaaahalt! Huh!

Boje umschnallen, Schwimmbrille auf und rein ins Wasser. Das Wasser verändert sich mit der Zeit, höre ich die Stimme, jetzt ruhiger, sagen. Nach ein paar schnellen Zügen Kraulstil sehe ich einen Frauenkopf mit Schwimmbrille ufernah vorbeidümpeln. Das Gesicht der Schwimmerin ist zum Ufer gewandt, sie sieht mich nicht, oder, so mein Eindruck, sie will mich nicht bemerken. Und mit wem spricht sie eigentlich? Mit sich selbst? Oder mit dem Hund, der am Ufer steht und uns einigermaßen fassungslos zusieht? Dabei muß ich ihr recht geben, das Wasser verändert sich, nicht alleine seine Temperatur, sondern auch seine Textur, die Art der Reibung, die es auf die Haut ausübt. An manchen Tagen ist es härter, wie grobkörnig, an anderen weich, geschmeidig, durchlässig. Manchmal ist es schwerer, dann wieder wiegt es fast nichts. Schon die Art, wie es in seinem Talbett liegt, ist wandelbar. Mal ist der Raum zwischen den Hängen wie mit Blei ausgefüllt, dann wieder scheint die Flüssigkeit so beweglich wie Nebel, mal wirkt die Masse prorös, spröde, dann wieder kompakt; oder luftig, oder aufgerauht, oder schwammartig-dicklich. Wenn es sehr kalt ist, beißt das Wasser wie Chili oder Pfeffer.
Weil man sich als die einzigen zwei Schwimmer auf zehn Quadratkilometer Wasserfläche schlecht ignorieren kann, wünsche ich guten Morgen, als ich vorbeischwimme. Ich habe schon ein Sprüchlein auf den Lippen wie, daß bei so viel Andrang demnächst die Überfüllung drohe, aber die Frau scheint nicht zu Späßen aufgelegt. Tatsächlich scheint es ihr unangenehm zu sein, daß da noch jemand im Wasser ist. Als hätte ich sie bei etwas Unziemlichem ertappt.

Oder bin ich derjenige mit der Unziemlichkeit?

Später unterhalte ich mich mit einer Freundin darüber. Ich hätte, sage ich, der Mitbadenden fast ein Scherzwort zugerufen, oder zurufen wollen, aber die Dame habe nicht so ausgesehen, als würde sie Spaß verstehen. Die Freundin, etwas streng, meint, wer als Frau alleine schwimmen gehe, wolle nicht angesprochen werden. Das sei zwar, erwidere ich, idiotisch, aber dann hätte ich, indem ich mich auf ein Guten Morgen! beschränkte, alles richtig gemacht. Nicht auszudenken, scherze ich, ich hätte auf die Badehose verzichtet. Die Freundin behauptet, das würde sie persönlich weniger stören als irgendwelche Kontaktaufnahmen. Oder würde ich mich gern ansprechen lassen, wenn ich in Ruhe meine Bahnen ziehen wolle? Ein Witzchen machen, finde ich, ist noch nicht ansprechen, aber die Freundin beharrt darauf, irgendwelche Witze oder Fragen, nee nee. Das läßt mir keine Ruhe. Ausnahmsweise nämlich habe ich mich mal gefreut, nicht der einzige Schwimmer zu sein auf weitem Spiegel. So etwas verbindet ja auch. Und zudringliche Menschen pflegen nicht so weit zu gehen, als Vorwand der Kontaktaufnahme ins Wasser zu steigen, wenn sie es ursprünglich nicht vorgehabt hätten. Und ganz bestimmt nicht mit Schwimmbrille und Boje hinter sich, da scheinen mir die Absichten klar zu sein. Aber vielleicht, vermute ich, sehe ich das anders, weil ich mich als Mann grundsätzlich nicht bedroht fühle. Wie sich das anfühlt, wird man als Frau wahrscheinlich so wenig begreifen, wie wir Männer das Gefühl ständiger latenter Bedrohung begreifen können, das Frauen zur zweiten Natur wird, wenn sie heranwachsen. Jedenfalls war ich fast ein wenig bestürzt, daß diese aus meiner Sicht spaßige Begegnung von der anderen Seite möglicherweise als so wenig lustig wahrgenommen worden ist. (Meine eigene Vermutung ist, daß der Schwimmerin bei meinem Anblick klar wurde, daß ihre Selbstgespräche mitgehört worden waren, und daß ihr das peinlich war. Huh!, Hah! Kahalt! — Mir wäre das jedenfalls peinlich gewesen.)

