Schwangau (3)

Es soll tatsächlich Touristen geben, die sich über das Gebimmel der Viehglocken aufregen und über die Kuhfladen auf der Straße ärgern. Was wollt ihr hier, denke ich, was erwartet ihr euch von diesem Land? Ihr wollt Idylle ohne Klänge und Gerüche? Bleibt zu Hause und schaut euch lieber einen Heimatfilm an.

Abends aus dem Wagen steigen und das Gesicht in die Regenluft tauchen. Zusammen mit dem Herdrauch und den Kuhglocken ist da sofort wieder dieses immense Zuhausegefühl, eine Heimat der Zeit, abgelegte Spielzeug-Fremde, eine verlorene Art des Daheimseins, nach langer Fahrt, an einem wilden, abendkalten, bachklirrenden Ort im Schatten von Bergen. Damals zogen wir unsere Heimat in den vier Wänden des Wohnanhängers mit uns herum und waren, wo wir auch eintrafen, und sei es ein Atobahnrastplatz, daheim. Die Fremde blieb zahm, legte sich auf die Türschwelle und schnurrte. Menschen brauchen einen Innenraum, und sie schaffen ihn sich, wie Sloterdijk gezeigt hat, wo auch immer sie sich niederlassen und mit ihrer Umgebung auseinandersetzen.

Schon eine Nacht in der Ferienwohnung, und man kennt die Winkel und die Entfernungen und die Geräusche. Man entfernt sich sehr schnell vom ersten Eindruck und schaut auf die Ankunftsstunde mit Verwunderung. Man kennt noch die Fremdheit dieses Augenblicks, als man die Wohnung zum ersten Mal betrat, aber man empfindet sie nicht mehr. Man füllt die Räume mit Traulichkeit, und die Fremde bleibt vor der Tür.

Der Fremde ausgesetzt sein, mit allem, was man ist, das ist schrecklich. Die Heimatlosigkeit und das Heimweh. Mit müden Gliedern in einem regennassen Wald nichts als ein mickriges Zelt haben für den Bau der Heimatblase. Unter einer Masse gutgelaunter Gleichaltriger im Zeltlager einen Platz für Intimssphäre finden müssen und aber nirgends finden. In einem schmutzigen Hotel absteigen, von schlechtgelauntem Personal empfangen werden. In einer fremden Wohnung mit fremden Familienregeln unterkommen müssen. Der Grund, warum ich nicht mehr reise und eigentlich nie hätte reisen dürfen, ist der, daß ich sehr spezielle Dinge benötige, um diesen magischen Kreis des Zuhauseseins um mich zu ziehen. Ich brauche einen Filter zwischen mir und der Fremde. Eine Wand, die nur ich öffnen kann. Selbstwirksamkeit und vier Räder samt Motor. Das bewirkt ein Nicht-Ausgeliefertsein, das für die Reiseideologen gar kein richtiges Reisen ist.

Dümpfhaubsee

Neue Erfahrung von Kälte. Das Thermometer zeigt 7° Wassertemperatur, mit gutem Willen und scheelem Blick 7,5°. Neulich schon bis fast zur Hälfte des kleinen Sees am Dümpfhaub zurückgelegt, gestern dann wirklich die Hälfte, bis an die Stelle, wo sich das Gewässer weitet. Meine zehn klammen Schwimmzüge bringen mich nicht einmal an den Rand der Nachbarschaft des Vorbereichs dieser Zone, schrieb ich im Frühjahr; inzwischen bin ich da, wohin zu gelangen damals unmöglich schien. Beim Zurück dann ein erstaunliches Brennen in den Oberarmen. Keine Schwäche; aber eine spannende neue Empfindung; ein Gefühl von Wärme, wie von einem Panzer. Die Atmung macht noch Probleme, tauche ich den Kopf ein (in der graugrünen Wassersäule schweben hydrostatisch aufgehängte Blätter und vermitteln ein Gefühl von Tiefe und Räumlichkeit, deren es der trüben Brühe sonst ermangelt), will mir der Atem stocken, man muß eine Weile untergetaucht bleiben, und sich zum Ausatmen zwingen. Immerhin schmerzt die Stirn nicht mehr, das war vor zwei Tagen noch sehr unangenehm. Was sonst noch schmerzt, davon will ich lieber schweigen … Was bei normalen Wassertemperaturen nicht auffällt, daß ich rechts nicht so gut atme wie links, wird, je kälter das Wasser, desto deutlicher.

Schwangau (2)

Früh am Tag in Füssen, ein Herbstmorgen Ende September, die Berge überzuckert von vortäglichem Schneefall, die Straßen naß, die Luft kalt, klar, trägt jedes Sonnengleißen leicht und weit in die verschatteten Straßen hinein. Leuchtender Kaminrauch, darunter stehen die Häuser kältestarr, Atemwölkchen verdampfen von den Lippen der Touristen, die sich, noch nicht allzu zahlreich, am Bussteig (“Tegelberg Station via Castles”) einfinden.

Ein katholisches Land, die Glocken tragen uns stundenlang bergauf, bis wir das Tal hinter uns gelassen haben.

