Wenn wir es schon so etwas Simples nicht hinkriegen, wie eine Uhrumstellung einfach bleiben zu lassen — die Sommerzeit kann exemplarisch für das Unvermögen der Menschheit stehen, aus schädlichen Erzählungen wieder herauszufinden.

Ich finde inzwischen diese Filme oder Romane zum Kotzen, die einen wie auch immer gearteten “Gegenschlag” oder “Rachefeldzug” der Natur gegen die Menschheit in Szene setzen. Ja, damit ist uns allen geholfen, wie? Soll uns das aufrütteln, oder was? Indem eine Fiktion unsere Sehnsucht nach Strafe erfüllt, danach, endlich von einer höheren Gewalt in unsere Schranken gewiesen zu werden? Indem wir uns ausmalen, wie die Natur zurückschlägt, suhlen wir uns in unserer eingestandenen Schuld und fühlen uns so richtig wohl dabei, wie eine Wildsau im Schlamm. Der Grund für die Freude an solchen Erzählungen dürfte eine ebenso verführerische wie trügerische Katharsis sein. Na, geht’s jetzt besser? Wer sich vom Grauen eines “Schwarms” oder von Ameisen, die die Herrschaft übernehmen, oder sonst einem Kokolores anwehen läßt, darf sich für einen Moment auf der richtigen Seite wähnen, wie die Propheten, wie die Autoren der Sintflutgeschichte. Wir lesen den “Schwarm” oder das Alte Testament und fühlen uns schon vom Grusel genug bestraft. Zumindest aber sind wir ja im Lager der Aufgeklärten, derer, die sich so ein fiktives Szenario überhaupt antun, die den Mut haben, sich den düsteren Visionen überhaupt zu öffnen. Derer, die noch ein Gefühl für Gerechtigkeit, mithin der eigenen Schuld haben. Der zweite Grund liegt darin, daß wir in einer solchen Fiktion nicht mehr verantwortlich sind. Wir sind darin nicht mehr die Obermacker des Planeten. Etwas ist größer als uns, und endlich müssen wir nicht mehr wählen. Endlich tut jemand was. Endlich wird für uns entschieden. Wir brauchen nicht mehr gut zu sein! Herrlich. Diese Befreiung ist schon einen Weltuntergang wert. Ist ja nur Fiktion.

Zum Kotzen finde ich auch diese selbstgefällige Attitüde, mit der manche Zeitgenossen das Artepitheton unserer eigenen Spezies in Anführungszeichen zu setzen belieben, also Homo “sapiens” sagen, “sapiens”, höhö, wobei sie sich selbst natürlich implizit von den Anführungszeichen wieder ausnehmen, als gehörten sie schon deshalb nicht zu den nur vermeintlich Verständigen, weil sie solche Distanz einzunehmen imstande sind. Nicht wahr? Und dann steigen wir wieder ins Auto, bestellen ein fettes Steak und planen die nächste Reise in die Karibik. Und pflastern unseren Vorgarten, ohne daß uns in den Sinn kommt, daß jedes ausgezupfte Unkraut genau davon handelt, was wir gerade als gruselige Fiktion im “Schwarm”, ja, geben wir es ruhig zu, genossen haben. Es ist wie eine Beichte, und die Buße macht auch noch Vergnügen — weil sie uns von den wahren Umweltsäuen distanziert. Das sind nicht wir, neinnein! Wißt ihr was? Es ist geheuchelt und widerlich. Ihr sagt “sapiens”, höhö, aber ihr könnt nicht dumm sein wollen. Was tut ihr, um zu beweisen, daß ihr es nicht seid? Es ist dumm, an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt; sich selbst aber als dumm zu bezeichnen — und munter weiterzusägen, das ist … das ist … ich weiß auch nicht mehr, was das ist. Ihr könnt auch nicht wollen, daß die Natur wie in den Filmen und Romanen oder der Herr in der Bibel ernst macht und Konsequenzen zieht, also schreibt und lest nicht so einen Unsinn, tut lieber was. Oder, noch besser, tut nichts, laßt bleiben. Laßt bleiben, was ihr gerade vorhattet. In aller Regel ist es nämlich nicht gut für das Leben auf diesem Planeten.

Frederik

Der Herbst naht mit frischeren Nächten, und mit ihm wächst die Nervosität. Nach allem, was man so hört, steht uns ein kalter und teurer Winter bevor. Menschengemacht, wie so vieles. Irgendein Businesskasper kriegt an der Börse einen Schluckauf, und schon fliegen uns die Heizölpreise um die Ohren. Und als wäre das alles naturgestzlich und unvermeidlich, werden schon erste Stimmen laut, die sich in solcher Lage um die Aufrechterhaltung des Kulturbetriebs Sorgen machen.

Manchmal sehnt man sich nach einer einfallsreicheren Rhetorik, nach einem neuen Kniff. Einerseits, weil man die ewige Leier (G. Thunberg: “Blablabla”) leid ist; andererseits, weil man allmählich zu der Überzeugung kommen muß, für dumm gehalten zu werden.

Jedenfalls ist es schon nachgerade beleidigend, wie hier wieder einmal soziale Güter gegeneinenader ausgespielt werden. Wie überall: die Kita gegen das neue Seminargebäude, das Schwimmbad gegen Wohnungsbau, der Spielplatz gegen das Sommerkino. Als wären für beides die Mittel zu knapp. Wie groß aber müßte die Not sein, wenn wir wirklich vor solchen Entscheidungen stünden? Sicherlich wären dann keine 100 Milliarden für Kriegsspielzeug möglich gewesen. Sehen Sie?

