Was man von dort aus sehen konnte

Das Harfenstück Beilio r Gwyneth Gwyn — wie hätte mir das als Heranwachsendem im letzten Schuljahr des Gymnasiums gefallen, und wie hätte es in alle die köstlichen Hinweise und Fingerzeige auf die Möglichkeiten meines zukünftigen Lebens gepaßt, in all die Tolkiens und keltischen Geschichten und Geheimnisse, die zu ergründen ich mir damals fest vorgenommen, an deren Ergründung ich geglaubt hatte. Heute höre ich dieses herrliche Stück und denke voller Wehmut, du bist deinen Träumen, den versprochenen Geheimnissen, du bist deinem eigentlichen Leben nicht einen fingerbreit näher gekommen; du hast dich, im Gegenteil, nur immer weiter davon entfernt, je älter du wurdest; du wirst ganz alt werden, ohne wenigstens in die Sehnsucht und die Überzeugung jemals zurückgekehrt zu sein.

Bes

Über peinliche Pannen beim Übersetzen habe ich schon ein paarmal berichtet. (Hier beispielsweise, und hier): Hier mein neuestes Fundstück. Es steht in der deutschen Übersetzung eines Romans der Niederländerin Margriet de Moor. Der Virtuose ist ein wunderbarer Roman, sprachlich höchst kunstvoll und, ohne daß viel passieren muß, von einem eigenartigen, wehmütigen Sog. Die Geschichte spielt im Neapel des achtzehnten Jahrhunderts, Pergolesi ist eben gestorben, in Venedig komponiert Vivaldi „wie der Teufel“, in London kämpft Händel mit Intrigen. Und in Neapel verliebt sich die Protagonistin Carlotta, eine junge Adelige, bis über beide Ohren in einen Kastraten. Es ist die Geschichte einer Faszination, einer Leidenschaft, es ist aber auch eine Art von Künstlerbiographie, und natürlich ist es eine Geschichte über Musik, Gesang und Oper, über Ästhetik, Kunst und das Künstliche.
Die „B-moll-Messe“ von Bach (seine Messe in H-moll) ist ja nun schon fast sprichwörtlich. In diesem Roman findet sich ein weiteres Kleinod, das seine Existenz dem Verwirrspiel national üblicher Tonbenennungen verdankt. Ein um einen Halbton vermindertes H heißt aus historischen Gründen auf deutsch B (engl. B Flat). Anders als im Niederländischen, der Originalsprache des Romans, gibt es auf Deutsch dagegen keinen Ton Bes.

Frühprotokoll mit Streichern

Im Radio einer meiner Lieblingsmoderatoren. Daniel Finkernagel erklärt, warum er neulich im Konzert fast gebuht habe. Es sei ein gemischter Abend gewesen, ein bißchen Komik, ein bißchen klassische Musik, ein bißchen Varieté, und das ganze zusammengehalten von einem Conférencier, der natürlich, das gehört sich ja so, die Mitglieder des auftretenden Streichquartetts folgendermaßen vorgestellt habe: „Erste Geige: … Zweite Geige: … Dritte Geige: … Cello: …

Gebuht hätte ich wohl auch nicht, aber gekichert hätte ich sicher. Weniger entrüstet als zufrieden darüber, daß es genügend Analphabeten auf der Welt gibt, von denen man sich großherzoglich unterscheiden kann.

Ich habe auch nie verstanden, warum man bitte Jugendliche oder bildungsferne Schichten oder sonstwen für klassische Musik erwärmen sollte. Gute Musik ist überall wohlfeil zu haben, es gibt keine anderen Hindernisse als den eigenen Anspruch an Kunst. Der Weg zu Streichquartett und Sinfonie ist frei, wer das nicht will, bitte schön. Die Konzertsäle und Opernhäuser sind auch ohne Krethi und Plethi voll. Allen Bemühungen aber, neue Hörerkreise für klassische Musik zu erschließen, haftet in meinen Augen etwas zutiefst Anbiederndes inne. Klassische Musik wurde an Fürstenhöfen ersonnen. Es ist Musik für Fürstenohren. Also bitte!

