Wuppertalsperre

Huh! Hah! Oh, oha!

Die Geräusche sind unmißverständlich. So nah sind die Stimmen, wenn ich mich ein bißchen recke, müßte ich die beiden sehen können. Tatsächlich, da schimmert ein Kopf durchs Gezweig. Also bin ich heute nicht alleine hier. Das ist gar nicht verkehrt. Wenn andere auch so verrückt sind wie ich, stehen wir schon zu dritt gegen eventuelle behördliche Spaßverderber. Erheitert entkleide ich mich und stopfe die Sachen in den Rucksack.

Huah, ist das kalt. huh, ist das kalt, ist das kaaaahalt!

Wieso, ich bin doch noch gar nicht drin?

Kaaaahalt! Huh!

Boje umschnallen, Schwimmbrille auf und rein ins Wasser. Das Wasser verändert sich mit der Zeit, höre ich die Stimme, jetzt ruhiger, sagen. Nach ein paar schnellen Zügen Kraulstil sehe ich einen Frauenkopf mit Schwimmbrille ufernah vorbeidümpeln. Das Gesicht der Schwimmerin ist zum Ufer gewandt, sie sieht mich nicht, oder, so mein Eindruck, sie will mich nicht bemerken. Und mit wem spricht sie eigentlich? Mit sich selbst? Oder mit dem Hund, der am Ufer steht und uns einigermaßen fassungslos zusieht? Dabei muß ich ihr recht geben, das Wasser verändert sich, nicht alleine seine Temperatur, sondern auch seine Textur, die Art der Reibung, die es auf die Haut ausübt. An manchen Tagen ist es härter, wie grobkörnig, an anderen weich, geschmeidig, durchlässig. Manchmal ist es schwerer, dann wieder wiegt es fast nichts. Schon die Art, wie es in seinem Talbett liegt, ist wandelbar. Mal ist der Raum zwischen den Hängen wie mit Blei ausgefüllt, dann wieder scheint die Flüssigkeit so beweglich wie Nebel, mal wirkt die Masse prorös, spröde, dann wieder kompakt; oder luftig, oder aufgerauht, oder schwammartig-dicklich. Wenn es sehr kalt ist, beißt das Wasser wie Chili oder Pfeffer.
Weil man sich als die einzigen zwei Schwimmer auf zehn Quadratkilometer Wasserfläche schlecht ignorieren kann, wünsche ich guten Morgen, als ich vorbeischwimme. Ich habe schon ein Sprüchlein auf den Lippen wie, daß bei so viel Andrang demnächst die Überfüllung drohe, aber die Frau scheint nicht zu Späßen aufgelegt. Tatsächlich scheint es ihr unangenehm zu sein, daß da noch jemand im Wasser ist. Als hätte ich sie bei etwas Unziemlichem ertappt.

Oder bin ich derjenige mit der Unziemlichkeit?

Später unterhalte ich mich mit einer Freundin darüber. Ich hätte, sage ich, der Mitbadenden fast ein Scherzwort zugerufen, oder zurufen wollen, aber die Dame habe nicht so ausgesehen, als würde sie Spaß verstehen. Die Freundin, etwas streng, meint, wer als Frau alleine schwimmen gehe, wolle nicht angesprochen werden. Das sei zwar, erwidere ich, idiotisch, aber dann hätte ich, indem ich mich auf ein Guten Morgen! beschränkte, alles richtig gemacht. Nicht auszudenken, scherze ich, ich hätte auf die Badehose verzichtet. Die Freundin behauptet, das würde sie persönlich weniger stören als irgendwelche Kontaktaufnahmen. Oder würde ich mich gern ansprechen lassen, wenn ich in Ruhe meine Bahnen ziehen wolle? Ein Witzchen machen, finde ich, ist noch nicht ansprechen, aber die Freundin beharrt darauf, irgendwelche Witze oder Fragen, nee nee. Das läßt mir keine Ruhe. Ausnahmsweise nämlich habe ich mich mal gefreut, nicht der einzige Schwimmer zu sein auf weitem Spiegel. So etwas verbindet ja auch. Und zudringliche Menschen pflegen nicht so weit zu gehen, als Vorwand der Kontaktaufnahme ins Wasser zu steigen, wenn sie es ursprünglich nicht vorgehabt hätten. Und ganz bestimmt nicht mit Schwimmbrille und Boje hinter sich, da scheinen mir die Absichten klar zu sein. Aber vielleicht, vermute ich, sehe ich das anders, weil ich mich als Mann grundsätzlich nicht bedroht fühle. Wie sich das anfühlt, wird man als Frau wahrscheinlich so wenig begreifen, wie wir Männer das Gefühl ständiger latenter Bedrohung begreifen können, das Frauen zur zweiten Natur wird, wenn sie heranwachsen. Jedenfalls war ich fast ein wenig bestürzt, daß diese aus meiner Sicht spaßige Begegnung von der anderen Seite möglicherweise als so wenig lustig wahrgenommen worden ist. (Meine eigene Vermutung ist, daß der Schwimmerin bei meinem Anblick klar wurde, daß ihre Selbstgespräche mitgehört worden waren, und daß ihr das peinlich war. Huh!, Hah! Kahalt! — Mir wäre das jedenfalls peinlich gewesen.)

Ich lasse die Schwimmerin hinter mir, schwimme ein paar hundert Meter die Länge des Tals vor, quere zur anderen Seite rüber, schwimme zurück, und als ich mich wieder meiner Ablegestelle nähere, ist niemand mehr zu sehen auf der Wasserfläche, nicht Hund nicht Schwimmerin, die Verstecke und Einstiegsstellen am Ufer sind alle leer. Was an Stimmen zu hören ist, tönt von den entfernten Wegen übers Wasser. Ich steige ans Ufer, wo mein Rucksack in der Sonne leuchtet, und ziehe mich um, ohne einem Menschen mit meinem Anblick zu nahe zu treten.

Nachtrag zu Karneval

Muß nicht auffallen, wie sehr die Wahl eines Karnevalskostüms vom Geschlecht bestimmt wird? Die Frauen und Mädchen gehen als Prinzessinnen, Elfen, Meerjungfrauen oder schinken sich einfach nur mit Kranz, Glanz, Flitter und Glitter, als kämen sie alle geradewegs aus der Redaktion der Zeitschrift Lillifee (voll süß!) — wo aber sind sie alle, die Astronautinnen, Chirurginnen, römischen Soldatinnen, Piratinnen, Wikingerinnen, Feuerwehrfrauen, die ganzen Larven, für die sich ihre männlichen Mitfeiernden vorzugsweise entscheiden? Es scheint, als wollten die Närrinnen nicht mal imaginär bei den Jungs mitspielen. Darüber mal bei der nächsten Debatte über Geschlechtergerechtigkeit nachdenken.