Hundert Milliarden, meine Damen und Herren. Das sind hundert mal tausend Millionen. Zum Vergleich: Der Haushalt einer mir befreundeten Familie kommt mit 2400 Euro an Heizkosten einigermaßen über den nächsten Winter (das ist bereits fast doppelt so viel wie vergangenes Jahr, und das war auch schon ein teures). Von diesen für Blech und Sprengstoff verpulverten hundert Milliarden ließen sich also über 40 Millionen vergleichbarer Haushalte über den Winter bringen. 80 Millionen bei einer Heizzulage von nur 1200 Euro pro Haushalt. Pro Winter, nicht pro Monat, versteht sich.

Aber davon will ich gar nicht sprechen.

Wovon ich sprechen will? Von einem Irrtum.

Es ist eine erst in jüngster Zeit aufgekommene, gleichwohl weitverbreitete Fehleinschätzung: zu meinen, in Zeiten der Not sei Kultur entbehrlich, ein hungriger Bauch habe andere Sorgen als den Theaterbesuch. Völlig falsch, je schlechter die Lage, desto wichtiger ist die Kultur. Je kälter die Füße, desto größer die Sehnsucht nach Tanz und Theater. Je stiller und eisiger der Winterabend, desto befreiender eine Stunde Beethoven oder ein Abend mit Rossini. Davon wird man zwar nicht satt, aber wenn die Pizza nicht zu haben ist, hilft einem die Kultur, den Hunger besser zu ertragen. Kultur ist Ablenkung, Ermutigung, Ausflug und Aufatmen. Ist Alternative, ist Ausblick auf Besseres. Denn der Magen wird ja davon nicht voller, wenn die Vorstellung ausfällt und der Saal dunkel bleibt. Wenn wir das Museum aus Gründen der Ersparnis schließen, wärmt solcherart Erspartes keinesfalls die eigenen vier Wände. Doch zwei Stunden Sommernachtstraum im (beheizten) Theater lassen die Lage schon nicht mehr ganz so auswegslos und den nächsten Frühling viel näher erscheinen. (Wer sich schon einmal darüber gewundert oder sogar geärgert hat, daß obdachlose Bettler nicht selten ein Smartphone besitzen, dem sei gesagt: Schlimmer manchmal als Hunger ist die Langeweile).

Also, laßt uns, wenn ihr uns schon nicht das Heizöl bezahlen könnt (oder wollt), öffentliche Räume der Wärme, des Lichts, der Inspiration und der guten Laune! Laßt uns unsere beheizten Museen, unsere warmen Theatersäle, unsere beleuchteten Bibliotheken. Laßt uns Lesungen, Konzerte, Aufführungen, laßt uns auch Kirchen, Moscheen und Bethäuser, laßt uns, wenn wir schon zu Hause darben sollen, einen Ort, an dem wir das Darben vergessen und einen anderen Blick einnehmen können auf Welt und Krise, laßt uns unseren Helikon, wie flüchtig die Tänze der Musen dort auch sein mögen. Eine halbe Stunde dort macht viele Wochen Dunkelheit wett.

Es ist der allerletzte Ort, der verschwinden darf, wenn’s eng wird.

Fiktion ist, na ja, nicht wirklich

Was haben Ritter, Piraten, Hexen, Orks, Astronauten, Kriminalkommissare und Kasperle gemeinsam?

Sie sind allesamt Fiktionen.

Die einen — Ritter, Piraten, Astronauten und Kriminalkommissare — mag es zwar in der Wirklichkeit außerhalb der Fiktion auch geben. Mit dieser Realität haben sie aber so wenig gemein, wie Orks und Hexen gar keines realen Vorbildes bedürfen, um am fiktionalen Leben teilzuhaben. Ein Tatort-Kommissar ist daher ebenso fiktional wie ein Ork.

Es ist leicht zu sehen, warum das so ist. Die tägliche Arbeit eines Kriminalkommissars, das wirkliche Leben eines Piraten oder Ritters, vom Astronauten zu schweigen, ist entweder langweilig und unglamourös, oder elend und grausam. Ein Ritter, das war ein mitunter wenig vermögender Landadeliger, der sein Lehen ausbeuten mußte, um Waffen und Pferd unterhalten zu können, und verpflichtet war, seinem Lehnsherrn in den Krieg zu folgen, gleich wie idiotisch das Vorhaben auch sein mochte; wo er nicht selten seine Gesundheit verlor oder gleich sein Leben. So eine Gestalt taugt weder für die Tafelrunde noch für irgendeine andere Geschichte. Geschichten handeln nicht von der Realität. Sondern von dem, was wir dafür halten. Von unserer Erfindung der Realität. Mit anderen Worten, von einem Klischee. Keine Erzählung ohne Typisierung, ohne Klischee.

Der Irrtum nicht nur der Zuständigen beim Ravensburger-Verlag sondern all jener (die echten Indianer eingeschlossen), denen Karl May und seine Darstellung der nordamerikanischen Ureinwohner ein Dorn im Auge sind, liegt darin, zu meinen, Karl Mays eigene oder in seiner Nachfolge entstandenen Geschichten seien Geschichten über Indianer. Das sind sie nicht. Es sind Geschichten über Phantasie-Indianer, so wie Krimis Geschichten über Phantasie-Kommissare sind. Karl Mays Indianergeschichten brauchen, um zu funktionieren, keinen einzigen echten Indianer, noch weniger, als ein Krimi einen echten Kriminalbeamten benötigt.

Deswegen trifft auf Indianergeschichten auch nicht der Vorwurf des Rassismus zu, kann überhaupt nicht zutreffen. Die dargestellten Rothäute haben mit echten Angehörigen der Apachen, Navajo, Shoshoni, Potawatomi etc. genau so wenig zu tun wie die in diesen Geschichten auftretenden Cowboys mit den echten Kuhhirten des sogenannten wilden Westens; wie überhaupt der ganze wilde Westen eine einzige kolossale Erfindung ist.

Ich habe indessen noch keinen Viehwirt reden hören, daß er sich von der Darstellung von Cowboys diskriminiert fühle. Einem Kriminalkommissar, der sich ähnlich äußerte, würde man wohl auch mit einiger Verständnislosigkeit begegnen.