*****

Seltsam, wie man eine starke Abneigung oder Zuneigung gegen bestimmte Radiostimmen entwickeln kann. Es gibt einen Moderator meiner Lieblingssendung, den ich absolut nicht ausstehen kann, ich kriege Pickel im Ohr, wenn ich den höre. Es ist nicht einmal, weil er den Namen Poulenc wie Poulonc ausspricht, aber das macht es natürlich nicht besser.

Was mir ebenfalls Ohrenschmerzen bereitet, ist eine bestimmte Tonlage und Intonation, die vom WDR in letzter Zeit gern für Ankündigungen benutzt wird. Konzerte in NRW – die große Sommerreihe! Oder: WDR-Konzerte live erleben! Oder einfach nur: WDR3-Aktuell! (WDR-Sprech für “Nachrichten”). Es klingt immer so, als wolle die Sprecherin gleich noch ein jetzt nur einen Euro neunundneunzig! folgen lassen. (Falls hier jemand mitliest vom WDR: Ich bitte Sie inständig, ändern Sie das. Kultur ist kein Kräuterquark! Und verzichten Sie in der Kulturwerbung bitte auf die Vokabeln erleben, genießen und Event. Danke!)

Demselben so oft geschmähten Kultursender verdanke ich indes eine Empfehlung, die ich an Sie weitergeben möchte. Dorothee Mields und die Lautten Compagney spielen Liebeslieder von Henry Purcell. Unbedingt anhören!

Frühprotokoll: Satie

Bei Eric Satie muß ich an ein Kölner Zimmer denken, in dem ich, täglicher, nächtlicher Gast, für eine Weile fast zu Hause war, und nie ganz. Die Unordnung in dem asymmetrisch, unneunziggradwinklig geschnittenen, hellen Raum spiegelte mit ihrer Farbigkeit aus Büchern, Heften, Ordnern und bunt bekritzelten Zetteln, Papierstapeln, Kopien und Hand-outs, benutzten Kaffeetassen, Löffeln und Schüsseln meine eigene Unordnung wieder, die ich überall verbreite, wo ich mich länger als eine Nacht niederlasse. Es gab ein altes, gemütliches Klavier aus dunklem, spiegelnden Holz, und zwischen Klavier und der nächsten Wand einen Futon für zwei Schläfer, an dessen Fußende ein Bücherregal, so daß man zwischen Klavier und Büchern ruhte. An der dem Bett zugewandten Seite des Klaviers hingen Familienphotos ohne Rahmen, die sich im Sommer, wenn die Luft feucht war, aufwärts bogen und im Winter wieder glätteten. Gegenüber eine Fensterfront, draußen ein Fußbreit Balkon. Links davon ein gläserner Schreibtisch, von Papieren und Büchern bis auf den Raum, den die Tastatur des Rechners einnahm, bedeckt. Abends schräg einfallende Sonne. Zwei Stockwerke tiefer ein weiter, verkehrsfreier, mit rotem Backstein gepflasterter Platz, den Verwaltungs- und Gerichtsgebäude aus triefendem Beton und schwarzem Glas umstellten; in der Mitte ein winziges Ahornbäumchen, ein Laubengang mit Blauregen. Der Himmel hatte es schwer über den Dächern der Hochhäuser, auf denen sich abends Tauben niederließen. Nachts wehte das Qietschen und Rumpeln von Zügen vom nahen Rangierbahnhof durch die Dunkelheit heran.
In diesem Zimmer spielte E., die das Quietschen gemütlich fand, Satie. Ich lag auf dem Bett und lauschte dem melancholisch-meditativen, bald verträumten, bald kindlich-ernsten Voranschreiten der simplen Akkorde, schaute an die Decke oder studierte die Buchtitel im Regal und war zufrieden, in diesem Zimmer zu Gast zu sein. E. hatte eine Art, mitten im Spiel abzubrechen, sich mit Schwung auf dem Hocker nach mir umzudrehen, die Lippen zu schürzen und mir eine Frage zu stellen. Manchmal lachte sie beim Spiel leise oder sang mit. Sie war vernarrt in die Gymnopédies, und wenn sie nicht gerade Satie spielte, summte sie die einfachen Motive vor sich hin oder sang sie auf einen Text aus Phantasiesilben, es klang wie schmöö-dem-schmöö. Unvermittelt konnte sie in einer Gesprächspause den Mund öffnen, die Lippen vorstülpen und eine kurze Melodie aufsingen, als wollte sie ihren Gesprächspartner an etwas erinnern, das immer auch noch berücksichtigt werden müsse. Oder an etwas, das schon jetzt, während es geschah, lange her war: Weißt du noch? Einmal saßen wir nachts von Freunden heimkehrend im Zug, wir hatten geschwiegen, waren müde, es war der heißeste Sommer aller Zeiten, da läßt E. den Kopf auf dem Sitzpolster zu mir herfallen, als wolle sie mich küssen, öffnet den Mund, wölbt die Lippen: schmöö-dem-schmööö. So ist das nämlich. Denk dran!
Satie klingt seither immer so, als wolle er mir immer wieder etwas ins Gedächtnis holen, das ich sonst wohl schon lange vergessen hätte.

