An der Raiffeisenbank in Nebel hängen Immobilienangebote aus. Zu verkaufen ist neben einem Baugrund in Nebel für eine halbe Million Euro (nur das Grundstück) eine Eigentumswohnung in Wittdün. Erdgeschoß, 2 Zimmer (Wohn- und Badezimmer), 45 qm, 25 qm Nutzfläche, kein Balkon, kein Garten, von einem Keller ist auch nicht die Rede, 405.000, Hausgeld 290. Wer dem Zentrum entfliehen, die Sehnsucht aufgeben und sich den Rand der Welt zur Heimat machen will, muß reich sein oder Verwandte auf der Insel haben. Uns anderen, den Habenichtsen, Pechvögeln und Enterbten, bleiben nur das Nahe, das Innere und die Städte.
Kategorie: An habent et somnia pondus
Unsichtbar
Ich sitze auf dem Baumstumpf, wo ich immer sitze, und trinke mein Bier in der rasch anziehenden Abendkälte. Der Wald ist noch winterkahl, hell, die Bäume stehen weit und einzeln. Nur das alte Laub ist lebendig, läßt sich von einem kaum merklichen Windhauch reizen. Es klingt wie der Tritt von Tieren, aber mein Ohr läßt sich längst nicht mehr ins Bockshorn jagen. Ich muß mehrere Äste von dem Plateau entfernen, die der Wind aus den naiven Pfadfinderlagern herausgebrochen und wie Knochen über den Grund verstreut hat. Um den Platz stehen Eichen, die Äste verkrampft zum Himmel gereckt. Im vergangenen Winter ist ein mehrere Meter langer Ast abgebrochen und hängt jetzt in der Gabel eines jüngeren Baums. Jedesmal scheint der Ort, wenn ich ihn nach Wochen oder Monaten wieder aufsuche, verändert, umgebaut, nach neuen Richtungen offen. Aber wie sehr ich mich auch strecke und den Winkel wechsle, den auf der Karte verzeichneten Hochstand habe ich noch nie gesehen, sehe ich auch diesmal nicht. Also bin ich doch wohl auch unsichtbar? Für wen auch immer: Noch sind Stimmen im Wald. Der behelmte Kopf eines Fahrradfahrers erscheint und schwebt an meinem Platz über dem Sichtschutz des Unterholzes vorbei. Erschreckend nahe, aber ich weiß, daß sich vom Weg aus der Blick sofort im Unterholz verliert, daß es unmöglich ist, den Fleck, wo ich gleich das Tarp aufspannen werde, zu identifizieren. Man muß nur in die Hocke gehen, schon ist man nicht mehr Teil der wohnenden Welt. Auf dem Hinweg hat noch eine Spaziergängerin wenige Schritte von dem versteckte Pfad entfernt meinen Weg gekreuzt; ein anderer ist zweihundert Meter voraus gegangen. Keiner hat mich bemerkt, wie ich ins Gebüsch geschlüpft bin. Jetzt schieben sich Stimmen heran, heran und vorbei. Menschen kehren heim, für die der Wald sich in ihrem Rücken voller Fremdheit schließt, wo er mich schützend aufgenommen hat. Dann bin ich allein, der letzte. Bis Mitternacht werde ich schlafen, ehe mich die Kälte weckt, bis ein Uhr weiterdämmern, dann aufgeben und durch die Vollmondnacht nach Hause wandern. Jetzt aber geht erst einmal der Mond auf und malt Fensterquadrate auf den Grund. Die Stimmen sind verhallt. Fern, im Ort, schlägt eine Kirchturmuhr acht. Das Laub krabbelt über den Grund. Ein Käuzchen ruft.
Delta
Die Nacht wurzelt im Traum wie Stühle in einem leeren Theatersaal. Blitzableiter von Kopf zu den Beinen, strecke ich mich zurück nach dem Anfang des Schlafs. Noch minutenlang kichert das Fenster an seinem neuen Platz, dann bringt es der Regen zum Schweigen, und in diesem Moment erinnert sich das Wasser wieder an mich. Eine Klaviertaste federt zurück und schnappt nach dem Schweigen. Den letzten Traum hat der Wecker noch gekannt.
Solstitium
Als wir noch träumten vom Küssen, umstellten schon Uhren das Lager.
Zahllos die Küsse im Traum, zählt sie die kürzeste Nacht.
Küsse, gleich Wild in der Dämmerung, scheu vor den lärmenden Stunden.
Welche vorm Licht nicht geschenkt, flohen ins Dunkel des Traums.
(In der Straßenbahn setzt sich ein Schwesternpaar in die Sitzreihe vor mir. Eine jünger, die andere etwas älter, höchstens zwei Jahre auseinander, die Ältere wird Anfang zwanzig sein, allerhöchstens. Beide haben das gleiche wellige blonde Jahr, von jener Farbe, die sogar frisch gewaschen immer ein wenig fettig aussieht, beide tragen das Haar in einer Spange zum Pferdeschwanz gebunden. Unauffällige Kleidung, herbstliche Jacken. Ich höre sie miteinander reden, die ältere zur Jüngeren geneigt, die jüngere geradeaus blickend, und irgendetwas ist merkwürdig, die Art, wie sie reden, nicht, was sie sagen, aber in welcher Stimmlage sie es tun. Es klingt wie ein Spiel, als hätten sie sich die Stimmen zweier Protagonistinnen einer nachzustellenden Geschichte geliehen, wie es Kinder tun, wenn sie im Spiel ihre Stimmen modifizieren, um jemand anderer zu sein, die Stimme als äußeres Zeichen der Verwandlung in eine Figur. Die Stimmen der jungen Frauen sind piepsig, zu hoch für das Alter, wie von Schlümpfen, etwas Atem- und Kraftloses haftet ihnen an, zugleich reden sie schnell, was ein bißchen wie Geplapper klingt, als wollten sie möglichst alles in einen einzigen Satz packen. An ihrem Äußeren ist nichts auffällig, außer vielleicht, daß die eine ein bißchen verpickelt ist. Ihre Bewegungen, ihr Habitus sind ganz gewöhnlich. Warum also dieses kindische Geplapper? Was sie sagen, kann ich nicht verstehen, da die Hintergrundgeräusche zu laut, das Geplapper zu hoch und leise, die beiden zu weit weg sind. Mir kommt ein Gedanke: Kann es sein, daß ich für merkwürdige Sprechweise halte, was in Wahrheit lediglich eine andere Sprache ist? Sprachen unterscheiden sich durchaus auch im Timbre, werden lauter oder leiser, hauchender, näselnder, in höherer oder tieferer Stimmlage gesprochen. Sprechen die Schwestern vielleicht Französisch? Ich lausche angestrengt, kann ein paar Satzfetzen auffangen, nein, was die beiden da näseln, quaken, fisteln, ist Deutsch.