Sauattrappe

Das Problem mit der KI ist überhaupt nicht, ob und welche menschlichen Tätigkeit künstliche Systeme ersetzen; ist nicht, wo KI besser sein könnte als der Mensch. Das wahre Entsetzen über KI, und das wird in den Debatten immer übersehen, kommt aus einer anderen Möglichkeit: daß die KI – und sie hat die ersten Schritte jenseits dieser Schwelle längst getan – das Vertrauen untergräbt, es in der Kommunikation noch mit einem Menschen zu tun zu haben, und also, ob überhaupt Kommunikation stattfindet. Denn anders als Watzlawick behauptet setzt Kommunikation ein bewußtes Gegenüber mit kommunikativen Absichten voraus. (Nicht jedes Aussenden und Interpretieren von Zeichen ist Kommunikation.) Wo das nicht gegeben ist, ist die Kommunikation, na ja, nur eine Simulation oder schlimmer: eine Täuschung. Der Zuchteber, der, mit Duftstoffen bis zur Raserei gereizt, auf eine Sauattrappe geführt wird, um sich seinen Samen abzapfen zu lassen – er mag den Turnbock, auf dem er hockt, für eine echte Partnerin halten. Selbst wenn seinem Trieb nichts fehlt: Würden wir nicht sagen, daß diesem masturbatorischen Betrug etwas zutiefst Trauriges anhaftet? Solange ich weiß, daß ich mit einer Maschine kommunikative Masturbation betreibe, ist gegen KI nichts einzuwenden; das Unbehagen beginnt mit dem verunsichernden Gedanken, es vielleicht nicht zu wissen. Was, wenn ich nicht weiß, ob der Popsong, der mich zu Tränen rührt, nur das auf meine Gefühle hin berechnete Produkt einer Maschine ist? Ob der Roman, der mich aufwühlt, nicht auf genau meine Aufwühlung von einem Algorithmus maßgeschneidert worden ist? Auch die Beziehung zwischen Künstler, Werk und Rezipient ist eine Form der Kommunikation; ist etwas, das zwischen Menschen stattfindet; ist ein Audruck menschlicher Beziehungen – worauf das Menschliche exklusiv Anspruch hat. Mehr noch: Kunst ist etwas, das den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnet: es ist wie Sprache und Lachen ein nicht-akzidentielles Wesensmerkmal. Insofern läßt es sich per definitionem nicht durch eine Maschine ersetzen. Und so wollen wir uns auch nicht von einer Maschine zu Tränen anrühren, nicht von einem künstlich maschinell erzeugten Text aufwühlen, nicht von einem synthetischen Witz zum Lachen bringen lassen. Warum nicht? Weil die Maschine nicht mitlacht. Weil die Maschine nicht weiß, was Tränen sind, oder was es bedeutet – wie es sich anfühlt – aufgewühlt zu sein. Als kommunikativer Akt setzt das Sich-Rühren-Lassen – wie alle Kommunikation – ein fühlendes Gegenüber und also: Empathie voraus. Kommunikation spiegelt uns ein denkendes Wesen, das uns versteht und uns aufgreift und uns verwandelt zurückschenkt. Lassen wir uns von einer Maschine zu Tränen rühren, sind wir nichts weiter als ein verzückter Eber auf seiner Attrappe. Man darf auch nicht immer nur die Perspektive der (Kunst)Rezipienten einnehmen, weil zu jeder Rezeption immer ein Kunstschaffen gehört. Es ist nie die Rede davon, daß die KI den Zuhörer, Leser, Zuschauer wird ersetzen können. Das auszuklammern bedeutet, die kommunikative Rolle des Kunstschaffenden zu ignorieren. Die Tätigkeit des Künstlers ist nur das andere Ende der künsterischen Kommunikation, und der Künstler braucht sein Publikum, wie das Publikum den Künstler braucht, damit die Kommunikation zustande kommt. Wer kein Problem mit der Vorstellung hat, Computer könnten uns demnächst Romane schreiben oder Filme drehen, darf auch kein Problem damit haben, Computer könnten demnächst die Bänke im Auditorium füllen und im Theater der Vorstellung applaudieren. Oder gehen wir noch einen Schritt weiter: Was, wenn Computer beides tun? Wenn Computer betrachten, was Computer gemalt, lesen, was Computer gedichtet, hören, was Computer komponiert haben? Wo wäre der Sinn? Es ist immer die Rede davon, daß die KI vieles überflüssig macht: Fließbandarbeiter, Kassierer, Setzer, Raumpfleger, demnächst Busfahrer, vielleicht bald Krankenpfleger, Sportjournalisten oder Nachrichtentexter – aber ganz gleich, was noch alles: die KI kann dem Menschen den Menschen nicht ersetzen. So wie wir die Liebe, Sex oder gutes Essen nicht an Maschinen delegieren können. Den Menschen dem Menschen nicht ersetzen heißt auch: Sich selbst nicht ersetzbar zu sein. Denn der Kommunikationscharakter der Kunstproduktion und -rezeption bestimmt Kunst noch nicht ganz. Kunst findet auch ohne Publikum statt. Vor etwa 10000 Jahren nahm ein Künstler oder eine Künstlerin ein Stück Walknochen zur Hand und schnitzte daraus die Figur eines Rentiers im Galopp. Das Stück ist äußerst fein gearbeitet und fußt auf exakter und sorgfältiger Beobachtung. Man darf sagen, es ist mit Hingabe, ja Liebe gefertigt. Jemand, ein Mann oder eine Frau, hat sich damals die Mühe gemacht, aus einem Stück unnahbarer Materie etwas zu machen, das mehr war als ein Werkzeug; etwas, das für ein anderes einstehen konnte; etwas, das Bedeutung hatte. Was immer der Grund war – es war diesem Menschen wichtig, sonst hätte er oder sie nicht soviel Mühe darauf verwendet. Mühe nicht nur auf dieses eine Stück, denn um die Figur so genau schnitzen zu können, bedarf es langer Übung, bedarf es zahlloser mißlungener Zwischenschritte, in denen der Künstler sich an die Perfektion der Darstellung angenähert hat. Was wir sehen können, ist das ferne Ende, das Ergebnis eines langen, von Frustration und Rückschritten, Durchbrüchen, Aha-Erlebnissen und Triumphen geprägten Lernprozesses. Warum hat dieser Mensch damals das auf sich genommen? Wir wissen es nicht genau – aber wenn wir ehrlich sind, können wir uns doch hineinfühlen, sind wir diesem Menschen ganz nah, kennen seinen Impuls, jedes Mal, wenn wir einen Stift nehmen und gedankenverloren eine Figur kritzeln. Wir kennen alle diesen Moment, wo etwas, das wir formen wollten, tatsächlich gelingt. Und wir bewundern die, denen es besonders gut gelingt. Können – wollen – wir diesen Moment an eine Maschine delegieren? Was wäre der Sinn, wenn wir es tun? Wir treiben ja auch Sport und quälen uns an Bestzeiten und Rekorden ab, obwohl eine Maschine schneller wäre. Was war das Gejammer groß, als in den nuller Jahren ein Automat den damals amtierenden Schachweltmeister schlug. Bewundern und feiern wir jetzt den Automat? Man stelle sich vor, es erhöbe sich ein Geheul, weil ein Auto den Weltrekordhalter auf der 100-m-Distanz schlägt. Man bedenke: Roboter auf dem Rasen statt Menschen bekämen vielleicht auch die interessanteren Spiele hin, wenn man sie so programmiert; und man könnte sie so programmieren, daß sie niemals foulen. Aber eins könnten sie eben nicht: triumphieren. Und was vielleicht noch bedeutsamer ist: Sie könnten auch niemals scheitern. So wie eine Sauattrappe keinen Liebeskummer haben kann.