Der Sommer war sehr groß

Nur noch leere Hallräume sind die Wälder jetzt. Nicht einmal Zaunkönige lassen sich noch hören, nicht einmal Rotkehlchen. Und kaum ist die letzte Stimme verstummt, ziehen sie wieder ein, fallen sie wieder her über den Wald wie Heuschrecken über eine Pflanzung: die Motorsägenmänner. Und übergroße Hornissen umschwirren in der Tiefe der Wege ein Opfer. Die Luft wird sauer unter dem zornigen Geheul. Was kann dieser Morgen dafür, daß Bäume starben? Krank ist nicht der Wald, krank ist die Stille, der an allen Gliedern Beulen und Geschwüre wachsen. Die Wege streben alle zum Ort des Geschehens, sensationslüstern schlängeln sie sich, drängeln sie um bessere Sicht, wollen die ersten sein, und ich werde von ihnen fortgezogen, wo ich überhaupt nicht hin will. Ein Lieferwagen mit einer Aufschrift, die lustig sein soll, steht auf dem Waldweg an einer Lichtung. Ahrweiler Kennzeichen, ich bin versucht, mir die Nummer zu merken, doch was bringt’s? Alles, was hier passiert in diesem, nein, nicht Wald, in diesem Forst (wem das hier Wald genug ist, der hält IKEA für ein Möbelhaus), ist sicher durch irgendeine paragraphene Rechtmäßigkeit gedeckt. Ich passiere das Fahrzeug, kein Mensch weit und breit, nur das anhaltende Heulen der einander ins Wort fallenden Hornissen, zu dem alle Wege hinfließen. Und dann gibt es aber doch einen Pfad, der sich schämt, mich am Kragen zupft, mich wegbringt von da. Schon fast zu Hause erschrecke ich über den Schrei eines Spechts, der warnt, aber wen, mich vor den Hornissensägemännern oder seine Artgenossen vor harmlosem mir? Nicht einmal den August konnten sie abwarten, die Idioten.

Vom Wetter

Seit Tagen ist schon von ihr die Rede. Kommt sie? Kommt sie nicht? Wann kommt sie? Kommt sie später? Wie schlimm wird es, wenn sie kommt? Wie lange wird sie bleiben, wie viele Tote hinterlassen?

Jetzt ist sie da.

Die Hitzewelle nämlich.

Über das Wetter spricht der Mensch vermutlich, seit er sich auf die Hinterbeine gestellt hat und den Kopf in den Nacken legen kann, um den Himmel, und alles, was sich dort abspielt, zu betrachten. Und nicht nur spricht er darüber, er denkt auch darüber nach, verflucht das herrschende, hofft auf besseres, hält Regentänze ab und versucht sich in allerlei Vorhersagen und Regeln (Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, etc.).

Doch während das Nachdenken übers Wetter eher den Meteorologen und Landwirten eignete, beschränkte sich der Umgang der meisten anderen Leute darauf, eine Regenjacke mitzunehmen, Salz zu streuen oder Sonnencreme einzupacken und ansonsten das, was der Himmel bescherte, zu nehmen wie es halt kam.

Damit ist es seit ein paar Jahren vorbei.

Denn das Wetter ist nicht mehr einfach nur das Wetter. Das Wetter ist ein Zeichen. Es steht immer auch für für etwas anderes. Es ist ein Symptom. Und wir, mit Argusaugen, orakeln an Himmel, Wolken und Wind als dem Symptomträger herum. Ist er das? Ist er das schon? Ist das dieser Dings, von dem jetzt alle reden, dieser Klimawandel?

Dabei ist dann selbst normales Wetter nicht normal. Normales Wetter, das gibt es nicht mehr. Nach welchem Maßstab normal? Es gibt auch kein normales Symptom. Ein Zeichen ist ein Zeichen, es bedeutet etwas. Und so bedeutet jetzt selbst ein erwartbar naßgrauer Novembertag etwas oder ein heißer Augustabend mit der Neigung zu Gewitter. (Welches auf jeden Fall zu stark, zu schwach, zu spät, zu grollend, zu naß oder zu wenig naß sein wird.) Wir legen den Kopf in den Nacken und runzeln die Stirn. Was mag dieser naßkalte Novembertag oder die Augusthitze bedeuten? Sicher nichts Gutes. Wir zittern vor dem Wetter, wie man vor einem Orakelspruch zittert.

So ist das Wetter nichts mehr, das wie der Große Wagen oder der Andromedanebel unabhängig von uns existiert, nichts Gegebenes mehr, das auch ohne uns da wäre und zu dem wir uns einfach nur verhalten müßten. Das Wetter ist, ob wir wollen oder nicht, in eine spannungsvolle Beziehung zu uns eingetreten. Es fordert Rechenschaft von uns. Es war nicht vor uns da. Es erinnert uns mit jedem Regen, mit jedem Hagelschauer und jeder Hitzewelle an etwas, das wir lieber ausblenden würden.

Es ist unser Werk. Die Geister, die wir riefen.