Überhaupt, Glocken: eine Herde Kühe ist vom Schlafzimmerfenster aus hörbar am Abend. Wenige Geräusche sind so friedevoll wie das Läuten von Viehglocken, munter, behaglich, träge wie die Wiederkäuer selbst, die die Glocken tragen.

Nachts Stille, wie man nur sehr selten nichts hört. Es ist weniger als nichts zu hören. Als wäre der Raum, in dem sich das Schweigen abspielt, größer als dort, wo ich zu Hause bin. Als verteilte sich das Schweigen und würde dabei immer noch tiefer, nein, nicht tiefer; reiner, klarer, durchhöriger, offener und empfindlicher für jedwede Störung. Ein hochskaliertes Nichts, die akustische Parallele zur Nachtschwärze, in der selbst ein raschelndes Blatt, ein fallender Tropfen, der Schritt eines Vogels noch wie Lärm toben würde.

Schwangau (1)

Fahrt durch Wiesen, gepflegte, wie Teppiche dargebotene Flächen. Die häufigen Raubvögel, Bussarde wohl, wollen gar nicht passen zu dieser Gepflegtheit. Die Anwesen stehen auf winzigen Inseln darin. Man spart am Gärtlein, es ist knapp den die Gehöfte umwallenden Wiesen abgezwickt, Wiesen, Weiden, Heu sind wichtiger als Rosen und Hortensien.

Vermeintlich harmlos strecken diese Weiden sich, freundlich und grün spannen sie sich über sanfte Hügel, bedrängen dabei aber Forste, die sich, in die Vereinzeltung getrieben, von allen Seiten vom Offenen belagert, kaum behaupten können.

Das Land der Weiden aber ist selbst in Gefahr. Irgendwann schiebt sich eine Art Schatten ins Sichtfeld, während der Zug träge durch dieses Wiesenland rattert. Zuerst scheinen es Wolken zu sein, doch dann verdichtet sich diese Masse zum Grund hin, bis deutlich wird, das Dunkle, gegen die Wiesen Hinunterrollende gehört nicht dem Ätherischen sondern dem tellurischen Element an. Erde ist es, Hang und Grat, das nicht so sehr ins Neblige hinaufführt, als von dort, von dem Himmelssphären, langsam herabgelassen wird, bis seine Füße den Grund berühren und es dort Stand nimmt.

Man schaut und schaut, man folgt dieser mal fels- mal baumbestandenen Linie, hinauf und immer höher hinauf, wo die Gefilde des Himmels beginnen, und Land so unmöglich und dann so bestürzend doch möglich ist, daß einen ein Schwindel überkommt. Die Welt steht Kopf, wo Himmel war, steigt Erde auf, und man wendet schnell den Blick ab, um nicht dort hinaufzustürzen.

Die alte Faszination hat mich sofort wieder, wenn ich diese echten Berge anschaue. Wie oft aus dem Autofenster betrachtete geheimnisvolle Riesen, deren Reich jenseits des Genfer Sees begann — es ist ein Bezirk nicht nur der reicheren Geographie und Topologie, es ist auch ein Bezirk der reicheren Geschichten. Der Nebel überm See, aus dem auf der anderen, entrückten, nie, es sei denn, in der Phantasie, zu erreichenden Seite die ruhenden, ihre Geheimnisse hütenden Berge aufstiegen. Wie Traum und Welt ineinanderflossen und sich fruchtbar berührten zu mehr als dem dürren Augenblick, in dem eingeschlossen man über den Spiegel blickte, mit seinen Segelbooten und Schiffen, die immer nur dem diesseitigen Ufer angehörten, wie weit draußen sie auch ihre Segel entfalteten. Man brachte Geschichten mit, die von den fabelhaften, Fabel-haften, Räumen der Berge am andersanderen, am fremden Ufer neu ausgesponnen wurden, von dort weiterführten, ins Unerhörte hinein. So wie man die Reihen der Buchrücken mit einem Schauer der Erregung abegschritten war in der Kinderbibliothek. Nur daß dies keine eingerollten, verpackten Geschichten mit Anfang und Ende waren. Sondern die Räume boten für dieser Geschichten Unendlichkeiten.

Hürxberg

Die Scheunenwand, stumpf von Wolken. Rechts eine Taube auf der Telegraphenleitung. Genau das könnte Frieden sein. Ein Abend, verschlafenes Spatzenrufen, brütende Wärme, die Scheunenwand, die den Sonnenschein von heute abend vergessen hat, Tauben, gespannte Drähte. Alles sehr still, seit langem verstummt, schlummernd. Nichts zu tun, keine Aufgaben, keine Pflichten, keine Sorgen. Dem Tag hat man geweiht, was zu weihen war, nun ruhen die Glieder, und die Augen auf der Scheunenwand. So oft geschautes Gemäuer, man kann sich nicht sattsehen daran. Man findet überall etwas zum Sich-nicht-sattsehen-Können. Überall, allezeit. Man schaut, und es kommen die Vögel. Man schaut, und sie fliegen wieder davon. Man schaut, und der Abend wird. Wird mit Wolken und Himmel, mit Drähten und Tauben und Mauerstein. Wird und ist geworden und geht und war.