Frühprotokoll

Im Radio läuft ein kleines Stückchen für Klavier. Die Töne scheinen unsicher, zögern, es ist ein bißchen so, als suche das Instrument nach dem richtigen Ton, nach dem richtigen Einfall, oder als versuchte es sich nur zu erinnern, was es mal irgendwo gehört hat. Und zugleich versucht der Hörer herauszufinden, woran ihn dieser Erinnerungsversuch seinerseits erinnert. Falsch klingt es nicht, eher … gedankenverloren, könnte man sagen, wie etwas, das sich selbst überraschen muß, dem Gekritzel nicht unähnlich, das manche Menschen beim Telephonieren auf dem Notizblock niederlegen, wobei sie völlig unbewußt mitunter verblüffend schöne Ornamente zurücklassen.
Und so, wie man später auf dem Notizblock jene seltsame, rätselhaft schöne Zeichnung aus eigener Hand findet, die von einem Fremden angefertigt scheint, so entdeckt sich diese Musik plötzlich selbst. Der richtige Gedanke ist zum Greifen nah, liegt den Akkorden, die sich anschicken, in die Dominante zu wechseln, schon auf der Zunge, noch ein Umherschieben, ein Atemholen, ein Innehalten auf dem Leitton nach E-Dur, und da, da ist es. Eine zwei- oder viertaktige Phrase, die man sofort wiedererkennt, obwohl man sie noch nie gehört hat; es ist wie die verblüffende Lösung auf ein vertracktes Rätsel, und spätestens jetzt weiß man, das muß Scarlatti sein.

Mit Scarlatti hat sich mir eine harmlos-unangenehme Begegnung unauflöslich verknüpft. Eine Dozentin an dem Institut, wo ich studierte und als Hilfkraft tätig war, nahm ihren Abschied aus dem Dienst und hatte alle Institutsangehörigen zu einer Feier eingeladen, die im Hauptgebäude der Universität stattfinden sollte. Ich war ein paar Minuten zu früh dran, und da ich noch etwas zu erledigen hatte, beschloß ich, noch kurz in meinem Istitut vorbeizugehen. Und da kamen sie mir auch schon alle entgegen, ihrerseits in umgekehrter Richtung vom Institut auf dem Weg ins Hauptgebäude, in dem Augenblick, wo ich gerade vom Ort der Feierlichkeit wegstrebte. Professoren, Dozenten, Lehrbeauftragte, Sekretärinnen und das ganze Gefolge der Hilfskräfte. Erst nur ein, dann zwei bekannte Gesichter, bis der Blick vom Einzelnen ins Gesamte springt und man sich einer Menge gegenüber sieht, in deren Augen wiederum das, was man gerade tut, bizarr erscheinen muß, so daß man, den Blickwinkel der andern, der Menge, einnehmend, mit der eigenen Erscheinung wie mit einer lächerlichen Clownsgestalt konfrontiert wird. Jetzt nur rasch irgendeine lässige Erklärung, etwas, das dir die Souveränität wieder zurückgibt, den Anschein wenigstens solcher Souveränität den andern gegenüber vertritt. Was natürlich nicht gelingen kann, wenn man diesen Punkt der Selbstwahrnehmung einmal erreicht hat.
Das alles hat mit Scarlatti nicht das geringste zu tun; es besteht nur eine dieser seltsamen Verknüpfungen, deren einziger Zusammenhang darin liegt, daß sie zwischen zwei zeitgleichen Ereignissen bestehen, wo eins auf das andere abzufärben, sagen wir: gelernt hat. Oder eins das andere zu usurpieren erfolgreich war: Während ich vom Hauptgebäude zum Institut ging, muß ich jedenfalls diese petite phrase der Sonate K 322 im Ohr gehabt haben.