Noch einmal Ehe und Verantwortungsgemeinschaft

Bevor man über die Erweiterung der Ehe auf mehr als zwei Personen nachdenkt, könnte man erst mal nach dem Sinn der Einrichtung, wie sie jetzt geregelt ist, fragen. Dazu gibt es zwei Zwecke, einen alten (patriarchalen) und einen modernen, die sich im Institut der Ehe abgelöst haben, ohne daß das die äußere Form der Ehe berührt hätte. Die Ehe ist immer noch das, was sie vor zweihundert Jahren war: ein zivilrechtlich abgesichertes, verbrieftes Bündnis zwischen zwei Menschen, bis vor kurzem einem Mann und einer Frau. Ihr Zweck freilich ist heute ein ganz anderer geworden. Machen wir uns nichts vor: Ursprünglich bestand der darin, Männern Kontrolle über die Nachkommenschaft ihrer Frauen zu verschaffen. Dem Mann umgekehrt sollten gewisse Pflichten auferlegt werden, um die Frau in ihrer verordneten Hilflosigkeit nicht allein zu lassen und vor allem den gemeinsamen Nachwuchs zu schützen. Das hatte mit Freiheit oder Gerechtigkeit nichts zu tun, hat aber über Jahrhunderte funktioniert. (Was passierte, wenn es mal nicht funktionierte oder wenn Frauen sich gegen diese Ordnung auflehnten, davon zeugen, von Anna Karenina über Tess of the d’Urbervilles bis Effi Briest, unzählige Romane.) Von diesem ursprünglichen Zweck ist heute außer dem Schutz der Nachkommenschaft nichts mehr geblieben. Aber auch bei diesem ist ein Wandel hinter der Fassade der äußerlich unangetasteten Einrichtung festzustellen, denn immer mehr verheiratete Paare bleiben kinderlos. Was aber wird geschützt bei einem Paar wohlhabender Doppelverdiener ohne Kinder? Vollends losgelöst von der ursprünglichen Motivation ist die Ehe gleichgeschlechtlicher Menschen. Als schützenswertes Gut bleibt nur noch die Liebesbeziehung der beiden autonomen, aufeinander in keiner Weise angewiesenen Menschen. Warum aber sollte dieses, Entschuldigung, Privatvergnügen schützenswert sein? Erst mit der Schwangerschaft (oder Adoption) wird aus dem Privatvergnügen ein öffentliches Gut, das den Schutz durch Gesetze verlangt. Das wäre die eine Sicht der Dinge. Man kann aber auch umgekehrt fragen: Wenn die Liebesbeziehung zweier Menschen vor dem Gesetz eben doch schützenswert sein sollte — warum dann nicht auch andere Beziehungsformen wie die Freundschaft oder die Wohngemeinschaft? Oder umgekehrt formuliert: Wer prüft denn, ob überhaupt eine Liebesbeziehung vorliegt? Es müssen nur zwei die Ehe wollen; welche Gefühle sie verbinden, interessiert das Standesamt nicht. Unter diesen Voraussetzungen erscheint dann aber die Beschränkung auf zwei Menschen, die ja ihren Ursprung in der unumstößlichen Tatsache hat, daß es zwei Menschen braucht, um ein Kind zu zeugen, willkürlich, ja eigentlich nur noch als Reflex aus der Zeit, als die Ehe ein Schutzraum für Mann und Frau zwecks Zeugung von Nachkommen war. Wenn sie sich aber aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst hat, wäre es endlich an der Zeit, die Ehe völlig neu zu denken.

Gemeinschaft, Verantwortungs~

Gestern (7.2.) im Zwischenruf auf WDR3 Kritik von Peter Meisenberg über das Gesetzesvorhaben der sogenannten Verantwortungsgemeinschaft. Damit ist die Ausweitung der Ehegemeinschaft als Bündnis zweier Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen und auch vor dem Gesetz zusammengehören wollen, auf Gruppen von mehr als zwei Partnern gemeint. Meisenberg spricht in diesem Zusammenhang von der “Verrechtlichung der Freundschaft” (wobei er außer Acht läßt, daß es ja auch im Falle von mehr als zwei Personen Liebe und das Bedürfnis nach Nachkommenschaft sein könnte) und kritisiert, daß damit das bislang freie, ungeregelte, allein auf dem Vertrauen und dem guten Willen der beteiligten Personen basierende Institut der Freundschaft einer Regulierung und einem juristischen Regelwerk unterworfen werde, das die Freunde, die bislang freiwillig füreinander einträten, zur Verantwortung auch zwingen könne. Was werde geschützt, wenn man die Freundschaft unter den Schutz des Gesetzes stelle? Doch nur die Freunde voreinander. Auch verleite ein solches Institut dazu, Zweckgemeinschaften einzugehen und sich seine Freunde nach dem Kriterium finanzieller Absicherung oder sozialen Aufstiegs auszusuchen. So weit Meisenberg. Nur: Gilt das alles nicht auch und noch viel schärfer für die traditionelle Ehe? Meisenberg übersieht, daß die Ehe auch nur eine Verrechtlichung der (geschlechtlichen) Liebe ist.

Handle stets so, daß die Maxime deines Wollens, etc.

Im thüringischen Sonneberg hatte die Stadtverwaltung die Idee, Impfzögerer mit einer kleinen Verführung zu ködern. Sie verknüpften das Impfangebot mit der Darreichung einer Delikatesse. Wer sich impfen ließ, bekam neben der Spritze eine Bratwurst noch dazu. Voller Erfolg, die Impfquote stieg deutlich. Worauf sich im Internet ein Schwall Häme über die verführten Sonneberger Impffrischlinge ergoß. Im Gegensatz zu dem Zwischenrufautor auf WDR3, der wiederum diesen Spott scharf kritisiert (die Aktion habe Erfolg gehabt; die Spötter hätten keine Ahnung von Psychologie; die inkriminierte Bratwurst sei eine qualitativ hochwertige Spezialität; und wer erlaube sich bitte ein Urteil darüber, mit welchen Drogen sich die Zeitgenossen durch den Tag hülfen?), im Gegensatz zu dieser Milde also teile ich zwar nicht die Häme (jedenfalls nicht öffentlich), wohl aber die Haltung und Denkweise der Spötter. Ihr und mein Anspruch ist nämlich, eine Entscheidung wie die, daß man sich impfen läßt, rational zu treffen und nicht von der Darreichung einer Delikatesse abhängig zu machen. Es geht hier um nichts weniger als den Unterschied zwischen einer utilitaristischen (wichtig ist, was hinten rauskommt) und einer Pflichtethik (wichtig ist, was vorne reinkommt). Ich und die Spötter, wir wünschen uns nicht nur, daß die Menschen das Richtige tun, sondern daß sie es auch aus den richtigen Gründen tun. Nicht weil die Bratwurst winkt, sondern weil Einsicht herrscht. Was sind das für Menschen, die zum Impfen eine Bratwurst brauchen? Will ich mit denen in einem Gemeinwesen auskommen müssen? Wir wollen, daß die Impfzögerer auf unsere, und das heißt, auf die Seite der Vernunft zurückkehren und sich nicht von Leckerlis bestechen lassen. Denn dann lassen sie sich beim nächsten Mal vielleicht zu etwas Unvernünftigem bestechen, wenn nur etwer diesen Versuch zu machen sich herbeifindet: Begründbar ist nur die Vernunft. Überzeugend ist nur der gute Grund. Überzeugend auch dann, wenn einem gerade niemand den Arsch dafür pudert, daß man bitteschön das Richtige tut.

