Halb sechs, letzte Stunden des Jahres. Vereinzelte Böller platzen nah und fern. Sonst ist es still. Das Treppenhaus kehrt in seinen eigenen Wendeln wieder. Sehr fern murmeln die Straßen. Um halb fünf sind Glocken gewesen, lange, festlich und traurig, wie Glocken immer sind. Ich höre vor allem das Traurige darin, die Sehnsucht, den Ausdruck eines unbenennbaren Verlustes, die Erinnerung an etwas, das einmal war, gestern, letztes Jahr, vor Jahrhunderten, und jetzt nicht mehr ist. Einmal, denkt man, müssen die Glocken anders geklungen haben. Tosend, jubelnd, zornig, selbstgerecht, hoffnungsvoll, panisch, freudig. Als das, was sie jetzt beklagen, noch nicht verloren war und sie auf nichts zeigten als auf die Gegenwart. Ich bin ein Kind, das die Nase an einer kalten Scheibe plattdrückt und in die Winterdämmerung hinausschaut, sehnsuchtsvoll, und es weiß nicht, wonach, und die verschneite Welt birgt diese hallenden, wogenden, klagenden Stimmen, irgendwo weiß vielleicht irgendwer, was verloren ging, und warum die Glocken so traurig sind. Das Gesicht spiegelt sich im Glas, ein Atemhauch fliegt darüber, noch ein Glockenschlag und noch einer, träger jetzt, mit längeren Pausen, wie ein Schluchzen, das sich langsam erschöpft. Schon damals, schon in der Kindheit, war alles voller Vergangenheit und Stunden wie diese, da die Abendglocken schlugen und ich vielleicht Fieber hatte oder Husten, angefüllt mit einer Trauer, von der ich gar nichts wissen konnte. Als würde ich mich nach eben der Kindheit bereits zurücksehnen, die ich gerade erlebte. Als würde ich Zeuge meiner eigenen dereinstigen Vergangenheit. Als wüßte ich schon, daß dieser Blick in die Winterwelt, über die der Glockenschlag sich in Wellen breitete, einer viel späteren Zeit angehörte; als sähe ich mich selbst von sehr, sehr fern, als das lang versunkene Kind, das ich in diesem Moment noch war. Das, was ich erlebte, war unendlich kostbar, und zugleich war unbegreiflich, warum es so kostbar war. Es war etwas, das ich verlieren würde, bevor ich es besäße, etwas, das ich erst wissen würde, wenn ich es vergessen hätte. Etwas, das ich in genau diesem Augenblick verlor, als der letzte Glockenschlag bebend in der Dunkelheit verklang.

Unbefleckt

Man kann, wie Antje Schrupp das tut, die jungfräuliche Empfängnis Mariens mit dem Hinweis, es sei inakzeptabel, den Wert einer Frau an ihrer sexuellen Vergangenheit bemessen zu wollen, in Bausch und Bogen als patriarchalen Feuchttraum ablehnen — oder man nimmt die Geschichte ernst: dann bleibt man für andere Deutungen offen, die vielleicht nicht historisch-exegetisch zu verteidigen sind, aber dennoch prima Sinn ergeben. Wie es ja die Natur von guten Geschichten ist, offen für alle möglichen Deutungen zu sein. Die jungfräuliche Empfängnis steht für das Unmögliche, das im Wunder möglich wird. Sie ist so unmöglich, wie es unmöglich ist, daß Farn blüht, Vögel Milch geben oder Hasen Eier legen. Sie widerspricht jeder biologischen Erfahrung. Ist die Welt auch gesetzmäßig eingerichtet, so zeigt sich Gott in der Jungfrauengeburt als der, der an die eigenen Gesetze nicht gebunden ist. (Denn für Gott ist nichts unmöglich, Lk 1, 37.) Was aus menschlicher Sicht schon die ganze Welt schien, erweist sich als unvollständig, erweist sich als begrenzt, erweist sich gegenüber dem, was Gott ist, verarmt, des Wunders bedürftig. Man könnte salopp sagen, da ist noch Luft nach oben. Die Geburt Jesu durch eine Jungfrau ist eine Revolte gegen den Verstand und gegen das vermeintliche Wissen, das die Welt für vollständig hält. Die Welt stellt sich als unvollständig, als größer, viel größer heraus, als wir glaubten. Das Wunder ist der Ort, wo Gott diese größere Wirklichkeit für einen Moment aufscheinen läßt, indem er die Oberfläche, auf der wir leben und die wir für alles halten, als Willkürakt durchstößt. Als Zeichen seines Willens, der, an keine Kausalkette gebunden, eine eigene neue initiieren kann.