Ich lasse die Schwimmerin hinter mir, schwimme ein paar hundert Meter die Länge des Tals vor, quere zur anderen Seite rüber, schwimme zurück, und als ich mich wieder meiner Ablegestelle nähere, ist niemand mehr zu sehen auf der Wasserfläche, nicht Hund nicht Schwimmerin, die Verstecke und Einstiegsstellen am Ufer sind alle leer. Was an Stimmen zu hören ist, tönt von den entfernten Wegen übers Wasser. Ich steige ans Ufer, wo mein Rucksack in der Sonne leuchtet, und ziehe mich um, ohne einem Menschen mit meinem Anblick zu nahe zu treten.

Wuppertalsperre

Schon beim dritten Besuch ein alter Vertrauter: der Felsenfleck an der Höchstener Landzunge. Ab da geht es wirklich ins Offene, entferne ich mich definitiv von Rucksack, Handtuch und Klamotten. Das Wasser still, glatt, dunkel, mein Kielwasser die einzige Kräuselung, ich enpfinde fast ein Bedauern darüber, die glattgestrichene, perfekte Fläche zu zerschneiden, und nehme mit Befriedigung zur Kenntnis, daß das Wasser sich hinter mir wieder zum kratzerlosen Spiegel schließt.

Etwas unangenehm nur, gegen das Sonnenlicht zu schwimmen, mit zunehmend beschlagener Brille, das bewaldete Ufer verliert die Konturen und tritt in eine schattige Nichtentfernung ein. Rechts ein paar hundert Meter weg die wie gewaltsam ins Wasser tretenden Säulen der Krähwinkler Brücke, leuchtend in der Morgensonne. Autolärm fliegt von dort übers Wasser. Jenseits davon wird unweit der lächerliche Schwimmbezirk der einzigen offiziellen Badestelle des ganzen Stausees liegen, eingepfercht durch eine Bojenkette, damit niemand übermütig werde. Schon was ich während der ersten fünf Minuten zurückgelegt habe, ist dreimal so lang wie die Strecke zwischen Strand und Kette, und dafür soll ich auch noch Geld bezahlen?

Ich schwimme, umsonst und draußen. Unbeaufsichtigt, unversichert und frei.

Der schönste Moment war vielleicht, wo vier, fünf Meter vor mir zwei Gänse vom Wasser aufflogen, einen Strauß silbriger Trofen hinter sich her ziehend, in meiner Erinnerung werden die Tropfen minutenlang schwerelos in der Luft hängen.

Wenn ich das noch ein paarmal mache, bin ich für für jedes gekachelte Wasser verloren.

Wuppertalsperre

Einige Male in meinem Leben habe ich sehr schlimm gefroren, schlimmer als Zähneklappern, so schlimm, daß man sich vom Tod angehaucht fühlt. Ich weiß die Male noch genau: in der klirrenden Morgenfrühe, knapp 5000 m über und bei einem zweistelligen Celsiusbetrag unter Null, auf einem Gletscher unterhalb des Wayna Potosí, nach einer Nacht, in der ich vor Frost nicht schlafen konnte, darauf wartend, daß die Tour endlich begönne und wir uns warm gehen könnten; nach einem Bad im Freibad vor Jahren im September, wo mich die Kälte in der Umkleidekabine heimsuchte wie ein böser Geist; oder das stygische Frösteln, wenn man bei Fieber auf die Toilette muß; oder erst neulich einmal nach einem eisigen Bad auf dem windigen Weg vom Beckenrand zur heißen Dusche, zum Glück gab es eine.