Eine zweite zeitliche Verknüpfung zu dem Scarlattistück ist die, daß ich in einem Wohngebiet mit Mietshäusern umherfahre und wahllos kleine Wohnungsgesuche auf Zetteln in Briefkästen verteile. Wenn nicht derselbe Tag wie der der Verabschiedungsfeier, so doch in unmittelbarer Nähe, mindestens dieselbe Woche. Seit jenen Tagen höre ich, kenne ich, Scaralatti, weiß ihn einzuordnen. Der Wahlspanier war eine Entdeckung jenes Frühsommers, aber wie und woher? Ich weiß es nicht mehr, ich wünschte, ich hätte Buch darüber geführt. Wahrscheinlich ist, daß ich eine Scarlattisonate im Radio hörte, irgendeine, nicht die fragliche, und daß, immer hungrig nach frischer Musik wie ich war, mich darüber der Komponist zu interessieren begann. Ich weiß sogar noch, wo ich die CD dann kaufte, und je länger ich schreibend darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, es war doch eine bestimmte Sonate, die ich haben wollte, die dann aber in der angeschafften Sammlung doch nicht vorkam. Aber welche Sonate war das? Und habe ich sie später doch noch gefunden?

Es muß der zweite Sommer nach meiner Rückkehr aus der Stadt am Ende des Jahrtausends gewesen sein, und alles legte mir Anfänge nahe. Die Musik, die Jahreszeit, die Liebe, die Bücher, die Wege durch den von ungewohnter Seite her betretenen Wald: Anfänge, die nicht mehr ganz frisch schienen, denen eine Müdigkeit anzumerken war, etwas von Vergeblichkeit, von Wiederholung. Um die Ecke meiner damaligen Wohnung gab es ein kleines Freibad, ich ging jeden Morgen schwimmen. Ich las in der neuen Sprache, ich belegte Vorlesungen und Seminare, ich lernte viel, ich kam nicht weiter, ich machte Pläne, die einander in ihrer Kühnheit zu übertreffen suchten. Rückkehr aus dem Licht, dem Staub, dem Lärm, aber auch der kompromißlosen Schönheit und Häßlichkeit der Stadt am Ende des Jahrtausends. Ich war immer noch geblendet, noch im hellsten Sommer. Ich schenkte einer hübschen Hilfskraft im lateinischen Seminar eine Packung Kekse als Dank für eine freundliche Hilfestellung, hoffte auf noch mehr Freundlichkeit, wurde enttäuscht.

Ich fand eine neue Wohnung. Ich fand ein neues altes Schwimmbad. Je mehr ich lernte, desto ferner schien der Abschluß. Und irgendwie war da immer diese Sonate von Scarlatti.

Das Cembalo stöbert in Akkorden wie in einem vertaubten Archiv, bis plötzlich Licht auf ein altes Photoalbum fällt, und da ist sie wieder, die zwei- oder viertaktige kleine Phrase, warm und bei sich zu Hause, ein Atemzug der Gewißheit in einer See aus Ungewissem, wie die plötzlich scharfrandige Erinnerung an einen fernen, schwebenden Sommertag.

