Pension Arnulfini

Du glaubst, dich für deinen Geruch entschuldigen zu müssen, ich aber mag dich am liebsten so verschwitzt, wie wir beide von der Wanderung kommen. Den ganzen Tag über bin ich dieser deiner Spur gefolgt, süß und herb zugleich und voller Versprechungen, und jetzt, Können wir uns ausziehen?, im Hotelzimmer, bist du einverstanden, ist die Rede erst gar nicht von Dusche und duftlosem Wasser, fallen die klebrigen Kleider, und alles, was sich Dreck nennt, bleibt in dem feuchten Haufen am Boden zurück, aus dem wir frisch und blitzsauber wie die ersten Menschen heraussteigen, aus Lehm geboren. Die Schuhe poltern in die Ecke. Aus dem Hosenumschlag fällt eine Bucheckerhülse.

Es ist das erste Mal für uns in einem fremden Bett, und es scheint fremder als die Wälder, als die Laublager, auf denen wir uns schon geliebt haben. Eine weiche Matratze, ein Gestell, das später ein bißchen rumpeln wird. Wir achten es nicht, und auch nicht, daß man uns, wenn man nur wollte, durchs Fenster sehen könnte, wir sind so vollkommen allein auf der Welt, wie man es nur gemeinsam sein kann. Wir sind die einzigen Augen, die einander in die Blicke geschraubt sind, die einzige Haut, die je an einer andern mehr gefühlt hat als sich selbst. Wir sind beide ein einziger Mund voller Salz, das aus dem Akt der Schöpfung übrig blieb. Dein Hals voll warmer Adern. Deine Hände voller Geschenke. Mein Körper fließt in deinen wie Milch. Ich sage dir, wie sehr ich dich will, und sage es doch nicht, denn die Worte hören Meilen vor dem auf, was ich fühle. Ich liege im Moos deiner Achseln, ich blinzle ins Laub deines Blicks, ich schenke dir mein Fell voller Heu.

Ich löse mich halb von dir, und um dich besser zu betrachten, kehre ich zu mir zurück, und wie ich, durch zitternde Tempelbrücken mit dir verbunden, über dir schwebe, da sind wir wie zwei junge Birken, die aus einem einzigen Stamm sich teilen, weiß, schimmernd, glatt, eins sind und zwei zugleich.

Und ich greife unter deinen schwebenden Kniekehlen durch und schaue auf dich, wie dein Antlitz sich immer schöner verzieht vor fassungslosem Staunen, und wie dein Blick, zwei starre Kiesel inmitten von fließendem Sand, mir meine eigene Fassungslosigkeit wiederschenkt, und bevor ich dir sage, daß ich gleich ein bißchen unbeherrscht sein muß, sage ich dir, will ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe, aber die Wörter lachen nur und geben glücklich auf. Oh, sei unbeherrscht, bitte, stammelst du, und ich schließe die Augen, um besser zu fühlen, mich, dich, mich durch dich, uns in uns, unsere Kehlen rufen ohne uns, das Bett rumpelt, aber wir hören es nicht.

Aequinox (21.9.2014)

Eifersucht habe ich nicht, ja, gegönnt sei dir jedes Vergnügen.
    Doch eine andere Not hält mich und läßt mich nicht los:
Denn, ob du schläfst oder wachst, oder denkst oder liest oder wanderst –
    wo du auch gehst und stehst, immer ist bei dir dein Leib.
Ob nun verschwitzt oder frisch, verdreckt oder rein nach dem Bade:
    Stets ist, wonach mich verlangt, anfaßbar nah deiner Hand.
Pflegen läßt er sich gern und macht dir beim Pflegen noch Freude –
    selbst auf dem stillen Ort hast du den Körper bei dir.
Was du auch tust oder läßt, du tust es mit deinem Körper,
    überall dient er dir, überall macht er dir Spaß.
Seist du im Walde allein oder gingst übers wimmelnde Forum,
    immer trägst du bei dir, was mich so herrlich entzückt;
noch unters engste Gewühle trägst du die heimliche Blöße,
    denn unter Schlüpfer und Hemd bist du doch alleweil nackt.
Nackt bist du auch unterm Linnen, des abends, wenn müd du im Bett liegst.
    Wunderbar ruht dann dein Leib, selig im eigenen Duft.
Wenn, wie es manchmal geschieht, du dann selbst mit dir selber zu Spiel kommst,
    streichelst du dich und bist gleich selbst die Gestreichelte auch.
Streicheln mag ich dich auch, nicht weniger, streicheln mich lassen,
    doch, wie das Leben so geht, sind wir nicht selten getrennt.
Während ich fern von dir bin, darfst du dir jedoch immer nah sein.
    Drum, weil du hast, was mir fehlt: muß ich dich neiden dir selbst.