Noch seltsamer wird es, als die Ältere einem Jutebeutel zwei Bücher entnimmt. Während sie eines ihrer Schwester gibt, so wie man auf einem Ausflug Butterbrote verteilt, blitzt kurz für mich sichtbar ein vorderer Umschlag auf. Zwar kann ich nichts genaues erkennen, aber die bunte, runde Schrift, der stabile Einband, der Schatten einer Abbildung läßt an ein Kinderbuch vom Typ Pferdeabenteuer erinnern. Das können die beiden nicht ernst meinen. Und auch die Lektüre gleicht einem Spiel, so wie wenn Kinder, des Lesens unkundig, die Erwachsenen bei der Zeitungslektüre nachstellen. Aber ihre Gebärden, ihre Blicke, die Haltung, die sie zueinander einnehmen, sind die von Erwachsenen. Kaum zehn Sekunden verwenden sie still auf das, was zumindest dem Anschein nach Lesen ist, dann unterbricht wieder die eine die andere, und es folgt ein kurzes Geplapper. So geht das zwanzig Minuten lang, bis am Hauptbahnhof, Endhaltestelle, die Ältere die Bücher wieder einsammelt und in der Jutetasche verstaut.
Ich frage mich, wie dieses Spiel weitergeht. Werden die beiden zum Schein eine Reise machen? Werden sie so tun, als kauften sie sich eine Fahrkarte? Werden sie vorm Fahrkartenautomaten stehen und plappernd über das Fahrtziel diskutieren? Und wer werden sie sein, wenn sie aus ihrem Spiel heraustreten und wieder die werden, die sie wirklich sind? Oder habe ich einen Moment der Wirklichkeit gesehen, den sie sonst durch ihr Spiel zu verheimlichen gewohnt sind? Oder bin ich vielleicht selbst in einem Spiel, ohne es zu bemerken?
Grübelnd sehe ich ihnen nach, während sie, die eine leicht aus der Hüfte hinkend, die andere mit dem Stoffbeutel über der Schulter, Seite an Seite im Gewühl verschwinden, und werde dabei den Eindruck nicht los, eine Figur in meinem eigenen Leben zu sein.)
Ein Winkel, aus dem sonst nie Licht einfällt, zeigt sich hell erleuchtet. Die Quelle befindet sich oberhalb des Fensterrahmens, vom Bett aus nicht zu sehen. Als hätte sich im Laminat eine bislang verborgene Falltür zu einem Untergeschoß geöffnet, aus dem Licht unklarer Herkunft herauströmt, klafft vor dem Bett ein helles Dreieck. Vorsichtig tastet man mit dem Pantoffel in der verschwommenen Lichtbrühe herum. Wie leicht rutscht man hier ab. Es ist, als hätte das Zimmer sich gedreht und dabei noch Schlagseite bekommen. Die Himmelsrichtungen stimmen nicht mehr, das Fenster zeigt die bleichen Giebel fremder Häuser. Schornsteine, Antennen, ein schwebender Zaun. Umrisse sind verlängert, Kanten gestaucht, Mobiliar und Gerätschaften tragen Masken, auf der Spüle sitzt ein gläserner Elefant, aus dem Sofa scheint eine riesige Zunge zu hängen. Es ist weder Tag noch Nacht. Es ist beides zugleich. Tiefe Stille herrscht, während der Tau fällt und der Mond die Morgendämmerung vorwegnimmt. Es ist, als hinge man kopfüber von einem gekippten Spiegel, und das Licht liefe wie sanft pochende Lymphe in den geblendeten Schläfen zusammen.
Wild
Etwa nach einer Stunde, auf dem Weg, der im Kottenforst die Schmale mit der Breiten Allee verbindet, fällt mir wieder ein, was von den mannigfaltigen Träumen der vergangenen Nacht nicht sofort beim Erwachen noch präsent und dann bei der täglichen Morgenmail formulierbar gewesen ist. Möglich ist es, daß mir die Passage einer Stelle im Wald, wo ich einmal in eine ganze Rotte unversehens hineingeriet, jene Traumrotte schwimmender Wildschweine wieder aufrief: eine Menge, ein Gewimmel fast, rotbrauner Leiber, die ich von oben sah, nachdem ich sie zuerst gehört, dann mühsam wie gegen etwas die Sicht Behinderndes ausfindig gemacht hatte. Sie schwammen vor einem steilen Ufer, vielleicht einer Mauer, von dessen Krone ich hinabschaute. Das Fell klebte ihnen naß am Körper, doch schien sie das Wasser nicht im mindesten zu beunruhigen, auch wenn dieses sichtlich nicht ihr Lieblingselement war und der Traum da immerhin einer zoologischen Richtigkeit zollte. Ich erinnere mich an ein Gefühl von Erregung („Da! Da sind sie!“), einer Art von Ehrfurcht verwandt, ohne schon Furcht zu sein. Es war dem Gefühl sehr ähnlich, das ich empfand, als ich neulich in einem ganz anderen Wald warnend, man kann es nicht anders sagen: angegrunzt wurde und ich nach angestrengtem Spähen schließlich das kurze Aufblitzen der schweren Leiber etwa hundert Meter hangauf bemerkte. Dazwischen das Gewusel von Frischlingen, bevor die Tiere wie ein Spuk wieder verschwanden. Tierbegegnungen, scheint mir, eignen sich gut dazu, in Träumen wieder aufgenommen zu werden.