Insulationen (3)

An der Raiffeisenbank in Nebel hängen Immobilienangebote aus. Zu verkaufen ist neben einem Baugrund in Nebel für eine halbe Million Euro (nur das Grundstück) eine Eigentumswohnung in Wittdün. Erdgeschoß, 2 Zimmer (Wohn- und Badezimmer), 45 qm, 25 qm Nutzfläche, kein Balkon, kein Garten, von einem Keller ist auch nicht die Rede, 405.000, Hausgeld 290. Wer dem Zentrum entfliehen, die Sehnsucht aufgeben und sich den Rand der Welt zur Heimat machen will, muß reich sein oder Verwandte auf der Insel haben. Uns anderen, den Habenichtsen, Pechvögeln und Enterbten, bleiben nur das Nahe, das Innere und die Städte.

Insulationen (2)

Gefurchte, genarbte, von selbstähnlichen Kräuselmustern ausgemalte Flächen; oder Flußdelten, Zopfmuster, weder dem Mineralischen noch dem Aquatischen ganz zugeordnete Materie; Zwischenwesen, verflüssigter Sand, geronnenes, zu ornamentalen Diagrammen halberstarrtes Wasser; zarte Gebilde, unverwechselbar einmalig wie Schneeflocken, nur durch die Kraft von Oberflächenspannung zusammengehalten, emergente Struktur: man scheut sich, diesen Arbeiten von Wellen, Strömung, Regen und Wind ins Handwerk zu pfuschen und darauf etwas so Profanes wie Fußspuren zu setzen. Es fühlt sich an, als würde man einem Künstler über die Leinwand latschen. Aber diese Welt ist sowieso ständig in Bewegung, und die fraktalen Furchen im eben erst trockengefallenen Schlick, sie werden bei der nächsten Flut mitsamt den gepfuschten Fußpuren darauf verschwinden — um bei der nächsten Ebbe neugeschaffen wieder aufzutauchen, ohne Gedächtnis, ohne Spuren, ohne Erinnerung an die Schuhsohlen, die hier zwölf Stunden zuvor ein paar Sandkörner verschoben haben, flüchtiger als ein Gedanke. Die Hybris besteht darin, anzunehmen, man könnte sich hier dauerhaft aufprägen; Rücksicht nehmen zu sollen, Schonung walten zu lassen, darin liegt die eigentliche Selbstüberschätzung. Du bist nichts, Mensch. Du bist so wenig, daß du nicht einmal Rücksicht nehmen kannst. Mit deinen Vibramsohlen, deinem Outdoor-Outfit, deinen Brillengläsern und Fernrohren bist du weniger als ein Sandkorn, leichter als der Wind, der das Sandkorn an seinen Platz in den unerschöpflichen Ordnungen trägt.

Insulationen (1)

Beim Spaziergang über den Deich vergeht mir jede Wasser-, Schwimm- und Abenteuerlust. Der Wind schlüpft zu den warmen Händen in die Taschen, zupft hinten an der Jacke, brüllt Seefahrerparolen ins Ohr. Es stürmt, sagt der Binnenländer, und es ist ihm egal, daß das hier für Einheimische noch lange kein Sturm ist. Also stürmt es halt, ein anderes Wort steht für dieses Luftregister nicht zur Verfügung. Luftkohorten, die von weit draußen Anlauf nehmen und den Spaziergänger vom Deich zu stoßen trachten, Inselwinde mit dem Geschmack nach Salz und Wolken. Es reißt am Gesicht, als flögen gleich die Augenbrauen dem Rotz aus der Nase hinterher.

Wir gehen, nun mit dem Wind im Rücken, vor dem Deich am Wattenmeer, das in der Flut langsam von Westen her volläuft, entlang nach Osten, auf einen fernen dunklen Fleck zu, der in dieser streckengeladenen Flachheit meilenweit entfernt scheint und sich, als wir dann doch irgendwie, vom Wind geschoben, näherkommen, als Haufen grauer Steine entpuppt, die von einer Vergangenheit als Ruine zu träumen scheinen. Und dann sehen wir das Bahnübergangszeichen, und allmählich werden von links über den Deich herabgeführt Bahngleise sichtbar. An dem Steinhaufen biegen sie nach rechts ab, überqueren den Weg und streben hinaus ins Watt. Rostige Stränge, Schwellen aus Beton, dazwischen zittert Wasser, der Schienenstrang verschwindet nach kurzem in einem Gewirr aus Marschpflanzen, Schlick und Wind. Erst auf dem Rückweg lesen wir auf einer Infotafel, bei dem Schienenstrang handele es sich um eine Verbindung zwischen der Hallig Langeneß und dem Festland. Diese ist auf einem Damm montiert, dem sogenannten Olanddamm. Ein Photo dazu zeigt einen Wagen, der wie ein Seifenkistenrennauto aussieht, aber einen Mast hat, mit einem schönen Segel daran. Ein Segel auf Schienen! So etwas kann auch nur Küstenbewohnern einfallen. Ein Segel hätten wir jetzt auch gerne, ein Segel, das uns schneller zu dem fernen, am windzerblasenen Horizont klebenden Hotel zurückbringt, aber der Wind käme sowieso von vorn.