Da sind wir wieder, und der ganze Circus

Daß man es kaum schafft, in einer unbequemen Lage auch die darin begründeten durchaus willkommenen Nebeneffekte zu erkennen und zu würdigen. Gestern abend von dem Veranstaltungsplatz an der Kirche her Festivalgeräusche, jenes verhaßte Dröhnen, Rumpeln, Hallen, Heulen von ins Groteske verstärkter Supermarktmusik, wie es jetzt gut anderthalb Jahre nirgends zu hören gewesen ist. (Solche elektrischen Klangverstärkungen haben immer einen provokativen, hybriden Drang ins Universelle, Allgemeingültige, gräßlich.) Der Impuls in solchen Momenten, derartiges Treiben als eitles, leichtfertiges, geradezu sündiges Tun (Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand) zu verdammen — warum hat es mich in den vergangenen siebzehn Monaten nicht ein einziges Mal mit fröhlichem Ingrimm erfüllt, daß genau diese Verdammung offiziell in Kraft getreten war? Die Pandemie mit ihrem Ernst hätte ich mir doch zuvor geradezu gewünscht in Momenten wie gestern abend. Daß das sündige Treiben ein Ende finde und in einer schicksalhaften, göttlich zu nennenden Intervention des Ernstes in Flamme aufgehe, eines Ernstes, als dessen Vertreter auf Erden ich mich in meinem maßlosen Zorn zu empfinden durchaus geneigt bin.

Verschwendung

Weltweit werden etwa ein Drittel aller Lebensmittel weggeworfen. (Mit sehr unterschiedlichen Verteilung über die Weltregionen, von 6 kg pro Kopf und Jahr im subsaharanischen Afrika bis 115 kg pro Kopf und Jahr in Nordamerika und Ozeanien. Europa liegt bei 95 kg pro Kopf und Jahr) Okay, das ist ein Skandal, ökologisch, ökonomisch und moralisch sowieso. Ein drittel weggeworfene Lebensmittel, das entspricht, anteilig und umgerechnet, 1,4 Milliarden Packungen Spaghetti beim Getreide; 6,3 Milliarden Äpfeln beim Gemüse und 75 Millionen Kühen beim Fleisch. Jetzt stelle man sich aber mal vor, die Verbraucher beschlössen von jetzt auf gleich, nur noch so viel zu kaufen, wie sie auch essen, und die verbraucherseitige Verschwendung ginge auf Null zurück. Unter Vernachlässigung systemischer Verluste seitens der Produzenten, Verarbeiter, Groß- und Einzelhändler bedeutete das unmittelbar für den Nahrungsmittel-Einzelhandel insgesamt ein Drittel weniger Absatz. Was wäre dann? In einem Interview hat der Philosoph Peter Sloterdijk unlängst gesagt, würde sparsame Haushaltung, wie sie bis zum ersten Weltkrieg noch als bürgerliche Tugend galt, heute noch praktiziert, bräche die Wirtschaft sofort zusammen. Ich liebe solche Gedankenspiele. — Zugegebenermaßen werfe ich oft Lebensmittel weg, aus speziellen Gründen. Zum einen lebe ich in zwei Haushalten mit zwei Kühlschränken und zwei Essensplanungen. Da bleiben oft Reste, die ich beim Wechsel vom einen zum andern Haushalt nicht mitnehmen kann, die aber bis zum nächsten Wechsel sich nicht halten werden. Es ist sehr schwierig, für drei Tage Wochenende exakt so einzukaufen, daß ich satt bin und am Montag morgen alles aufgegessen ist. Irgendwas wird zuviel gewesen sein (andernfalls wäre es zu wenig gewesen), ein Kanten Brot, zwei Löffel Joghurt, eine Scheibe Wurst, ein halber Teller Suppe. Was macht man mit einem halben Teller Suppe? Zum anderen habe ich empfindliches Gedärm, und alles, was nicht sozusagen ackerfrisch ist, bekommt mir nicht. Ich habe mal eine halbe Nacht auf der Toilette verbracht, weil ich Muffins mit (gustatorisch wie olfaktorisch völlig unauffälliger) Buttermilch zubereitet habe, die eine Woche überm Datum war. Alle im Haushalt haben davon gegessen, Probleme hatte nur ich. Zum dritten habe ich einen kleinen Magen, in den nicht viel reinpaßt. Tatsächlich paßt so wenig hinein, daß es unmöglich ist, exakt so viel zu kochen, daß ich geleerten Tellers genau so satt bin, daß es sich gut anfühlt. Ich esse sehr ungern einzig zum Zwecke, daß der Teller leergegessen ist, über diesen Punkt hinaus. Denn danach ist mir unwohl. So kommt es eben auch, daß oft ein halber Teller Suppe, siehe oben, übrigbleibt. Natürlich ist es ökologischer und wirtschaftlicher, für eine Großfamilie von zwanzig Personen zu kochen, zumindest dann, wenn alle das gleiche essen und man nicht auf Veganer, Vegetarier, Frutarier, Glutenempfindliche und Erbsproteinallergiker Rücksicht nehmen muß, die alle einen eigenen Teller kriegen. Aber ein Leben in Großfamilien kriegen wir wohl nicht mehr hin, das ist vorbei. In meiner Familie kriegen wir es ja nicht einmal hin, daß alle zur gleichen Zeit essen. Umso wichtiger ist es aber gerade für Singlehaushalte, das Essen sorgfältig zu planen und nach den vorhandenen Möglichkeit abfallfrei zu wirtschaften. Denn Essen wegzuwerfen, bleibt ein Skandal.