Freilich tut es zu diesem Zweck jedes beliebige Wunder. Gott hätte Jesus auch mit einem Schaf zeugen, ihn aus dem Oberschenkel Josephs heranwachsen oder ihn aus einer Schaumkrone ans Ufer spülen lassen können. Narratologisch-theologisch stellt sich das Problem, daß Gottes Sohn zwar das irdische Dasein mit allen Konsequenzen antreten, daß er ein Mensch aus Fleisch und Blut sein, daß er schwitzen und hungern und leiden, daß er den Härten des Irdischen unterworfen sein muß wie der Rest der Menschheit. Andererseits muß aber auch irgendwo die göttliche Herkunft durchschimmern, muß es irgendwo nicht mit rechten Dingen zugehen. Zu göttlich, und man glaubt dem Gottessohn sein Ausgeliefertsein an die irdische Natur nicht mehr: schließlich sind nach griechischer Erzähltradition alle von Göttern mit Sterblichen gezeugten Kinder nicht ganz von dieser Welt, haben einige interessante Eigenschaften ihren Mitgeschöpfen voraus oder sind gleich selbst Götter oder zumindest gottgleiche Wesen, jedenfalls kraft ihrer Herkunft auf die eine oder andere Weise privilegiert. Ein solches Privileg darf Jesus nicht haben, sonst fällt die theologische Konstruktion in sich zusammen. Die Fleischwerdung wäre quasi gemogelt. Aber ein kleines Wunder muß schon auch sein, sonst glaubt man die Vaterschaft nicht. Wenn nun schon das Gezeugte recht normal zu sein hat, verlegt man das Wunder eben, zwar nicht in die Mutter, aber immerhin in den Vorgang der Zeugung selbst.

Auch seltsame Zeugungsvorgänge haben eine gute Tradition im Mythos. Wie genau soll etwa Zeus in Gestalt eines Schwans Leda geschwängert haben? Oder Danae — recht abstrakt — in der Körperlichkeit eines, ähm, Goldregens? (Ein Schelm, wer hier an golden shower denkt.) Von Kopf-, Schenkel- und Schaumgeburten mal ganz zu schweigen. Ich nehme an, die Griechen hätten über das Gewese, das Theologen, Kirchenkritiker, Häretiker und neuerdings Feministinnen über die Jungfrauengeburt machen, angesichts etwa der Zeugung des Orion nur mit den Achseln gezuckt. Aber der Gott der Juden ist theologisch von ganz anderem Kaliber; dieser Gott ist so unfaßbar, daß die Schnittstelle zwischen Göttlichem und Menschlichem zum Problem wird. Will man ihn in einer Erzählung Vater werden lassen, muß man mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen. Man kann diesem hinsichtlich Gestalt, Wesen, Natur ziemlich zurückhaltenden Gott nicht einfach einen Penis andichten. Daß Zeus einen hatte, daran besteht wohl kein Zweifel, zumindest berichtet der Mythos deutlich genug von göttlichen Ejakulationen. Da ist eine Menge Fleisch, wenn auch göttliches Fleisch im Spiel, wenn Götter zur Zeugung schreiten. Aber der alttestamentliche JHWH? Man tut sich schwer bei der Vorstellung, Gott habe bei Jesu Zeugung mit einem Penis in Marien Schoß herumgefuhrwerkt, sei dabei etwas grob zu Werke gegangen und habe dabei ein Häutchen zerrissen. (Das Hymen ist natürlich ein Mythos ganz eigener Art, aber darum soll es jetzt nicht gehen. Ich finde es nur interessant, daß bei den Griechen und Römern nie die Rede davon ist. Unerlaubter Geschlechtsverkehr verrät sich dort niemals durch Blut auf dem Laken, sondern immer gleich durch die Schwangerschaft.) Jedenfalls ist, wenn man schon an ein Hymen glaubt, der Schluß geradezu unausweichlich, daß dieses bei Gottes Intervention heil blieb — ganz einfach, weil die umgekehrte Vorstellung lächerlich wäre. (Wie es um den Zustand der noch einmal davongekommenen Membran nach der Geburt bestellt ist und ob es auch der Austreibung unseres Erlösers aus dem Geburtskanal standgehalten habe, mag hier mal außen vor bleiben.) Gott muß das also anders bewerkstelligt haben — aber wie, das entzieht sich in einer Weise, wie es eben typisch für diesen Gott ist, der Vorstellung. Allzu konkret (Goldregen?) dürfen wir hier nicht werden, sonst würde das Unnahbare und Unmanifeste Gottes in die Dinghaftigkeit gezerrt und zerstört. Das Konkrete ist der Feind des Mysteriums. Wenn man sich auf das Konkrete einläßt, entfesselt man eine Kaskade unangenehmer Fragen und Schlüsse. Wenn Gott konkret eine menschliche Frau schwängern konnte, dann muß er einen Penis haben. Dann muß er praktischerweise auch eine Erektion gehabt haben. Dann muß er auch ejakuliert haben. Hat er Vergnügen dabei empfunden? Irgendwie ist die Vorstellung absurd, Gott (dieser Gott zumal) könne Spaß am Sex gehabt haben. (Mit wem hat er dann Sex, wenn er nicht gerade Erlöser zeugt? Oder war ihm einmal genug? Und was ist eigentlich aus den nicht zum Zug gekommenen göttlichen Spermien geworden? Oder enthielt das Sperma Gottes nur eine einzige Samenzelle?) Wenn ein Gott, der Spaß hat, abwegig ist, ist freilich auch ein zürnender Gott abwegig, aber das führt jetzt zu weit. Jedenfalls bringt das unangetastete Hymen der Muttergottes diese und ähnliche Überlegungen mit einem Mal zum Verstummen, indem es darauf verweist, daß die Zeugung Jesu in einem unbegreiflichen Raum stattgehabt haben muß. Das Problem ist, wie man den Übergang vom Unmanifesten Gottes zum Manifesten von Schwangerschaft und Geburt gestaltet. Das heile Hymen Marias ist seine narratologische Lösung.