Barcarole

Am Morgen deiner Abreise lief Mendelssohns Gondellied im Radio. Lange habe ich da gelauscht. Vornübergesunken und schief, wie ich auf dem Stuhl saß, habe ich über den Trillern und schaukelnden Triolen ins Nichts der Töne gestarrt, die Augen jenseits jeder Plane des Sichtbaren eingewurzelt, während ich dem weichen, klagenden Moll der Harmonien und den im Sog der eigenen Zwangsläufigeit fortschreitenden Akkorden folgte, atemlos, hingegeben, bezaubert, für den Moment alles andere vergessend. Wie lange das Stück dauerte, weiß ich nicht. Schon wollte es verklingen. Noch eine kleine Terz, ein schwebendes, trauriges Fallen zum Grundton, ein Weilchen derjenigen Ewigkeit, aus der alle Melodien geschöpft sind, und in die sie nach dem Verklingen jeder Musik wieder zurückfallen, wie Küsse, nachdem sich die Lippen voneinander gelöst haben. Ich lauschte in dieses Weilchen Ewigkeit hinein, bis es verstummte; und dann, im Auftauchen aus den Nachschwingungen der eben an die Luft abgelebten Klänge, hob ich den in die endliche Welt der Tatsachen wieder zu sich gekommenen Blick und sah nach dem Fenster. Ich wußte es noch nicht, aber in diesem Moment warst du schon abgereist, und mein Lebewohl würde dich nicht mehr erreichen. Ich schaute und atmete, im Ohr noch den letzten Mendelssohntriller, und da fiel wieder der Schnee: dicke Flocken, unzählige, und jede einzigartig, ihre eigene, nie zu wiederholende Geschichte in Kristall.

Plötzlich weinte jemand, und ich begriff, daß ich es selbst war, der weinte, und auch, daß die Musik noch gar nicht verstummt war: Eben verstummte sie. Ein letzter Leitton zur Dominante, ein letztes Seufzen der Tonika, noch eine Triole, ritardando, ehe auch dies, und nun endgültig erstarb, und lange Zeit nur das Fallen des Schnees zu hören war.

Lange Zeit sind die Wörter nach mir schlafengegangen

Die Stimmen waren also verstummt, oder der Knabe schlief darüber ein, wie sie sich entfernten. Jedenfalls muß er geschlafen haben, denn irgendwann war wieder Morgen und das Haus hell. Der Wind kam vom Meer und brauste in den Föhrenwipfeln. In den Wald konnte man weit hineinlaufen und noch weiter hineinsehen. Nadeln brachen unter den Schritten. Moos leuchtete an Schattenrändern, und süße Heidelbeeren. Es gab Pfade und Wildnisse. Von überall war das Haus sichtbar, oder die See, oder der Himmel. Der Wald hatte Sandkrusten, Grenzen, Ränder. Die Stimmen waren verstummt. Der Wind, der in den Wipfeln brauste, er wußte nichts von ihnen. Zur Nacht hatte er gefehlt.

Im Knaben klangen sie noch nach, aber nur mehr als ein Echo. Das ließ sich nicht nachsingen. Das kam falsch heraus, wenn mans versuchte. Das war wie mit „Ein Männlein steht im Walde“, das seine Schnüß nicht so richtig konnte. Und weil das so traurig war und alles, was sich nachmachen und nachholen ließ, auch gar nichts mehr zu tun haben wollte mit jenen anderen Stimmen, ihren Zauber nicht wiederbringen sondern nur weiter entrücken konnte, daß der Verlust noch schmerzhafter fühlbar wurde, versuchte es der Knabe nicht mehr, hoffte nur, die Eltern, die doch alles wußten, hätten es auch gehört, seien ihrerseits am Fenster gestanden und könnten es ihm jetzt erklären, es ihm nachsingen mit ihrer Schnüß, ihn dort hinführen, wo das hergekommen war, es ihm wiederbringen und in seine Hände geben, in seinen Besitz. Doch die Eltern konnten zwar singen wußten aber von nichts. Und der Knabe verstand da zum erstenmal das Versprechen und den Trug, die Machtlosigkeit und die Macht der Sprache; wie schlau sie war, und wie sie den Dingen der Welt nicht entsprechen wollte. Daß es etwas anderes auf sich hatte mit ihr; daß sie nur sich selbst entsprach und aus sich heraus Welten machen konnte, soviele sich nur denken ließen, Welten, in denen Frauen in strahlenden Gewändern und einem Licht in den Händen nachts singend durch einen Wald tanzten, während ein Knabe sich die Nase am Fensterglas nach ihnen plattdrückte: Das sollte er erst viel später lernen, als die Erinnerung an jene Nacht längst selbst nur mehr aus den Worten zu leben begonnen hatte, die er dafür finden würde.

