Es ist kaum glaubhaft, doch tatsächlich dreht sich das Gespräch bei Tisch zwischen Chr. und den Eltern um Gesundheit. Cholesterinwerte, Thyroxinwert, Statine. Das volle Programm. Natürlich wird auch über anderes gesprochen. Aber in den Ansätzen ist es genau das, was meine Eltern einmal belustigt verachtet haben. “Alte Menschen sprechen fortlaufend über nichts anderes als Krankheit”, haben sie immer halb amüsiert, halb betrübt festgestellt. “Wer da noch nicht krank ist, wird es.” Und mein Bruder, paar Jahre jünger als ich, fängt jetzt schon an, Dinge gewandt im Munde zu führen, deren Namen auf -itis und -ose enden. Das Paradox ist natürlich: was man vermeiden will, um genau darum muß man sich kümmern. Wer gesund bleiben will, muß sich, wofern er keine 20 mehr ist, mit Krankheiten beschäftigen. Wieder einmal stelle ich fest, an Gesundheit freut sich nur, wem sie selbstverständlich ist.
Kategorie: Werke & Tage
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Oft habe ich gedacht, ich bin zu spät geboren worden. Zehn, fünfzehn Jahre eher, und ich wäre Professor geworden, weil es die natürlichste Sache der Welt gewesen wäre (so wie es für viele halbwegs begabte Leute eine Generation vor mir die natürlichste Sache der Welt war, sie sind in ihre Lehrstühle quasi hineingeschlittert, wenn sie das wollten, die meisten wollten sowieso nicht). Aber das ist ein Irrtum. Ein paar Jahre eher, ein paar hundert Kilometer woanders, und ich wäre nicht einmal aufs Gymnasium gegangen. Oder hätte mir an irgendeinem erzkonservativen Establishment die Stirn blutig geschlagen. So aber hatte ich das Glück, es nicht selbst tun zu müssen, sondern die Errungenschaften der blutigen Stirnen der 68er-Generation voll genießen und auf eine Schule gehen zu dürfen, wo das halbe Kollegium, heute würde man sagen, links-grün versifft war. Ich spreche mit einer Wandergefährtin darüber, und sie meint dazu, dann wäre ich eine Generation eher wohl ein sehr guter Realschüler geworden. Wahrscheinlich. Aber dabei wäre ich intellektuell verhungert. Alles, was ich gut gekonnt hätte, hätte mich nicht gereizt. Ich wollte immer etwas, das zu groß war für mich. Diese Feststellung berührt noch gar nicht den Ehrgeiz und das Geltungsbewußtsein. Ich wollte als Person meinen intellektuellen Bedürfnissen genügen. Zwar war ich auf dem Gymnasium. Aber egal, in welchem Maßstab, ich habe immer über die Verhältnisse meines Talents leben wollen. Meine intellektuellen Bedürfnisse waren zu groß für meinen Intellekt.
Das einzige verbliebene Licht. Das Pilotlämpchen einer Türschelle hängt in der Nacht. Es schwebt ohne Verbindung zu stützenden Strukturen, gehalten nur von den Strängen der Dunkelheit. Ein verlorener Posten, nur noch von Pflicht und Durchhalten am Leuchten gehalten. Dauern wird es, bis sich Mauern darum herum materialisieren. Ankämpfen gegen die Traurigkeit, der letzte zu sein. Sich einbilden, man wäre der erste. Der Wind läuft eingebildeten Schritten hinterher. Hinter unsichtbaren Garagentoren sterben vielleicht Hunde.
Phoebe
Der Mond, fast voll, weißlich und gequetscht, über der schwarzen Kante einer Photovoltaikanlage. Ich verringere die Belichtungszeit, bis die Narben und Schrunden des gequälten Trabanten hervortreten wie der Leib eines alten Soldaten. Ich mache mein Bild, aber was im Sucher erscheint, hat nichts mit der eisigen Wirklichkeit des Gestirns zu tun, die Silhouetten der Gebäude, über denen es steht, die Dächer, die Tiefe des Bahnsteigs, das alles versinkt in dunklen Flächen, überläßt der leuchtenden Kugel darüber die Bühne. Und dieser Himmelskörper, keine Sonne, nur zu geliehenem Leuchten imstande und gerade in diesem Leihen ein Meister, steht über dem Dach, als wolle er alle unsere Bemühungen, uns die Sonne dienstbar zu machen, verhöhnen.
Vom Trösten
Im Traum kommt nachts oder spätabends meine Mutter in mein altes Zimmer in Inseldorf. Ich habe schon geschlafen, sie zieht wortlos den Rolladen hoch. Eine fürchterliche Angst befällt mich. Etwas stimmt ganz und gar nicht. Sie verbirgt etwas vor mir. Am Rand nehme ich war, daß das Fensterbrett voller Kakteen ist. Ich flehe meine Mutter an, daß sie mir sagt, was los ist, aber sie schweigt.