Irrtum

Spätes Begreifen aufgrund der unausrottbaren Neigung, von mir auf andere zu schließen. Es trifft nicht zu, worüber ich jahrelang erst gestaunt, dann gespottet, bald schon mich geärgert habe, daß die Leute auch noch in Bus, Bahn und Zug telephonieren müssen. Mein Irrtum bestand darin, anzunehmen, es handele sich um ein Laster, dem überall, und eben auch in Räumen, wo es nicht am Platz sei, gefrönt werde; dabei ist das Gegenteil der Fall: nicht auch noch in der Bahn, nein, gerade in der Bahn wird gequasselt. Bestand doch mein Denkfehler darin, vorauszusetzen, der eigentliche Ort zum Führen von Telephongesprächen sei das eigene Zuhause, die Festnetzleitung, und sonst benutze man halt das Mobiltelephon, wenn es sich nicht vermeiden lasse und telephoniere unterwegs, wenn es bis nach Hause zu weit sei. Weit, ach, allzu weit gefehlt! Zu Hause hat man Besseres zu tun; der Ort, die Zeit, wo man in aller Ruhe seinen konversationellen Pflichten und Bedürfnissen nachgehen kann — ist unterwegs. Wo man, auch darin sieht sich meine Erwartung getäuscht, eben nichts Besseres zu tun hat. Längst scheint es ja aus der Welt, daß man diese Zeit unterwegs nutze, indem man ein Buch oder die Zeitung läse.

Vom Wetter (2)

Das Wetter als Menschenwerk. Es zeichnet sich schon ab, daß Geoengineering der letzte Ausweg bleibt, um die Erderwärmung auf lebensverträgliche Maße zu begrenzen. Die Frage ist wohl weniger, ob wir es tun, als vielmehr, wann wir es tun. Unabsichtlich haben wir ja mit dem Geoengineering bereits angefangen, als wir uns vor ungefähr 150 Jahren daran machten, das Erdklima durch den Ausstoß von Treibhausgasen anzuheizen. Als die Physik den Treibhauseffekt von Kohlendioxid und anderen Gasen entdeckte, den Klimawandel erst für möglich hielt, dann voraussagte, endlich nachwies, glaubte man auch zunächst noch an eine durchaus positive Entwicklung, schien eine wärmere Erde und eine höhere Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre doch verbessertes Pflanzenwachstum und damit bessere Ernten zu versprechen. Wenn wir jetzt erwägen, Schwefelaerosole in die Stratosphäre auszubringen oder im All gigantische Schattenspender aufzuspannen, um die Erde wieder abzukühlen, denken wir bereits über einen zweiten Eingriff nach, der die Folgen des ersten rückgängig machen soll. Davon kann man halten, was man will — es hat jedenfalls nicht nur physikalische Folgen, sondern auch psychologische und soziale. Es wird ein für allemal unsere Auffassung vom und unsere Haltung zum Wetter verändern. Schon das Bewußtsein des menschengemachten Klimawandels macht aus dem täglichen Regen oder Sonnenschein ein Phänomen, das von menschlicher Anwesenheit kontaminiert ist, man könnte sagen, es hat seine Unschuld verloren, seine außermenschliche Neutralität. Das Wetter war gut oder schlecht, aber es war niemandes Schuld. Es gehörte keinem. Niemand war als Wetterhalter oder -Inhaber dafür verantwortlich, wenn es zu rechten Zeit regnete oder zur Unzeit schneite. Damit, mit dieser Unschuld, wäre es vorbei, sobald wir absichtsvoll ins Klima und ins Wettergeschehen eingreifen. Was erst eine neutrale Tatsache, dann eine von niemandem gewollte, beiläufige Folge gewesen ist, wird ein von Menschen und ganz konkreten, benennbaren Institutionen zu verantwortendes Geschehen werden. Wetterkatastrophen hat es schon immer gegeben, auch vor dem Beginn des anthropogenen Klimawandels. Katastrophen wie etwa Überschwemmungen, die sich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit als Erzählung von einer Sintflut eingebrannt haben. Wer ist in Zukunft, im Zeitalter des Geoengineering, für Ereignisse verantwortlich, die nicht mehr einfach so passieren, sondern die ungewollten Folgen einer versuchten Kontrolle sind? Freilich, das Problem ist ein theoretisches und prinzipielles: das Wettersystem ist chaotisch, kein einzelnes Ereignis, sei es eine Dürre, ein Tornado oder auch nur günstiger Regen zur richtigen Zeit, kann direkt auf eine einzelne Maßnahme zurückgeführt werden. Trotzdem bleibt die Tatsache des Eingriffs bestehen, das Bewußtsein darüber, daß wir eingreifen. Und allein dieses Bewußtsein muß die Auffassung vom Wetter verändern. Das Wetter wird dann nicht mehr gegebene Tatsache sein, nie mehr. Es wird diskussionswürdig werden, zum Streitthema, zum Politikum. Denn sollte es uns gelingen, die übelsten Folgen des Klimawandels abzumildern; sollte es gar gelingen, zu vorindustriellen Temperaturen zurückzukehren: Was wäre denn dann noch normales Wetter? Selbst wenn man eines Tages glauben dürfte, es geschafft zu haben, und beschlösse, nicht mehr ins Wettergeschehen einzugreifen: die Tatsache, daß man es kann, daß man Erfolg hatte mit dem ersten und zweiten Eingriff, macht auch so aus dem Wetter eine Folge menschlicher Entschlüsse, etwas, das das Wetter nie zuvor gewesen ist. Würde man in Zukunft den Entschluß fassen, nicht mehr einzugreifen, wäre jeder Regen, jede Dürre, aber auch jeder durchschnittliche Sonnenschein die Folge eben davon: daß wir nicht eingegriffen haben. Und bliebe also: unser Entschluß. Man kann nie mehr zum Nichtwissen zurück, wenn man mal etwas in Erfahrung gebracht, nie mehr zum Nichtkönnen, wenn man mal etwas gelernt hat. Wir werden lernen, das Klima zu beherrschen und damit indirekt auch das Wetter, und wir können nicht mehr verlernen, wie man das macht. Noch schlimmer: Wir dürfen es auch nicht. Wer das Wetter meistert, ist auch verantwortlich dafür. Wir sollten das nicht akademisch finden, sondern uns jetzt schon Gedanken darüber machen, wie wir mit einem solchen Können umgehen sollen.