Es ist eine Kälte, die das letzte Flämmchen Wärme, das irgendwo zwischen Magen und Wirbelsäule flackert, auszulöschen droht. Ein Gefühl von Elend, das jedes bloße Bibbern weit hinter sich läßt.

Zweihundert Meter sind es an der Talsperre von einem Ufer zum anderen, hin und zurück vierhundert, neulich bin ich das geschwommen, die Strecke ist ein Klacks, fünf Minuten hin, fünf Minuten zurück, man glaubt, gar nicht richtig im Wasser gewesen zu sein, wenn man sich hinterher abtrocknet, und denkt, eigentlich ist man erst richtig geschwommen, wenn man das Doppel zweimal hinter sich gebracht hat. Achthundert Meter, zwanzig Minuten, das sind gerade mal 16 Freibadbahnen, normalerweise schwimme ich 40.

An diesem windigen und bewölkten Tag Mitte Juni kehre ich, nachdem ich nach zweihundert Metern kabbeligen Wassers die Bucht wieder erreicht habe, wo meine Sachen auf mich warten, noch einmal um und schwimme die Strecke zum zweiten Mal. Die Sonne kommt heraus und schneidet tanzende Bahnen in die grüne Tiefe, gleich fühle ich mich in meinem Vorsatz bestärkt, das Wasser flimmert, der Himmel zeigt fahles Blau, die Ufer scheinen näher zusammenzurücken. Ich bin allein auf dem Wasser, mitten auf dem weiten Wasser, hundert Meter vom nächsten Ufer entfernt, und alles jubelt in mir vom Gefühl, Widerstandskraft zu haben und stark zu sein. Ich erreiche das andere Ufer, betrete zum zweiten Mal den Grund mit den algigen Steinen hinter der überfluteten Weide. Schwimmbrille reinigen, ein Moment Pause, bis sich der Atem etwas beruhigt hat. Los geht’s, murmele ich und mache mich auf den Rückweg. Noch merke ich nichts. Ich merke auch noch nichts, als ich abermals die Hälfte hinter mir habe. Auch als ich in die Bucht steuere, merke ich noch nichts. Sicher, es ist kalt, und die Arme sind schwer und müde, aber so kalt ist es nun auch wieder nicht. Wie kalt es wirklich ist, wie kalt ich innerlich bin, ausgekühlt bis zu dem kleinen Flämmchen zwischen Magen und Wirbelsäule, merke ich erst, als ich mich schon abgetrocknet habe. Wind kommt auf und droht den letzten Rest Wärme aus mir herauszublasen, so fühlt es sich an. Ich zerre am T-Shirt, sehne mich nach bloßem Freibadbahnenbibbern, im Vergleich zu dem hier mollig warm, muß mich setzen, um die Hose anzuziehen, ich kann das Gleichgewicht nicht mehr halten, ich schluchze vor Frustration, weil ich das Hosenbein nicht über die feuchte Ferse gezogen kriege.

Zum Glück vergißt man schnell, und was bleibt, ist nicht das Elend des erbärmlichen Frierens, sondern der Triumph, das Glück und jene Überzeugung der eigenen Kraft und Stärke, die nur Schwimmen in kaltem Wasser vermitteln kann. Wie beim Schwimmen alles ins Lot kommt: “I can dive in with what feels like a terminal case of depression and step out again a whistling idiot”, schreibt Roger Deakin, und ich kann das nur bestätigen.

Eine heiße Dusche gibt’s hier nicht, nur eine anstrengende, unter anderen Umständen schweißtreibende Fahrradfahrt nach Hause; aber nicht einmal die erste anstrengende Steigung vermag mich aufzuwärmen, vom Ins-Schwitzen-Geraten gar nicht erst zu reden. Noch zu Hause in der warmen Küche, nach einer Stunde Radeln und zwei heftigen Anstiegen, fröstelt mich. “Ich habe immer noch eine kalte Nase”, sage ich zu meiner Frau, die mich lachend auf die Spitze derselben küßt.