Was den Wegen gelingt: sich selbst zu begegnen, wieder und wieder, Anfang und Ende zusammenzuknüpfen, Ankunft und Aufbruch gleichzeitig zu sein, bleibt unmöglich.

Also noch einmal in die Wanderstiefel, noch einmal die Haustür hinter sich ins Schloß fallen hören. Nicht auf den Regen achten, sich den Wald überstreifen wie einen Mantel. Bis ganz hinauf, wo die Böschungen müde am Weg stehen und sich mit den Erdschichten verzählen. Hinter den Hügeln arbeitet sich wie je die Ebene mit ihren Straßen an der Ferne ab. Keine Zeit für Glocken, unter den Steinen knackt schon die Dunkelheit mit den Gliedern. Der Wind bringt keine Geschichten; für die unseren ist er taub.

Von irgendeinem Weg weiter oben klingt Kinderlachen auf, gleich wieder verstummt, zu seiner eigenen Zeit etwas Spätes und Letztes, das es eilig hat, ohne es zu wissen, wie Blätterfall. Auf dem Schotter die Mumie einer vor Monaten vergessenen Socke. Unten im Tal ein geschlossenes Freibad, im gefüllten Becken schaukelt der Himmel mit Gewölk.

Es wäre Zeit, aber wofür? Vor der Hütte warten die Wege, abmarschbereit. Namen im Holz, Jahreszahlen, in der Dämmerung kaum noch lesbar, auch diese mußten weiter zu ihrer Zeit.

Unterwegs

Nicht einmal zwanzig Minuten, nachdem die Haustür hinter mir ins Schloß gefallen ist, beginnen die ersten feinen Tropfen zu stäuben, ein Nieseln, das sich in zehn Minuten zu einem ergiebigen Regen steigert. Da ist keine Stelle am Himmel, aus der nicht noch weiterer Regen droht, keine Wolken mehr, das ist der Himmel selbst, der schwer wie ein Schwamm über dem tropfenden Wald hängt. Noch vor ein paar Tagen mit einer Kollegin darüber gesprochen, wie albern es doch sei, mit dem Schirm in der Hand zu wandern. Nun ja.
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Wolkenfetzen hängen in den Tälern fest, die Straßen schwimmen, Absperrungen über Bächen sehen aus wie Bojen. Um nicht verrückt zu werden an dem Getröpfel, dem Gluckern, Rauschen, Plätschern, sage ich mir Gedichte vor, das lenkt ein wenig ab vom Zorn, den ich einfach nicht beherrscht kriege. Regen macht mich wahnsinnig, Regen macht mich selbst dann wahnsinnig, wenn ich im Trockenen sitze und zum Fenster hinausschaue, auch wenn ich nicht mehr raus muß, ich empfinde nicht einmal Erleichterung bei Regen nach einer Trockenperiode, er tröpfelt mir ins Hirn, selbst die Gedanken durchweichen wie Zeitungspapier. Das feuchte Echo ferner Autofahrten, die Fäden vor der verquollenen Hausfassade, das vergebliche Auf und Ab der Scheibenwischer, das Blinzeln der Pfützen, die zuckenden Blätter, die tristen Bäche, wie sie gerippt die Straße hinunterwallen — das alles ist zutiefst trostlos, niederschmetternd und entwürdigend, dem ganzen menschlichen Dasein Feind.
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Ein Regenschirm hält nur so lange den Regen ab, bis sich ein Gleichgewicht zwischen auftreffendem und vom Rand herabtropfendem Wasser einstellt — ab da wird alles naß, was sich zu nah an den Rand des Schirms bewegt, und bei einem Knirps ist das zwangsläufig irgendein Teil der Person, die darunter steht. In meinem Fall der Rucksack, der erwartungsgemäß durchnäßt wird.
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Unter den trostlosen Orten der Welt nehmen Unterführungen zweifellos einen Ehrenplatz ein. Fraglich ist, warum gerade die Ein- und Ausfahrten solcher Tunnel dazu einladen, Unrat zu deponieren. Einwegbecher, Burgerschachteln, Plastiktüten, Toilettenpapier, Plastikflaschen, Damenbinden, man könnte alleine aus den archäologischen oder kriminalistischen Horizonten von Unterführungen ein detailliertes Bild unserer Zivilisation rekonstruieren. (Mißverständnis späterer Archäologen: “Damit sie die Reisenden vor Unfällen bewahre, wollten die Menschen damals wahrscheinlich eine Gottheit gnädig stimmen, indem sie ihr vom Fahrzeug aus Getränke spendeten.”
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Auch ein Opfer der Unterführung ist das Eichhörnchen gewesen, dessen durchnäßter Kadaver einige Meter vom Tunnelausgang auf der Straße liegt, um die Längsachse verdreht, das Maul nach oben, zum Regen und den Wolken gewandt, ein schmutziger Feudel mit Schwanz und Zähnen. In diesem Momenten hört der Regen auf, es wird heller über der Straße.
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Was bringt es, Kränze niederzulegen, Kerzen anzuzünden, eine Gedenkstätte mit Aufrufen zum Frieden zu behängen? Mich machen solche Bekundungen immer ratlos. An wen richten sich diese Friedensappelle an der KZ-Gedenkstätte Wuppertal-Kemna, wo der Waldweg auf die Schnellstraße stößt, halb im Wald, wer ist ihr Adressat, was sollen sie bewirken? Ich habe auch damals die Geste nicht verstanden, als nach den Anschlägen aufs WTC völlig unbeteiligte Menschen auf der anderen Seite des Globus Kerzen ins Fenster stellten. Was wollten sie damit bewirken? Ich habe es nicht nur nicht verstanden, ich fand es nachgerade anmaßend, die wohlige Usurpation fremden Schmerzes. Vielleicht richten sie sich am ehesten an die ausführende Person selbst, erfüllen ihre Funktion schon im Akt der Anbringung. Sind Meditation. Übung. Ritus. Oder auch der Versuch, die Gottheit zu besänftigen, irgendein Numen gnädig zu stimmen, das doch bitte ein Einsehen haben soll mit den Torheiten der Menschen. Wenn schon die Menschen kein Einsehen haben mit ihren eigenen Torheiten.
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Geschwollene Muskeln der Bäche. Ich arbeite mich hinauf zu den Quellen, werde im Lauf des Wegs die Wasserscheiden mehrerer Täler überqueren. Oben freie Sicht in die Landschaften der Wolken, ringsum hat der Himmel zahlreiche Türme, Sender, Wasserspeicher auf die Hügel gesetzt, Wolkenfetzen kringeln sich darum. Vertrautes hat sich als Ferne verkleidet, gespenstisch, wie ein vertrauter Mensch, den man vergebens anfleht, wieder aus der Rolle zu fallen, Wege, die ich heute erst gegangen bin, haben sich abgewendet und ziehen unbekannt davon. Keine Pause, nur einmal Atem holen, dann fängt es schon wieder an zu nieseln.