Wenn wir es schon so etwas Simples nicht hinkriegen, wie eine Uhrumstellung einfach bleiben zu lassen — die Sommerzeit kann exemplarisch für das Unvermögen der Menschheit stehen, aus schädlichen Erzählungen wieder herauszufinden.

Ich finde inzwischen diese Filme oder Romane zum Kotzen, die einen wie auch immer gearteten “Gegenschlag” oder “Rachefeldzug” der Natur gegen die Menschheit in Szene setzen. Ja, damit ist uns allen geholfen, wie? Soll uns das aufrütteln, oder was? Indem eine Fiktion unsere Sehnsucht nach Strafe erfüllt, danach, endlich von einer höheren Gewalt in unsere Schranken gewiesen zu werden? Indem wir uns ausmalen, wie die Natur zurückschlägt, suhlen wir uns in unserer eingestandenen Schuld und fühlen uns so richtig wohl dabei, wie eine Wildsau im Schlamm. Der Grund für die Freude an solchen Erzählungen dürfte eine ebenso verführerische wie trügerische Katharsis sein. Na, geht’s jetzt besser? Wer sich vom Grauen eines “Schwarms” oder von Ameisen, die die Herrschaft übernehmen, oder sonst einem Kokolores anwehen läßt, darf sich für einen Moment auf der richtigen Seite wähnen, wie die Propheten, wie die Autoren der Sintflutgeschichte. Wir lesen den “Schwarm” oder das Alte Testament und fühlen uns schon vom Grusel genug bestraft. Zumindest aber sind wir ja im Lager der Aufgeklärten, derer, die sich so ein fiktives Szenario überhaupt antun, die den Mut haben, sich den düsteren Visionen überhaupt zu öffnen. Derer, die noch ein Gefühl für Gerechtigkeit, mithin der eigenen Schuld haben. Der zweite Grund liegt darin, daß wir in einer solchen Fiktion nicht mehr verantwortlich sind. Wir sind darin nicht mehr die Obermacker des Planeten. Etwas ist größer als uns, und endlich müssen wir nicht mehr wählen. Endlich tut jemand was. Endlich wird für uns entschieden. Wir brauchen nicht mehr gut zu sein! Herrlich. Diese Befreiung ist schon einen Weltuntergang wert. Ist ja nur Fiktion.

Zum Kotzen finde ich auch diese selbstgefällige Attitüde, mit der manche Zeitgenossen das Artepitheton unserer eigenen Spezies in Anführungszeichen zu setzen belieben, also Homo “sapiens” sagen, “sapiens”, höhö, wobei sie sich selbst natürlich implizit von den Anführungszeichen wieder ausnehmen, als gehörten sie schon deshalb nicht zu den nur vermeintlich Verständigen, weil sie solche Distanz einzunehmen imstande sind. Nicht wahr? Und dann steigen wir wieder ins Auto, bestellen ein fettes Steak und planen die nächste Reise in die Karibik. Und pflastern unseren Vorgarten, ohne daß uns in den Sinn kommt, daß jedes ausgezupfte Unkraut genau davon handelt, was wir gerade als gruselige Fiktion im “Schwarm”, ja, geben wir es ruhig zu, genossen haben. Es ist wie eine Beichte, und die Buße macht auch noch Vergnügen — weil sie uns von den wahren Umweltsäuen distanziert. Das sind nicht wir, neinnein! Wißt ihr was? Es ist geheuchelt und widerlich. Ihr sagt “sapiens”, höhö, aber ihr könnt nicht dumm sein wollen. Was tut ihr, um zu beweisen, daß ihr es nicht seid? Es ist dumm, an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt; sich selbst aber als dumm zu bezeichnen — und munter weiterzusägen, das ist … das ist … ich weiß auch nicht mehr, was das ist. Ihr könnt auch nicht wollen, daß die Natur wie in den Filmen und Romanen oder der Herr in der Bibel ernst macht und Konsequenzen zieht, also schreibt und lest nicht so einen Unsinn, tut lieber was. Oder, noch besser, tut nichts, laßt bleiben. Laßt bleiben, was ihr gerade vorhattet. In aller Regel ist es nämlich nicht gut für das Leben auf diesem Planeten.

Frederik

Der Herbst naht mit frischeren Nächten, und mit ihm wächst die Nervosität. Nach allem, was man so hört, steht uns ein kalter und teurer Winter bevor. Menschengemacht, wie so vieles. Irgendein Businesskasper kriegt an der Börse einen Schluckauf, und schon fliegen uns die Heizölpreise um die Ohren. Und als wäre das alles naturgestzlich und unvermeidlich, werden schon erste Stimmen laut, die sich in solcher Lage um die Aufrechterhaltung des Kulturbetriebs Sorgen machen.

Manchmal sehnt man sich nach einer einfallsreicheren Rhetorik, nach einem neuen Kniff. Einerseits, weil man die ewige Leier (G. Thunberg: “Blablabla”) leid ist; andererseits, weil man allmählich zu der Überzeugung kommen muß, für dumm gehalten zu werden.

Jedenfalls ist es schon nachgerade beleidigend, wie hier wieder einmal soziale Güter gegeneinenader ausgespielt werden. Wie überall: die Kita gegen das neue Seminargebäude, das Schwimmbad gegen Wohnungsbau, der Spielplatz gegen das Sommerkino. Als wären für beides die Mittel zu knapp. Wie groß aber müßte die Not sein, wenn wir wirklich vor solchen Entscheidungen stünden? Sicherlich wären dann keine 100 Milliarden für Kriegsspielzeug möglich gewesen. Sehen Sie?