No. 14

Neulich habe ich die Klaviersonate op. 27 Nr 2 in cis-Moll gespielt. Den ersten Satz, Adagio sostenuto, auf einem Instrument mit riesigen, nußbraunen Tasten. Konfliktrhythmus, zwei gegen drei, ich mußte mich sehr konzentrieren, das richtig hinzukriegen, und war entzückt, als es mir endlich gelang, die sanfte Verschiebung ganz zart, delicatissimamente, und noch exakt klingen zu lassen, punktiert zumal.

Quasi una Fantasia: Es war im Traum. Aufgewacht bin ich dann ins Verschweben dieser Achtelnoten hinauf, kein Mond, die Sonne schien, und es war Sommer. Gut fing das an, so ein Tag, so ein adagio losschreitender Morgen.

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad …

Liebe REWE-Filialleiter!

Wollen Sie auch, daß Ihren Kunden das Einkaufen bei REWE Freude macht? Wünschen Sie sich, daß Ihre Kunden sich wohlfühlen in Ihren Geschäftsräumen und sich gerne dort aufhalten? Wollen Sie auch, daß Ihre Kunden die Atmosphäre im Laden als wohltuend empfinden, sich entspannen und gerne wiederkommen? Und wollen Sie Verärgerung und Mißmut bei Ihren Kunden vermeiden? Dann haben Sie doch bitte ein Einsehen. Verzichten Sie fortan darauf, den Werbesong „Buttermilch in Flaschen“ in Ihren Filialen abzuspielen. Denn mit seinem immer knapp den Melodietönen ausweichenden Gesang verursacht diese Einspielung höchstes Unbehagen und löst spätestens beim zweiten Hören einen kaum zu unterdrückenden Fluchtreflex aus. Auch den Text möchte man nicht unbedingt unter die Höhepunkte abendländischer Lyrik zählen. Glauben Sie mir: Niemand wird diese Ohrenfolter zum Anlaß nehmen, ins Kühlregal zu greifen. Und seien Sie unbesorgt: Die Stammkunden der fraglichen Molkereiprodukte werden die neue Verpackung schon von alleine entdecken. Machen Sie doch lieber mit einem Plakat darauf aufmerksam, das gibt immerhin keine Töne von sich. Oder verteilen sie einen Flyer an der Kasse. Die Ohren Ihrer Kunden jedoch weiter zu strapazieren, dürfte Ihrem Geschäft in hohem Maß abträglich sein. Täuschen Sie sich nicht: Ästhetisch empfindliche oder auch einfach nur nicht gänzlich unmusikalische Menschen gibt es viele – mehr als sie vermutlich zu denken geneigt sind –, und der nächste Supermarkt ohne Werbespots, handele es sich nun um Buttermilch oder um Spargelsauce oder was auch immer, ist nur eine Straßenecke entfernt. Sie werden sich, wenn sie fortan auf den Song verzichten, keine Feinde, wohl aber eine Menge Freunde machen. Denn von dem falschen Gesinge bekommt man, verzeihen Sie, ein Geschwür im Ohr.
Und wo Sie schon einmal dabei sind: Machen Sie doch das Einkaufsradio am besten ganz aus. Vielen Dank.