[Currently Playing: Franz Strauss, Hornkonzert op. 8]
Noch einmal zusammen aufwachen, zusammengefaßt von der späten Nacht zu einer einzigen schlaftrunkenen Seele. Das Dunkel weicht nicht von unter den Lidern, da kann man die Augen aufsperren wie man will. Es ist ein kostbarer Moment, und niemand weiß, wie lange er eigentlich dauert. Vielleicht dauert er auch gar nicht. Trotzdem erinnert man sich später daran. An den Schlafsproß, aus dem man hervorwuchs als zwei, an den noch fühlbaren Keim, fühlbar wie die Wärme in einer schon zurückgeschlagenen Decke, in dem man noch eines gewesen ist. Eben erst. Schon wach genug, um zu verstehen; nicht wach genug, um sich wieder zu verlieren. Wach genug, um zu wünschen, man wäre wieder da, woraus man sich gleich (ich mache das Radio aus, oder bist du es, die zuerst aus dem Bett sich wälzt? Wer greift nach der Brille? Wessen Hand ist es, die den Lichtschalter betätigt?) trennen muß. Wie schön war es, mich mit Deinen Lippen zu küssen. Das ist der Moment, wo Tastsinn und Ertastetes auseinanderfallen, wo Haut sich von Haut löst und einander vermißt, wo ein Faden ins Licht reißt, wo die Schlafblume sich selbst bestäubt –
– und erwacht. Einen Moment war es, als riefe der Schlaf uns zurück. Kaum wahrnehmbarer Vogelklang, der sich entfernt. Ein Tasten im Dunkel, zueinander hin. Doch in dieser Bewegung wird unser Zweisein als ihre Voraussetzung offenbar, und kaum daß das Radio angesprungen ist, fallen wir an der Saumnaht der Nacht auseinander. Ich kenne dich nicht mehr. Es sind nur meine Lippen, die die deinen küssen. Meine Hände halten, was von Fremd als Haut und Wärme nur zu ihnen strahlt. Das Radio dudelt. Im Haus geht eine Tür. Wie mühsam es ist, wieder zwei zu sein. Wie anstrengend, getrenntes Ich und Du zu sein, Hier und Dort, ein halbwaches Blinzeln mit einer halben Seele. Jedes mit seiner Hälfte aus Körper und Zeit, Zeit und Tag, Tag und Blick. Zwei, die sich getrennt zurechtfinden müssen, in Einzelheit auf dem Einzelnen von Dein und Mein. Unsere Träume, wir müssen sie einander wieder Wort für Wort buchstabieren. Was uns hielt, das trennt uns nun.
Und da springst du auch schon ins Bad, nackt, und nackt stehe ich am Herd und koche Kaffee, und beide Nacktheiten sind dort, wo sie sind, völlig fehl am Platz, sind roh wie Wurzeln, die man aus der Erde riß, und der Skandal, das ist dieser Morgen, dieses schamlose Auge, das uns so früh schon findet, unbeirrt.
Alpwach
Kälter jetzt und noch dunkler, die Dämmerung strenger, der Tagesanbruch wie eben frisch aus dem Kühlschrank geholt, naßfremd und versiegelt. Ich verzichte auf die Lampe, ich will schauen, wie weit ich ohne Licht ins Jahr komme. Wenn ich den Weg nicht mehr sehen kann, ist es soweit. Vorher nicht. Es ist viel zu warm für künstliches Licht.
So wie die Einbildung aus der Sicht der Realität völlig unglaubhaft scheint, scheint ebenso unglaubhaft die Realität aus der Sicht der Einbildung. Wach liegen und sich ein Geräusch einbilden, nein, ein Geräusch hören: Jemand schleicht ums Haus, jemand atmet laut vor der Tür, jemand hockt unterm Fenster und knistert mit einer Plastiktüte. Überzeugt sein, gegen alle Vernunft, daß es so sein müsse, daß es gar nicht anders sein kann. Oder noch schlimmer: Die Silhouette eines Kopfes im Fenster. Alles ist wahrscheinlicher als die Deutung, daß es wirklich ein Kopf ist, aber keine andere Deutung fällt einem ein. Und am schlimmsten: sich plötzlich krank zu fühlen, Übelkeit, Halskratzen, Schmerz, so echt und furchterregend, daß es absolut unglaubhaft, daß es entgegen der tatsächlichen Verhältnisse als ferne Einbildung scheint, vielleicht doch gesund zu sein.
Wenn man im Dunkeln losläuft, scheint der Tag mit Sonnenschein und Mittagswärme eine ferne Einbildung; so wie die kühlen Wege in der Dämmerung, die verhangenen Felder und tintigen Wiesenstreifen zwei Stunden später schon, beim Warten an der Straßenbahnhaltestelle, eine traumartige Beschaffenheit angenommen haben; eins wie das andere erscheint bis zur Unzugänglichkeit entfernt. Die Laufschuhe stehen im Flur, schon abgekühlt und trocken, wie etwas, das man vom Grund eines Sees herausgeholt hat; etwas Reales von einem im Grunde irrealen Ort.
Nachts an einem irrealen Ort voller Schmerzen gefangen sein, dabei wach sein, schlimmer als Träume, aus denen man immerhin aufwachen könnte. Ich muß warten, bis die Nacht erwacht und zum Tag wird, mich wie den bösen Traum, der ich mir selbst bin, vergißt und mich mitnimmt dorthin, wo Rettung ist. Aber der Morgen ist vielleicht, wie bei Prousts einsamem kranken Hotelgast, der, aus kurzem Schlummer erwachend, die Abend- für die Morgendämmerung hält und glaubt, bald Hilfe bekommen zu können, dann aber erkennt, daß die Dunkelheit erst begonnen hat, und „er die lange Nacht wird durchleiden müssen“ –: dieser Morgen ist vielleicht noch fern.
Und auch dann gibt es vielleicht keine Rettung.
Endlich ist es hell, schütteln sich die Wege frei. Ein paar glattgestrichene Wolken stehen starr am Himmel, als hätte die Nacht sie dort zum Trocknen aufgehängt und vergessen. Am Horizont Pferde vor Waldsäumen, weiß, unbeweglich, Pinselstriche auf dunkler Leinwand. Plötzlich das Schwirren einer gefährlich nahen Raubvogelschwinge direkt an meinem Ohr, fast meine ich, den Luftzug auf der Wange zu spüren, in Kopfhöhe teilt der unglaubhaft schwere Körper die Luft wie ein Schiffsbug, hebt sich davon, empor zu einem Waldrand, wo ich ihn aus den Augen verliere. Es ist derselbe Vogel, denke ich mir, der hier schon zweimal vor mir geflohen ist, beide Male aus dem Unbemerktsein herausgeflogen wie ein Steinschlag aus Luft. Morgen, nehme ich mir vor, wird er mich abermals entlassen aus der Nacht in den wartenden Tag.