Apollinarishütte

Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Premium-Wanderweg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben, und was oben am Weg, was auf der Landstraße sich nähert, vor sich geht, sich wieder entfernt, geht uns nichts an. Wir sitzen umschlossen von Holz und vor uns hängt Wildwuchs vorm Tal.
Wir sind an dem Ort, der uns schon von zwei früheren Malen kennt. Keine Umschweife, kein Essen und Trinken, nicht einmal der Form halber, unser Hunger, er ist ein ganz anderer, unser Durst ein lange, allzu lange nicht gestillter. Die Rucksäcke legen wir ab, wenden uns einander zu. Wir fassen uns bei den Händen, wir küssen uns und nehmen den Faden, der uns den ganzen Weg hierher zitternd verbunden hat, wieder auf wie ein unterbrochenes Gespräch – aus Küssen. Wozu die Lippen und die Zungen nicht alles gut sind, wir entdecken es wieder und wieder neu. In diesem Moment gibt es nichts zu sagen, was mit Sprache besser oder schöner oder poetischer zu sagen wäre, als mit der stummen Phonetik des Speichels.
Ab und zu lassen wir ab voneinander, schauen uns in die Augen, Stirn an Stirn. Schon haben wir die Brillen abgelegt, ist der Umkreis in wolkige Unschärfe gesunken. Ein Knacken, ein Rascheln: Wir lauschen. Waren da nicht Stimmen? Nein. Wir sind allein, allein in einem Kreis Unschärfe, der uns schützt wie eine Zeltplan. Wir wenden uns einander wieder zu.
Es gibt ein Wort von dir, das mich immer in verlegenes Entzücken versetzt. Du schöner Mensch, sagst du dann, und weil ich weiß, du meinst es so, macht es mich noch mehr verlegen. Jetzt zupfst du mir das Hemd aus der Hose, schiebst es mir hoch bis über die Brust und murmelst etwas davon, was du die ganze Zeit schon gewollt habest. Deine Finger sind warm vom Gehen. Im hölzernen, trockenen Schatten der Hütte leuchtet weiß mein Bauch hervor, rund und weich wie der Bauch eines ruhenden Kindes. Die ganze Zeit klingen Hammerschläge aus dem Tal herauf; Hunde bellen, als hätten sie uns gewittert; im Gebüsch zetern Vögel. Wir halten inne, lauschen. Einmal sind wir zwar nicht erwischt, aber heikel überrascht worden. Auch dieses Mal werden wir so eben noch Glück haben.
„Du schöner Mensch!“ sagst du und beugst dein Gesicht über meinen weißen, weichen Kinderbauch. Dein Mund ist noch wärmer als deine Finger.
Und während wir die Zeit vergessen, vergißt uns die Zeit nicht. Sie drängelt nicht, sie bummelt, wartet, läßt die Momente genau ineinanderfallen. Höflich und diskret teilt sie aus von sich, so daß uns genug von ihr bleibt, um aufzuknöpfen, was aufzuknöpfen, um abzustreifen, niederzureißen, was abzustreifen und niederzureißen ist, und während oben gerade der Wagen in den Parkplatz abbiegt, haben wir genug Zeit, um zueinander zu finden, und während oben der Wagen mit knirschenden Kieseln zum Stehen kommt, haben wir uns aneinandergedrängelt, an die Wand der Hütte gelehnt mit Faust und heiserem Atem, und die Zeit schaut genau hin, daß sich nichts überschneide und peinlich überlappe, die Zeit ist schamhaft und meint es gut mit uns, sie ist unsere Verbündete, unsere Komplizin, die wohlmeinende Amme an der Tür, ich habe dich umfaßt und drücke dir Küsse in den Nacken, während oben eine Wagentür zuschlägt, ein Jubellaut sammelt sich in deiner Kehle, während Schritte über den Waldweg herbeikommen, und bis wir zusammenzucken und die Beine unter uns nachgeben, sind sie schon auf den Pfad zur Hütte eingebogen; aber nichts stört uns auf, die Zeit verlangsamt dort den Gang, beschleunigt ihn hier, läßt unserer Lust die Dauer, hemmt drüben die Schritte, die sich erst nähern, dämpft die Stimmen, die erst dann aufklingen dürfen, wenn wir ermattet auf die Bank zurückgesunken und zu Atem gekommen sein werden; erst wenn wir die Augen zueinander aufgeschlagen, erst wenn wir uns geräuspert, Haar und Hemd in Ordnung gebracht haben; erst, wenn wir uns träge, der Wonne nachschmeckend, geküßt haben, erst, wenn niemand uns mehr etwas ansehen würde (es sei denn, er schaute sehr, sehr genau hin): Erst dann hören wir beide die Stimmen, deutlich jetzt und unbezweifelbar, und wie sich die Familie, zwei Erwachsene, ein Kind, vom Wege her im Rücken der Hütte, wie sie sich unserem Versteck nähern und endlich ins Blickfeld stürzen.
Später, da sitzen wir an der Bank im Freien, wird uns das alles wie ein Traum vorkommen. Die Straße ist still. Die Besucher haben sich umgesehen und sind wieder verschwunden. Niemand kommt mehr vorbei, so lange wir noch hier verweilen. Ein Traum. War da überhaupt jemand? Wir blinzeln einander zu, erwachend. Wir küssen uns beklommen, fast scheu. Nachdenklich kosten wir von den Mirabellen.
Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Weg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben. Wir küssen uns. Ein Vogel zetert. Im Tal bellen wieder die Hunde.

Dich, nackt, betrachten

Ich hätte innehalten können
Ich hätte auf dem Weg vom Tisch zum Bett stehenbleiben können. Ich hätte stehenbleiben können, das Glas in der Hand, verharren, warten.
Ich hätte, nackt inmitten des Zimmers, mit den Füßen in unserem vermischten Kleiderberg stehend, ein Glas Wasser in der Hand für dich, innehalten können, um dich zu betrachten.
Ich hätte es so machen können, daß kein Tropfen aus dem Glas gesprungen wäre. Ich hätte den Atem anhalten können. Ein Bein halb in der Luft. Auf einer Minute balancierend.
Aber wie leise ich auch gewesen wäre, wie behutsam ich es auch angestellt hätte: Du hättest es ja gemerkt. Du hättest gemerkt, daß auf einmal alles still wird und wie die Stille sich in die Zeit hinein ausrollt. Du hättest gespürt, wie die Stille sich um deine Nacktheit legt, um deinen Atem, um deinen Herzschlag, wie Du selbst in die Stille hineinwächst.
Und da hättest du von dem Buch aufgesehen und mich bemerkt, wie ich, nackt, ein Glas Wasser in der Hand, inmitten des Raumes stehe, um die Knöchel den weichen Berg Kleider geschlungen, dich betrachte und keinen Tropfen verschütte dabei.
Du hättest, nackt wie du warst, im Bett sitzend, zur Seite geneigt und auf den Ellenbogen gestützt, zugedeckt bis zur Hüfte, mich angeschaut und gewußt, daß ich dich anschaue.
Du hättest, nackt bis zur Hüfte, deine Brüste hell und zart wie Nestlingsvögel, dein Bauchnabel ein verspieltes „O“, gesehen, wie ich dich anschaue. Du hättest alles gewußt, und deine Nacktheit, deine süßen Nestlinge, wären nicht mehr dieselben, das „O“ nicht mehr ganz so verspielt gewesen. Denn sie wären von deinem Blick zu mir hin beherrscht worden. Deine Nacktheit hätte mich ihrerseits angeschaut.
Du hättest mich angeschaut, nackt hättest Du mich angeschaut, von einem Fleck Sonne gestreift, der deine Mamillen mit einem Schattenring umgab, und deine Nacktheit wäre nicht mehr bei sich selbst gewesen. Sie wäre eine Nacktheit gewesen, die plötzlich weiß, daß sie nackt ist. Die weiß, daß sie nackt ist und angeschaut wird und zuruckschaut. So eine Nacktheit.
Von einem angeschaut, der selbst nackt ist, und weiß, daß du weißt, daß du nackt bist, in diesem Moment. Mit einem Glas Wasser in der Hand, einen Fuß im Kleiderberg. (Kein Tropfen aus dem Becher sprang.) Ich glitt weiter, aus der Null eines Innehaltens in die Eins der Bewegung, streifte nur deine Nacktheit, nahm von ihr, soviel ich konnte in dem Moment, bevor sie sich selbst bewußt würde, und stellte das Wasserglas auf den Nachttisch. Dann beugte ich mich über dich und küßte dich.
Ich hätte den Uhren in die Zeiger greifen müssen, um nicht in der Zeit innezuhalten, sondern die Zeit selbst, um so diesen Moment in all seiner Dauer und deine selbstvergessene, unbeobachtete Nacktheit zu betrachten, wie sie eingebettet war in Licht und Schatten und das Dahinströmen der Zeit.
So war dieser Augenblick, aus der Null zur Eins, aus der fortlaufenden Bewegung in die weiter fortlaufende Bewegung, eine Folge von Momenten, ununterbrochen, Schwinge an Schwinge der Zeit; so war dieser Augenblick wie eine Buchseite, die der Wind umschlägt, bevor man das letzte, das erstaunlichste Wort lesen kann.