Sechs Uhr abends, seit einer Stunde dunkel, die Glocken läuten, sie läuten Heimat, läuten Frieden, läuten Hoffnung, läuten Trost. Vom Wald herunter bin ich vorhin an der Kirche vorbei gestapft, da dämmerte es schon. Aus dem halboffenen Portal fiel ein warmer Lichtschein auf die Stufen, und für einen Moment war ich versucht, hineinzugehen, verschlammten Fußes und verschwitzt wie ich war. Ich tat es nicht, mehr aus Eile, nach Hause zu kommen, denn aus Fremdheit den Glaubensdingen gegenüber. Nur die Glocken sind von diesem Teil meiner Lebensheimat übrig, das andere habe ich all die Jahre nicht beachtet. Vielleicht wird es Zeit, das wieder hervorzuholen und ernst zu nehmen, was mir guttut. Schließlich sind nicht die Menschen für Gott, sondern ist Gott für die Menschen da, auch für die Ungläubigen wie mich, vielleicht gerade für sie.

Solstitium

Schritte, zwei, der erste auf Grund, ins nirgends der zweite,
      Was wie ein Augen-Blick bricht, fängt, noch im Fallen, das Licht.

Hellem Schweigen geraubt, als Pilger entblößt sich ein Windhauch.
      Weither geeilt zum Altar, steht in den Schuhen die Zeit.

Immer nur armlang entfernt die nie zu erreichenden Glocken.
      Immer ein Stückchen voraus zählt seine Meilen der Weg.

Lang der eigene Schatten, und weich, wie von Fremdem geworfen.
      Taumelnder Falterflug bleicht in verwitterter Luft.

Aequinoctium

Spiegel, und zögernd nur zeigt sich das Bild seinem Bild an der Grenze.
     Nächtlicher Strenge Zoll, zahlen die Schatten den Stein.
Letzte Schwelle tritt in die schwankende Hütte des Dunkels.
     Flughunde strömen befreit blindlings aus Tunneln des Schlafs.
Straffer spannt sich, was tags die Bilder im Wasser einhegte,
     fängt den Mond ein und senkt tiefer als Lotblei den Grund.
Späte Wege verschwinden, ihr Haus verfehlend, im Dickicht.
     Ratlos die Weiser, in Nacht fallen die Zeichen vom Schild.
Ende der Straße. Zu ihrer Ewigkeit kehren die Wälder
     heim aus dem Stundenverlies, bis wieder alles schon war.
Zwei, schon im Abenddämmer, nehmen stumm ihren Platz ein,
     wo das Gemälde sie sah, unsterblich, hell vor dem Wald.

Solstitium

Der Hügel bebt, von Hörnern angestoßen,
die Lüfte tragen Pelz, sind wild wie Narren
und Mandeln stürzen weiß wie süße Schloßen.

Vom Kraut entblößt, liegt Lehm in wüsten Barren,
wie peinlicher Gedanke. Furchen, Fluchten
versenken einen festgefahrnen Karren.

Die Bäche phantasieren sonder Zuchten,
wo sie im Dunkel stehen. Schräge Weisen
verfehlen ihren Ton in Flüsterbuchten.

Ein Lichtgang saugt sich fest an Wolkenschluchten.
Der Horizont kommt her auf schwarzen Gleisen.