(Wie betäubt im Immernochtraum nach der durchwachten Nacht zur Haltestelle gestolpert. Die Gesichter der anderen Wartenden so klar, die Blicke so scharf, als wären sie schon immer wach gewesen in ihrem eigenen Traum.)
Untergänge (1)
Am östlichen Horizont eine straff gespannte Fläche gleich einer zum Platzen gefüllten Blase, in der Mitte feuchtmetallisch glänzend, am oberen und unteren Rand eingetrübt, von scharf abgezeichneten dunklen Bändern wie von eruptiven Rissen durchzogen, die ein körniges Triefen von Rot unter sich lassen, den Grund der Berge verschattend, bis hoch zum Mittag aufragend, als wälze sich von dort der Himmel einer tödlichen, fremden Welt über den grauschwarz verfärbten, narbigen Grund der bekannten und begrabe und zermalme dabei alles unter sich. Über dieser Walze ein einzelner blasser Stern am noch ungetrübten Himmel, wie etwas, das sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat.
Später, auf dem Anstieg vom Brenig zum Römerhof hat sich die Walze in ein orangegelbes Brennen hinein aufgelöst, das den ganzen westlichen Himmel erfüllt. Die Farbe ist von einer Kraft beseelt, die auf Zerstörung aus ist, besitzt die Zeichen einer fernen Katastrophe, deren Lautlosigkeit im Ablauf die Vollständigkeit der Zerstörung umso deutlicher verkündet. Alle Vögel haben den Himmel längst verlassen. Sie werden trotzdem nicht entkommen. Wie die Schockwellen von Detonationen hängen Streifenwolken vor dem von Minute zu Minute fahler werdenden Brand, ihr Stillstand täuscht aufgrund der Entfernung über die rasante Geschwindigkeit hinweg, mit der sich die Vernichtung ausbreiten muß.
Inzwischen ist der Himmel unter einen schwefelgelben Schleier getaucht. Langsam wandelt sich das Licht zum Grünlichen. Weiterhin Stille. Die Wiesen glühen, Schatten schlagen sich wie Nägel in den Grund, Glut legt sich um die Stämme der Birken, jeden Moment können Flammen aus dem erstorbenen Holz herausschlagen, die Blätter scheinen sich um rote Stifte zu krümmen, bevor sie verbrennen. Auf der Weide steht ein Unterstand oder Geräteschuppen, klein, von Feuer angehaucht, geduckt, er sieht aus wie jene schwarzen Kakteen im Vordergrund der Bilder von der Trinity Test Site. Lebendig im Tode. Ein hölzernes Gatter glänzt wie Metall, die Beschläge glühen. Stößt man es auf, wartet dahinter der Tod. Ein paar hundert Meter entfernt die weißen Silhouetten zweier Pferde, Momente, bevor ihr Skelett unter der Haut und dem verdampfenden Fleisch für kurze Zeit sichtbar wird, ehe auch dieser Schatten verbrennt.
Mit erhobenem Haupt untergehen? Nein. Sich niederhocken, sich klein machen, so klein, wie man wirklich ist, ein Stück letzte Erde vor Augen, ein letztes Gewimmel von Ameisen oder Käfern, ahnungslos in ihrem letzten Fleiß, und ehe die Glut über den Nacken schießt, über den Scheitel rast und alles schon ausgelöscht hat, bevor es zu Ende ist: einen Grashalm betrachten, einen Unkrautschößling, die unscheinbarste Blüte der ganzen Wiese für ein letztes, ein allerletztes Bild.
Frühprotokoll: Wider das Interessieren
Es ist dunkel jetzt um fünf, stockfinster, still, die Räume nachdenklich ins Weite gespannt, eine Weite, aus der vereinzelt Regentropfen fallen. Der Nachrichtensprecher verkündet Tode, Schwert und Verderben, ich lasse ihn reden. Es ist immer das gleiche. Es ödet mich an, es ist mir gleichgültig. Als hätte ich die Pflicht zur Entrüstung! Die Pflicht, depressiv zu werden.
Ich bemitleide alle Menschen, die sich von Berufs wegen für etwas interessieren müssen. Immobilienpreise, Software-Updates, Blasenkatheter, DIN-Normen, Sicherheitslücken, Darmzotten, kubisch-zentrierte Kristallgitter, kraftschlüssige Verbindungen, Fußballergebnisse, Brandschutzverordnungen, relationale Datenbanken, laktosefreie Ernährung, Fix-A-Glut Schnellbindezement mit extrasanft modulierter Siccationsphase, doppelte Buchführung, vierlagiges Toilettenpapier mit Minzgeschmack, einzeln aufgehängte und kreuzweise verspannte Federmuffen. Was für eine Freiheit liegt darin, sagen zu können, das interessiert mich nicht. Was für eine Erlösung, sich nicht zu interessieren. Vor Jahren einmal Marcel Reich-Ranicki in einem Interview: „Die angloamerrrikanische Literraturr interrethiert mich nicht.“ Herrlich. Ich glaube, das war letzten Endes das, was jedem meiner Berufswünsche zugrunde lag: die Freiheit, einmal das tun zu können, was mich interessiert, den Rest mit einem „Interessiert mich nicht“ ungestraft von der Tischplatte fegen zu dürfen. „Die Brandschutthverordnung interrethiert mich nicht“ – Wunderbar.
Ich stelle fest: Das meiste interessiert mich wirklich nicht. Ich beobachte das im Vergleich mit anderen. Da gibt es einen Freund, der alles ausprobieren muß, einzig um der Erfahrung willen. Neugierig wie eine Elster, findet er fast alles, das er noch nicht kennt, erst einmal spannend. Das ist mir völlig fremd. Ich bin leicht überfordert und ebenso leicht unterfordert. Einige wenige Erfahrungen, Vollzüge, Erlebnisse sind mir so wichtig, daß mir die Zeit für etwas anderes, das ich noch nicht kenne, zu schade ist. Was, wenn es mich enttäuscht? Und wahrscheinlich wird es das. Die meisten Erfahrungen langweilen mich nämlich innerhalb von Minuten. Bei anderen weiß ich zuversichtlich, daß sie mir nicht behagen werden. Ich werde nie freiwillig in den Wagen einer Achterbahn steigen. Oder mit einem Gleitschirm fliegen. Ich muß auch Island nie gesehen haben, oder mit Druckluft tauchen. Schnorcheln reicht völlig. Nach fünf Minuten wird mir ohnehin kalt. Ich dachte auch einmal, man müßte, man mußte doch. Was alle sagten und dachten: Gereist sein, Länder und Menschen kennengelernt haben, man mußte doch Drogen ausprobiert, Nächte durchgetanzt, ein Open-Air-Konzert besucht, Sex am Strand gehabt, in einer Kommune gehaust haben, mit dem Tretboot in Sandalen über den Atlantik gefahren oder auf Rollschuhen den Aletschgletscher hinuntergefahren sein. Man mußte, man mußte! Sonst? Ja, was eigentlich? Hatte man dann etwas verpaßt? Es waren die Jahre, in denen man den Film Dead Poet’s Society gut finden mußte. Ich fand ihn gut. Damals. Heute finde ich ihn verlogen, ideologisch, falsch in seiner unüberlegten Hau-Ruck-Philosophie. Vom Kitsch zu schweigen.