Meles meles

Rehe kenne ich am Geräusch, Wildschweine vergißt man nie wieder, wenn man sie einmal gehört hat, Amseln und Tauben rascheln bei der Futtersuche manchmal so laut, daß man meint, gleich einem Grüffelo zu begegnen, aber weder Amsel noch Taube picken nachts im Laub. Also, was ist das, das sich da, zu zweit, zu dritt, raschelnd dem Zelt nähert? Über Füchse weiß ich nichts, jedenfalls nichts Akustisches, Wölfe habe ich nicht einmal gesehen, Luchse oder andere Katzen gibt es in dieser Gegend nicht. Waschbären? Gibt es angeblich überall. — Raschel, raschel, ein Igel? Aber Igel rascheln nicht nur, Igel röcheln und räuspern und haben eigentlich immer Asthma. Was sich da nähert, langsam, weder vorsichtig noch neugierig sondern unabsichtlich, mit anderem beschäftigt, gibt außer dem Rascheln keinen Laut von sich. Trotz diesem Desinteresse an meinem Schlafplatz habe ich ein wenig Sorge. Von Füchsen ist bekannt, daß sie Schuhe klauen, und einmal habe ich erlebt, daß ein Fuchs, von mir im Schlaf unbemerkt, das vor dem Zelt liegende Kochgeschirr vom Abend erst abgeleckt und dann, na ja, markiert hat. (Nicht unangenehm, der Duft, aber trotzdem, in meinen Schuhen möchte ich das lieber nicht.) Raschel, raschel, raschel, geht es während dieser Überlegungen draußen weiter. Ich klatsche in die Hände, räuspere mich: raschel, raschel. Ich drehe mich auf der knarrenden Luftmatratze um: raschel, raschel. Endlich taste ich nach der Stirnlampe, öffne das Zelt (raschel, raschel), strecke den Kopf heraus und richte die Lampe auf die Stelle, aus der das Rascheln kommt. Licht an! — Ich erschrecke. Nicht so, was da geraschelt hat, unbekümmert wühlen die beiden schlanken, etwa vierzig bis fünfzig Zentimeter messenden Leiber im Laub und scheren sich keinen Deut darum, daß sie gerade im Rampenlicht stehen. Dabei haben sie nachttaugliche Augen, das Tapetum lucidum schimmert im Lampenlicht, als hätte jemand seinen Schmuck verloren. Aber gleich, was sie mit ihren nachttauglichen Augen sonst noch sehen, das Licht und der Mensch, von dem es herstammt, interessiert sie nicht. Und so kann ich sie in aller Ruhe beobachten. Entgegen der landläufigen Auffassung sind sie nicht plump, im Gegenteil, sie sind agil, flink, machen sogar kleine Sprünge, man könnte, was sie da tun, ausgelassen nennen. Schnauze am Boden, wühlen sie wie kleine Schweine die Laubschicht auf. Sie haben einen fransigen Stummelschwanz und, daran verraten sie sich endlich, die typische Panzerknacker-Gesichtsmaske. Ich nicke zufrieden, kehre ins Zelt zurück und lasse sie weiterrascheln. — Doch am Morgen scheint, wovon ich in der Nacht überzeugt gewesen sein wollte, zweifelhaft. Panzerknackermaske, was ist denn das für ein Merkmal, und haben nicht auch Waschbären so eine? Und so bin ich in der Frühe, schon in Hemd und Schuhen, gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich ein Dachs ist, was ich da als letzten Nachzügler der nächtliche Gruppe in der Dämmerung davonhuschen sehe.