Heimat an Flüssen

Später gab es die Schleuse, gab es die Bahnbrücke, gab es Wege allein. Raben zogen im Wasser über die Spiegelungen der Tiefe. Einen Abend gab es, der am Gitterwerk der Eisenbahnbrücke festwuchs. Züge machten die Ferne hörbar. Irgendwann muß die Ferne zum erstenmal ein Geräusch gemacht und gelockt haben. An einem Abend überm Fluß vielleicht, auf einer Fahrt über die Brücke, im Herbst. Die Räder ratterten und verbanden das Hier mit dem Dort. Das muß die Zeit gewesen sein, da die Welt klein wurde, und indem sie schrumpfte, wurde begreifbar, wie groß sie war. Die Dinge wurden unvollständig und verlangten nach etwas, das sie wieder heil machte, sie wieder einfügte in den Zusammenhang der Welt. Was es war, das ihnen fehlte, das hast du erst Jahre und Jahre später verstanden.
Erwachsensein hieß, alleine zu sein an Flüssen. Erwachsensein war, kommen und wieder gehen, von einer Brücke herab auf den Kanal blicken. Einmal löste sich ein Totenvogel aus dem Nebel in den Uferpappeln, das hast du nie mehr vergessen. Die Schreie der Krähe hallten über dem weißgeseiften Wasser. Darüber wolltest du schreiben, aber es gelang dir nicht. Störrisch und mächtig waren die Dinge, Krähe, Nebel, Pappel, aber einzeln waren sie, und wehrten sich gegen Worte. Geschichten hockten an den Wurzeln der Dinge, aber wenn man ihr erstes Wort sprach, um sie zu erzählen, da verflüchtigten sie sich und wurden unerzählbar, wie die Rabenschreie, die der Nebel wegnahm, wenn er sich auflöste überm glitzernden Strom.

*****

Sommer, der erste Rausch, du hattest eine Flasche Mâcon gekauft, du brietest dir Fleisch und leertest die Flasche allein auf dem Balkon, die Eltern waren in Urlaub, zum ersten Mal warst du nicht mitgefahren. Du warst allein. Erhitzt und begeistert vom Wein, deiner Kühnheit und der Nacht, in der du ganz allein warst, bist du gegen Mitternacht zur Kanalbrücke gegangen, wild verlangend nach Bewegung, Strömung und Bildern. Du fandest einen stillen Strom, die Kette der Laternen ein zittriges Band unter Holunder und Weiden. Ein Fluß im Sommer, zur Nacht, und das Gefühl, am Anfang einer jeglichen Nacht zu stehen. Das Wasser sehr still, nur das Schwanken der Schatten darauf deutete auf sein langsames Strömen; das Dorf wie verlassen; kein Verkehr auf den Straßen, weder nah noch fern. Die Bäume auf dem Schulhof deiner alten Schule vollgesogen mit Laternenlicht.
Die Luft war warm, feucht, voller Gerüche. Du hattest Nacht und Fluß, du hattest Brücke und Lichter, du hattest die Welt und dich selbst für dich allein, und alles in dir drängte danach, Nacht, Fluß, Rausch, ja, dich selbst: zu teilen. Daß da niemand war, der die Welt, der dich mit dir teilen mochte, das machte dir damals Schmerz, einen Schmerz, den die Nacht, die schwimmenden Lichter, die einsame Brücke, den dir diese Stunde nicht erklären konnte, nicht verwandeln, nicht mildern. Statt daß du ruhig werden konntest an einem Augenblick, da Zeit mit Zeiten zu einem ruhenden Spiegel verschmolz, wuchs dir in dieser stillen Stunde nur ein umso größerer Schmerz, eine umso wildere Sehnsucht zu. Die Stunde genügte sich selbst. Sie brauchte dich nicht. Du aber genügtest dir nicht. Oder war es die Stunde mit allem, was sie enthielt, der du nicht genügtest?
Was blieb dir damals, als zu Hause schon halb im betrunkenen Schlaf die Nacht mit dir selbst zu teilen. Jahre später aber ist diese Stunde auf der Kanalbrücke dann noch einmal zu dir zurückgekommen, als du über sie schreiben wolltest. Heil war sie da geworden an der Zeit und am gelebten Leben, heil an der Erzählung, und du begannst zu ahnen, daß dir bei aller Sehnsucht in diesen Jahren das Alleinsein zutiefst gemäß gewesen sein muß, als ordentliche Verfaßtheit deines jungen Lebens.

In nemore

Unter Flaggen schlafen, ruhen im Wind über Berg und Tal und Burg, in luftiger Höhe, und beim Erwachen liegt der Tag immer noch ruhig in unserer Hand. Küsse, Küsse voll Wind und Sonne. Deine Finger liegen auf meiner Brust, erst auf dem Hemd, dann unter dem Hemd, und ich sage dir, daß ich dich will, abermals will ich dich, will dich mein Leib, ich küsse dich und sage es dir, und du: „Laß uns noch einmal ein Plätzchen finden, ja?“