Vielleicht ist aber auch das ein Luxus. Man mußt erst einmal so viel erlebt haben wie ich, um sagen zu können, im Tretboot über den Atlantik interrethiert mich nicht. Ich habe den ganzen Quatsch (mit Ausnahmen) ja mitgemacht, den man angeblich mußte. Trotzdem ärgert mich das Gehabe von damals noch heute. Als wäre das Jungsein eine Verpflichtung gewesen. Mich ärgert, daß ich so beeinflußbar war.
Neuweg, Apfelmaar, die letzten Regentropfen, südwestlich blauer Himmel mit Schäfchenwolken. Wind- und Vogelstille. Wie ein Fingerschnippen des Laubs manchmal ein davonstiebender Flügelschlag. Kurze, scharfe Rufe. Träges Arbeiten eines Bussards, der vor mir flieht, über die Wiese strebt, sich hunderte Meter entfernt niederläßt. Ein Mann kommt zur stillen Andacht an ein Wegekreuz, wir grüßen uns. Der Wald ist still und brütet, das Unterholz leer, die Hallen haben Ferien. Himmel, Tropfen, Pfützen, Schuppen eines Lärchenzapfens, die Hundspetersilie am Wegrand, das grüne Gähnen der Straße, ein Pilz, den ich nicht kenne, das ist Raum und Erfahrung genug für mich. Zuhause das Radio, schweigt mich an, beleidigt, schmollend, und doch im Bewußtsein des längeren Atems der äußeren, größeren Welt.
(Erst bei den Pferdeweiden ist mir der Traum wieder eingefallen. Ein Pferd schubberte zärtlich mit der Schnauze an meinem Knie oder Oberarm entlang, eine Geste so voll von Freundlichkeit und Vertrauen, daß ich die beiden echten Pferde auf der Weide am liebsten umarmt hätte. Ich habe wiederkehrende Tierträume, angenehme wie unangenehme. In den unangenehmen muß ich mich immer größer werdender Spinnen erwehren. In den angenehmen begegnen mir meist Hunde, selten Mäuse, und jetzt ausnahmsweise ein Pferd. Das begleitende, die Stimmung des Traums dominierende Gefühl ist das der Herzenshingabe. Diese Tiere vertrauen mir, nähern sich mir oder sind eng bei mir in freundlichen Absichten. Manchmal berühren sie mich. Manchmal schauen sie mich nur an. Es sind unabhängige, freie Wesen, die mir zugeneigt sind, mich aber nicht brauchen. Trotzdem ist etwas Verletzliches an diesen Tieren, man muß gut zu ihnen sein, sie schützen. Eine Gefahr, vor der sie zu schützen wären, gibt es nicht in diesen Träumen, kein Bedarf, zu handeln. Die Tiere sind da, ruhig, gelassen, meine Nähe suchend. Das ist alles. Und es ist wunderschön.)
Erst laufe ich, ich laufe
einen Marathon, durch ein lichtes Wäldchen, auf einer schmalen geraden Landstraße. Es geht bergauf, immer steiler bergauf, gleich müßte der Scheitel der Steigung erreicht sein. Bei mir läuft noch jemand, dem rufe ich zu, daß wir es gleich geschafft haben, daß wir gleich oben sind. Manchmal krümmt sich die Straße auf so unmögliche Weise, daß ich gleichzeitig auf ihr und unter hier hangend laufe. Und dann, dann passiert es.
Da ist keine Straße mehr, kein Wäldchen, keine Steigung, da ist überhaupt kein Grund mehr, da ist nur noch Tiefe, mehr geahnt als gesehen, vor mir, unter mir, ich stehe oder schwebe sturzgefährlich in schwindelnder Höhe sehr wackelig auf irgendetwas, neben mir ein Holzgerüst, darüber fester Grund, da müßte ich raufklettern. Ich wage nicht, mich zu bewegen, ich kann mich kaum halten, da ist nichts, woran ich mich klammern könnte. Und nicht genug damit, daß ich keinen Halt habe und kaum Grund oder Balken zum Stehen, habe ich auch noch eine Matte bei mir, eine dünne, schwarze Isomatte, die mich behindert. Wieder ist jemand bei mir, in Sicherheit, eine Frau, namenlos, die ich nur im Traum kenne, die sonst keine Identität hat, kein Gesicht. Sehr langsam, zitternd, drehe ich mich ein Stück zur Seite. Die Frau muß mir helfen, auf das Gerüst zu klettern, ich flehe sie an, aber die Panik, die mich ergriffen hat, ist so groß, daß ich nur flüstern kann.
Beim Erwachen die Hände immer noch naß vor Angst.
Straße, nachts
Die Nacht ist alterslos und hell ohne hell zu sein. eine Stille herrscht, die das Drinnen mit dem Draußen verbindet, als gäbe es keine Mauer, kein Fenster, als wäre das Zimmer eingebildet. Ein Traum, eingeschachtelt in einen weiteren Traum, eingeschachtelt in Nacht, zurückgeschachtelt in den imaginären Raum des Zimmers. Alles ist ausgekleidet mit klebriger Wärme, Laken, Matraze, die Luft über der Haut, die Innenwände des Atmens.