Alphitobius diaperinus

In einem alten Kinderbuch (William Judson, In den Wäldern am kalten Fluß) muß ein Geschwisterpaar nach dem Unfalltod des Vaters sich zu Beginn des Herbstes ganz alleine durch die Wildnis zum hunderte Meilen entfernten Heimatort durchschlagen. Ein paar Vorräte können sie mitnehmen, aber das reicht natürlich nicht. Wovon ernährt man sich so, in der Wildnis? Pilze? In einer Szene, die mir besonders lebhaft im Gedächtnis geblieben ist, klaubt Lizzy, die ältere der beiden, den Ratschlägen des sterbenden Vaters folgend, fette Maden von der Unterseite eines Steins … in einem Eintopf mit einem Rest Bohnen aus den mitgebrachten Vorräten gekocht, geben sie ein nahrhaftes, fett- und eiwißreiches Essen ab…

Nun ja, also. Buffalowürmer sind nicht so sehr verschieden von dem, was man in der Wildnis unter Steinen findet. Zwar haben wir solche Nahrung nicht mehr zum Überleben nötig, aber allenthalben ist ja die Rede davon, daß Insekten für eine wachsende Menschheit — klimagünstig, ressourcenschonend, wassersparsam — die Eiweißquelle der Zukunft darstellen.

In der Annahme und der Hoffnung, das ungewohnte Nahrungsmittel könnte irgendwas mit Fleisch zu tun haben (etwa nach Huhn schmecken oder wenigstens nach Garnele), habe ich also beherzt zugebissen und die Maden geknuspert. Nun. Gewöhnungsbedürftig ist es nicht, im Gegenteil. Es ist sogar ein bißchen zu gewöhnlich. Eine Antiklimax. Die Konsistenz ist knurpsig, vergleichbar mit der von geröstetem Leinsamen, der Geschmack … erinnert an Pilze, Schopftintlinge, begleitet von einer Getreidenote. Immerhin, zwei Eßlöffel der haferkorngroßen Tierchen machen sich, mit Knoblauch in Öl geröstet und in einer Tasse Reis mitgekocht, geschmacklich und konsistenziell als gewisser aromatischer Kauwiderstand schon bemerkbar. Es braucht aber eine Weile, ehe ich darauf komme, woran mich der Geschmack am ehesten erinnert: an Wildreis nämlich. Nicht nur der Geschmack, auch die Knurpsigkeit der Maden ähneln Zizania aquatica am meisten.

Alphitobius diaperinus mit Reis und Brocholi

Und das war’s auch schon. Das Nahrungsmittel der Zukunft? Mag ja sein, aber eine klimagünstige Fleischalternative ist das höchstens in einem industriell verarbeiteten Burger, und dann, na ja, kann man auch gleich chemisch modifiziertes Erbsprotein aus dem Labor zu sich nehmen. So groß ist der Eiweißmangel nun nicht, daß man unbedingt zu diesen Tierchen greifen müßte; und wenn ich Weildreis schmecken will, kann ich auch Wildreis essen. Mal ganz davon abgesehen, daß Wildreis vielleicht für ein zwanzigstel des Betrags zu haben ist, den man für diese invertebrate …. Delikatesse hinblättern muß.

Jetzt hört man schon davon, daß die ersten das Ende der Pandemie feiern. Feiern? möchte man ausrufen, es gibt nichts zu feiern. Mit Schnelltest und FFP2-Maske ins Freibad? Da waren wir ja letztes Jahr schon weiter. Nein. Erst wenn das letzte Testzentrum abgebaut, das letzte Abstandhalten-Piktogramm entfernt, die letzten Schützen-Sie-sich-und-andere-Durchsage verstummt, die letzten Spuckschutzfolien geschreddert, die letzten Masken von den Gesichtern, Rückspiegeln, Rinnsteinen, Rasenflächen und Mülleimern verschwunden sind, dann, ja, dann könnt ihr feiern. Ihr könnt feiern an dem Tag, da die erste Zeitung erscheint, in der man keine Erwähnung der Pandemie, sei es eine direkte oder eine indirekte, mehr findet. Oder nein, auch dann nicht: Denn das Feiern würde sich ja kraft seines Anlasses mit der Pandemie beschäftigen. (Wie auch dieser Blogeintrag.) Und damit diesen Anlaß zunichte machen: Erst, wenn es keine Handlung mehr gibt, die in den Kontext der Pandemie eingebettet, deren Beschreibung von der Voraussetzung der Pandemie abhängig ist; erst wenn ihr das Ende nicht mehr zu feiern braucht, könnt ihr das Ende feiern. Erst dann ist alles wieder normal, erst dann ist es geschafft.

Ansichten (3)

“Alleinerziehende Mütter sind sowieso immer die Gearschten, und jetzt mit dem Impfen kommen wir wie mit allem anderen auch wieder mal als letzte dran. Da sitzen jetzt die Rentner in der Außengastronomie und drehen den jungen Leuten eine lange Nase. Man hat am falschen Ende angefangen. Man hat, mit Verlaub, Halbtote als erste geimpft.”