Warum habe ich diesen Traum? Und nimmt dieser Traum nicht ein echtes Ereignis auf? Spielt mit einem Erlebnis aus früher Kindheit, als in Wirklichkeit meine Mutter zu mir ins Zimmer kam und (nach meiner vielleicht nicht zuverlässigen Erinnerung) etwas mit dem Vorhang (hatten wir Vorhänge?) machte, ihn beiseite raffte oder erst noch vors Fenster zog? (Als wollte sie mich damit von allem Übel, von allen schlechten Nachrichten bewahren; oder als sollte ich sie genau sehen, um sie beizeiten kennenzulernen?)
Im Traum verschweigt mir meine Mutter, was passiert ist, und daraus erwächst die grauenhafte Angst. Die schlechte Nachricht damals: meine Großmutter väterlicherseits war gestorben. Aber nicht diese Nachricht (ich war noch keine vier Jahre alt und hatte kaum Gelegenheit gehabt, meine Großmutter richtig kennenzulernen) erschreckte mich. Was mir einen eiskalten Schrecken eingab, waren die Tränen meiner Mutter. Es dürfte das erste Mal gewesen sein, daß ich meine Mutter weinen sah, und das war so entsetzlich, daß ich sie damals bat, das Zimmer zu verlassen. An mehr erinnere ich mich nicht. Ob es verletzend für sie war, ob sie darauf noch etwas gesagt hat, mit welchen Gedanken ich wieder eingeschlafen bin, nichts davon weiß ich noch. Der Vorfall ist, soweit ich weiß, nie wieder zur Sprache gekommen, und ich weiß bis heute nicht, was meine Mutter bewogen haben mochte, ihren drei- oder vierjährigen Sohn mitten in der Nacht zu wecken, um dem Kind zu sagen, daß seine Großmutter gestorben sei.
Ich kann diese fast fünfzig Jahre zurückliegende Szene nicht ansprechen, also auch nichts darüber herausfinden. Im Grunde will ich auch gar nicht daran rühren. Ich hätte Angst, daß meine Frage (warum bist du damals ins Kinderzimmer gekommen, um mich zu wecken und mir den Tod meiner Großmutter mitzuteilen?) wie ein Vorwurf klänge. Und ich will nicht ansprechen, wie sehr mich das Weinen meiner Mutter immer bestürzt hat. Weinen überhaupt bestürzt mich und läßt mich schreckenskalt und -starr werden, zum Trösten unfähig. Eigentlich bei allen Menschen, aber besonders habe ich bei meiner Mutter — die selten, sehr selten weint — Weinen schrecklich gefunden. Vielleicht, weil darin die Erkenntnis lag, daß sie, dieser stärkste aller Menschen, wie ich es als Kind empfand, eben auch schwach war, nicht allem gewachsen, selbst des Trostes bedürftig.
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In der Schulzeit fuhren wir Grüppchen Schüler aus unserem Dorf, die in dieselbe Klasse aufs Gymnasium im benachbarten Städtchen gingen, gemeinsam mit dem Fahrrad zur Schule. Einmal waren wir nur zu zweit, H., die Tochter unserer Vermieter, die im selben Haus wohnten, und ich. Etwas Schlimmes war passiert, ich weiß nicht mehr, ob H. es mir erzählte oder ob ich es von anderen wußte, und H. ging es sichtlich schlecht. Ihr Blick war starr und leer, abwesend, kalt wie Münzen, ihre Lippen verpreßt, und die ganze Fahrt über fiel kein Wort. Von ihr keins der Klage, von mir keins des Trostes. Ich wußte, alles war falsch an der Situation, das Schweigen, das Fahren, das Weiterschweigen, das Anhalten und Weiterfahren an einer Kreuzung, und alles andere wäre auch falsch gewesen, das einzige, was richtig gewesen wäre, aber war völlig unmöglich und irrwitzig und unleistbar, es wäre gewesen, schlicht “Halt mal an” zu sagen, abzusteigen und H. wortlos in den Arm zu nehmen, damit sie endlich hätte weinen können. Diesen Schritt zu tun, dachte ich, hätte ich ein ganz anderer Mensch sein müssen, aber es ist auch das andere wahr, daß ich, hätte ich es getan, in diesem Moment ein ganz anderer Mensch geworden wäre.
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Trösten ist schwierig. Aber warum? Weil uns etwas von dem fremden Schmerz trennt, der nicht unserer ist. Mitgefühl ist eine Paradoxie. Es ist ein narratologisches Empfinden, ein Feuern von Spiegelneuronen, eine Phantasie. Selbst wenn wir selbst einmal einen ähnlichen Schmerz empfunden haben, jetzt fühlen wir ihn nicht. Und wenn doch, dann sind wir selbst des Trostes bedürftig.
War meine Mutter des Trostes — meines Trostes — bedürftig? Und was ist mit meinem Vater, dessen Mutter es doch war, die gestorben war? Und wie hätte ich Vierjähriger trösten können? Vielleicht tat ich es, ganz einfach, weil ich da, ihr gemeinsames Kind und am Leben war. Vielleicht mußte meine Mutter deshalb ins Kinderzimmer kommen und mich wecken, um sich des Lebendigen zu vergewissern, für das ich junges Leben stand, ein Unterpfand gegen die Vergänglichkeit, gegen die Negation, gegen die lebensfeindlichen Kräfte. Meine Mutter war damals Anfang zwanzig, und dieser Tod war der erste in ihrem Umfeld, unter ihren Lieben. Ihre eigenen Eltern sollten da noch über fünfzig Jahre leben. Sie hatte den Tod bislang nur als ein Phänomen kennengelernt, das Fremden (ihren Patienten) geschah. Es ist auch gut möglich, daß sie in dem Moment einfach Angst um mich hatte, ihren ersten Sohn (ob mein Bruder da schon geboren war, weiß ich nicht). In jedem Fall muß es ein Knacks gewesen sein, ein Begreifen, ein Erwachen in einer kälteren Welt, das in ihr vielleicht das Bedürfnis nach der schläfrigen Wärme ihres Kindes weckte.