Ich komme von der Toilette zurück, da höre ich einen Knall, kurz und trocken wie ein Pistolenschuß, und mir scheint, es hat auf der Straße etwas geblitzt. Nur diesen einen Knall, dann herrscht wieder Stille, eine Stille, die sofort in das präzise Loch zurückströmt, das der Schall gerissen hat. Ich lausche. Der Knall setzt sich ins Ohr hinein fort, als energetisches Negativ wird die Stille punktförmig tiefer als sie selbst. Es ist kein Traum, aber es hat alle Qualitäten eines Traums: Jemand ist da draußen. Jemand schleicht da herum, hat vielleicht das Ohr an die Außenwand gelegt. Jemand, der Knallgeräusche macht, und der jetzt mucksmäuschenstill ist, als lauere er darauf, daß jemand reagiert. Ich trete ans Fenster, aber da ist nichts, nicht einmal ein Mond, nicht einmal Himmel. Die Straße ist wie ein weiteres Innen, aus dem kein Entkommen ist, sie wartet auf Schritte, darauf, daß jemand schreit, vielleicht.
Frühprotokoll
Die Sonne im Fenster. Festverschweißtes Licht, Fingerabdrücke, Brandzeichen. Traumverluste, ungeküßte Frau, die Verheißung von Nähe. Man müßte nur nachgeben, nachgeben, zulassen. Müdigkeit, als wäre die Haut gestern zum Trocknen aufgehängt worden. Steif und fleischlos ermatten die Finger am Wasserkessel.
Ein Auto parkt gegenüber dem offenen Fenster. Der Lärm eine lästige Fußnote, durchbricht den fortlaufenden, den mühsam in Gang gekommenen Text des Morgens. Vogelschall singt zu einem andern, einem weit entfernten Publikum am falschen Ende von Straßen.
Blank und schön der Edelstahl der Spüle. Ich tue alles so, wie es getan werden muß. Nicht mehr, nicht weniger. Der Atem findet sich, die Augen kommen mit ihren Blicken in Takt. Korrekt die Spinnweben. Selbst im Staub ist Sorgfalt. Das Wasser kocht, wie es soll. Im dampfenden Strahl, im Auftreffen auf das Kaffeepulver, im Aufwallen des Schaums, im Duft: zeigt sich plötzlich eine bislang unbekannte Seite der Zuversicht.
Schlüpfer
neujahr. und du fehlst.
im wäschekorb vom letzten
jahr liegt dein schlüpfer
***
tief in der wäsche
verborgene koralle
mit dem herz aus salz
***
der stoff kennt dich wie
ich dich nie kennen werde
neid auf baumwolle
***
hochgefischt vom grund
kühles rätsel deiner haut
geruch von neuschnee
***
gleich der ehemals
leuchtenden alge am grund
trüb jetzt an der luft
***
nachtragend wie die
vergilbte notiz für ein
geplatztes treffen
***
nach dem waschtag, nachts
steht der wäscheschrank schlaflos.
ins schloß späht der mond
***
nicht um die seide
ist es schade, reifte doch
im innern die frucht
***
so weiß wie eine
frisch verschlossene wunde
zarter damm vorm blut
***
vergessen im korb
was dich umhüllte, bewohnt
jetzt eine spinne
***
die nase im stoff
weniger als ein zeichen
das nichts von dir weiß
***
fluch dem gewebe
bringts mich doch dem gestern nicht
näher oder dir
***
wohnt da noch ein geist? —
küß ich zärtlich den stoff, bin
ich selbst das gespenst
***
schmerzlich die einsicht
im leeren stück wäsche bist
du noch mehr nicht da
112 Meilen (5)
Ein Auto.
Aus dem Auto eine Leine.
An der Leine ein galoppierender Hund.
Zwei Walkerinnen sind stehengeblieben und schauen dem kuriosen Gespann nach. Gemurmelte Entrüstung, Schulternheben, hilfloses Lachen. Eine scheint dem Wagen etwas nachzurufen. Sie wissen nicht, was sie davon halten sollen. Sie haben diese Art von Gesichtsausdruck von Leuten, die ihre Schokolade im Reformhaus kaufen, und sehen aus, als wollten sie dem Wagen gleich nachstöckeln. Dann besinnen sie sich eines besseren setzen ihren Weg kopfschütteln fort. Ich habe meine eigenen Gründe, diese seltsame Form des Gassigehens fragwürdig zu halten, aber nie im Leben brächte ich darüber gegenüber dem Hundehalter ein Wörtchen über die Lippen. Meine Gründe haben auch weniger mit Tierschutz als mit meiner Abscheu gegen motorisierte Fahrzeuge zu tun.
Hundert Meter weiter ist der Wagen stehengeblieben, der Hund steht im Schatten des Fahrzeugs. Es ist ihm nicht anzusehen, ob er den Gang an der Seite eines stotternden Autos nervig findet, ob er sich verarscht fühlt oder ihm das ganze einfach nur peinlich ist: Er zuckt etwas zusammen, als wir herankommen, drückt sich mit der Flanke angstvoll gegen den Wagen wie an ein warmes Muttertier. Ein scheuer Hund. So etwas gibt es.
Der Mann am Steuer sieht nicht so aus, als kaufe er seine Schokolade im Reformhaus. Vollbart, Käppi, Brille mit Kassengestell, Zigarette im Mundwinkel. Er ist sehr freundlich und erklärt uns den Weg, den wir dann doch wieder verlieren werden, weil die Karte nicht stimmt, oder besser: Weil sie den Wegverlauf geändert haben beim Eifelverein, wir aber mit alten Karten unterwegs sind. Eine Maßnahme übrigens, die uns später noch viel Nerven kosten wird, ein geharnischtes Schreiben an den Eifelverein ist in Vorbereitung.