Hundert Milliarden, meine Damen und Herren. Das sind hundert mal tausend Millionen. Zum Vergleich: Der Haushalt einer mir befreundeten Familie kommt mit 2400 Euro an Heizkosten einigermaßen über den nächsten Winter (das ist bereits fast doppelt so viel wie vergangenes Jahr, und das war auch schon ein teures). Von diesen für Blech und Sprengstoff verpulverten hundert Milliarden ließen sich also über 40 Millionen vergleichbarer Haushalte über den Winter bringen. 80 Millionen bei einer Heizzulage von nur 1200 Euro pro Haushalt. Pro Winter, nicht pro Monat, versteht sich.

Aber davon will ich gar nicht sprechen.

Wovon ich sprechen will? Von einem Irrtum.

Es ist eine erst in jüngster Zeit aufgekommene, gleichwohl weitverbreitete Fehleinschätzung: zu meinen, in Zeiten der Not sei Kultur entbehrlich, ein hungriger Bauch habe andere Sorgen als den Theaterbesuch. Völlig falsch, je schlechter die Lage, desto wichtiger ist die Kultur. Je kälter die Füße, desto größer die Sehnsucht nach Tanz und Theater. Je stiller und eisiger der Winterabend, desto befreiender eine Stunde Beethoven oder ein Abend mit Rossini. Davon wird man zwar nicht satt, aber wenn die Pizza nicht zu haben ist, hilft einem die Kultur, den Hunger besser zu ertragen. Kultur ist Ablenkung, Ermutigung, Ausflug und Aufatmen. Ist Alternative, ist Ausblick auf Besseres. Denn der Magen wird ja davon nicht voller, wenn die Vorstellung ausfällt und der Saal dunkel bleibt. Wenn wir das Museum aus Gründen der Ersparnis schließen, wärmt solcherart Erspartes keinesfalls die eigenen vier Wände. Doch zwei Stunden Sommernachtstraum im (beheizten) Theater lassen die Lage schon nicht mehr ganz so auswegslos und den nächsten Frühling viel näher erscheinen. (Wer sich schon einmal darüber gewundert oder sogar geärgert hat, daß obdachlose Bettler nicht selten ein Smartphone besitzen, dem sei gesagt: Schlimmer manchmal als Hunger ist die Langeweile).

Also, laßt uns, wenn ihr uns schon nicht das Heizöl bezahlen könnt (oder wollt), öffentliche Räume der Wärme, des Lichts, der Inspiration und der guten Laune! Laßt uns unsere beheizten Museen, unsere warmen Theatersäle, unsere beleuchteten Bibliotheken. Laßt uns Lesungen, Konzerte, Aufführungen, laßt uns auch Kirchen, Moscheen und Bethäuser, laßt uns, wenn wir schon zu Hause darben sollen, einen Ort, an dem wir das Darben vergessen und einen anderen Blick einnehmen können auf Welt und Krise, laßt uns unseren Helikon, wie flüchtig die Tänze der Musen dort auch sein mögen. Eine halbe Stunde dort macht viele Wochen Dunkelheit wett.

Es ist der allerletzte Ort, der verschwinden darf, wenn’s eng wird.

Fiktion ist, na ja, nicht wirklich

Was haben Ritter, Piraten, Hexen, Orks, Astronauten, Kriminalkommissare und Kasperle gemeinsam?

Sie sind allesamt Fiktionen.

Die einen — Ritter, Piraten, Astronauten und Kriminalkommissare — mag es zwar in der Wirklichkeit außerhalb der Fiktion auch geben. Mit dieser Realität haben sie aber so wenig gemein, wie Orks und Hexen gar keines realen Vorbildes bedürfen, um am fiktionalen Leben teilzuhaben. Ein Tatort-Kommissar ist daher ebenso fiktional wie ein Ork.

Es ist leicht zu sehen, warum das so ist. Die tägliche Arbeit eines Kriminalkommissars, das wirkliche Leben eines Piraten oder Ritters, vom Astronauten zu schweigen, ist entweder langweilig und unglamourös, oder elend und grausam. Ein Ritter, das war ein mitunter wenig vermögender Landadeliger, der sein Lehen ausbeuten mußte, um Waffen und Pferd unterhalten zu können, und verpflichtet war, seinem Lehnsherrn in den Krieg zu folgen, gleich wie idiotisch das Vorhaben auch sein mochte; wo er nicht selten seine Gesundheit verlor oder gleich sein Leben. So eine Gestalt taugt weder für die Tafelrunde noch für irgendeine andere Geschichte. Geschichten handeln nicht von der Realität. Sondern von dem, was wir dafür halten. Von unserer Erfindung der Realität. Mit anderen Worten, von einem Klischee. Keine Erzählung ohne Typisierung, ohne Klischee.

Der Irrtum nicht nur der Zuständigen beim Ravensburger-Verlag sondern all jener (die echten Indianer eingeschlossen), denen Karl May und seine Darstellung der nordamerikanischen Ureinwohner ein Dorn im Auge sind, liegt darin, zu meinen, Karl Mays eigene oder in seiner Nachfolge entstandenen Geschichten seien Geschichten über Indianer. Das sind sie nicht. Es sind Geschichten über Phantasie-Indianer, so wie Krimis Geschichten über Phantasie-Kommissare sind. Karl Mays Indianergeschichten brauchen, um zu funktionieren, keinen einzigen echten Indianer, noch weniger, als ein Krimi einen echten Kriminalbeamten benötigt.

Deswegen trifft auf Indianergeschichten auch nicht der Vorwurf des Rassismus zu, kann überhaupt nicht zutreffen. Die dargestellten Rothäute haben mit echten Angehörigen der Apachen, Navajo, Shoshoni, Potawatomi etc. genau so wenig zu tun wie die in diesen Geschichten auftretenden Cowboys mit den echten Kuhhirten des sogenannten wilden Westens; wie überhaupt der ganze wilde Westen eine einzige kolossale Erfindung ist.

Ich habe indessen noch keinen Viehwirt reden hören, daß er sich von der Darstellung von Cowboys diskriminiert fühle. Einem Kriminalkommissar, der sich ähnlich äußerte, würde man wohl auch mit einiger Verständnislosigkeit begegnen.

Belsazar

Zurückziehen ins Kleine. Im Großen kann man nicht mehr leben.