Herzlich
Ihr Solminore

Fagott

Von Fagotten habe ich schon einmal geträumt, diesmal aber war ich selbst der Fagottist. Merkwürdig genug, war es auch noch ein sehr seltsames Instrument, hatte es doch keine Grifflöcher bzw. Klappen, sondern einen Trompetenzug aus Metall, den man wie den Kolben einer Fahrradpumpe ziehen mußte, um die Tonhöhe zu verändern. Diese originelle Abwandlung eines Fagotts hatte ich in einem Korb gefunden, in dem noch mehr Instrumente (alles Fagotte verschiedener Bauart) standen, nicht ungleich Spazierstöcken in einem Souvenirladen. Auf diesem seltsamen Instrument spielte ich im Traum eine Melodie, von der ich noch beim Erwachen wußte, oder zu wissen glaubte, woher sie stammte. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich nicht wieder Musik träumend phantasiert habe – diesmal nicht mehr nur als Zuhörer, sondern Instrumentalist selbst. Ich weiß nur noch, daß es eine Motivsequenz war, in der sich eine Tonfolge höher oder tiefer, vielleicht auch nach Moll gewendet, wiederholt; und wie beglückend es war, auf Anhieb die richtige Position des Kolbens zu finden.

Hummelgebrumm, Großvätergemurmel, tolpatschiges Bärengetorkel – manche meinen ja, das Fagott eigne sich besonders für humoristische Effekte. Das ist ein Irrtum, der daraus herrührt, daß das arme Rohrblattinstrument de facto oft für musikalische Scherze eingesetzt wurde. Aber dafür kann es nichts. Es hat jedenfalls nichts mit seiner Natur zu tun, die a priori nichts Komisches an sich hat. Und umgekehrt eignen sich andere Instrumente genauso gut für musikalische Späße. Die Klarinette quakt, die Posaune röhrt, das Cello pupst, und brummeln kann ein Horn mindestens genauso gut wie ein Fagott.

Dem Fagott haftet der Ruf des Marginalen an. Wer lernt schon Fagott spielen? Saxophon, Schlagzeug, Querflöte, oder, wenn es denn E-Musik sein soll, Violine oder Klavier, na gut. Aber Fagott? In einer US-Kinderserie aus den 70ern kam einmal ein etwas unbeholfener und unsportlicher Junge vor, der ausgerechnet Fagottunterricht bekam. Fagott, das ist wie CB-Funk oder Makramé, das hat irgendwie etwas Nerdiges.

Edgar Degas: L’Orchestre de l’Opéra
Nicht nerdig: Edgar Degas, L’Orchestre de l’Opéra

Das war natürlich nicht immer so, und zum Glück haben viele Komponisten die lyrischen-elegischen Möglichkeiten klar erkannt, die der warme und sanftdunkle Klang des Fagotts bietet. Nur in den tiefen Lagen hat die Klangfarbe nämlich etwas Brummeliges, und auch dann nur bei geeigneter Spielweise. Weich und voll wie eine Tenorstimme in der Mittellage, gewinnt der Ton des Fagotts in der Höhe eine federnde, energische Härte, die im Piano auch schmeichelnd und zärtlich klingen kann, wie eine Oboe, nur daß ihm das Schneidende fehlt. Der Klang mischt sich sehr gut mit dem anderer Instrumente, ist aber auch für Solopassagen geeignet. Und so ist das Fagott im klassisch-romantischen Orchster seit gut 250 Jahren fest etabliert. Es gibt aber auch manch dankbares Stück in der Sololiteratur. Abgesehen von seinem unermüdlichen Einsatz als Continuo-Instrument haben sich namhafte Barockkomponisten des Fagotts auch als eines virtuos spielbaren Soloinstruments angenommen: Von Telemann gibt es neben einer Sonate für Fagott und BC ein viersätziges Konzert für Fagott, Altblockflöte, Streicher und BC, eine eigentümliche Mischung, könnte man meinen, aber Telemann hat es ausgezeichnet verstanden, die so gegensätzlichen Klangfarben von Blockflöte und Fagott als Solointrumente in einem Konzert unterzubringen, und so nicht nur die Fagott-, sondern auch gleich die Blockflötenliteratur um eine Perle bereichert. Geradezu vernarrt in das Instrument scheint Vivaldi gewesen zu sein: Nicht weniger als 39 Solokonzerte (mehr als für jedes andere Instrument) hat er dem Fagott gewidmet. Mozart, Weber, Hummel, Danzi, sie alle haben Werke für Fagott und Orchester zur Konzertliteratur beigesteuert. Und natürlich darf im klassichen Bläserquartett das Fagott als Bassinstrument nicht fehlen. Die Romantik behandelte das Instrument eher stiefmütterlich, während Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wieder mehr für das Fagott komponiert wird. Saint-Saënts’ Sonate für Fagott und Klavier, deren einziges Manko ist, daß sie nicht länger dauert, ist ein frühes Beispiel für das wiedererwachte Interesse. In der Moderne haben unter anderen Jean Françaix, Heinz Holliger, Karl-Heinz Stockhausen und Peter Maxwell Davies Solowerke für das Fagott komponiert, und sogar Tom Waits hat die dunkleren Register dieses unterbewerteten Instruments zu schätzen gewußt.