Regen von weit her, wie die Kunde von fernen Ländern. Ein Aufseufzen des Himmels, der zu dieser Stunde noch dunkel ist. Die Luft bildet eine schwere, zähe Substanz, gegen die sich die Autos mühsam vorwärtskämpfen. Alles ist mühsam, die Anzeige des Weckers muß bei jeder neuen Ziffer überlegen. Das Radio wiederholt nur die Sinfonien von gestern. Der Dunkelheit kaum gewachsen, lassen die Scheiben sich den Rücken vollregnen. Sie schauen nach innen, zu der Lichtinsel mit Schreibzeug und Kaffee. Zu dem eben erwachten Schläfer, der noch mit dem Wirrwarr seiner Träume kämpft.
Fenster auf, aber die Luft, die einströmt, ist so warm wie die, die hier übernachtet hat. Das Dunkel nippt von meinem Kaffee mit, im Radio verbeugt sich eine Geige, ehe sie stirbt, die Straßenlaternen harren aus, die Autowege legen den Gläubigen den Morgen aus. Noch eine Woche Sommer, der sich an den letzten Zahlen des Monats festklammert.
Felssporn
Bei Kathleen Jamie von einem rätselhaften Bauwerk an der schottischen Küste gelesen: auf einem Felssporn thronend, der über einen schmalen Landsteg mit dem Ufer Verbindung hat, ist das Hüttchen, das sich schon zur Seite neigt, bereit, demnächst zusammen- und von der Felsnadel zu fallen, nur auf dem Wege einer Kletterei zu erreichen. Von wann stammt dieses Bauwerk, wer hat es erbaut, zu welchem Zweck? Eine Einsiedelei? Ein Ausguck, spinne ich die Vermutungen weiter, ein … Kerker? Eine Bestrafung? Ort der Einlösung eines Gelübdes? Ein Heiligtum? Ein Observatorium? Ich stelle mir den Ort vor, das Innere der dreieinhalb Wände, den zugigen Stein, die Taubheit des Windschattens, das Kreischen von Seevögeln im anderen Ohr. Die Brandung überall nah, von den Steilwänden der Küste hallend, als säße man im Brennpunkt einer Satellitenschüssel. Obschon auf einer Felsnadel hockend, befindet das Hüttchen doch unter dem Niveau des Landes; freie Sicht gibt es nur zum Meer hin. Wolkenspiele wie Romane des Himmels. Außer Sicht bleiben die Straßen, die Fahrzeuge, die Schafe, Zäune und Mauern des Landes. Das Land wird zu einer seltsamen Sphäre, was dort passiert, zu etwas Unverständlichem, Bizarrem. Nur ganz selten erscheint überm Klippenkamm die Gestalt einer Kuh oder eines Schafs; dann starrt das Bizarre des Landes zurück und staunt über das Rätsel auf dem Felssporn.
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Ich stelle mir ein Leben auf diesem Felssporn vor. Die Einsamkeit, an Land ein kostbares Gut, hier wäre sie ein unbegrenzter Reichtum. Sie wäre so reichlich vorhanden, daß die Zeit sie nicht fassen, daß die Zeit von ihr überfließen würde. Ein Tag wäre ein zu enges Gefäß für einen Tag. Irgendwann entvölkerte die Einsamkeit selbst die Träume, verschwänden aus den Nächten Gestalten, Menschen, Meinungen, Absichten. Blieben die Gedanken leer, und an die Stelle der Vorstellungen von Gesichtern, an die Stelle der Wörter, an die Stelle von Zusammenhängen und logischen Schlüssen, an die Stelle von Vermutungen, Hoffnungen, Erwartungen träten Himmel, Wolken und Vögel, wie sie vor allen Benennungen einmal waren. Die Welt käme langsam wieder zu sich selbst zurück, nachdem sie die Hüllen und Klammern der Sprache abgestreift hätte, würde sich langsam von ihrer Enge erholen, holte Luft, schöpfte Atem, wie die Vögel und die Wolken Atem holen, der Wind. Wo die Sprache endete, finge wieder die Welt an zu sein.
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Irgendwann würde man selbst zu Stein. Wo die Sprache endete, verlöre auch das von Gedanken und Formulierungen gehaltene Selbst seine Begrenzungen. Es träte über in die Welt und ginge auf in ihr. Es würde Wind werden und das Spiel von Licht auf den Wellen. Es würde nicht mehr denken, es würde nicht mehr gedacht. Es würde nichts weiter von ihm bleiben als die Linie, die der Schatten einer Möwe über die die Klippe gezeichnet hat, bevor sie über den Horizont verschwand.