Später steht derselbe Wagen oder ein anderer geparkt an einem Waldrand. Schatten wedeln wie Algen in einem See. Die Wärme knackt im Unterholz. Man meint, Luftblasen stiegen schillernd zwischen den Farnwedeln auf. Ich habe die Vision, daß ich gerade selbst diesen Wagen dort geparkt habe. Das eigene Leben, betrachtet von ferne, wie in einem Buch, eine Illustration zu etwas, das nie war, aber hätte sein können, denkbar, oder knapp weniger als das: eine Ahnung. Da steht es, mein Auto, am äußersten Rand einer ganz anderen Geschichte, Rand einer Vergangenheit, die ebenso unbegreiflich wie irrelevant ist für das Bild, das sich mir zeigt, mit dem ich minutenlang verschmelze. In diesem Bild bin ich gerade auf abenddunkler Straße unterwegs gewesen mit dem Fahrzeug, langsam fahrend, zum Vergnügen, um sich den Kopf vom Strom der Landschaft leersaugen zu lassen. Halt an einem solchen Parkplatz am Waldrand. Knirschende Kiesel, tief unten in der Abendkühle, wo die Füße sind. Ein Strecken ins Schwinden von allem. Frieden, der hier immer schon war, zeitlos wie Nacht und Tag. Ein Wild regt sich irgendwo. Die Wege tauchen ab, als suchten sie den Grund von Nacht und Dunkel. Es riecht, wie frisch geschlüpfte Sterne riechen, kurz bevor man sie sieht. Nachtluft strömt durch mich wie durch einen brausenden Flaschenhals, ich bin eine Kreuzung für Luft, alles, was strömt, muß durch mich durch. An Fichtenzweigen schlägt sich Kälte nieder. Weit fort treiben Lichter über die Hügelwellen. Es ist still, und ich weiß, es wird so still bleiben. Die Stille nimmt alles von mir auf, ohne Prägungen davonzutragen. Ich werde gleich zum Auto zurückkehren; wenn ich fahre, werden die Straßen im Dunkel angekommen sein. Ich werde über vertraute Wege gleiten. Ich werde jeden Zaunpfahl kennen, den der Scheinwerfer zur kurzen Betrachtung aus dem Dunkel zieht. Ich bin hier zu Hause, ich fahre in der Stille, ich fahre durch meine Heimat, wo ich irgendwo ein Bett habe und eine Nachttischlampe, ein Buch, ein Fenster zur Wiese, einen ruhigen, tiefen Schlaf unter einem Mond, der leuchtet wie ein stummer Gong.
Ich schüttele mich ein wenig. Trete einen Kiesel weg. Schnaufe probeweise. K. ist vorausgegangen, wartet am andern Ende des Waldrands. Wir halten uns an den Händen und gehen weiter, staunende Kinder durch diese Simulation des eigentlichen Lebens. Wir werden noch oft uns nach uns selbst sehnen auf diesem Weg, jedes auf seine Weise.
Ein Traum
… in einem Hafen, aber innerhalb eines Gebäudes, einer Halle, und gegenüber, an Bord eines Schiffes, sitzt ein älterer Matrose mit der kleinen, vielleicht sechsjährigen Stefanie. Er erzählt ihr was. Plötzlich gerät etwas in Bewegung, etwas wird geschehen, und der Matrose herrscht das Kind Stefanie an, wegzuschauen, «Schau nicht hin!» schreit er, und da geht rechts von den beiden eine Tür auf, und aus der Tür tritt Stefanie als Erwachsene, und das Kind Stefanie soll nicht sehen, was die erwachsene Stefanie einmal tun wird und jetzt tut, wenn sie aus der Tür tritt, kurz innehält und dann entschlossen und unzeremoniell ins trübe Wasser des Hafenbeckens springt und verschwindet. Ich erschrecke schlimm, zögere einen Moment, versuche, mir einen umständlichen Wust von Kleidern vom Leib zu reißen, springe dann, als das zu lange dauert, eingewickelt in Tücher selber ins Wasser. Die Tücher breiten sich auf der Oberfläche um mich aus, und das Wasser ist undurchsichtig, Hafenwasser, doch als ich tauche, kann ich alles sehen, weiße Fliesen bedecken den Grund, nur von Stefanie ist nichts zu sehen, das Becken ist leer, sie ist fort, verschwunden, ausgelöscht, unwiederbringlich weg.
Ich begehre auf. Warum hat sie niemand daran gehindert, zu springen? Ich begegne sanften, aber Unverständnis zeigenden Zurechtweisungen. Niemand bemüht sich, mich zu verstehen. Gemeinsame Bekannte halten es für richtig so, Stefanie habe das so gewollt, man müsse das akzeptieren, aufzubegehren sei töricht. Ich weine und weine, untröstlich und von niemandem verstanden. Zuletzt ging es, glaube ich, darum, wenigstens die Geschichte aufzuschreiben. Aber schon das wird von allen als vergebliche Auflehnung, als unvernünftigen Versuch gedeutet, gegen das Unabänderliche anzu—.
Apollinarishütte
Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Premium-Wanderweg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben, und was oben am Weg, was auf der Landstraße sich nähert, vor sich geht, sich wieder entfernt, geht uns nichts an. Wir sitzen umschlossen von Holz und vor uns hängt Wildwuchs vorm Tal.
Wir sind an dem Ort, der uns schon von zwei früheren Malen kennt. Keine Umschweife, kein Essen und Trinken, nicht einmal der Form halber, unser Hunger, er ist ein ganz anderer, unser Durst ein lange, allzu lange nicht gestillter. Die Rucksäcke legen wir ab, wenden uns einander zu. Wir fassen uns bei den Händen, wir küssen uns und nehmen den Faden, der uns den ganzen Weg hierher zitternd verbunden hat, wieder auf wie ein unterbrochenes Gespräch – aus Küssen. Wozu die Lippen und die Zungen nicht alles gut sind, wir entdecken es wieder und wieder neu. In diesem Moment gibt es nichts zu sagen, was mit Sprache besser oder schöner oder poetischer zu sagen wäre, als mit der stummen Phonetik des Speichels.
Ab und zu lassen wir ab voneinander, schauen uns in die Augen, Stirn an Stirn. Schon haben wir die Brillen abgelegt, ist der Umkreis in wolkige Unschärfe gesunken. Ein Knacken, ein Rascheln: Wir lauschen. Waren da nicht Stimmen? Nein. Wir sind allein, allein in einem Kreis Unschärfe, der uns schützt wie eine Zeltplan. Wir wenden uns einander wieder zu.
Es gibt ein Wort von dir, das mich immer in verlegenes Entzücken versetzt. Du schöner Mensch, sagst du dann, und weil ich weiß, du meinst es so, macht es mich noch mehr verlegen. Jetzt zupfst du mir das Hemd aus der Hose, schiebst es mir hoch bis über die Brust und murmelst etwas davon, was du die ganze Zeit schon gewollt habest. Deine Finger sind warm vom Gehen. Im hölzernen, trockenen Schatten der Hütte leuchtet weiß mein Bauch hervor, rund und weich wie der Bauch eines ruhenden Kindes. Die ganze Zeit klingen Hammerschläge aus dem Tal herauf; Hunde bellen, als hätten sie uns gewittert; im Gebüsch zetern Vögel. Wir halten inne, lauschen. Einmal sind wir zwar nicht erwischt, aber heikel überrascht worden. Auch dieses Mal werden wir so eben noch Glück haben.