Unsichtbar

Ich sitze auf dem Baumstumpf, wo ich immer sitze, und trinke mein Bier in der rasch anziehenden Abendkälte. Der Wald ist noch winterkahl, hell, die Bäume stehen weit und einzeln. Nur das alte Laub ist lebendig, läßt sich von einem kaum merklichen Windhauch reizen. Es klingt wie der Tritt von Tieren, aber mein Ohr läßt sich längst nicht mehr ins Bockshorn jagen. Ich muß mehrere Äste von dem Plateau entfernen, die der Wind aus den naiven Pfadfinderlagern herausgebrochen und wie Knochen über den Grund verstreut hat. Um den Platz stehen Eichen, die Äste verkrampft zum Himmel gereckt. Im vergangenen Winter ist ein mehrere Meter langer Ast abgebrochen und hängt jetzt in der Gabel eines jüngeren Baums. Jedesmal scheint der Ort, wenn ich ihn nach Wochen oder Monaten wieder aufsuche, verändert, umgebaut, nach neuen Richtungen offen. Aber wie sehr ich mich auch strecke und den Winkel wechsle, den auf der Karte verzeichneten Hochstand habe ich noch nie gesehen, sehe ich auch diesmal nicht. Also bin ich doch wohl auch unsichtbar? Für wen auch immer: Noch sind Stimmen im Wald. Der behelmte Kopf eines Fahrradfahrers erscheint und schwebt an meinem Platz über dem Sichtschutz des Unterholzes vorbei. Erschreckend nahe, aber ich weiß, daß sich vom Weg aus der Blick sofort im Unterholz verliert, daß es unmöglich ist, den Fleck, wo ich gleich das Tarp aufspannen werde, zu identifizieren. Man muß nur in die Hocke gehen, schon ist man nicht mehr Teil der wohnenden Welt. Auf dem Hinweg hat noch eine Spaziergängerin wenige Schritte von dem versteckte Pfad entfernt meinen Weg gekreuzt; ein anderer ist zweihundert Meter voraus gegangen. Keiner hat mich bemerkt, wie ich ins Gebüsch geschlüpft bin. Jetzt schieben sich Stimmen heran, heran und vorbei. Menschen kehren heim, für die der Wald sich in ihrem Rücken voller Fremdheit schließt, wo er mich schützend aufgenommen hat. Dann bin ich allein, der letzte. Bis Mitternacht werde ich schlafen, ehe mich die Kälte weckt, bis ein Uhr weiterdämmern, dann aufgeben und durch die Vollmondnacht nach Hause wandern. Jetzt aber geht erst einmal der Mond auf und malt Fensterquadrate auf den Grund. Die Stimmen sind verhallt. Fern, im Ort, schlägt eine Kirchturmuhr acht. Das Laub krabbelt über den Grund. Ein Käuzchen ruft.

Baumpilz

Grube Marie

Auf dem Burgenweg von Würxheim nach Hürxberg an der “Grube Marie” vorbeigekommen, dem aufgelassenen spätmittelalterlichen, im 18. Jahrhundert für kurze Zeit noch einmal bewirtschafteten Blei- und Silberbergwerk. Auf den Infotafeln sollen längliche Kleckse, über ein Geländeschema mit einem Bach und Wegläufen gelegt, die Stollen darstellen, die unter Bach und Weg im Grund verlaufen, da, wo ich jetzt vor der Infotafel stehe, unter meinen Füßen also. Sich tief unter einem Waldbach durch einen Stollen zu bewegen, ist eine paradoxe Vorstellung, aber offensichtlich war sie schon für mittelalterliche Bergleute nicht zu abwegig. Jede Abbauphase ist in einer anderen Farbe dargestellt, an Unübersichtlichkeit kaum zu überbieten, aber gerade das macht die Anlage so geheimnisvoll und anziehend, manche Kleckse haben die Form von Höhlen und stellen eine Assoziation mit ägyptischen Grabkammern her. Den Eingang (“Lebensgefahr! Betreten verboten!”) versperrt eine Wellblechplatte, die mit einem Vorhängeschloß gesichert ist. Dahinter Dunkelheit, aus der es modrig riecht, links gerade noch zu erkennen: eine Art Lore, ein metallenes Ding, vermutlich auf Rädern. Eine weitere Infotafel zeigt Photographien: Gänge mit niedrigen Felsdecken, Besucherstege, Lampen, Geländer, im Hintergrund mehr Stollen, mehr Dunkelheit. Ich stelle mir die Arbeiter des Mittelalters vor, fünfzehntes Jahrhundert, keine Maschinen, jede Verrichtung, vom Stollenvortrieb bis zur Wasserhaltung, mußte mit menschlicher oder tierischer Arbeitskraft erledigt werden. Mit welchen Gefühlen sind die Kumpels damals hier eingefahren (oder vielmehr gegangen, denn eine Fahrkunst gab es nicht), in dieses modrige Dunkel, das mir noch Jahrhunderte später durch den Spalt entgegenmieft? Ich schaue auf zu den Bäumen, den Eichen und Buchen, deren Wurzeln dort unten hineinreichen müssen. Anzusehen ist ihnen nichts. Nichts von den Unruhen im Grund, dem gestörten Gestein, den zerrissenen Muskeln der Erde. Die Wege liegen voll von Eicheln, es sind die gleichen Früchte wie schon vor sechshundert Jahren. Eine Bank mit etwas Herbstlaub darauf steht an der Wegbiegung. Niemand, scheint es, kommt hier je vorbei. Die Bank wird nicht so lange überdauern wie die Grube.