Morgens
Liegen, erschöpft. Aufgewacht in einem Morgen, der viel zu groß ist, groß wie ein Kleid, das nicht paßt, aus dem du herausfällst. Alleine: Der Platz neben dir ist leer, die Decke zerknüllt und vom Fortgehen halb zurückgeschlagen. Die Zimmertür geschlossen. Würde sie können, sie ginge auch fort. Das Fenster seinerseits strebt mit seinen Flügeln nach draußen. Draußen gehen Schritte vorbei. Sie haben ihren Platz im Morgen, den du nicht hast. Es ist, als wäre dir etwas aus der Hand gerutscht. Nur ist es nicht die Hand, die danach fassen will, du bist es ganz. Du weißt nicht, was es ist, das du verfehlst, nur, daß es wichtig war. Du müßtest aufstehen, aber der Morgen ist so groß, er wird dich verschlucken, sobald du den Fuß auf den Grund setzt. Liegenbleiben kannst du aber auch nicht, und der Schlaf ist eine ferne, scharf gezogene Uferlinie. Der Himmel, ein wolkenloses Urteil. Freigesprochen: die Vögel. Die Stille kommt aus der Küche im Erdgeschoß heraufgeschlichen, um dich zu belauschen.
Tempora mutantur
Es gibt nicht viel Konstanteres und Älteres in meinem Leben. Zwanzig Jahre — kaum ein Ereignis, ein Anfang, eine Errungenschaft, die nicht in diese Zeit hineinragen, von ihr grundiert würden. Darin enthalten sind zwei Kanzlerwechsel; die Huygenssonde; drei Päpste; ein Austritt aus der EU. In zwanzig Jahren wird ein Mensch erwachsen. Trägt ein Nußbaum zum ersten Mal Früchte. Dieses Blog ist jünger als der Beginn dieser Zeit. Mein Lateinstudium ist jünger. Zweimal die Wohnung gewechselt. Das Wandern in der Eifel begonnen. Den Marathon. Ja, selbst meine Ehe ist jünger, ihr Beginn liegt schon mitten in diesem Strom, der nun endet. Und was endet da! Nie hab ich das gewollt, daß der Beruf einen solchen Raum gewinnt. Nun will mir kaum etwas Bedeutsameres einfallen als die in diesem Rahmen eingefaßten, gehaltenen und geordneten Vormittage. Etwas, das halt auch noch da ist, nebenher mitläuft, keine besondere Wichtigkeit in mein Leben wirft, so hab ich es haben wollen, so hab ich es mir eingerichtet. Mag sein, es ist sogar gelungen, aber im Rückblick fühlt es sich nicht so an. Da stellt es sich vielmehr heraus, als hätte alles Schöne seinen Halt in dieser Routine; als hätte alles Schlimme auch seinen Trost darin gehabt. Routinen sind unterschätzt, in unserer alles Neue preisenden, aufgeregten Welt bringt man sie gerne mit Langeweile und einem Alltag zusammen, dem regel- und reflexhaft das Farbwort grau beigegeben wird. Für mein Leben sind sie immens wichtig, die Routinen, ohne bin ich unglücklich. Es ist indessen schwer, sehr schwer, in Routinen hineinzufinden und noch schwerer, sie auch gelingen zu lassen.
Wenn mich das schlechte Gewissen plagt, daß ich schon wieder nichts schreibe, nichts geschrieben habe, die Kiste ausbleibt, der Schirm dunkel, dann muß ich mir den mildernden Umstand selbst einräumen, daß ja alles, was ich tue, letztlich schreiben ist. Auch ein Lauf durch den Wald ist Schreiben, eine Wanderung, es ist falsch, dieses Zeitverbringen gegen das Sitzen vor der Tastatur auszuspielen, als ob jenes gegenüber diesem weniger wert wäre. Denn das meiste, was ich schreibe, ist eben nicht am Schirm erdacht. Am Schirm ist vielleicht formuliert, was indes andernorts, in Situationen, die ich gar nicht als Arbeit im eigentlichen Sinn mir zugute halte, er- und durchdacht, ausgesponnen oder schlichtweg gefunden und aufgesammelt worden ist. Das hat etwas Zufälliges (man könnte auch sagen, Schicksalhaftes), aber ist nicht jede schaffende Tätigkeit vom Zufall bestimmt und gelenkt, vom Zufall nämlich: des Einfalls. Denn selten löst intensives Nachdenken ein Problem. Leider.
Temps perdu
Vier Tage Rödeldorf, vier Tage Live-Rollenspiel. Das Stück: der Alltag vor der Pandemie. Daß ich im Büro ganz alleine bin, ist das einzige äußerliche Zeichen, daß dies hier nur Simulation ist. Wie Urlaub fühlt sich an, was einmal Alltag war. Und endlich fehlt einmal Zeit für Melancholie. Die Abfahrtstafeln der Straßenbahn, das Öffnen und Schließen der Jalousie im Büro, das Surren des Druckers, abends der Schlüssel in der Wohnungstür, das setzt Markierungen in die Landschaft eines Tages, macht die Zeit steuerbar. Ablenkung von der Grübelei. Die Stunden stemmen sich nicht gegen das Bewußtsein, sie bieten sich an als kleine Präsente für erfreuliche Gedanken, die sich in der Ruhe das Abends einfinden. Natürlich war der Alltag nie so, war ja nie Unterbrechung. Aber mit seinen Ordnungen, seinen Forderungen und Angeboten, konnte er, der vielgeschmähte Alltag, gerade dadurch, daß er eben All-, der Hintergrund von allem war und gar nicht erst ins Bewußtsein trat, seine positive Wirkung entfalten. Die man gewöhnlich, da für selbstverständlich genommen, nicht genug würdigt.