(Kathrin K. 35, Schlosserin, alleinerziehend)

Sesselpupser

Bekanntlich gibt es im Leben eines Menschen kurzfristige Interessen (ins Kino gehen, ein Bier trinken, eine Sitcom gucken) und langfristige Ziele (einen Partner finden, Kinder bekommen, Karriere machen). Und ebenso ist es eine Tatsache des Daseins, daß man, um letztere zu erreichen, manche der ersteren opfern muß. Hörsaal statt Kino, Fitneßstudio statt Fernseher, Überstunden statt Bier. Unstrittig ist im allgemeinen auch, was wofür geopfert werden muß, soll das angestrebte Ziel erreicht werden.

So weiß der übergewichtige, hypertonische Sesselpupser ganz genau, daß es seinen langfristigen Zielen nicht entgegenkommt, wenn er auf dem Sessel sitzenbleibt. Möchte er nicht auch gerne sportlich, gesund und schlank sein und seine Zeit sinnvoll nutzen? Der Sesselpupser nickt. Oh ja, das möchte er. Er weiß, daß dieses Ziel erreichbar ist. Er weiß auch genau, was er tun müßte, und zwar jetzt, um es zu erreichen. Doch dann seufzt er, reißt eine weitere Tüte Chips auf und fingert nach der Fernbedienung.

Mit anderen Worten, kurzfristige Interessen hintanzustellen oder gar zu opfern, ist schwierig. Es besteht ein Konflikt zwischen Bier und Bachelorabschluß, und je nach Menschentypus gibt es verschiedene Strategien, den Konflikt anzugehen.

Auf der einen Seite gibt es die von Natur aus sportlichen, die Marathonläufer und Yogameister, die sich von Magerquark und Kohrabi ernähren und statt fernzusehen lieber meditieren und Platon im Original lesen. Aus deren Sicht ist alles ganz einfach. Sie sehen den Sesselpupser und zucken nur mit den Schultern. Dann lauf halt los, sagen sie, iß Kohlrabi, lies Platon und ändere dein Leben.

Dann gibt es die Trotzigen. Sie stellen den Wert der langfristigen Ziele überhaupt in Frage. Ja, und? sagen sie und zucken ihrerseits mit den Schultern. Geh ich halt zugrunde, mir doch egal. An Chips und Serien zugrunde zu gehen ist allemal besser, als mit Kohlrabi unsterblich zu werden.

Wieder andere stellen es schlauer an damit, den Wert der Ziele anzuzweifeln. Sie zitieren eine Studie, die nachweist, wie gesund Chips gerade in Kombination mit Fernsehen seien. Spurenelemente, natürliche Zutaten, wertvolles pflanzliches Eiweiß undsoweiter, und der Bildungskanal ist doch super. Und behaupten, es gebe gar kein Problem mit einem Leben vor dem Fernseher, die Abwertung eines solchen Daseins sei nichts als Propaganda der Laufschuhindustrie.

Zuletzt gibt es noch Leute, die den Wert des langfristigen Ziels zwar anerkennen, aber der Ansicht sind, um gesund und fit zu werden, genüge es, auf kalorienreduzierte Chips umzusteigen und nur noch Sportsendungen anzusehen.

Man kann sich die Klimakrise auch als Konflikt zwischen unseren kurfristigen Interessen und langfristigen Zielen denken.

Die Logik des Warnens

Die Sache mit dem Verhütungsparadox hat einen Dreh, der nicht genug beachtet wird. Denn in derselben Logik, nach der die Warnung Erfolg hat, wenn das Ereignis, vor dem gewarnt wurde, nicht eintritt, steckt noch ein zweiter Dämon. Wie hießen sie noch alle? H1N1, H5N1, Vogel-, Schweine-, Esels- oder Leguangrippe, Ebola, Marburgvirus, Zikavirus, SARS, MERS, EHEC, MENETEKEL und was der kryptischen Akronyme mehr waren — könnte es sein, daß in der jüngeren Vergangenheit ein paarmal zu oft der Wolf ausgerufen wurde? Es ist eben nicht jede Warnung korrekt und keine Warnung a priori von Panikmache zu unterscheiden. Angesichts dieser langen Reihe von Fehlwarnungen kann es jedenfalls nicht erstaunen, daß CoViD-19 bis in den März 2020 hinein von der breiten Bevölkerung nicht wirklich ernst genommen wurde. Es waren halt wieder mal die, die auch schon die Schweinegrippepandemie heraufziehen sahen, die jetzt wieder hektisch (“Sie. Begreifen. Es. Nicht!”) mit den Armen wedelten — und ausnahmsweise hatten sie halt mal recht. Nur, plausibel war das nicht, und zu begreifen gab es auch nichts, im März 2020 so wenig wie all die Male zuvor. — Das eigentliche Problem liegt aber darin, daß sich die verhinderte Katastrophe im Falle einer Seuche, die nicht ausgebrochen ist, nicht belegen läßt — anders als etwa der Asteroid, den man mittels einer Rakete noch abfängt, bevor er auf die Erde stürzt. “Das Medikament hat rein gar nichts gebracht.” — “Hättest du es nicht genommen, ginge es dir noch schlechter.” Ein Satz, der leider immer wahr ist. Man hört ihn nur nicht gern, besonders dann nicht, wenn das Medikament scheußlich schmeckt.

Leckerli

Jetzt, wo es soweit ist und ich endlich drankomme, reizt mich die Idee, den Impftermin abzusagen. Nicht nur diesen, sondern überhaupt jeden. Ich mußte zu lange warten. Ich habe keine Lust, wie ein Hund dem Leckerli hinterher zu betteln, das ist wider meine Würde. So sehr kann ich etwas gar nicht wollen, daß ich es nicht, läßt man mich allzu lange zappeln, aus Stolz abzulehnen imstande wäre, sobald ich es haben darf. Ich will überhaupt nichts dürfen. Irgendwann ist Schluß. Irgendwann fühlt sich, das Verlangte endlich zu bekommen, nicht mehr gut an. Das ist das eine. Das andere ist, ich fühle mich verarscht. Ihr habt die totale Globalisierung gewollt, ihr seid mit Macheten und Feuer in den Urwald vorgedrungen, ihr habt Fledermäuse auf den Markt gebracht, und als ihr krank wurdet, habt ihr wochenlang so getan, als wär nix; ihr habt den internationalen Flugverkehr für notwendig erachtet, ihr seid um den Globus geflogen, ihr habt die Erde zu einem Dorf gemacht, und nun, da das ganze Dorf die Pest hat — soll ich mich impfen lassen? Jetzt kommt ihr mir mit eurer tollen Lösung für ein Problem, das ich ohne euch gar nicht hätte? Ach, geht mir doch alle weg.

