Aber was

Aber was willst du denn mal machen, fragte auch Ioanna, oftmals, als hätte ich ihr keine antwort gegeben (hatte ich auch nicht), ich meine, du willst doch nicht ewig in diesem Hotel bleiben. Sie sprach „Hotel“ aus, als hätte „Abort“ gesagt. An ihrem Akzent lag es nicht.
Ja, was wollte ich „mal machen“, wie es immer hieß? Abgesehen von der Formulierung, die mir schon bald auf den Geist gehen sollte – in diesem Abort wollte ich wirklich nicht bleiben. „Irgend was mit Sprachen“, war meine Standardantwort, und bald sollte sie mir ebenso vague verhaßt werden wie die Frage, auf die sie Antwort gab, ohne zu antworten. Obwohl es ja stimmte. Etwas mit Sprachen: aber was? Und wirklich? Was war mit der Chemie? Mit der strengen Schönheit der Naturwissenschaft? Mit der Mathematik, die ich noch kaum kennengelernt hatte? Aber ich brauchte nur wieder zu den agglutinierenden Mäandern meiner Sprache zurückzukehren, um zu wissen, was ich wollte – oder es zu ahnen, denn ich wußte nicht, wo ich finden würde, was ich suchte – eine Wissenschaft nämlich, die mir den eben entdeckten, ungeordneten Reichtum an Struktur auffädeln, die Dinge in Beziehung zueinander setzen, in einer verallgemeinerten Weise gliedern und mir dann seine Grenzen aufzeigen würde.

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Jetzt gehe ich los, sagte er, und spannte den Körper. Die kann man schon fast zerknüllen und in die Tasche stecken, diese nicht einmal drei Stunden, sagte er. Dann lachte er ein wenig. Er legte die Hände auf den Tisch, beugte sich vor und erhob sich, ein gewaltiges Bündel von Schultern, Armen und Kopf, warf einige Geldstücke auf den Tisch und setzte die Mütze auf. Dann nickte er, wie um zu sagen, na, weißt schon … weißt schon. Der Stuhl rückte. Glas blitzte im Drehen auf, ein Quietschen von zitternden Spiegelungen, die sich über den Schultern schlossen, ein Schlag von Metall, er war draußen.
Draußen, wo wieder die Jahrmarktorgel zu spielen begonnen hatte.
Ein Kellner näherte sich lautlos und nahm die Münzen fort.

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Astarte

ja, es ist sturm in der welt

und allerewig anfang zum wiedermal.

vogelgesang ruft uns die ewigkeit zu
während es überall sterblich sommert
es ruht jemand am flusse geneigt an modrige
sonne. am fuß klirren kiesel voll
herangerollter fernen. pappeln stürmen.
schiffe erklimmen die wolken
erstrebend brüllende fernen und meere.
im grase tummeln die ordnungen
er zählt sie auf. so viel hat er gelernt vom lernbaren.
ampfer wegerich knöterich lattich und da:
silbrige kranichfliege
vom nichtlernbaren:
daß es ist. was hilfts wenn
ASTARTE
gelächelt hat?

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Erinaceus europaeus

sechs uhr morgens. mitten auf der straße sitzt im laternenlicht ein dunkles knäuel, nein, keine katze, ein igel! und sieht mir mausgrau entgegen, mit erhobener schnauze.
ich verlangsame den schritt und trete sehr vorsichtig näher. der igel sitzt und rührt sich nicht. ich komme noch näher, bis ich genau vor ihm stehe und mein dreigeteilter laternenschatten über ihn fällt. der igel schaut mich kurzichtig an und rührt sich nicht. da stupse ich ihn behutsam, damit er von der gefährlichen straße weggkommt und in den sicheren büschen der vorgärten verschwindet, er aber, wie es igel nunmal zu tun pflegen, macht seinem namen alle ehre – er igelt sich ein.
andertalb stunden später komme ich wieder an der stelle vorbei. eine schule ist in der nähe. es ist acht uhr, und die straßen wimmeln schon von rangierenden, wendenden, startenden autos, mit denen die übervorsichtigen eltern – umweltbewußt, mit biodiesel – ihre kleinen zum unterricht gebracht haben. im geiste sehe ich schon die schleifspur aus blut, gedärm, krallen und fell – aber nein, die straße ist leer. zwei drei selbstbewußtere abc-schützen kommen mir hand in hand zu fuß entgegen. dann liegen die straßen wieder still in der morgensonne, und selbst ein igel käme nun gut hinüber. nur der geruch nach biodiesel hält sich noch lange und läßt sich von die morgenbrise nicht vertreiben.