Delta. Hürxberg
Kaffee in der Morgenstille, mit den erschlafften Dunkelheiten, von oben, im Berg wurzelnd. Die Fenster spüren das Gewicht, die Spiegelungen darin sind müde, zerstreut. Gleich wird der Wald aus den Straßen weichen und seinen Platz oben auf dem Hügelkamm wieder einnehmen. Aus den Brunnen werden die Türme steigen, eine glücksbringende Münze auf der gefaßten Stirn.
Ansichten (5)
“Über Corona ist bereits alles gesagt. Nur noch nicht von jedem.”
(Nils W., 22, Student)
Drei kleine Geschichtchen vom Impfnachweis
Die erste Geschichte handelt davon, wie ich in einem Sportgeschäft ein paar Laufschuhe kaufen wollte. Die Tür ist verriegelt, drinnen herrscht geschäftiges Treiben. Ich drücke auf die Klingel, und umgehend öffnet ein junger Mann die Tür. Noch bevor er mich auffordert, ihm den Impfnachweis zu zeigen, habe ich in die Hosentasche gegriffen und das Papier, einen Ausdruck des EU-Impfzertifikats, ausgestellt von meiner Hausarztpraxis, komplett mit persönlichen Angaben, Datum der Impfung und QR-Code zum elektronischen Auslesen, herausgefummelt. Dieses Dokument habe ich schon oft in den vergangenen sechs Monaten vorgezeigt, in Cafés, Restaurants, beim Theatereinlaß, im Schwimmbad. Probleme gab es nie. Heute aber ist es nicht gültig.
„Wie bitte?“
„Du mußt zur Apotheke, dir dort mit Personalausweis ein Zertifikat ausstellen lassen, das du dann aufs Händie …“
Ich weise darauf hin, daß dies das Zertifikat sei, daß ich noch nie Probleme gehabt habe, ein Händie besäße ich nicht, und schließlich sei Zertifikat schließlich Zertifikat, egal ob im Händie oder auf Papier.
„Ich mache die Regeln nicht“, ist die Antwort, es werde so viel Schindluder getrieben, und Straße sei auch Straße, aber auf der einen dürfe man 130 fahren, auf der anderen nur 50.
Bevor ich die Schräglage dieses Vergleichs richtig ausgekostet habe, läßt der Verkäufer mich dann doch eintreten.
„Ich sag’s nur, fürs nächste Mal.“
Ich ziehe es vor, zu schweigen, probiere meinen Schuh, zahle und gehe.
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Im zweiten Geschichtchen entdecke ich auf dem Weg vom Sportgeschäft zur Straßenbahnhaltestelle ein paar Meter die Straße hoch ein Apothekenschild. Wenn ich schon mal dabei bin, denke ich mir und steuere die Apotheke an. Als hätten sie mich erwartet, ist am Schalter ein Schild aufgestellt: Lassen Sie sich hier Ihr Impfzertifikat ausstellen. Prima, denke ich, zeige auf das Schild, grinse mit den Augen überm Maskenrand, fummle mein ungültiges EU-Zertifikat aus der Tasche und lege es der Apothekerin vor. Ich will gerade den Ausweis zücken, da bemerke ich den irritierten Blick. Ich frage mich, was jetzt wieder fehlt. Steuernummer? Versichertenkarte? Geburtsurkunde?
Die Apothekerin dreht den Ausdruck ratlos zwischen den Fingern. „Aber was wollen Sie denn jetzt noch?“
„Na, ein gültiges Zertifikat. Im Sportgeschäft hat man mir …“
Die Apothekerin gibt mir das Papier zurück. „Papperlapapp. Das hier ist ein gültiges Zertifikat. Damit sind Sie lebensfähig. Mehr kann ich Ihnen auch nicht geben.“
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Die dritte Geschichte spielt in der Straßenbahn. Wegen meines Ausflugs zur Apotheke ist mir eine Bahn davongefahren, so daß ich zwanzig Minuten warten muß. Auf halber Strecke steigen zwei Männer und eine Frau in Warnwesten ein.
„Schönen guten Tag, Ihren Impfnachweis bitte!“
Okay, denke ich, dann wollen wir doch mal. Es ist das erste Mal, daß ich in eine der Stichprobenkontrollen gerate. Aber mir kann ja nichts passieren, ich habe es ja jetzt quasi amtlich, daß meine Papiere einwandfrei sind. Einer nach dem anderen zücken die Fahrgäste ihr Datengerät. Irgendwas aus Papier hat niemand dabei. Außer mir. Lässig halte ich dem Kontrolleur den Ausdruck hin. Mit der QR-Seite nach oben.