„Du schöner Mensch!“ sagst du und beugst dein Gesicht über meinen weißen, weichen Kinderbauch. Dein Mund ist noch wärmer als deine Finger.
Und während wir die Zeit vergessen, vergißt uns die Zeit nicht. Sie drängelt nicht, sie bummelt, wartet, läßt die Momente genau ineinanderfallen. Höflich und diskret teilt sie aus von sich, so daß uns genug von ihr bleibt, um aufzuknöpfen, was aufzuknöpfen, um abzustreifen, niederzureißen, was abzustreifen und niederzureißen ist, und während oben gerade der Wagen in den Parkplatz abbiegt, haben wir genug Zeit, um zueinander zu finden, und während oben der Wagen mit knirschenden Kieseln zum Stehen kommt, haben wir uns aneinandergedrängelt, an die Wand der Hütte gelehnt mit Faust und heiserem Atem, und die Zeit schaut genau hin, daß sich nichts überschneide und peinlich überlappe, die Zeit ist schamhaft und meint es gut mit uns, sie ist unsere Verbündete, unsere Komplizin, die wohlmeinende Amme an der Tür, ich habe dich umfaßt und drücke dir Küsse in den Nacken, während oben eine Wagentür zuschlägt, ein Jubellaut sammelt sich in deiner Kehle, während Schritte über den Waldweg herbeikommen, und bis wir zusammenzucken und die Beine unter uns nachgeben, sind sie schon auf den Pfad zur Hütte eingebogen; aber nichts stört uns auf, die Zeit verlangsamt dort den Gang, beschleunigt ihn hier, läßt unserer Lust die Dauer, hemmt drüben die Schritte, die sich erst nähern, dämpft die Stimmen, die erst dann aufklingen dürfen, wenn wir ermattet auf die Bank zurückgesunken und zu Atem gekommen sein werden; erst wenn wir die Augen zueinander aufgeschlagen, erst wenn wir uns geräuspert, Haar und Hemd in Ordnung gebracht haben; erst, wenn wir uns träge, der Wonne nachschmeckend, geküßt haben, erst, wenn niemand uns mehr etwas ansehen würde (es sei denn, er schaute sehr, sehr genau hin): Erst dann hören wir beide die Stimmen, deutlich jetzt und unbezweifelbar, und wie sich die Familie, zwei Erwachsene, ein Kind, vom Wege her im Rücken der Hütte, wie sie sich unserem Versteck nähern und endlich ins Blickfeld stürzen.
Später, da sitzen wir an der Bank im Freien, wird uns das alles wie ein Traum vorkommen. Die Straße ist still. Die Besucher haben sich umgesehen und sind wieder verschwunden. Niemand kommt mehr vorbei, so lange wir noch hier verweilen. Ein Traum. War da überhaupt jemand? Wir blinzeln einander zu, erwachend. Wir küssen uns beklommen, fast scheu. Nachdenklich kosten wir von den Mirabellen.
Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Weg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben. Wir küssen uns. Ein Vogel zetert. Im Tal bellen wieder die Hunde.
Im Traum geimpft
Geträumt, ich würde (stellvertretend für eine ganze Gruppe) auf einem Lager von Feinden überwältigt. Ich war unvorsichtig oder habe etwas riskiert, jedenfalls habe ich mich aus Sicht derer, die mich daraufhin ans Bett fesseln, eines Vergehens schuldig gemacht. Ich bekomme danach, wenn nicht als Strafe, so doch als Konsequenz meiner Verfehlung oder meines Entdecktwerdens, zwei schmerzhafte Injektionen.
Erstaunlich dabei das schlechte Gewissen des Ertappten, das Gefühl der Schuld, selbst noch demjenigen gegenüber, dessen Zwang und Vorhaben man aus guten Gründen ablehnen darf; gefehlt zu haben, und sei es, dem Gegner gegenüber. Ich empfinde dabei kein Aufbegehren, bin kooperativ, empfinde die Maßnahme als gerechtfertigt. Es ist ein Gefühl, das ich aus dem Wachsein durchaus kenne, selbst noch im rechtschaffendsten Widerstand habe ich oft das Gefühl, Unrecht zu tun, verspüre den Impuls, mich zu ducken; das Bewußtsein, fehlzugehen ist dabei allemal deutlicher, konkreter und mächtiger als das im Abstrakten wurzelnde Gefühl, im rein Argumentativen recht zu haben, was vielleicht auf der komplexen, evolutionär weit älteren Beziehung zwischen Mächtigem und Unterlegenem in einer hierarchischen sozialen Ordnung beruht.
Rodestraße (Noch ein Morgen)
Am Tisch, des Morgens. Die Schattenspiele betrachten. Den Rücken zum Licht und zur Frühe. Mit halbem Ohr auf die Vögel achten. Der blankgewischte Tisch. Die erloschene Kerze vom Abend. Die verblühte Akelei. Die Schlafende im Nebenzimmer. Ein Wind weht durch die Schatten, kräuselt den Schimmer auf der Tapete. Die Küche schrumpft zu einem Ensemble stumpfer Flächen. Die Uhr nimmt ihr Ticken wieder auf, die Zeit schreitet fort und von etwas weg, das du wieder nicht erfaßt hast. Die Flächen stellen sich dicht an dicht. Die Reflexe auf den Gläsern sind starr, die Blütenblätter liegen in derselben Ordnung um die Vase, nur im Schließen des Augenblicks, in seinem Vorbeisein, merkst du es und hast es schon wieder verloren. Wie dieser Schimmer vielleicht in den Strom der Zeit hineinfiel, ein Wehen vorbeistrich, ein Wort beinahe hörbar wurde. Die Fläche des Glases, die mehr trennt als Drinnen und Draußen. Das Licht schwindet, kommt wieder, erlischt endgültig, die Vögel verstummen einer nach dem anderen, als gäben sie ihn schon auf, diesen Morgen, diesen kaum begonnenen Tag.
Sich zusammenreißen, noch einen Absatz schreiben; Kaffee machen, ins Nebenzimmer und wecken gehen und los, und weitermachen, als wäre das schon alles, als wäre wieder nichts geschehen.