Ein Plätzchen: flimmernde Sonne in der grünen Tiefe, ein helles Polster abseits des Weges. Stapfen durchs Unterholz, über Wiesen aus Springkraut, ausgerechnet, sich umdrehen, und dann ist der Weg, kein Weg mehr zu sehen, und der Wald hat uns aufgenommen in seine eigene Zeit. Eine Decke im Vorjahreslaub; nesteln am Schuhwerk, und wie du dann deine Unterhemden abgestreift hast, deine Brüste, wie sie in diesem weichen Baumlicht aufleuchteten, hellweiß abgesetzt deine Glieder, eine Corona leuchtender Häute in all dem dampfenden Grünbraun ringsum; die Luft, die mir von Kopf bis Fuß um den Körper streicht, diese ans Erschrecken grenzenden Verblüffung, daß wir uns tatsächlich nackig gemacht hatten, mitten in der großen, freien Welt, der kleine Schreck dabei, und das Entzücken, der Jubel und das hellwache Bewußtsein dieser Nacktheit: Wie mir meine eigene Blöße an deinem weißen Körper aufging: Und mit Herzklopfen vor Begehren habe ich mich neben dich gelegt, deinen andersnackten Leib in meine Arme genommen. Nie, noch nie, sind wir hinter Türen so nackt gewesen wie da in den weiten Hallen der Buchen, unter Rotkehlchen, Zaunkönig und Amsel, und brauchten uns nicht zu schämen.

Zwischen unseren Zehen krümeln Vorjahrsblätter. Trockenes mündet in Feuchtes. Haarfäden glänzen. Rings leuchtet und wedelt der Farn. Wir strecken uns aus, zwei Bündel zarter Glieder. Wie schön du bist. Dein Leib ein Loblied der Sonne. Deine Blicke sind voller Sterne. In der Farbe deines Schoßes findet sich die Farbe des Lebermooses wieder. Deine Haut riecht nach Heu und Thymian. Warm bist du und brennend, als ich zu dir komme. Unsere Blicke stürzen ineinander. Plötzlich haben wir es eilig, der Buchfink schmettert, Laub rutscht unter uns, der Wald nimmt uns auf wie eine offene Hand; ich flüstere deinen Namen, und das letzte, was ich sehe, ehe ich die Augen schließe und verschwinde, in einer Falte zwischen Himmel und Erde, zwischen Sphagnum und Aquilegia verschwinde, das letzte, was ich sehe, ist der überblaue Himmel, der sich in deinen weit aufgerissenen Augen spiegelt.

In prato

Die Blicke sind da. Überall sind sie, sie stehen auf Stielen am Ende von Schritten, hocken in den Hecken, stecken verborgen hinter der brillenlosen Brandung des Waldsaums. Wo der letzte Fußfall endet und die Stimmen verstummen, da sammelt das Dunkel im Holunder sie, dort blinzeln sie hinter Gras. Manchmal raschelt es. Ein Kiesel springt. Jemand lacht. Dann ist es wieder minutenlang still, bis aufs Summen von Insekten und das Zwitschern der Vögel. Blicke. Blicke auf uns. Blicke zucken, Blicke wispern, Blicke drehen sich im letzten Moment aus dem Augenwinkel weg. Kommt jemand?
Niemand. Wir sind allein mit uns und den Blicken ringsum. Und dann fällt das Hemd, gleitet die Hose ins Gras, ein umgedrehter Hut nimmt die Brillen auf, wir sind nackt und kurzsichtig, und plötzlich ist es gleich, ob jemand kommt.
Wir ducken uns unter allem weg, was Blick heißt. Wir ziehen die Wiese um uns wie ein Tuch und machen uns klein darin, schrumpfen allen Augen davon, werden winzig hinter Mauern aus Gras, hinter Zäunen aus Sonne, und fallen, wir küssen uns, wir trauen uns.
Und dann gibt es nur noch zwei Augenpaare in der Welt, zwei Blicke, die ineinander stürzen. Wir atmen, wir fliegen, wir umhüllen uns miteinander und verkriechen uns ineinander, und die Lust trägt uns an einen anderen Ort, einen unerreichbaren Ort inmitten der erreichbaren Wiese, darin sind wir allein, allein zu zweit, zu zweit unsichtbar und und unsichtbar geborgen inmitten des riesigen Sommers der Welt.

Widertonmoos

wo man vom widertonmoos spricht,
vor wonne frieren.

die ferne nach ihren farben
befragen über der einsamen lärche.

mit klammen lippen
atemwegen folgen, im

glücksgefröstel das hemd
hochschieben, ganz

über alle wipfel, daß
warme haut bis zum rhein reicht.

zwischen strom und stromern die wege
in küssen messen und die küsse danach
wie weit sie wohl tragen

(je süßer desto weniger)

Catull V (L. küssen)

VIVAMUS mea Lesbia, atque amemus,
rumoresque senum seueriorum
omnes unius aestimemus assis!
soles occidere et redire possunt:
nobis cum semel occidit breuis lux,
nox est perpetua una dormienda.
da mi basia mille, deinde centum,
dein mille altera, dein secunda centum,
deinde usque altera mille, deinde centum.
dein, cum milia multa fecerimus,
conturbabimus illa, ne sciamus,
aut ne quis malus inuidere possit,
cum tantum sciat esse basiorum.

Wir wollen, Lesbia, leben und uns lieben,
und mißgünstiges Reden strenger Greise
soll uns nach Herzenslust gestohlen bleiben.
Allein die Sonne sinkt und steigt doch wieder:
Wenn unser kurzes Lebenslicht gesunken,
so schlafen wir in Finsternis für immer.
Oh, gib mir tausend Küsse, danach hundert,
darauf ein zweites Tausend, nochmal hundert,
und sogar nochmal tausend, nochmals hundert.
Und dann, nach abertausend Abertausend,
verzähl’n wir uns, damit wir’s selbst nicht wissen,
und keiner sie uns übelwollend neide,
die Küsse, wenn er weiß, wieviel es waren.