Wenn ich mich insgeheim auf eine weitere Diskussion gefreut haben sollte, werde ich enttäuscht. Ich hätte dem Kontrolleur auch den Impfpaß unseres Hauskaters vorlegen können, es wäre egal gewesen. So schnell, so oberflächlich hat noch nie jemand meinen Impfnachweis durchgewunken.
Als könnte der Kontrolleur freiäugig QR-Codes auslesen.
Delta
Die Nacht wurzelt im Traum wie Stühle in einem leeren Theatersaal. Blitzableiter von Kopf zu den Beinen, strecke ich mich zurück nach dem Anfang des Schlafs. Noch minutenlang kichert das Fenster an seinem neuen Platz, dann bringt es der Regen zum Schweigen, und in diesem Moment erinnert sich das Wasser wieder an mich. Eine Klaviertaste federt zurück und schnappt nach dem Schweigen. Den letzten Traum hat der Wecker noch gekannt.
The winner takes it all
Neulich Niederschmetterndes über die Paretoverteilung des Erfolgs (in der Kunst) gelesen. Das ist wieder so ein Moment, wo einem die ganze Auswegslosigkeit des Strebens schlagartig klar wird. Welche Namen fallen Ihnen als erstes ein, wenn sie drei berühmte Physiker aufzählen sollen? Wenn Nils Bohr oder Werner Heisenberg darunter sind, können die sich glücklich schätzen. Einer wird in jedem Fall darunter sein, Sie wissen schon, genau der. Sehen Sie? Schon beim zweiten muß man überlegen. Oder drei klassische Komponisten. Na? Ich möchte wetten, keine Dreieinigkeit wird ohne Mozart auskommen. Es ist wie mit den größten Städten der Welt, den verlustreichsten Kriegen, dem Zipf’schen Gesetz. Nach einer Handvoll Megastädten kommen ein paar hundert moderate Metropolen, tausende mittlere und kleine Städte, während es Millionen und Abermillionen Dörfer und Weiler von ein paar hundert Einwohnern gibt. Trägt man die Zahl ihrer Einwohner gegen die Anzahl der Städte ab, erhält man eine steil fallende Kurve: das ist die Pareto-Verteilung. Für die Prominenz von Menschen, die Erstaunliches zuwege gebracht haben, gilt dasselbe. Mozart, Bach, Beethoven, Haydn fallen jedem als erstes ein, aber wie ist es mit Telemann, Bruckner oder Weber? Wohl gab es ein Mozartjahr, ein Mercadantejahr (1995 hätte man den zweihundertsten Geburtstag des Komponisten, der mehrere dutzend Opern verfaßte, begehen können) gab es nicht. Sehr wenige an der Spitze vereinen alle Aufmerksamkeit auf sich, die überwiegende Masse muß sich mit den Tischkrümeln zufriedengeben. Die Frage ist interessant — wenn auch müßig — warum das so ist. Mit Qualität hat es nicht unbedingt etwas zu tun. Die Frage, wer der bessere Komponist ist, Beethoven oder Sibelius, ist nicht sinnvoll beantwortbar, auch nicht, ob Elgar bessere oder schlechtere Musik als Mozart geschrieben hat. Vielleicht ist es ein Phänomen der positiven Rückkopplung, und Aufmerksamkeit zieht neue Aufmerksamkeit nach sich, so wie große Städte mehr Menschen anziehen als kleine, wodurch die großen noch größer werden. Ab einem bestimmten Punkt können sie dann nicht mehr eingeholt werden. Einen Gegeneffekt, der bewirken würde, daß Städte ab einer bestimmten Größe wieder schrumpfen, weil es den Menschen dort irgendwann zu voll wird, so daß sie abwandern, scheint es auch nicht zu geben. Eine Kraft des Vergessens, die bewirken würde, daß, wer einmal weltberühmt ist, wieder an Aufmerksamkeit verliert, ist noch viel weniger denkbar. Daraus folgt auch, daß man sich abstrampeln kann, wie man will, man wird kein zweiter Mozart werden, niemand, niemals. Dabei wäre ja, gerade in einer Welt, in der ständig von Filterblasen die Rede ist, auch eine Situation denkbar, in der es keinen großen Künstler mehr gibt, den wirklich alle kennen. Stattdessen zerfiele die gesamte Kunst- und Kulturlandschaft in lauter Provinzen mit ihren jeweiligen lokalen Größen: weltberühmt in Detmold und Umgebung. Aber schon auf Youtube-Kanäle oder einzelne Videos trifft das nicht zu. Auch die Klicks von Youtube-Videos dürften Pareto-verteilt sein.