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Im Kleinen auch nicht. Die Zwetschgen am Baum, die Bienenschwärme, die die Jungfernrebe abernten, die Blütenpracht in K.s Garten, der rotschwarze Schmetterling an der Buddleya — alles eine papierene Hülle. Eine falsche Idylle. Der letzte Atemzug einer sterbenden Welt. Im Großen wie im Kleinen, im Außen wie in meinem kleinen privaten Leben — was wir kannten, was ich kannte, geht zu Ende, und es ist gar nicht fraglich, ob das, was kommt, besser ist. Es wird erheblich schlechter sein. Es wird schlimm werden. Sehr schimm.

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Was selbst der bescheidenste, genügsamste Mensch noch als gutes Leben bezeichnen würde, wird immer auf einem massiven Eingriff in natürliche Kreisläufe und Regelsysteme der Natur fußen, auf Verbiegungen dieser Regelsysteme zu seinen, des Menschen, Vorteil. Auf diese Manipulation verzichten zu wollen, würde wieder hohe Säuglingssterblichkeit, Tod nach Ablauf der Auslegungslebensdauer (30–40 Jahre), unvorhersehbare Schwankungen im Nahrungsangebot und in der Folge regelmäßige Hungersnöte bedeuten. Vom Fehlen “höherer” Güter wie elektrischer Strom, fließend Wasser, Schmerzmittel, Fernsehen oder Internet mal ganz zu schweigen. Natürlich ist nichts an unserem Leben, nichts.

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“Ich war schon an meinem Hause”, sagte Thomas, “und erst als ich sah, daß die Fenster noch alle hell waren und die Wagen unten hielten, bin ich umgekehrt.”
“Ja, sie leben wie Belsazar und seine Knechte … immer war das so in solchen Zeiten … man soll nicht schelten, man soll nur immer da sein, immer da sein …” Er legte den Kopf an die Lehne seines Stuhles und schloß die Augen. Jedes Linie des Gesichtes erstarb in erschreckender Müdigkeit.
(Ernst Wiechert, Das einfache Leben, S. 27)

Der Sommer war sehr groß

Nur noch leere Hallräume sind die Wälder jetzt. Nicht einmal Zaunkönige lassen sich noch hören, nicht einmal Rotkehlchen. Und kaum ist die letzte Stimme verstummt, ziehen sie wieder ein, fallen sie wieder her über den Wald wie Heuschrecken über eine Pflanzung: die Motorsägenmänner. Und übergroße Hornissen umschwirren in der Tiefe der Wege ein Opfer. Die Luft wird sauer unter dem zornigen Geheul. Was kann dieser Morgen dafür, daß Bäume starben? Krank ist nicht der Wald, krank ist die Stille, der an allen Gliedern Beulen und Geschwüre wachsen. Die Wege streben alle zum Ort des Geschehens, sensationslüstern schlängeln sie sich, drängeln sie um bessere Sicht, wollen die ersten sein, und ich werde von ihnen fortgezogen, wo ich überhaupt nicht hin will. Ein Lieferwagen mit einer Aufschrift, die lustig sein soll, steht auf dem Waldweg an einer Lichtung. Ahrweiler Kennzeichen, ich bin versucht, mir die Nummer zu merken, doch was bringt’s? Alles, was hier passiert in diesem, nein, nicht Wald, in diesem Forst (wem das hier Wald genug ist, der hält IKEA für ein Möbelhaus), ist sicher durch irgendeine paragraphene Rechtmäßigkeit gedeckt. Ich passiere das Fahrzeug, kein Mensch weit und breit, nur das anhaltende Heulen der einander ins Wort fallenden Hornissen, zu dem alle Wege hinfließen. Und dann gibt es aber doch einen Pfad, der sich schämt, mich am Kragen zupft, mich wegbringt von da. Schon fast zu Hause erschrecke ich über den Schrei eines Spechts, der warnt, aber wen, mich vor den Hornissensägemännern oder seine Artgenossen vor harmlosem mir? Nicht einmal den August konnten sie abwarten, die Idioten.

Vom Wetter

Seit Tagen ist schon von ihr die Rede. Kommt sie? Kommt sie nicht? Wann kommt sie? Kommt sie später? Wie schlimm wird es, wenn sie kommt? Wie lange wird sie bleiben, wie viele Tote hinterlassen?

Jetzt ist sie da.

Die Hitzewelle nämlich.

Über das Wetter spricht der Mensch vermutlich, seit er sich auf die Hinterbeine gestellt hat und den Kopf in den Nacken legen kann, um den Himmel, und alles, was sich dort abspielt, zu betrachten. Und nicht nur spricht er darüber, er denkt auch darüber nach, verflucht das herrschende, hofft auf besseres, hält Regentänze ab und versucht sich in allerlei Vorhersagen und Regeln (Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, etc.).

Doch während das Nachdenken übers Wetter eher den Meteorologen und Landwirten eignete, beschränkte sich der Umgang der meisten anderen Leute darauf, eine Regenjacke mitzunehmen, Salz zu streuen oder Sonnencreme einzupacken und ansonsten das, was der Himmel bescherte, zu nehmen wie es halt kam.

Damit ist es seit ein paar Jahren vorbei.

Denn das Wetter ist nicht mehr einfach nur das Wetter. Das Wetter ist ein Zeichen. Es steht immer auch für für etwas anderes. Es ist ein Symptom. Und wir, mit Argusaugen, orakeln an Himmel, Wolken und Wind als dem Symptomträger herum. Ist er das? Ist er das schon? Ist das dieser Dings, von dem jetzt alle reden, dieser Klimawandel?

Dabei ist dann selbst normales Wetter nicht normal. Normales Wetter, das gibt es nicht mehr. Nach welchem Maßstab normal? Es gibt auch kein normales Symptom. Ein Zeichen ist ein Zeichen, es bedeutet etwas. Und so bedeutet jetzt selbst ein erwartbar naßgrauer Novembertag etwas oder ein heißer Augustabend mit der Neigung zu Gewitter. (Welches auf jeden Fall zu stark, zu schwach, zu spät, zu grollend, zu naß oder zu wenig naß sein wird.) Wir legen den Kopf in den Nacken und runzeln die Stirn. Was mag dieser naßkalte Novembertag oder die Augusthitze bedeuten? Sicher nichts Gutes. Wir zittern vor dem Wetter, wie man vor einem Orakelspruch zittert.

So ist das Wetter nichts mehr, das wie der Große Wagen oder der Andromedanebel unabhängig von uns existiert, nichts Gegebenes mehr, das auch ohne uns da wäre und zu dem wir uns einfach nur verhalten müßten. Das Wetter ist, ob wir wollen oder nicht, in eine spannungsvolle Beziehung zu uns eingetreten. Es fordert Rechenschaft von uns. Es war nicht vor uns da. Es erinnert uns mit jedem Regen, mit jedem Hagelschauer und jeder Hitzewelle an etwas, das wir lieber ausblenden würden.