Heddesheim

Der Regen, in der Nacht noch ergiebig gefallen, hat erst gegen Morgen aufgehört. Die Wiese ist noch so naß wie das letzte Mal. Ich ziehe mich um und stopfe Hemd und Hose in den Rucksack, darüber kommt die Regenjacke. Laut Anzeige hat das Wasser 18°, doch fühlt es sich so kalt an, daß mir der Atem stockt. Vielleicht hat es mit der Erwartung zu tun. Wer auch mit 15° klarkommt, unterschätzt die 18° und hält den Widerstand für geringer. Tatsächlich zeigen die drei Grad Unterschied erst nach dem Schwimmen ihre Wirkung, wenn das postnatatale Zähneklappern ausbleibt. Ein paar Züge Brust, um mich zu gewöhnen, dann Kraul mit Atmen im 2-3-2-Rhythmus. Ich schwimme am Ufer entlang bis zur Bojenkette, die den zivilisierten Teil des Sees, wo Schwimmen erlaubt, vom wilden, wo es verboten ist, trennt, in der Absicht, mich an der Leine bei der Überquerung zu orientieren. (Man neigt beim Kraulen dazu, stark abzudriften, wenn keine Bodenmarkierungen den Kurs vorgeben.) Was dazu führt, daß ich nach ein paar Zügen kräftig mit einer Boje zusammenstoße. Immer ist da die leise Versuchung, einfach unter der Leine durchzutauchen und in den gesperrten, größeren Teil des Sees hinauszuschwimmen, ins Freie, Offene, Wilde hinaus. Ins Unbegrenzte. Aber natürlich lasse ich es bleiben. Nicht aus Angst, jedenfalls nicht vor dem unzivilisierten Wasser. Vor der Natur fürchte ich mich nicht, vor ihr habe ich Respekt. Mit den Menschen geht es mir umgekehrt. Die Natur kann man lernen, den Menschen nicht. So fürchte ich nur Menschen und ihren Glauben an Erzählungen. Zum Beispiel diejenige Erzählung, die einigen von ihnen die feste Überzeugung eingibt, mir ein Bußgeld aufbrummen zu können. Und auch da fürchte ich nicht den Verlust des Geldes, sondern ihre strengen, strafenden, zivilisierten Augen. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen: In Ruhe gelassen werden. Deshalb habe ich mir ja auch Bewegungsformen gesucht (mein Gestrampel oder Schweifen Sport zu nennen, weigere ich mich, Sport ist etwas für die Modernen), bei denen ich allein sein kann, das Laufen, das Wandern und eben auch das Schwimmen, letzteres vorzugsweise bei schlechtem Wetter und draußen, vorzugsweise in einem See. In einer überfüllten Halle oder im sonnenmilchgetrübten Becken des Freibads ist es nämlich Essig mit dem In-Ruhe-gelassen-Werden. Da ist eine Bojenkette ein geringes Übel, läßt sie doch zum Schwimmen so viel Platz, daß von Ufer zu Ufer im zivilisierten Bereich vier Olympiabahnlängen liegen. Zum In-Ruhe-Gelassen-Werden gehört aber eben auch, von Behörden aller Art unbehelligt zu bleiben, auch deswegen achte ich die Bojenkette.

An deren anderen Ende riecht das Ufer faulig, ich sehe zu, daß ich schräg zum Sandstrand quere; wieder die Gewächse wie beim letzten Mal, deren Spitzen aus der trüben Tiefe auftauchen, ihre Blätter sehen verschlammt aus, als trügen sie einen Niederschlag von etwas vor langer Zeit zum Grund Gesunkenem wieder ans Licht empor. Und dann, aus dem Augenwinkel, eine träge Bewegung, ein Wälzen, ein kurzes Gerinnen der schlammigen Grünheit zu Körper und Form. Es ist das erste Mal, das ich hier Fische sehe. Meine Freundin Rhea hat welche gesehen, neulich am Dümpfhaubsee. Ich noch niemals.