Dann hebt sie den Arm, und

Den Ausgang nehmend von einer vor Jahren angestellten Beobachtung von Esthers im Aufwärts eines Griffs zum Haarband flüchtig geöffneter sommerlicher Achselhöhle, deren üppiges, blondes, in einen Rotton hinüberschillerndes Haar, indem es weit den Oberarm hinauf und die Flanke hinabwucherte, die Grenzen seiner kleinen Behausung förmlich schien überwinden zu wollen (wie da die Locken unter dem Saum verschwanden, hätte man sich vorstellen können, die ganze Brust sei behaart) – ausgehend von diesem Anblick also und indem ich vom Haarwuchs in Esthers Achsel auf den Haarwuchs am eben sichtbar gewordenen Ort schließe, stelle ich mir hier ein ähnlich wildes, ausuferndes, die Beschaffenheit des ersteren gleich einem Thema wiederaufnehmendes Wuchern vor, und daß Esther zu der Art Frauen gehören müsse, deren langes Venushaar schenkelwärts bis in die Schrittfalten weit aussprießend infolge solcher Üppigkeit (besonders beim Spreizen der Schenkel) ein Rechteck bilde, und sich in der Form eines gebogenen Trapezes vom Unterbauch bis zu den Gesäßbacken erstrecke, eine Verhüllung, ein alles darunter Liegende verbergender dichter Pelz langer, wie elektrisch vibrierender Flechten, darin der gedämpfte Lampenschein in mal herabführenden mal einander kurzschließenden Drähten schimmere. Und wie um mir recht zu geben in meinen Schlüssen und meine Verknüpfungen zu bekräftigen, hebt Esther in diesem Augenblick den Arm hinter den Kopf und entblößt mir abermals, als erinnere auch sie sich und knüpfe nun an jenen Anblick vor zwanzig Jahren an, ihre Achsel (rotschopfig und üppig behaart wie je) und zitiert auf diese Weise nicht nur die eine Stelle mittels der anderen; zitiert auch den damaligen Augenblick der unabsichtlichen mit dem jetzigen der beabsichtigten Entblößung, und umgekehrt; zitiert unser ganzes damaliges Selbst mittels dem, was wir jetzt an uns und aneinander sind und gleich noch mehr sein werden (oder umgekehrt?); und verbindet damit die vergangene Stunde mit dieser zu einer langen, umwegreich versponnenen Erzählung: unserer Geschichte, die wir uns eben jetzt anschicken, zu Ende zu erzählen.

Der kritische Moment

(Einen Augenblick bleibt das noch mittig haften, zögert der Stoff, sich ganz zu lösen, und fast möchte ich glauben, ein leise reißendes Geräusch zu hören)

Wie sie das dann achtlos fortwirft. Fahrig, in Hast, die Stirne dabei in Falten gelegt wie von einem leichten Unwillen: Das überrascht zuerst meine Vorstellung, aber dann, ja, dann ist es ganz schlüssig, warum das vor sich geht, wie es vor sich geht, und was es bedeutet, und daß die Achtlosigkeit nur vermeintlich ist: Wie sie das Stück Stoff zusammenknüllt und dann fort damit, gewollt beiläufig, dabei ganz konzentriert, als lege sie mit diesem knappen, weißen (ja, Esther trägt weiß), in der Abstreifbewegung sich verknäuelnd eingeschrumpelten Stück Stoff auch alle Schamhaftigkeit selbst ab, oder noch anders: als entledige sie sich zugleich mit diesem letzten Hüllsamen auch des Heiklen der Nacktheit selbst, und daher rühre auch die Hast beim Fortwerfen (nicht zur Seite aufs Bett, nicht ans Fußende, sondern ballistisch weit weg, auf den Boden, in die Zimmerecke, herunter, heraus, fort, außer Reichweite), als entblöße der Stoff in seinem Verschwinden gar nichts; sondern als sei er vielmehr selbst das Entblößte, und böte dieser Schlüpfer die eigentlich schamverletzliche, unaussprechliche Stelle und den Punkt jeglicher Übertretung dar, indem er vielleicht alle Schamlast stellvertretend auf sich nehme und alle Beteiligten (mich wie sie) in seiner Vernichtung davon entbinde: Und so, stelle ich mir in einer Art Rückblende vor, hat Esther das Höschen auch eben ausgezogen: geschwinde, ungeduldig zerrend, als er verzwirbelt an der Ferse hängenblieb, in einer ruckartig reißenden Bewegung, die sich ihrer selbst nicht bewußt sein will und es aber doch auf dringliche Weise ist; so wie man schnell in kaltes Wasser hineinläuft, und sich bemüht, tunlichst nichts zu denken, hastig, sich selbst überrumpelnd, bevor man es sich noch einmal anders überlegen kann und Schwung und Mut verliert, und es dann doch nichts wird mit dem Schwimmen: so auch jetzt Esther beim Ausziehen. Würde sie noch einen Augenblick länger dazu gebraucht haben, hätte sie den Schlüpfer wieder angezogen. Also schnell herunter und weg mit dem Ding, aus den Augen, aus dem Sinn. Zur Logik dieser Vorstellung paßt, daß sie niemals zugelassen hätte, daß ich sie ausziehe; ein letztes Verbot muß bestehen, eine letzte Nacktheit unverhüllt bleiben, und so darf auf dieses letzte Kleidungsstück vor der vollständigen Nacktheit nicht einmal ein kurzer Blick von mir fallen.

(Deshalb hält sie mir auch während des ganzen Vorgangs den Blick fest. Als würde sie in der Betrachtung des Schlüpfers meine Aufmerksamkeit erst recht dorthin lenken: Sieh woanders hin! Sieh mich an!)

(Ihr verschmitztes Lächeln dann (wie aufatmend, daß nun das Schwierigste geschafft, der kritische Moment bemeistert sei), während sie den Kopf, mir zugewandt, aufs Kissen, und die angewinkelten Knie auseinanderfallen läßt.)

Und ich weiter in meiner Vorstellung meinen Blick auf das, was der Schlüpfer, nun selbst schamhaft in der Zimmerecke versteckt, mir zum Anschauen bloßgelegt hat (bereitwillig, auch wenn er einen winzigen Moment dabei wie eingeklemmt hat zögern wollen), auf Esthers von aller Hemmung nunmehr befreite, infolgedessen ohne Scham (aber nicht schamlos) sich darbietenden Scham.

Quelle

Pulchra enim sunt ubera quae paululum supereminent et tument modice, nec fluitantia licenter, sed leniter restricta, repressa sed non depressa.

“Schön sind nämlich die Brüste, die wenig hervorragen und maßvoll schwellen, nicht freizügig wogen, sondern sanft eingefaßt sind, zurückgehalten, aber nicht eingedrückt.”

Das Zitat stammt aus Umberto Ecos Name der Rose, wo es dem Theologen Ubertinus von Casale (1259–1328) zugeschrieben wird. Der gute Ubertin scheint also eher flachen Brüsten zugeneigt gewesen zu sein. Damit entspricht seine Vorliebe dem Schönheitsideal des Mittelalters:

Übrigens hat Eco sich über dieses Thema (Schönheit im Mittelalter) auch wissenschaftlich ausgelassen.