Und natürlich wäre die Prominenz von Künstlern innerhalb ihrer Provinz ebenso Pareto-verteilt. Es könnte aber partielle Überschneidungen zwischen den Provinzen geben, so daß, wer ein Nobody in der einen wäre, in einer benachbarten Provinz auf Rang eins käme. Im Extremfall stellte jedes Individuum eine solche Provinz dar. Befragte man dann 100 Personen nach den drei Komponisten, die ihnen als erstes einfallen, bekäme man hundert unterschiedliche Antworten. Freilich wäre das dann eine Welt, in der es gar keine Prominenz mehr gäbe; denn was ist Prominenz anderes als, ganz vielen Menschen gleichzeitig bekannt zu sein? Immerhin ließe sich noch etwas dazwischen denken, wo man unter den ersten drei erfragten Komponisten und Physikern nicht immer wieder die gleichen drei oder vier oder fünf als Antwort erhielte sondern drei aus einer Bandbreite von sagen wir hundert. Aus der Sicht des Individuums betrachtet heißt das auch, daß es kaum verbindliche Prominenz zu geben scheint. Das Individuum fände dann die eigene Rangfolge (Mozart, Bach, Beethoven; Einstein, Planck, Heisenberg) in anderen Individuen nicht mehr gespiegelt, es müßte damit rechnen, bei seinen Zeitgenossen (oder bei Menschen vergangener Generationen) auf ganz andere Rangfolgen zu stoßen. In gewisser Weise wäre das verwirrend und anstrengend, in anderer höchst anregend. Vielleicht hätte dann Milos Forman keinen Mozartfilm sondern einen Mercadantefilm gedreht; und statt des Streifens Liebe ist relativ hätte es vielleicht einen Film Liebe ist unscharf gegeben. Statt Fuck you, Goethe hätte es dann Fuck you, Wieland geheißen usw.
Aber so ist die Welt nicht. In unserer Welt herrscht die Paretoverteilung der Prominenz. Warum schreibe ich darüber, warum denke ich darüber nach? Weil es niederschmetternd ist. Die unausweichliche Klarheit der Zahlen: So ist es, so liegen die Dinge, ihr Gerüst, unverstellt vom Zierat irgendwelcher Erzählungen, mit denen wir sie so lange verfremden, bis es uns tröstend paßt. Auch du kannst es schaffen. Es zählen doch die inneren Werte. Patrick Süßkind ist auch lange verkannt worden. Blablabla. Es erinnert mich an die Unumstößlichkeit der Zahlen, die die Naschigkeit von Frauen bei der Partnerwahl belegen. Gottlob ist die Paretoverteilung der sexuellen Attraktivität irrelevant, weil selbst für Männer irgendwann Schluß ist — die Zahl möglicher oder auch nur wünschenswerter Partnerschaften ist selbst für Männer, die beliebig wählen können, sehr viel geringer als die Zahl der bereitwilligen Frauen. Aber Aufmerksamkeit kann man als Künstler nie genug haben. Sagt Ihnen der Name Bernhard Kellermann etwas? Marta Karlweis? Ann-Charlott Settgast? Leonhard Frank? Das sind nur vier von Tausenden von Schriftststellerinnen und Schriftstellern, die zu ihrer Zeit erfolgreich waren. Bis man unvergeßlich weit oben ist, kann man nur allzu leicht wieder vergessen werden.
Die beiden Passagiere in der RB48 nach W-Oberbarmen, zwei junge, dem ersten Eindruck nach gebildete Frauen von sehr gepflegter Erscheinung sprechen über Schmuck. Über Ohrlöcher und Ringe, über verschiedene Materialien, über Titan, Gold, Silber und ganz kleine Diamanten. Unfreiwillig höre ich, ganz in der Nähe den einzigen bequemen Stehplatz in Anspruch nehmend, dem Gespräch zu. So lange die Fahrt dauert, geht es um nichts anderes. Eine halbe Stunde Ringe, Ringe, Ringe, als wären die beiden bei einem Symposium der Innung rheinischer Juweliere. Ich denke mir unwillkürlich, Männer hätten ganz andere Gespräche. Aber worüber würden zwei junge, gebildete Männer sprechen? Betriebssysteme? Autos? Die geplante Rafting-Tour? Es kommt mir alles wie ein Klischee vor, zumal ich selber weder über Betriebssysteme, noch über Autos oder Rafting-Touren reden würde. Aber manche Klischees sind nicht nur Klischees sondern eben auch die Wirklichkeit. Ist es nicht ein Klischee, daß zwei Frauen über Schmuck palavern? — Erst beim Aussteigen, als ich mich an ihnen vorbeizwänge, um endlich einen Sitzplatz zu ergattern, haben sie das Thema gewechselt, geht es um einen Mann und was für eine Beziehung der mit einer der beiden will oder nicht will, und ich denke, Männer hätten wirklich ganz andere Gespräche, und ich denke auch, aha, Bechdel-Test im letzten Moment doch nicht bestanden.
Da sind wir wieder, und der ganze Circus
Daß man es kaum schafft, in einer unbequemen Lage auch die darin begründeten durchaus willkommenen Nebeneffekte zu erkennen und zu würdigen. Gestern abend von dem Veranstaltungsplatz an der Kirche her Festivalgeräusche, jenes verhaßte Dröhnen, Rumpeln, Hallen, Heulen von ins Groteske verstärkter Supermarktmusik, wie es jetzt gut anderthalb Jahre nirgends zu hören gewesen ist. (Solche elektrischen Klangverstärkungen haben immer einen provokativen, hybriden Drang ins Universelle, Allgemeingültige, gräßlich.) Der Impuls in solchen Momenten, derartiges Treiben als eitles, leichtfertiges, geradezu sündiges Tun (Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand) zu verdammen — warum hat es mich in den vergangenen siebzehn Monaten nicht ein einziges Mal mit fröhlichem Ingrimm erfüllt, daß genau diese Verdammung offiziell in Kraft getreten war? Die Pandemie mit ihrem Ernst hätte ich mir doch zuvor geradezu gewünscht in Momenten wie gestern abend. Daß das sündige Treiben ein Ende finde und in einer schicksalhaften, göttlich zu nennenden Intervention des Ernstes in Flamme aufgehe, eines Ernstes, als dessen Vertreter auf Erden ich mich in meinem maßlosen Zorn zu empfinden durchaus geneigt bin.