Schichten

“Mit einer gut funktionierenden Nase können Sie hier und da Faulgase wahrnehmen.” Das lese ich auf einer Infotafel, die das Gelände, ein lichter Pappelwald, als 1978 stillgelegte, renaturierte Mülldeponie ausweist. Minuten zuvor hatte ich mich über den Duft von vergammeltem Kohl gewundert, der zart in der Luft schwebte, und in Hundekot seinen Ursprung vermutet. Die Vorstellung, über vier Jahrzehnte alten Hausmüll zu laufen, ist nicht allein deshalb reizvoll, weil, was in zwei Metern Tiefe als vermoderte Schicht beginnt, Überreste von Gegenständen enthalten muß, die auch ich in meiner Kindheit hätte weggeworfen haben können, eine Capri-Sonnen-Tüte, eine Fritt-Verpackung, ein Sammelalbumtütchen, Durchschlagspapier, eine Audiokassette mit Bandsalat und andere heute vielleicht vergessene Dinge. Es hat auch seinen Reiz, darüber nachzudenken, daß diese Dinge unter meinen Füßen Spuren gelebter Leben sind, daß die Verpackungen, Staubsaugerbeutel und Porzellanscherben einmal in einem Einkaufswagen, in einer Besenkammer, in einer Küche standen, betrachtet, befühlt, benutzt wurden, Teil eines Alltags von Menschen waren, die in irgendeiner Beziehung zu ihnen standen — und daß diese Dinge jetzt da unten irgendwo immer noch liegen und vielleicht über die Hand nachgrübeln, die sie einst fortwarf; während einer wie ich dort langgeht, über den Schatten der Dingwelt, die einmal der Welt der Lebenden angehörte, und nun nicht mehr — aber immer noch, am Ende einer seltsamen Kausalkette (wie alles am Ende einer solchen Kette) existiert und, grübe man es aus, mit einiger Eingebung und Phantasie wohl auch noch — als Erzählung, als Zentrum eines Kontexts — deutbar wäre. Es braucht keine Archäologie dazu. Zur Faszination trägt auch jener komplizierte Nimbus bei, der stets anziehend wirkt an Aufgegebenem, Verlassenem, Zurückbleibendem. Die Geisterstadt Prypjat, aufgelassene Bergwerke, Schiffsfriedhöfe, geflutete Tunnel, Wracks am Grund des Ozeans, verstummte Raumsonden auf dem Mars. Gelebtes Leben, Reste, was übrig bleibt — aber auch Spuren, Geschichten und in den Geschichten die Geister, die darin wurzeln, die auf sublime Art manifeste Vergangenheit, die in den Gegenständen weiterwirkt, den Gebäuden, den überwucherten Straßen, den zerfallenden Artefakten. Man möchte sich eine besondere Spezies intelligenter Archivarwesen vorstellen, die sich überall dort ansiedeln, wo menschliches, in Narrativen sich artikulierendes Leben verschwunden ist, nachdem es dort längere Zeit ansässig war, auf seine Umwelt einwirkte und katalogisierbare Spuren hinterließ. Jemand, stelle ich mir vor, muß davon noch leben. Nicht im materiellen Sinn, nicht, indem es alte Kaffeefilter frißt. Sondern, indem es sich von sublimen Mustern abgelegten Lebens nährt, den morphogenetischen Prägungen praktizierter Lebensbewältigung, von den Geistern, den sedimentierten Schichten der Geschichten.

Geographie

Ein Eichhörnchen im Kirschbaum; die kaum knöcheltiefe, kieselklare Oure; die Ebene mit Blumenwiesen nach der einen, Gerstenfeldern nach der anderen Seite; die Hügel in der Ferne, deren Füße in der Tiefe verborgen im Fluß stehen; eine Ortschaft an den Hang geklebt, die wir kennen müssen und nach Auskunft der Karte tatsächlich kennen. Nasse Hunde interessieren sich für die Brötchentüte und stolpern über den Rucksack, Grabmale stehen in Grüppchen beieinander, beschattet von voluminösen Eichen. Symboliken des Untergangs, kirchenartige Oberflächen im Bogengang, Inschriften, die von einem Grauen berichten, das an diesem wunderschönen Ort ungreifbar und fern ist. Eine Art Dankbarkeit stellt sich ein, darüber, daß dieser Ort, indem er an das Böse erinnert, es für uns weit wegführt, an einen anderen, verschlossenen Ort voller Dunkelheit. Hier aber käme man gern öfter her, Friede strömt von den Eichen, dem Gras, dem Mäuerchen, das Licht steht ringsum in den Feldern, am Fluß ziehen die Weiden stromauf und stromab wie sanfte Herden.