Farbenlehre

Welche Farbe?“ haucht die süße M.-A., und ich bin sprachlos. Welche Farbe?
„Grün oder schwarz?“ flüstert sie und streckt mir, ohne rot zu werden, in jeder Hand ein streichholzbriefgroßes Päckchen hin.
Von Anfang an habe ich es gewollt. Wochenlang habe ich mich nicht getraut, habe gezögert, den ersten Schritt zu machen, mir Woche für Woche aufs neue Mut zugesprochen, wieder verzagt, mir am Ende alles aus dem Kopf schlagen wollen und doch wieder Hoffnung geschöpft, bis ich endlich all meinen Mut zusammengekratzt und sie einfach gefragt habe. Wie soll ich mein Glück beschreiben, als sie schlicht und ohne Umschweife ja gesagt hat? Und da sind wir nun. M.-A. räkelt sich. M.-A. weiß genau, wie sie sich räkeln muß, damit ihre vierzehnjährigen Brüste bestens zur Geltung kommen. Auch anderes an ihrem Körper kommt hervorragend zur Geltung, wie ich sehe. Und jetzt, so kurz vor der Erfüllung meiner Wünsche – muß sie Umstände machen und mir diese Frage stellen!
Was mich aus der Fassung bringt, sind nicht die bestens zur Geltung kommenden Brüste. Mag sein, davon schwindelt mir. Nicht das ist das Problem. Mein Blick geht zwischen M.-A.s kindlichen Händen hin und her. Das Problem ist, daß ich mich nicht entscheiden kann. Was ist das aber auch für eine dumme Unterbrechung, fast muß ich lachen, weil mich das alles an etwas erinnert, aber blöderweise auch noch an etwas anderes, nämlich daran, wie ich das erste Mal mit E. schlief, und sie mir kurz vorher die gleiche Frage gestellt hatte, nur mit anderen Farben, „Rot oder blau?“
Warum muß ich das entscheiden, kann das nicht bitte M.-A. für uns regeln? Ok, sie ist vierzehn, da ist man vielleicht ein bißchen nervös, hat Angst, etwas falsch zu machen, weiß nicht, wie es funktioniert, kann nicht so gut damit umgehen. Aber ist es so schlimm? Kann sie nicht einfach eine Packung aufreißen, das Ding herausholen und alsbald seiner Bestimmung zuführen? Ich helfe ihr auch dabei! Die süße, die freche, die forsche M.-A., die doch sonst immer weiß, was sie will, und es kann doch nicht sein, daß sie ausgerechnet jetzt pienzig wird und die Entscheidung mir überläßt!
Aber genau das tut M.-A. Regelt nichts und schweigt und ist süß und vierzehn und überläßt mir alle weiteren Entscheidungen, wobei sie geheimnisvoll lächelt, während sie die Verpackung leise zwischen den Fingern knistern läßt. Mh? Wie knistert das? Sie tut so, als lausche sie versonnen dem Geräusch nach. Knistert es vielleicht grün? Oder schwarz? Als gäbe es nichts Wichtigeres als diese Frage, legt sich ihre Stirn in spielerische Falten. Ich schweige. Mensch! Sag du doch einfach! Aber M.-A. sagt nichts. Sie räkelt sich. Die Wimpern klimpern, die Finger reiben, die Verpackung raschelt. Aufmunternd: Na los, entscheide dich, nur Mut! In den Spalt zwischen den Reihen alabasterweißer, ebenmäßger Zähne zwängt sich eine rosige Zunge. Jetzt oder nie! Ich bin nicht mehr der Jüngste, wenn das noch lange dauert, verliere ich die Lust und alles ist hin. Aber ich schüttele ratlos den Kopf. Grün oder schwarz, spielt das eine Rolle? Grün, schwarz, blaßviolett, infrarot, ist doch egal jetzt in diesem heiklen, in diesem zarten Augenblick! Nachher ist das Ding drin, dann sieht man doch eh nichts mehr davon!
„Der Geschmack ist anders“, erklärt M.-A. achselzuckend, und mir wird abwechselnd heiß und kalt. Geschmack? Aber – wäre es da nicht besser, M.-A. selbst würde …
Da stemmt M.-A. die Hände in die Hüften. „Also hören Sie mal! Wer wollte denn den Kaffee?“ Dann kneift sie die Augen zusammen und hält sich abwechselnd das eine, dann das andere Päckchen vors Gesicht. „Espresso legg … leggero oder L-Lungo forte?“ entziffert sie den Verpackungsaufdruck und stolpert dabei allerliebst über das legg … leggero, anmutig noch im Stottern. Sie spricht das gg falsch aus. Anmut im Stottern und in der fehlerhaften Phonetik.
„Oder soll ich lieber einen Tee machen, bevor wir anfangen mit Latein?“
Mit den Päckchen wedelnd, steht meine Nachhilfeschülerin in der Küchentür. Pulchra enim sunt ubera quae paululum supereminent … Sie verdreht die Augen, seufzt, lehnt sich an den Türrahmen. … et tument modice. „Nun?“, drängt sie sanft, und ich schlucke trocken und antworte, „Rot“.

Wunschlos glücklich

Brief von EH. Als wäre es die Antwort auf eine Frage, die ich nicht gestellt habe: „Ich lebe meine sexuellen Wünsche aus. Das kann man schließlich auch in einer Beziehung, in der man sich absolut vertraut.“
Dieses vielerwähnte Vertrauen, ich verstehe das nicht. Was meinen die Leute nur immer damit? Schließlich kann man einander vertrauen und dennoch andere Wünsche haben. Das Wünschen hat mit dem Vertrauen nichts zu tun. Man kann sogar einander vertrauen und dabei untreu sein. Kein Partner kann alle Wünsche erfüllen. Und wenn er es doch kann, diesen einen nie: ein anderer zu sein.

