Kategorie: Allgemein
Tempora mutantur
Es gibt nicht viel Konstanteres und Älteres in meinem Leben. Zwanzig Jahre — kaum ein Ereignis, ein Anfang, eine Errungenschaft, die nicht in diese Zeit hineinragen, von ihr grundiert würden. Darin enthalten sind zwei Kanzlerwechsel; die Huygenssonde; drei Päpste; ein Austritt aus der EU. In zwanzig Jahren wird ein Mensch erwachsen. Trägt ein Nußbaum zum ersten Mal Früchte. Dieses Blog ist jünger als der Beginn dieser Zeit. Mein Lateinstudium ist jünger. Zweimal die Wohnung gewechselt. Das Wandern in der Eifel begonnen. Den Marathon. Ja, selbst meine Ehe ist jünger, ihr Beginn liegt schon mitten in diesem Strom, der nun endet. Und was endet da! Nie hab ich das gewollt, daß der Beruf einen solchen Raum gewinnt. Nun will mir kaum etwas Bedeutsameres einfallen als die in diesem Rahmen eingefaßten, gehaltenen und geordneten Vormittage. Etwas, das halt auch noch da ist, nebenher mitläuft, keine besondere Wichtigkeit in mein Leben wirft, so hab ich es haben wollen, so hab ich es mir eingerichtet. Mag sein, es ist sogar gelungen, aber im Rückblick fühlt es sich nicht so an. Da stellt es sich vielmehr heraus, als hätte alles Schöne seinen Halt in dieser Routine; als hätte alles Schlimme auch seinen Trost darin gehabt. Routinen sind unterschätzt, in unserer alles Neue preisenden, aufgeregten Welt bringt man sie gerne mit Langeweile und einem Alltag zusammen, dem regel- und reflexhaft das Farbwort grau beigegeben wird. Für mein Leben sind sie immens wichtig, die Routinen, ohne bin ich unglücklich. Es ist indessen schwer, sehr schwer, in Routinen hineinzufinden und noch schwerer, sie auch gelingen zu lassen.
Belsazar
Zurückziehen ins Kleine. Im Großen kann man nicht mehr leben.
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Im Kleinen auch nicht. Die Zwetschgen am Baum, die Bienenschwärme, die die Jungfernrebe abernten, die Blütenpracht in K.s Garten, der rotschwarze Schmetterling an der Buddleya — alles eine papierene Hülle. Eine falsche Idylle. Der letzte Atemzug einer sterbenden Welt. Im Großen wie im Kleinen, im Außen wie in meinem kleinen privaten Leben — was wir kannten, was ich kannte, geht zu Ende, und es ist gar nicht fraglich, ob das, was kommt, besser ist. Es wird erheblich schlechter sein. Es wird schlimm werden. Sehr schimm.
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Was selbst der bescheidenste, genügsamste Mensch noch als gutes Leben bezeichnen würde, wird immer auf einem massiven Eingriff in natürliche Kreisläufe und Regelsysteme der Natur fußen, auf Verbiegungen dieser Regelsysteme zu seinen, des Menschen, Vorteil. Auf diese Manipulation verzichten zu wollen, würde wieder hohe Säuglingssterblichkeit, Tod nach Ablauf der Auslegungslebensdauer (30–40 Jahre), unvorhersehbare Schwankungen im Nahrungsangebot und in der Folge regelmäßige Hungersnöte bedeuten. Vom Fehlen “höherer” Güter wie elektrischer Strom, fließend Wasser, Schmerzmittel, Fernsehen oder Internet mal ganz zu schweigen. Natürlich ist nichts an unserem Leben, nichts.
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“Ich war schon an meinem Hause”, sagte Thomas, “und erst als ich sah, daß die Fenster noch alle hell waren und die Wagen unten hielten, bin ich umgekehrt.”
“Ja, sie leben wie Belsazar und seine Knechte … immer war das so in solchen Zeiten … man soll nicht schelten, man soll nur immer da sein, immer da sein …” Er legte den Kopf an die Lehne seines Stuhles und schloß die Augen. Jedes Linie des Gesichtes erstarb in erschreckender Müdigkeit. (Ernst Wiechert, Das einfache Leben, S. 27)