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schreiben: eine halbe stunde täglich am projekt, manchmal, selten, mehr. eine halbe stunde gesammelte morgenfrühe zwischen bad und fahrrad, wenn die wirkung des coffeins sich gerade voll entfaltet hat. wie wird das im winter, wenn mein zimmer wieder doppelverglast gespiegelt mir aus dem fenster entgegentritt. beeinflußt es mich, ob die meisen sticheln, der regen rauscht oder die sonne in den hof hinabsteigt? schreibe ich in winterkälte und heizungsluft anders, als wenn mir der schweiß auf die tastatur tropft? ich hab schon einmal lange winterwochen geschrieben, einen der vielen rümpfe der alten geschichte, von denen jeder ein schatz wäre, wenn etwas schlüssiges und sich zum kreis schließendes dabei herausgekommen wäre – wenn ich es hätte herausformen, herauszwirbeln können aus den ansätzen, allein … aber davon will ich ja nicht schreiben. eigentlich glaube ich nicht, daß das anders war, auf eine verallgemeinerbare weise anders, meine ich, als das, was ich diesen sommer zu papier (oder zu dünnschichttransistor) gebracht habe.
eine andere frage ist: kann man einen roman in halbstundensitzungen schreiben? ich meine, ist es möglich, logistisch, gedanklich, ariadnefädig, zeitlich? mein tempo die letzten zwei monate: 5 seiten die woche (die seite bedeutet bei mir 60 zeilen à 30 anschläge, sofern das auf dem computer und mit proportionalschrift überhaupt ein sinnvolles maß ist). aber ist das nicht belanglose arithmetik bei einem vorhaben, dessen genaue struktur und fülle noch gar nicht feststeht?

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untergänge

daß das hotel untergeht … ob das eine gute idee ist? wofür soll das stehen, steht es überhaupt für irgendwas, heißt literatur, daß das unerklärliche damit geklärt werden kann, daß es für etwas anderes steht? ein symbol ist? eine allegorie? letztere deutung, würde sie jemand versuchen, wäre grauenvoll, kann ich doch allegorien nichts abgewinnen. sehr dagegen schätze ich Robert Gernharts gedicht „bei der deutung eines allegorischen gemäldes“.
also, was mache ich mit dem hoteluntergang? ich laß ihn stehen. ich muß nichts erklären, dafür gibt’s germanistikprofessoren. für irgendwas müssen die schließlich gut sein. nur funktionieren muß es, was immer das heißen mag, ja, was immer: ich muß fühlen, daß es paßt – und daß es sich einer allegorischen verwurstung elegant aber hartnäckig entzieht. ich fürchte aber gerade, das tut es nicht.
untergänge haben mich schon immer fasziniert. in griechenland keimte der plan auf, eine tetralogie zu schreiben, untertitel: vier untergänge. mehr verrate ich nicht, denn vielleicht schreibe ich das ding ja wirklich irgendwann einmal. frühestens dann, wenn der 30-stunden-tag und die 10-tage-woche eingeführt werden und es stipendien für arbeitsscheue künstler geben wird.
also untergänge, katastrophen. nicht der banale typ („Der Schwarm“), nicht der sci-fi-typ, oder wenn sci-fi, dann bitte so, daß am ende weniger klar ist als am anfang. und außerdem wirklich und wahrhaftig ein untergang, kein drohender untergang, der noch einmal vereitelt wird, nein, wirklich das ende. es muß nicht gleich im totalschlag das ende einer zivilisation sein; eine stadt, eine institution reichen schon; es muß aber so angelegt sein, daß sich jedes rätseln über gründe und ursachen (innerhalb der geschichte) von vornherein verbietet. außer natürlich (außerhalb der geschichte) für die germanisten. vorbilder, die mich dabei beeinflussen: „Picknick am Wegesrand“ von den gebrüdern Strugatzki (obwohl dort die welt nicht untergeht); „The City of Last Things“ von Paul Auster; „Die Wand“ von Marlen Haushofer (obwohl ich das nie gelesen habe).
in einem solchen sinn geht denn auch das hotel zugrunde. grundlos, außer vielleicht einer autobiographisch motivierten süßen rache. aber das ist jenseits der literatur, und geht, auch wenn sie so etwas total geil finden, die germanistikprofessoren gar nichts an.