Fische, und dann Sonne. Geblendete Atemzüge nach links, grünuferige rechts. Ein kurzer Halt am Ponton, wie alles in dieser Frühe am See, bei diesem Wetter, verlassen und lustlos, dann zurück zu meinen Kleidern. Keine zwanzig Minuten sind vergangen, seit mir der Atem stockte beim Hineingehen, aber es reicht mir. Runter mit der albernen Badehose, noch ein Schokoriegel auf der Bank, ein paar Atemzüge innehalten. Das Blubbern wieder aus den Ohren kriegen. Die Bäume stehen still rings ums Wasser, in den Büschen schlagen die Nachtigallen. Drei, vier Schwimmer sind draußen. Die Pontons treiben träge und kalt und warten auf Sommer.

Heddesheim

Ein zweites Mal im See, nach einem 5-km-Marsch im Regen, an einer Stelle mußte aufs Feld ausgewichen werden, den Weg hatte eine Pfütze, eigentlich schon ein kleiner Weiher, unpassierbar gemacht. Endlich erscheint zwischen den Büschen die Wasserfläche, der See übt einen Sog aus, das Versprechen, gleich ins Wasser steigen zu können, läßt den Schritt noch einmal schneller gehen. Die Klamotten klamm, die Schuhe durchnäßt, erreiche ich das Kassenhäuschen. Umziehen im überdachten Bereich bei den Schließfächern, die feuchten Kleider in den Spint gestopft, das Handtuch im zusammengeklappten Schirm geschützt zum Steg mitgenommen, die Wiese ist durchnäßt, das Regenwasser quillt zwischen den Zehen. Luft 13°, Wasser wohl nach 24 Stunden Regen keine 18° mehr. Es fällt schwerer als gestern, nimmt mir bei den ersten Zügen den Atem. Ein paar Züge Brust, dann Kraul, bis der Sauerstoffbedarf das Atmen schwierig macht. Rhythmuswechsel, alle 2, 3, 2 Armschläge atmen, so läßt es sich durchhalten. Der See läßt sich vollregnen, blinzelt, konzentriert sich auf seine Mitte, meditiert, vergißt sich selbst. Die glitzernden Schwebstoffe fehlen heute. Das Wasser hat eine helle, transparente Leichtigkeit an der Oberfläche, als bestünde es aus Schichten verschiedener Elemente, bei jedem Atmen durchbricht das Gesicht diese Schicht, als würde man durch eine Glasscheibe tauchen, auf der sich Tropfen gesammelt haben. Darunter liegt die kompakte Masse der grüntrüben Tiefe, undurchdringlich, einförmig, dick.

Heddesheim

Der See im Regengetröpfel. Im Frühjahr ist selbst eine wolkengetrübte Wasserfläche kein trauriger Anblick. Auch der verrammelte Kiosk, die zusammengeklappten Sonnenschirme, die leere, nasse Liegewiese, das alles ist von einer unerschrockenen Fröhlichkeit. Alles muß erst noch werden, und es wird: die Bäume umstellen das Ufer wie Sportler vor dem Wettkampf, das Grün lacht von Vögeln, die durchnäßte Wiese quietscht wie frisch gebohnert. Das Wasser ist kühl, nicht kalt, 18° sagt die Anzeige bei der Badeaufsicht. Bei dieser Temperatur bleibt es ein neutrales Element, ohne besondere Eigenschaften. Es duldet den Schwimmer weniger, als daß es ihn ignoriert. Die Sichttiefe ist größer als am Dümpfhaubsee, am Uferrand tauchen plötzlich die Fäden von Bewuchs aus der Tiefe auf, und der Grund wird schon mehrere Meter vom Strand entfernt sichtbar. Merkwürdig ist das Glitzern von Schwebstoffen, das letztes Jahr um diese Zeit fehlte.