Es ist unser Werk. Die Geister, die wir riefen.

Noch einmal Ehe und Verantwortungsgemeinschaft

Bevor man über die Erweiterung der Ehe auf mehr als zwei Personen nachdenkt, könnte man erst mal nach dem Sinn der Einrichtung, wie sie jetzt geregelt ist, fragen. Dazu gibt es zwei Zwecke, einen alten (patriarchalen) und einen modernen, die sich im Institut der Ehe abgelöst haben, ohne daß das die äußere Form der Ehe berührt hätte. Die Ehe ist immer noch das, was sie vor zweihundert Jahren war: ein zivilrechtlich abgesichertes, verbrieftes Bündnis zwischen zwei Menschen, bis vor kurzem einem Mann und einer Frau. Ihr Zweck freilich ist heute ein ganz anderer geworden. Machen wir uns nichts vor: Ursprünglich bestand der darin, Männern Kontrolle über die Nachkommenschaft ihrer Frauen zu verschaffen. Dem Mann umgekehrt sollten gewisse Pflichten auferlegt werden, um die Frau in ihrer verordneten Hilflosigkeit nicht allein zu lassen und vor allem den gemeinsamen Nachwuchs zu schützen. Das hatte mit Freiheit oder Gerechtigkeit nichts zu tun, hat aber über Jahrhunderte funktioniert. (Was passierte, wenn es mal nicht funktionierte oder wenn Frauen sich gegen diese Ordnung auflehnten, davon zeugen, von Anna Karenina über Tess of the d’Urbervilles bis Effi Briest, unzählige Romane.) Von diesem ursprünglichen Zweck ist heute außer dem Schutz der Nachkommenschaft nichts mehr geblieben. Aber auch bei diesem ist ein Wandel hinter der Fassade der äußerlich unangetasteten Einrichtung festzustellen, denn immer mehr verheiratete Paare bleiben kinderlos. Was aber wird geschützt bei einem Paar wohlhabender Doppelverdiener ohne Kinder? Vollends losgelöst von der ursprünglichen Motivation ist die Ehe gleichgeschlechtlicher Menschen. Als schützenswertes Gut bleibt nur noch die Liebesbeziehung der beiden autonomen, aufeinander in keiner Weise angewiesenen Menschen. Warum aber sollte dieses, Entschuldigung, Privatvergnügen schützenswert sein? Erst mit der Schwangerschaft (oder Adoption) wird aus dem Privatvergnügen ein öffentliches Gut, das den Schutz durch Gesetze verlangt. Das wäre die eine Sicht der Dinge. Man kann aber auch umgekehrt fragen: Wenn die Liebesbeziehung zweier Menschen vor dem Gesetz eben doch schützenswert sein sollte — warum dann nicht auch andere Beziehungsformen wie die Freundschaft oder die Wohngemeinschaft? Oder umgekehrt formuliert: Wer prüft denn, ob überhaupt eine Liebesbeziehung vorliegt? Es müssen nur zwei die Ehe wollen; welche Gefühle sie verbinden, interessiert das Standesamt nicht. Unter diesen Voraussetzungen erscheint dann aber die Beschränkung auf zwei Menschen, die ja ihren Ursprung in der unumstößlichen Tatsache hat, daß es zwei Menschen braucht, um ein Kind zu zeugen, willkürlich, ja eigentlich nur noch als Reflex aus der Zeit, als die Ehe ein Schutzraum für Mann und Frau zwecks Zeugung von Nachkommen war. Wenn sie sich aber aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst hat, wäre es endlich an der Zeit, die Ehe völlig neu zu denken.

Gemeinschaft, Verantwortungs~

Gestern (7.2.) im Zwischenruf auf WDR3 Kritik von Peter Meisenberg über das Gesetzesvorhaben der sogenannten Verantwortungsgemeinschaft. Damit ist die Ausweitung der Ehegemeinschaft als Bündnis zweier Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen und auch vor dem Gesetz zusammengehören wollen, auf Gruppen von mehr als zwei Partnern gemeint. Meisenberg spricht in diesem Zusammenhang von der “Verrechtlichung der Freundschaft” (wobei er außer Acht läßt, daß es ja auch im Falle von mehr als zwei Personen Liebe und das Bedürfnis nach Nachkommenschaft sein könnte) und kritisiert, daß damit das bislang freie, ungeregelte, allein auf dem Vertrauen und dem guten Willen der beteiligten Personen basierende Institut der Freundschaft einer Regulierung und einem juristischen Regelwerk unterworfen werde, das die Freunde, die bislang freiwillig füreinander einträten, zur Verantwortung auch zwingen könne. Was werde geschützt, wenn man die Freundschaft unter den Schutz des Gesetzes stelle? Doch nur die Freunde voreinander. Auch verleite ein solches Institut dazu, Zweckgemeinschaften einzugehen und sich seine Freunde nach dem Kriterium finanzieller Absicherung oder sozialen Aufstiegs auszusuchen. So weit Meisenberg. Nur: Gilt das alles nicht auch und noch viel schärfer für die traditionelle Ehe? Meisenberg übersieht, daß die Ehe auch nur eine Verrechtlichung der (geschlechtlichen) Liebe ist.

Handle stets so, daß die Maxime deines Wollens, etc.

Im thüringischen Sonneberg hatte die Stadtverwaltung die Idee, Impfzögerer mit einer kleinen Verführung zu ködern. Sie verknüpften das Impfangebot mit der Darreichung einer Delikatesse. Wer sich impfen ließ, bekam neben der Spritze eine Bratwurst noch dazu. Voller Erfolg, die Impfquote stieg deutlich. Worauf sich im Internet ein Schwall Häme über die verführten Sonneberger Impffrischlinge ergoß. Im Gegensatz zu dem Zwischenrufautor auf WDR3, der wiederum diesen Spott scharf kritisiert (die Aktion habe Erfolg gehabt; die Spötter hätten keine Ahnung von Psychologie; die inkriminierte Bratwurst sei eine qualitativ hochwertige Spezialität; und wer erlaube sich bitte ein Urteil darüber, mit welchen Drogen sich die Zeitgenossen durch den Tag hülfen?), im Gegensatz zu dieser Milde also teile ich zwar nicht die Häme (jedenfalls nicht öffentlich), wohl aber die Haltung und Denkweise der Spötter. Ihr und mein Anspruch ist nämlich, eine Entscheidung wie die, daß man sich impfen läßt, rational zu treffen und nicht von der Darreichung einer Delikatesse abhängig zu machen. Es geht hier um nichts weniger als den Unterschied zwischen einer utilitaristischen (wichtig ist, was hinten rauskommt) und einer Pflichtethik (wichtig ist, was vorne reinkommt). Ich und die Spötter, wir wünschen uns nicht nur, daß die Menschen das Richtige tun, sondern daß sie es auch aus den richtigen Gründen tun. Nicht weil die Bratwurst winkt, sondern weil Einsicht herrscht. Was sind das für Menschen, die zum Impfen eine Bratwurst brauchen? Will ich mit denen in einem Gemeinwesen auskommen müssen? Wir wollen, daß die Impfzögerer auf unsere, und das heißt, auf die Seite der Vernunft zurückkehren und sich nicht von Leckerlis bestechen lassen. Denn dann lassen sie sich beim nächsten Mal vielleicht zu etwas Unvernünftigem bestechen, wenn nur etwer diesen Versuch zu machen sich herbeifindet: Begründbar ist nur die Vernunft. Überzeugend ist nur der gute Grund. Überzeugend auch dann, wenn einem gerade niemand den Arsch dafür pudert, daß man bitteschön das Richtige tut.