Astarte (2)

Es ist Sturm in der Welt
und ASTARTES Lächeln tönt
aus Muscheln und Schnecken
Krügen und Kesseln
Ampeln, Amphoren, Ostraka.
und den Gehäusen, die man fand
eingeschlossen darin vermutet
das Meer
und zyprischen Schaumes Klang.
doch dann
lächelte sanft so sanft
daß es schmerzte wie Eis
aus lebendigem Kalk hervor
die wilde die schöne die schreckliche
ASTARTE

auf ein neues

irgendwann eines mittags vor gut einem monat erhob ich mich aus hellgelbem mittagsschlaf, ein paar sätze und bilder waren da, ausgegraben noch im traum, herübergerettet ins kissenbewußtsein, grübelte dem eine weile nach, fragte mich, ob es sich lohnen würde, das aufstehen, die wand direkt vor der nase, so müde noch, so müde, aber die worte erwiesen sich mal wieder als wichtiger.
ich öffnete den computer und schrieb eine seite.
das thema war schon mehrmals flüchtig in meinem kopf gewesen, wann zuerst, weiß ich nicht mehr, und auch nie besonders präsent oder dringlich, als nächstes anzugehendes projekt nach dem projekt schon gar nicht, eher so „das müßte man auch mal irgendwann machen“. und das tu ich nun.
und das andere, das projekt, die 8 jahre herumtexten und herumkrampfen und herumschlawinern um den heißen, unantastbaren brei? das liegt nun in einer, wie ich hoffe, dereinst fruchtbringenden brache. in einer schublade, die einen spaltbreit offensteht, damit ichs nicht vergesse. möglich scheint es mir gerade nicht, vielleicht muß ich wachsen und meine sprache mehr mir untertan, mir mehr werkzeug sein, als ich werkzeug und untertan der sprache, wies mir immer noch vorkommt. vielleicht brauch ich abstand, vielleicht fang ich nochmal von vorne an mit der rückwärtsprojektion – hat das mal jemand gemacht, außer mir, frage ich mich, eine ganze geschichte nicht nur von der bedeutung, der syntax und semantik des schlußsatzes zurückentworfen sondern von seinem bloßen klang?
genau das ist mir zu eng geworden. ich habeden weg nicht gefunden in dieser enge. den weg nicht durch diesen klang und mit diesem klang. oder besser: ich habe den klang selbst nicht gefunden. wie eine kadenz auf dem klavier, man weiß, wie sie klingen soll, man imaginiert sie, man hört sie vorweg aus dem letzten spannungsakkord – doch welche Tasten man auch immer anschlägt, es ist wie verhext, die vorstellung will einfach nicht klang werden.
das ist jetzt anders. der neue gedanke eröffnet unendliche räume, alles ist assimilierbar und dehnbar, der rahmen ist so weit, daß eine ganz welt hineinpaßt. und um genau das geht es: eine welt. eine welt, deren grenzen beim schreiben offen bleiben dürfen. es ist ein wundervolles gefühl, endlich drauflosschreiben zu können, loslaufen über die hügel und sehen, was dahinter ist. alles, was an wilden gedanken kommen mag, zulassen und annehmen. nichts verwerfen müssen. eine buntschillernde welt schaffen dürfen und eine reise durch diese welt angetreten haben, deren ziel unbekannt ist, vorbei an wunderbaren städten, deren name erst aus der ferne aufschimmert, ein name, von dem ich selbst nicht weiß, was er birgt.

zeichen

wegeweis wohin und anstelle zeiger auf zweites und drittes gedeutet muß es, und gelesen an- und verkehrs- und auch stern- gibt es und ruf- und besetzt- ist es nichts ist aber ohne deuter an ihm zwingend nur der dritte und ob es eins ist oder nicht bleibt

eine offene frage

ist ein zeichen immer will es oder will der deuter oder wollte der zeichensetzer gegrabnes in stein und fels und rinde und vergänglich in sand wachs mit der taschenlampe in die luft mit rauch in den himmel rauch bedeutet feuer ist ein zeichen vielleicht eine spur wie der abdruck in feuchtem grund von wolf kaninchen tapir wombat spur und anzeiger und ursächliches verbundensein oder trommeln weitergetragen von nacht zu nacht gesänge von walen über hunderte von meilen pheromone der ameisen und falter zeichen gemalt mit der wärme des fingers auf den fröstelnden rücken der klang einer symphonie zeichen im bezeichnen erlöschend und

sprache

bilder vererbt von jahrhundert zu jahrhundert lilien kannen rosen kreuzesbäume gartentore zeichen von zeichen von zeichen höhere

ordnungen

und zukünfte in eingeweiden lebern sternen stürmen blättern verborgenes

walten

Immerath (Eifel)

sich nicht erkundigen, die eltern nicht nach ihrem befinden fragen, auf die tabletten starren und die müden körper und rasch wieder wegsehen, still bleiben und bei sich selbst, und die frage nach ihrem glück in sich verstummen lassen, weil man keine entgegnung auf die antwort der glücklosigkeit hätte, keine antwort auf ihre ängste –
denke ich und dann, ihre hände ineinander verschränkt auf der bank wie bei verliebten, und ich staune, und so etwas habe ich bei den zweien noch nie gesehen.

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