Antiklimax
Impftermin bekommen. Ausgerastet, als ich auf der Seite der Kassenärztlichen Vereinigung an einem für Linuxsysteme offenbar nicht ausführbaren Skript steckenblieb. Registrierung (schon im Januar, man war ja optimistisch) kein Problem, Anmeldung, kein Problem, “Ich bin Angehöriger folgender Berufsgruppen …” Check!, weiter zur Terminvergabe, ja, Termin für mich selbst, weiter zum Impfzentrum, bitte wählen Sie ein Wunschdatum aus … Oh gerne, also das früheste, in zwei Wochen. Check! Bitte wählen sie die Uhrzeit aus … Egal, irgendwann. — Bitte wählen Sie die Uhrzeit aus … Ok, aber wo? — Bitte wählen Sie …. Ja, würde ich gerne, du stiernackige Datenverarbeitsanlage, wo bitte? Da ist nur ein graues Kästchen zu sehen, und außerdem stecken Bild- und Textelemente höchst unprofessionell übereinander. Also noch mal von vorn. Bitte wählen Sie ein Wunschdatum aus … bitte wählen Sie eine Uhrzeit aus …. “Offensichtlich haben Sie Schwierigkeiten, einen passenden Termin zu finden. Sollen wir Sie per Mail benachrichtigen, wenn weitere Termine vorliegen? Ja, Nein, Meldung nicht wieder anzeigen”. — Abgemeldet, FF mit abgeschaltetem UBlockOrigin neu gestartet, nix. Wo eine Uhrzeit zum Auswählen sein sollte, ist weiterhin nur das graue Kästchen, nicht klickbar. Vielleicht ein anderer Browser? Mit Konqueror komme ich nicht einmal ins Anmeldeformular. Also einmal mit den Zähnen geknirscht und zum Zwecke Chrome installiert, der kann ja wohl, zumal jungfräulich und unbefleckt von irgendwelchen Blockern, alles. Sollte, muß alles können. Nein? Nein! Das Skripting auf der hochoffiziellen Seite der KVNO kann er nicht. Selten, ganz, ganz selten kann mein FF etwas nicht darstellen. Und ausgerechnet die KVNO hat es geschafft, die Anmeldeseite so zu programmieren, daß Linuxsysteme (ich bat Freunde, die auch Linux benutzen, um Hilfe, die konnten mich mit ihrem System nicht einmal einloggen) an der Auswahl der Uhrzeit scheitern. Überflüssig zu erwähnen, daß die Hotline hoffnungslos überlastet war.
Während ich also fluchte und brüllte und tatenlos zusehen mußte, wie ein Tag nach dem anderen von buchbar zu ausgebucht wechselte, kam das Stiefsöhnchen aus der Schule, nickte nur kurz und zückte sein Händie.
Keine Minute später hatte ich meinen Termin.
***
Es hat etwas Antiklimakisches, wie das Ende dieser Krise sich langsam abzeichnet. Fast ist man enttäuscht, daß es zu Ende geht, als müßte da doch noch was, als hätte man doch noch nicht, als wäre man noch nicht auf seine Kosten gekommen. Sollte das alles gewesen sein? So trivial, so banal, so dämlich? Wo bleibt die Entschädigung? Oder wenigstens der Knalleffekt? Daß jetzt tatsächlich die Möglichkeit besteht, es könnte in wenigen Wochen alles ausgestanden sein, fühlt sich irgendwie schal an, fad, unwürdig, wie eine Geschichte, die einfach ohne echtes Ende aufhört. Ohne wirklich aufzuhören, man wünscht sich, ja, was? Daß die gute Fee auftritt und allem rückblickend einen Sinn verleiht. Oder daß der König, während er das Zeremonienschwert aus der Scheide zieht, einen niederknien heißt, damit man den Ritterschlag empfange. Daß die Außerirdischen kommen und um Verzeihung bitten für das außer Kontrolle geratene Experiment. Daß ein genialer Wissenschaftler im Genom des Virus die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest gefunden hat. Was weiß ich, irgendwas halt. Nur nicht einfach nichts. Nur nicht dieses öde Sichdavonschleichen. Man bleibt ratlos zurück. Was sollte das jetzt bitte? Könnte einem jemand von außerhalb mal gefälligst einen Tip geben? Oder wenn schon kein Sinn dahinter ist, dann wenigstens einen Schuldigen, den man genüßlich zu Tode foltern kann. Strafe als Sinngeber des Unglücks, so vielleicht.
(6.7.2021)