Da sind wir wieder, und der ganze Circus

Daß man es kaum schafft, in einer unbequemen Lage auch die darin begründeten durchaus willkommenen Nebeneffekte zu erkennen und zu würdigen. Gestern abend von dem Veranstaltungsplatz an der Kirche her Festivalgeräusche, jenes verhaßte Dröhnen, Rumpeln, Hallen, Heulen von ins Groteske verstärkter Supermarktmusik, wie es jetzt gut anderthalb Jahre nirgends zu hören gewesen ist. (Solche elektrischen Klangverstärkungen haben immer einen provokativen, hybriden Drang ins Universelle, Allgemeingültige, gräßlich.) Der Impuls in solchen Momenten, derartiges Treiben als eitles, leichtfertiges, geradezu sündiges Tun (Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand) zu verdammen — warum hat es mich in den vergangenen siebzehn Monaten nicht ein einziges Mal mit fröhlichem Ingrimm erfüllt, daß genau diese Verdammung offiziell in Kraft getreten war? Die Pandemie mit ihrem Ernst hätte ich mir doch zuvor geradezu gewünscht in Momenten wie gestern abend. Daß das sündige Treiben ein Ende finde und in einer schicksalhaften, göttlich zu nennenden Intervention des Ernstes in Flamme aufgehe, eines Ernstes, als dessen Vertreter auf Erden ich mich in meinem maßlosen Zorn zu empfinden durchaus geneigt bin.

Verschwendung

Weltweit werden etwa ein Drittel aller Lebensmittel weggeworfen. (Mit sehr unterschiedlichen Verteilung über die Weltregionen, von 6 kg pro Kopf und Jahr im subsaharanischen Afrika bis 115 kg pro Kopf und Jahr in Nordamerika und Ozeanien. Europa liegt bei 95 kg pro Kopf und Jahr) Okay, das ist ein Skandal, ökologisch, ökonomisch und moralisch sowieso. Ein drittel weggeworfene Lebensmittel, das entspricht, anteilig und umgerechnet, 1,4 Milliarden Packungen Spaghetti beim Getreide; 6,3 Milliarden Äpfeln beim Gemüse und 75 Millionen Kühen beim Fleisch. Jetzt stelle man sich aber mal vor, die Verbraucher beschlössen von jetzt auf gleich, nur noch so viel zu kaufen, wie sie auch essen, und die verbraucherseitige Verschwendung ginge auf Null zurück. Unter Vernachlässigung systemischer Verluste seitens der Produzenten, Verarbeiter, Groß- und Einzelhändler bedeutete das unmittelbar für den Nahrungsmittel-Einzelhandel insgesamt ein Drittel weniger Absatz. Was wäre dann? In einem Interview hat der Philosoph Peter Sloterdijk unlängst gesagt, würde sparsame Haushaltung, wie sie bis zum ersten Weltkrieg noch als bürgerliche Tugend galt, heute noch praktiziert, bräche die Wirtschaft sofort zusammen. Ich liebe solche Gedankenspiele. — Zugegebenermaßen werfe ich oft Lebensmittel weg, aus speziellen Gründen. Zum einen lebe ich in zwei Haushalten mit zwei Kühlschränken und zwei Essensplanungen. Da bleiben oft Reste, die ich beim Wechsel vom einen zum andern Haushalt nicht mitnehmen kann, die aber bis zum nächsten Wechsel sich nicht halten werden. Es ist sehr schwierig, für drei Tage Wochenende exakt so einzukaufen, daß ich satt bin und am Montag morgen alles aufgegessen ist. Irgendwas wird zuviel gewesen sein (andernfalls wäre es zu wenig gewesen), ein Kanten Brot, zwei Löffel Joghurt, eine Scheibe Wurst, ein halber Teller Suppe. Was macht man mit einem halben Teller Suppe? Zum anderen habe ich empfindliches Gedärm, und alles, was nicht sozusagen ackerfrisch ist, bekommt mir nicht. Ich habe mal eine halbe Nacht auf der Toilette verbracht, weil ich Muffins mit (gustatorisch wie olfaktorisch völlig unauffälliger) Buttermilch zubereitet habe, die eine Woche überm Datum war. Alle im Haushalt haben davon gegessen, Probleme hatte nur ich. Zum dritten habe ich einen kleinen Magen, in den nicht viel reinpaßt. Tatsächlich paßt so wenig hinein, daß es unmöglich ist, exakt so viel zu kochen, daß ich geleerten Tellers genau so satt bin, daß es sich gut anfühlt. Ich esse sehr ungern einzig zum Zwecke, daß der Teller leergegessen ist, über diesen Punkt hinaus. Denn danach ist mir unwohl. So kommt es eben auch, daß oft ein halber Teller Suppe, siehe oben, übrigbleibt. Natürlich ist es ökologischer und wirtschaftlicher, für eine Großfamilie von zwanzig Personen zu kochen, zumindest dann, wenn alle das gleiche essen und man nicht auf Veganer, Vegetarier, Frutarier, Glutenempfindliche und Erbsproteinallergiker Rücksicht nehmen muß, die alle einen eigenen Teller kriegen. Aber ein Leben in Großfamilien kriegen wir wohl nicht mehr hin, das ist vorbei. In meiner Familie kriegen wir es ja nicht einmal hin, daß alle zur gleichen Zeit essen. Umso wichtiger ist es aber gerade für Singlehaushalte, das Essen sorgfältig zu planen und nach den vorhandenen Möglichkeit abfallfrei zu wirtschaften. Denn Essen wegzuwerfen, bleibt ein Skandal.