Antiklimax

Impftermin bekommen. Ausgerastet, als ich auf der Seite der Kassenärztlichen Vereinigung an einem für Linuxsysteme offenbar nicht ausführbaren Skript steckenblieb. Registrierung (schon im Januar, man war ja optimistisch) kein Problem, Anmeldung, kein Problem, “Ich bin Angehöriger folgender Berufsgruppen …” Check!, weiter zur Terminvergabe, ja, Termin für mich selbst, weiter zum Impfzentrum, bitte wählen Sie ein Wunschdatum aus … Oh gerne, also das früheste, in zwei Wochen. Check! Bitte wählen sie die Uhrzeit aus … Egal, irgendwann. — Bitte wählen Sie die Uhrzeit aus … Ok, aber wo? — Bitte wählen Sie …. Ja, würde ich gerne, du stiernackige Datenverarbeitsanlage, wo bitte? Da ist nur ein graues Kästchen zu sehen, und außerdem stecken Bild- und Textelemente höchst unprofessionell übereinander. Also noch mal von vorn. Bitte wählen Sie ein Wunschdatum aus … bitte wählen Sie eine Uhrzeit aus …. “Offensichtlich haben Sie Schwierigkeiten, einen passenden Termin zu finden. Sollen wir Sie per Mail benachrichtigen, wenn weitere Termine vorliegen? Ja, Nein, Meldung nicht wieder anzeigen”. — Abgemeldet, FF mit abgeschaltetem UBlockOrigin neu gestartet, nix. Wo eine Uhrzeit zum Auswählen sein sollte, ist weiterhin nur das graue Kästchen, nicht klickbar. Vielleicht ein anderer Browser? Mit Konqueror komme ich nicht einmal ins Anmeldeformular. Also einmal mit den Zähnen geknirscht und zum Zwecke Chrome installiert, der kann ja wohl, zumal jungfräulich und unbefleckt von irgendwelchen Blockern, alles. Sollte, muß alles können. Nein? Nein! Das Skripting auf der hochoffiziellen Seite der KVNO kann er nicht. Selten, ganz, ganz selten kann mein FF etwas nicht darstellen. Und ausgerechnet die KVNO hat es geschafft, die Anmeldeseite so zu programmieren, daß Linuxsysteme (ich bat Freunde, die auch Linux benutzen, um Hilfe, die konnten mich mit ihrem System nicht einmal einloggen) an der Auswahl der Uhrzeit scheitern. Überflüssig zu erwähnen, daß die Hotline hoffnungslos überlastet war.

Während ich also fluchte und brüllte und tatenlos zusehen mußte, wie ein Tag nach dem anderen von buchbar zu ausgebucht wechselte, kam das Stiefsöhnchen aus der Schule, nickte nur kurz und zückte sein Händie.

Keine Minute später hatte ich meinen Termin.

***

Es hat etwas Antiklimakisches, wie das Ende dieser Krise sich langsam abzeichnet. Fast ist man enttäuscht, daß es zu Ende geht, als müßte da doch noch was, als hätte man doch noch nicht, als wäre man noch nicht auf seine Kosten gekommen. Sollte das alles gewesen sein? So trivial, so banal, so dämlich? Wo bleibt die Entschädigung? Oder wenigstens der Knalleffekt? Daß jetzt tatsächlich die Möglichkeit besteht, es könnte in wenigen Wochen alles ausgestanden sein, fühlt sich irgendwie schal an, fad, unwürdig, wie eine Geschichte, die einfach ohne echtes Ende aufhört. Ohne wirklich aufzuhören, man wünscht sich, ja, was? Daß die gute Fee auftritt und allem rückblickend einen Sinn verleiht. Oder daß der König, während er das Zeremonienschwert aus der Scheide zieht, einen niederknien heißt, damit man den Ritterschlag empfange. Daß die Außerirdischen kommen und um Verzeihung bitten für das außer Kontrolle geratene Experiment. Daß ein genialer Wissenschaftler im Genom des Virus die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest gefunden hat. Was weiß ich, irgendwas halt. Nur nicht einfach nichts. Nur nicht dieses öde Sichdavonschleichen. Man bleibt ratlos zurück. Was sollte das jetzt bitte? Könnte einem jemand von außerhalb mal gefälligst einen Tip geben? Oder wenn schon kein Sinn dahinter ist, dann wenigstens einen Schuldigen, den man genüßlich zu Tode foltern kann. Strafe als Sinngeber des Unglücks, so vielleicht.

(6.7.2021)

“Fünf Studierende der Universität St. Gallen – Clemens Ernst Brenninkmeyer (NL), Franz Karl Kriegler (AU), Urs Schneider (CH), Wolfgang Schürer (DE) und Terje I. Wölner-Hanssen (NO) – gründeten das International Students’ Committee (ISC), das in jährlich wechselnden Teams das St. Gallen Symposium organisiert.”

So heißt es auf der Wikipedia s.v. “St. Gallen Symposium”. Da es sich um fünf Herren handelt, hätte man doch sicher auch das normale Wort Student nehmen können. Oder müssen Frauen jetzt schon da sichtbar gemacht werden, wo sie gar nicht vorkommen? (Genauso wäre es albern, von den Präsident*innen (PräsidentInnen, Präsident_Innen etc.) der Vereinigten Staaten von Amerika zu sprechen.)

#DasWortStudenterhalten