Beim Blick auf die Terrasse gegenüber

Auf der Terrasse gegenüber, umzingelt von Rosen: Eine junge Frau im grasgrünen Bikini, so knapp, daß es einer vollständigen Nacktheit gleichkommt, einer Nacktheit, die insofern ungewohnt und atemberaubend ist, schockierend fast, da sie in schüchternem und zugleich selbstverständlichen Gegensatz steht zu der gewöhnlichen, ubuquitären Nacktheit als Institution, eine Korrektur all der stumpfsinnig perfekten und puppenhaft-einförmigen Nackten oder Bikininackten, denen man ständig im öffentlichen Raum begegnet, auf Plakaten, in Zeitschriften, in der Werbung, ein Widerpsurch gegen diese gebräunten, einheitsschlanken Reiseprospekthotelstrandnackten, deren Makellosigkeit etwas ernüchternd Unwirkliches hat und daher auch keinerlei Assoziationsräume aufreißt, nichts Bezauberndes an sich hat, etwas Verlockendes schon gar nicht. Wie anders dagegen diese Bikininackte auf der Terrasse, in einem gnadenlos ehrlichen Licht stehend, das jeden Quadratzentimeter Haut preisgibt, wie sie, eben noch mit dem Zusammenlegen einer Decke beschäftigt, sich umdreht, ihre Rückseite zeigt, und, für einen Augenblick, während die offene Tür ihre Frontseite schräg einspiegelt, doppelt sichtbar, unter den Schatten der Terrassentür verschwindet. Atemberaubend ist diese Nacktheit, weil sie in ihrer Hinfälligkeit, Verletzbarkeit und ihren kleinen Fehlern so viel echter ist als jede photographisch inszenierte Haut es auf Hochglanz je sein könnte, ja, überhaupt erst echt durch das schwellende Fleisch, die leisen Einschnürungen von Höschen und Oberteil, das Wackeln der Muskulatur beim Ausschütteln der Decke, das Ausladende von Hüfte und Po und die feinen Faltungen und Striche der zarten Orangenhaut, das alles sind Zeichen der Echtheit, und erst darum ist diese Frau schön, im Sinne von: begehrenswert schön, erst durch diese Fehler (aber wieso sollte man Orangenhaut und Speck Fehler nennen, wodurch sind das Fehler, und wäre es nicht richtiger, sie Perfektionen, Perfektionierungen zu nennen?) löst ihr Anblick eine Lawine von Assoziationen, einen Strauß sehr konkreter, lebendiger und, in ihrem Verweis auf ein Nicht-Statthaben von Realität, schmerzlicher, verlustaufzeigender Phantasien aus:

Ich finde diese Verdichtung und Schwere des Leiblichen wieder in bestimmten Photographien, die, quasi absichtslos geschossen, etwas von der faszinierenden Alltäglichkeit eines normalen Körpers einfangen; wo die dort Abgebildeten so sehr und so deutlich Körper sind wie jene Hochglanzfigurinen bloße Abbilder, bloße Symbole-von und Verweise-auf sind, die Abstraktion nur von etwas Körperlichem, eine Idee; Gestalt, aber ohne echten Leib, ohne Fußabdruck im Sand, über den sie so sportlich dahinjagen (so abstrakt, daß auch der Sand und das Meer nicht ganz echt sein wollen unter dieser bloßen Idee von Füßen). Echte Pornographie wird denn in meinen Augen auch erst dort möglich, wo ein Anhauch des Echten gelingt, wo das wie zufällig gefundene Dargestellte den Eindruck von Ausdünstung, von Gewicht und taktilem Reiz zu vermitteln, nahezulegen, zu beschwören vermag; beim Amateur; bei der zufälligen, unprofessionellen Nacktheit, bei der nicht zur Schau gestellten, absichtslosen und ihrer selbst womöglich gar nicht bewußten Nacktheit, so wie sie nur der Voyeur je zu sehen bekommt. Solcherart aufgezeichnete und betrachtete Frauen sind aus Fleisch und Blut, müssen duschen und ihre Wäsche wechseln, sie sind müde, fühlen sich stark, waren heute morgen auf der Toilette, haben Stuhlgang, Gänsehaut und Hunger: Sie sind echt. Sie stehen, wie alles Lebendige, immer auf der Kippe zum Verfall, zum Gestank, zum Tod. Sie sind empfindliche Wesen, leicht verderblich, in metastabilen Gleichgewichten geborgen. Sie sind sterblich und voller Leben, sterblich und kostbar; und schön.

Esther

Wie schon einmal grübele ich über einem Brief. Das letzte Mal quälte ich mich mit einer Antwort auf ihre so beiläufige, in aller Harmlosigkeit (und in einer Parenthese) eingestreute Offenbarung, das Wort ist bereits eine Übertreibung. Wie sollte ich es sagen, ohne es zu sagen? Ich habe Dir auch so manches nicht verraten, schrieb ich damals zurück, und daß ich es schade fände, daß ich sie damals unbedingt hatte beeindrucken wollen – und daß mir das auch noch gelungen sei. Deutlicher wurde ich nicht. Ich weiß nicht die richtigen Worte, schrieb sie zurück, Du gehörst zu meinem Leben.
Ich weiß nicht, was für eine Antwort ich erwartet hatte. Ich weiß nicht, was ich von dieser merkwürdigen Freundschaft in Zukunft erwarte. Ich weiß nicht, was ich mir verspreche, was ich hoffe, was ich mir versprechen und hoffen darf. Es gibt nichts nachzuholen, man kann nichts nachholen. Und es ist ja überhaupt die Frage, was nachzuholen wäre, wenn wir es denn könnten. Ich sage „wir“ und meine mich. Ich weiß nicht, wie es für sie ist. Ich weiß nicht einmal, was für eine Bedeutung Esthers damalige Parenthese hat, hatte, in jenem verschiegenen Sommern gehabt hat. Eine meiner Vorstellungen ist sehr kühn, sie sieht mich schon an ihrer Seite in H., in einer Gegenwart, die ich damals vorstellungsweise mit meinem Handeln bestimmt hätte. Ich wäre an jenem Abend näher an sie herangerückt, hätte mehr Mut gehabt, hätte unser Schweigen als Brücke aufgefaßt, als etwas, das ermöglicht, nicht als etwas, das zwischen uns steht. Ich hätte ihre Hand genommen, ein ermutigendes und zugleich bittendes oder fragendes Geräusch gemacht, und das wäre der Augenblick gewesen, der Angelpunkt, aus dem alles weitere geflossen wäre, und die ganze Zukunft, die jetzt nicht meine Gegenwart ist, wäre anders gewesen. Zusammen mit zwei Kindern in einem Haus in H., eine sehr kühne Vorstellung, denn das war ich damals nicht, es hätte nicht funktioniert, ich hätte das (oder auch nur die Vorläuferzeiten, das, was dorthin geführt hätte) nicht gewollt, ich hätte es nicht einmal gekonnt. Trotzdem ist da ein Schmerz, das Gefühl, etwas verloren zu haben, und sei es noch so imaginär.
Eine weit weniger gewagte Ausmalung der alternativen Zukunft-Vergangenheit-Gegenwart sieht so aus: Wir hätten damals, zwei erwachsene Menschen, die wissen, was sie tun und daß sie wollen, was sie tun, unsere gegenseitige Anziehung ernst genommen oder ihr nachgegeben, der Anziehung und der Neugier, und miteinander geschlafen, ein- oder vielleicht sogar mehrere Male, ohne daß daraus Folgen entstanden wären, weder schöne noch schlimme. Ich weiß, daß so etwas gutgehen kann, daß solche Beziehungen wieder beendet werden und zurückkehren können zu ihrer älteren Verfassung, und dabei dann noch eine große Bereicherung erfahren haben, ich habe das erlebt; es war nicht einfach, aber am Ende gut, sehr gut sogar, für beide.
Und das ist es, was nachholbar ist. Es ist möglich, und es bleibt möglich, solange wir leben. Es ist weiterhin und immer schenkbar. Denkbar ist es für mich immer gewesen, und diese Denkbarkeit hat jetzt vor dem Hintergrund jenes in Parenthese gemachten Geständnisses (unheimlich anziehend … als Mann) in Esthers vorletztem Brief eine neue, beunruhigende, auf Verwirklichung zielende Beweglichkeit erhalten.
Doch, ich weiß, was ich mir verspreche, ich weiß, was ich hoffe, was ich will. Es ist sehr einfach. Ich will mit Esther schlafen. Ich will jetzt nachholen, was wir uns damals versagt haben (oder wofür wir nicht mutig genug, nicht erwachsen genug gewesen sind, oder wovon wir geglaubt haben, es nicht zu dürfen, vielleicht, weil es unsere Freundschaft gefährden könnte; wofür wir nicht frei genug waren). Und eigentlich wäre es ja gar kein Nachholen. Es wäre einfach etwas, zu dem wir lange gezögert, und wofür wir uns jetzt endlich entschlossen hätten, weil wir genug innere Freiheit und Unabhängigkeit erlangt haben, und es würde sofort geschen, wenn auch Esther es wollte.
How can she ignore my available condition? geht mir ein Liedtext durch den Kopf. Und so ringe ich wieder mit einem Brief, mit einer Formulierung, die nichts ausspricht aber auch nichts verschweigt; suche nach Worten, die per Auslassung auf eine deutliche, unmißverständliche Weise aufscheinen lassen, was sie nicht ausschließen.