Was den Wegen gelingt: sich selbst zu begegnen, wieder und wieder, Anfang und Ende zusammenzuknüpfen, Ankunft und Aufbruch gleichzeitig zu sein, bleibt unmöglich.

Also noch einmal in die Wanderstiefel, noch einmal die Haustür hinter sich ins Schloß fallen hören. Nicht auf den Regen achten, sich den Wald überstreifen wie einen Mantel. Bis ganz hinauf, wo die Böschungen müde am Weg stehen und sich mit den Erdschichten verzählen. Hinter den Hügeln arbeitet sich wie je die Ebene mit ihren Straßen an der Ferne ab. Keine Zeit für Glocken, unter den Steinen knackt schon die Dunkelheit mit den Gliedern. Der Wind bringt keine Geschichten; für die unseren ist er taub.

Von irgendeinem Weg weiter oben klingt Kinderlachen auf, gleich wieder verstummt, zu seiner eigenen Zeit etwas Spätes und Letztes, das es eilig hat, ohne es zu wissen, wie Blätterfall. Auf dem Schotter die Mumie einer vor Monaten vergessenen Socke. Unten im Tal ein geschlossenes Freibad, im gefüllten Becken schaukelt der Himmel mit Gewölk.

Es wäre Zeit, aber wofür? Vor der Hütte warten die Wege, abmarschbereit. Namen im Holz, Jahreszahlen, in der Dämmerung kaum noch lesbar, auch diese mußten weiter zu ihrer Zeit.

Gaza, 24.12.2023

“Steht in der Zeitung, sie haben jetzt Sprengstoffgürtel — für Kinder, in Gaza”, sagt mein Vater am Abendbrottisch, er sagt, “Wer plant so etwas?”, und er sagt, “Was sind das für Menschen, die sich so etwas ausdenken?”, und seine Stimme, als er das sagt, beinahe mitfühlend mit denen, die sich so etwas ausdenken, ist ganz klein.

Und auch

(Und auch dich kennt dieser Raum durch mich, kennt uns, und von Anfang an, kennt die Knospen und Wurzeln, die ersten sprossenden Silben des Gesprächs, das uns seither bis ins Körperliche hinein verbindet. Als ich schlaflos lag und die auf mich Ruhlosen herabblickenden Bücher bat, ihre Spiegelungen auch in der Scheibe, mir von dir zu erzählen. Hier war es. Und doch war es nicht hier. Es war nirgends. Es war in der Vergangenheit eines Ortes, der seine eigene Zukunft hatte, damals, wie wir die unsere, unbekannte.)

Aequinoctium

Letztes Ruder, wir leeren das Blau aus den Wimpern und Schöpfen.
     Was uns der Kranichzug ließ, schreibt uns den Tag auf die Haut.

Alle Wege führen zum selben geschlossenen Zauntor.
     Sterne wieviel er auch zählt, gibt sie der See nicht mehr her.

Winde bewohnen das Ufer. Im Bootshaus bechern die Wellen.
     Wärme, den klammen Puls, wandelt der Knöchel in Sand.

Solstitium

Juni, reiß mir die Hüllen vom Leib. Für Hände, die wohl tun,
     selbst unterm untersten Hemd, bin ich nicht nackig genug.

Nackt und nackter als nackt noch, je mehr deine Küsse mich suchen,
     bis ich so durch mich hindurch käm bei mir selber heraus.

Heilige Nacht

Vor dem Gelände, auf dem die Esel gehalten werden, hat eine Familie mit zwei kleinen Kindern eine Kerzenlaterne abgestellt. Der Mann schraubt eine Flasche zu, die Kinder scheinen etwas in den Händen zu halten, ich nehme an, sie füttern die Esel. Aber kein Esel ist zu sehen. Die Futterkrippe ist leer. Die schwarze Bremsenfalle steht da wie eine hohle Ritterrüstung. Eine offene Tasche lehnt neben der Laterne am Maschendrahtzaun, und als ich vorbeigehe, stimmt eins der Kinder ein Liedchen an, Alle Leut, alle Leut, gehen jetzt nach Haus. Alle Leut, alle Leut, immer wieder von vorne. Kurz darauf fängt es an zu regnen.

Solstitium

Weiter immer im Klang, als übten die Bäume das Atmen,
     kämen sich selbst zu Gehör, dämmernd, in Chören ein Chor.

Abend; im Auftrieb des Dunkels schwebend die Pulse der bleichen
     Larven. Im blinden Fleck tauschen die Schatten ihr Tuch.

Schneller und schneller die Zeit, das lippensiegelnde Dunkel.
     Rasch notiert noch der Schnee, was auf den Rand nicht mehr ging.