Dümpfhaubsee

Und dann ist doch niemand am See. Der Wasserspiegel steht hoch, die kleine Bucht, wo ich mich schon zweimal entkleidet habe, ist überflutet, der Stein, auf dem ich meine Kleider gelegt habe, liegt mehrere Zentimeter unter der Oberfläche, wegen der Böschung kommt man vom Weg nicht zu der flachen Uferstelle. Ich muß mich am Steg festhalten und den Weg ins Wasser an Steinen vorbei navigieren, zu blöd, wenn ich jetzt stürzte und mir an diesem verlassenen Ort etwas bräche, noch dazu im eisigen Wasser. Achso, eisig. Wie kalt mag es sein? Gefühlt so wie es jedesmal in diesem Winter war, egal wann, egal an welchem Gewässer. Laut Thermometer 11° (an der Würbeltalsperre), aber das glaube ich nicht, es müssen weniger sein. Die Witterung ist kühl an diesem Morgen, regnerisch, auf dem Weg hierher mußte ich mehrmals den Schirm aufspannen. Eben ist die Sonne rausgekommen, jetzt zieht es sich wieder zu, und gleich beginnt es auch zu tröpfeln. Trotz dem ruppigen Wetter campieren unweit Leute. Oben, auf einer Wiese auf dem Plateau, habe ich etwas abseits hinter Gebüsch ein Zelt gesehen. Aber niemand ist jetzt unten am See. Niemand da, aber es kann jeden Moment jemand vorbeikommen, und dann will ich schon im Wasser sein oder es schon hinter mir haben, ich kann nicht erklären, warum, mir macht es nichts aus, nackt vor Leuten zu stehen, aber mich vor Leuten auszuziehen, da hätte ich erhebliche Hemmungen. Ich hampele etwas herum; wie immer, wenn es schnell gehen soll, bin ich unkoordiniert, zudem darf die Unterbekleidung weder auf den feuchten Grund gelangen noch unbedeckt bleiben, aber die Jacke rutscht immer wieder vom Kleiderberg hinunter. Nässe ist überall. Wie Reste eines Festes, verwelkte Rosen vielleicht, erloschene Kerzen, treibt pflanzlicher Detritus auf dem See. Weiter draußen kräuselt eine Brise die Oberfläche, verspielt wie Seifenblasen, eine Zone unerreichbaren Wassers im Schatten der Felswände, dämmervoll, daß es scheint, als träte das Gewässer dahinter in eine Höhle ein. Meine zehn klammen Schwimmzüge bringen mich nicht einmal an den Rand der Nachbarschaft des Vorbereichs dieser Zone.

Wuppertalsperre

Nach den beiden Bädern in der Nordsee wieder an der Talsperre im Wasser gewesen. Der Tag war sonnig, elf Grad Lufttemperatur. Gegen zehn Uhr kam ich warmgelaufen an der Vorsperre an. Je nach Lichteinfall war das Wasser klar bis auf den hellen, steinigen Grund hinunter, oder im Gegenlicht abweisend-opak, ölig, nicht einmal zum Spiel mit dem Wind aufgelegt. Nur wenige Menschen unterwegs, eine ältere Dame verunsicherte ich, als ich auf der Suche nach meinem Plätzchen wieder ein Stück umkehrte (und ihr aus ihrer Perspektive zu folgen schien). Hoher Wasserstand, die Stelle von letztem Jahr unauffindbar. Zuletzt wieder die zweitbeste Stelle genommen, dort stand das Wasser so hoch, daß ein bequemer Absatz, sonst wahrscheinlich mehrere Meter von der Wasserlinie entfernt, jetzt einen Fußbreit unmittelbar darüber lag. Am ertasteten Grund beim Hineingehen war jedenfalls die Stelle nicht zu erkennen. Steil geht es hinab, nach drei Schritten bin ich eingetaucht, hektisch atmend. Es ist eisig wie immer, und doch auf subtile Weise garstiger, schwieriger. Härter. Ich kürze ab, zwei Schwimmzüge müssen reichen, einmal auf den Rücken gedreht, mit den Beinen gestrampelt. In diesem Moment beruhigt sich die Atmung wieder. Eine Art Zuversicht stellt sich ein: Ich habe es wieder geschafft. Zwei Züge zurück, bis ich Grund unter den Füßen habe: so noch einen Moment untergetaucht bleiben, dann raus. Keine Minute hatte das Bad gedauert. Gelauscht, geschaut: Die Wege waren alle leer. Ich griff zum Handtuch. Kein Mensch bekam den entzückenden Anblick des 50jährigen, nur mit einer Wollmütze und Badelatschen bekleideten Mannes mit, der sich die nasse Gänsehaut von den winterweißen Gliedern wischte.