Esther

In dieser Phantasie beschäftigen mich als erstes ihre Socken. Es sind weiße, flauschige Socken, Frottée, oder Tennissocken, und in dem Moment, wo der Film einsetzt, trägt sie nicht viel mehr als diese. Aber darum, also um ihre unbedeckten Körperstellen, geht es zuerst gar nicht, es geht nur um ihre Füße in den weißen Socken. Diese Socken sind leuchtend weiß, sauber, frisch, aber getragen, nicht gerade angezogen, die ganze Situation ist die des umgekehrten Vorgangs, nicht des Anziehens, oder der Unterbrechung des Anziehens, sondern seines Gegenteils. Das meiste fehlt schon. Ich nehme an, sie trägt noch den Schlüpfer, über dessen Farbe, Material oder Beschaffenheit die Phantasie an diesem Punkt keine Aushünfte erteilt, sie verweilt bei den Socken, die, wie gesagt, sauber und frisch sind und doch etwas Gebrauchtes, etwas In-Anspruch-Genommenes an sich haben, das eine innige Verbindung zu ihrer Trägerin aufzeigt; sie sind kein zufälliger Fremdkörper, den man sich am Morgen überstreift und der zunächst auch fremd bleibt, unzugehörig, gewöhnugsbedürftig, wie auch er, der Gegenstand, die fremde Hülle, sich erst an uns, an die Trägerin, gewöhnen, sich ihr anverwandeln muß: Diese weißen nicht mehr ganz flauschigen Socken haben die Fremdheit überwunden und sich ihrer Trägerin bereits anverwandelt, und so sehen sie aus, so fühlen sie sich an (würden sich anfühlen, wenn man sie berühren würde), man merkt ihnen an, daß Esther sie getragen hat, einen langen Tag, eine lange Reise, daß sie über die Stunden dieses Tages hinweg, auf Bahnhöfen, in Zügen, auf Straßen, in einem Café, ein intimer Teil Esthers geworden sind, indem sie ihr so lange so nahe waren, daß sie Esther begleitet haben, daß Esther sie heute morgen mit einem bestimmten Gedanken (zu dem vielleicht auch ein Bild oder eine Vorahnung, wenn nicht sogar der Wunsch oder das Verlangen nach einer Situation gehört hat, wie die, in der sie sich jetzt mit mir befindet, nämlich, fast entblößt, nach Ablegen einiger Quadratzentimeter Stoff und mit der festen Absicht körperlicher Vereinigung, bald in den Zustand gänzlicher Nacktheit überzuwechseln), daß Esther sie also heute morgen mit solchen Gedanken oder unter anderem auch solchen Gedanken über ihre Füße gerollt hat und daß sie dann die ganze Zeit bei ihr waren, während Esther auf der langen Fahrt Zeit genug hatte, dieses und jenes zu denken, zu ahnen und zu wünschen, und daß sie die ganze Zeit diese weißen Socken trug, so lange, daß der Stoff ein bißchen ihren Geruch angenommen und damit etwas wie ein Fluidum von Esthers Existenz, ihrem Wesen, nicht allein als Körper, sondern auch als wünschendes und hoffendes Wesen, aufgesogen haben. Das beschäftigt mich sehr, wiewohl so etwas ja nur Sekunden dauert in der Realtität, wo wir es meist eilig haben, die Socken von den Füßen zu streifen (ich ihre Socken). Mich beschäftigt, wie Gegenstände, Kleidungsstücke zumal, etwas von der Person in sich aufnehmen, die sie trägt, ich meine nicht allein das offensichtliche, den Geruch, die Wärme, die Ausbeulung von Knöcheln und Gelenken (auch umgekehrt fasziniert mich der Eindruck, den Kleidung auf die Trägerin ausübt, die Rillen, Muster Streifen, Falten und Abdrücke von Strickmaschen auf der leicht geröteten warmen Haut), sondern auch in der Vorstellung, in der ideellen Verbindung, die der Stoff, das Gewebe, das Material mit Haut und Fleisch oder Haar eingegangen ist, einfach nur, indem diese unbelebte Materie der atmenden Haut so nahe war, daß sie fast eins geworden sind, bis zu dem Moment, wo sie sich in einem elektrisierenden Knistern wieder voneinander trennen, so wie jetzt, während ich in meiner Phantasie die Socken langsam von Esthers Füßen schäle.