Alte Wege, vertraute Orte flüchtig aufgesucht, wir haben es eilig, nach Hause und ins Bett zu kommen. Ich sage, hier haben wir uns über Iain M. Banks unterhalten, meine inneren Landkarten sind voll von solchen Orten, die mir, egal wo, Wehmut nach etwas Verlorenem einflößen. Je älter ich werde, desto mehr bevölkert sich die Geographie meiner Erinnerungen mit unerreichbaren Orten der Zeit und der Sehnsucht.

Der Sommer war sehr groß

Nur noch leere Hallräume sind die Wälder jetzt. Nicht einmal Zaunkönige lassen sich noch hören, nicht einmal Rotkehlchen. Und kaum ist die letzte Stimme verstummt, ziehen sie wieder ein, fallen sie wieder her über den Wald wie Heuschrecken über eine Pflanzung: die Motorsägenmänner. Und übergroße Hornissen umschwirren in der Tiefe der Wege ein Opfer. Die Luft wird sauer unter dem zornigen Geheul. Was kann dieser Morgen dafür, daß Bäume starben? Krank ist nicht der Wald, krank ist die Stille, der an allen Gliedern Beulen und Geschwüre wachsen. Die Wege streben alle zum Ort des Geschehens, sensationslüstern schlängeln sie sich, drängeln sie um bessere Sicht, wollen die ersten sein, und ich werde von ihnen fortgezogen, wo ich überhaupt nicht hin will. Ein Lieferwagen mit einer Aufschrift, die lustig sein soll, steht auf dem Waldweg an einer Lichtung. Ahrweiler Kennzeichen, ich bin versucht, mir die Nummer zu merken, doch was bringt’s? Alles, was hier passiert in diesem, nein, nicht Wald, in diesem Forst (wem das hier Wald genug ist, der hält IKEA für ein Möbelhaus), ist sicher durch irgendeine paragraphene Rechtmäßigkeit gedeckt. Ich passiere das Fahrzeug, kein Mensch weit und breit, nur das anhaltende Heulen der einander ins Wort fallenden Hornissen, zu dem alle Wege hinfließen. Und dann gibt es aber doch einen Pfad, der sich schämt, mich am Kragen zupft, mich wegbringt von da. Schon fast zu Hause erschrecke ich über den Schrei eines Spechts, der warnt, aber wen, mich vor den Hornissensägemännern oder seine Artgenossen vor harmlosem mir? Nicht einmal den August konnten sie abwarten, die Idioten.

Böschung

Ausgeklammerte Wege, aus der Steigung rollen die Pfade zurück, die spielenden Laternen nach Hause geschickt. Der Himmel, eben noch so mühsam herbeikonstruiert, zerfällt in den Pfützen zu Schlamm. Kalte Wangen, tonnenweise Luft für Pferde, am anderen Ende der Weide schlüpft der Farn unterm Zaun durch und verschwindet in der eisigen Dämmerung.

Nachdem ich gewinkt

Nachdem ich gewinkt hatte, bis dein Zug in der Kurve verschwand, und wieder zu meinem Gleis zurückgekehrt war, sah ich die zwei Ansammlungen von frischen Erdkrümeln und Schlammwürsten auf dem Bahnsteig liegen. Es waren zwei Häufchen, eng beisammen, einander überschneidend, und doch jedes für sich, ein eigener Kreis Dreck. Lange schaute ich mir diesen, wer weiß, aus welchen Feldern oder Waldwegen zusammengetragenen, hier von irgendwelchen Schuhen geklopften Lehm an. Zwei Wanderer, dachte ich, das eine Häuflein kleiner als das andere, vielleicht unterschiedlich große Stiefel, verschiedene Schuhnummern, vielleicht ein Erwachsener und ein Kind oder ein Mann und eine Frau. Die waren wohl an diesem Sonntag gemeinsam eine Strecke gewandert, mutmaßte ich, über Wege, die infolge der starken Regenfälle in der letzten Zeit durchweicht und schlammig waren. So nah, wie die beiden Häuflein beieinander lagen, konnte man vermuten, die zwei seien auch nah beieinander gestanden, während sie den Lehm von den Schuhen traten. Vielleicht hatte sich ja eins am andern festgehalten, um sich den Dreck bei angewinkeltem Bein von der Sohle zu kratzen. Oder eins hatte das fürs andere verrichtet. Vertraut müssen die beiden miteinander gewesen sein, wahrscheinlich machten sie das öfter, fühlten sich wohl in der Gesellschaft, die eins dem andern leistete, waren starke Geher, bei jedem Wetter und jeder Wegbeschaffenheit draußen. Jetzt hatten sie sich wohl müde gelaufen, spann ich meine Überlegungen weiter, und waren, nachdem sie noch die bewährten, gut eingelaufenen Stiefel vom Gröbsten gereinigt hatten, nach Hause gefahren. Ob sie wohl in den selben Zug gestiegen und gemeinsam gefahren waren, oder jedes in einen anderen Zug?, fragte ich mich und hob den Kopf nach der fernen Stelle auf dem Schienenstrang, wo der deine Minuten vorher verschwunden war.