Natürlich wird das Fagott nicht mit einem Posaunenzug gespielt, sondern auf Grifflöchern, bei modernen Instrumenten mit chromatischer Bohrung, deren Handhabung durch ein kompliziertes Klappensystem (der Mensch hat nun einmal nur 10 Finger) ermöglicht wird. Eine Art von Posaunenzug wäre schon deshalb gar nicht möglich, weil das Rohr des Fagotts nicht gerade verläuft, sondern wie ein Siphon u-förmig gebogen ist, worauf schon die Position des Mundstücks an der Seite hindeutet. Das Fagott ist sozusagen eine zusammengeklappte Röhre. Daher hat es vermutlich auch seinen Namen. Fagotto bedeutet schlicht „Bündel“.

Saeby

Da waren also diese Leute draußen im Wald und sangen dieses etwas alberne und doch irgendwie traurige Lied, Alouette, gentille alouette, aber für mich damals war es, konnte es gar nicht albern sein, man hat als Fünfjähriger kein Gefühl dafür, was albern oder ernst, süß oder verkitscht, aufrichtig oder hohl ist. Und im Grunde ist es ja nur ein ganz einfaches Liedchen, das sich in seiner Schlichtheit nicht verstecken muß. Schon gar nicht nachts um spät, der Fünfjährige ist erwacht, und aus seiner Sicht ist es mitten in der Nacht, sei es elf oder zwölf oder halb vier. Es war Sommer, Hochsommer, und im Norden heißt das Tageslicht bis um zehn, elf Uhr. Es war aber zu jener Stunde schon dunkel, stockfinster, bis auf, ja, vielleicht bis auf ein Licht, das, nicht nah, nicht weit, aber ungeheuer draußen, zwischen den Föhrenstämmen aufblitzte, erlosch, wieder aufblitzte, der Nacht, den Baumriesen, dem Waldraum angehörend, einem Raum, der verzaubert war, und wo in diesem Augenblick etwas Wunderbares geschah, und dieses Wunderbare war: Musik.
Es sangen da Stimmen, zwei oder drei oder vier, sangen, und vielleicht unterbrachen sie sich manchmal, um laut herauszulachen; Strophe, Gegenstrophe, Lachen, es war etwas unendlich Gelöstes, Frohes und Lustiges an diesen Stimmen, überirdisch und entrückt und doch ganz hier; und zugleich haftete ihnen ein unergründlicher Zauber an, ein heiterer Ernst, wenn es so etwas gibt: Es war etwas, die Melodie, das Heitere, das Nur-sich-selbst-Genügende, das zum Atemanhalten schön war (wahrscheinlich drückte ich mir die Nase an der Fensterschiebe platt), das nicht mir galt, das einfach passiert war, da draußen zwischen den Bäumen, und das sich, während ich lauschte und rätselte, schon wieder langsam entfernte, leiser und leiser wurde.
Es werden junge Leute gewesen sein, die angetrunken, ausgelassen und veralbert von einer Feier nach Hause gingen, und die in ihrer Ausgelassenheit beschlossen hatten, gemeinsam dieses Liedchen mit seinen anwachsenden Repetitionen (Et la tête! – Et la tête!) durch den Wald zu schmettern.
Ich weiß nicht wie lange es dauerte. Ich weiß aber, wie es mich, während ich am Fenster stand und lauschte und lauschte, in eine qualvolle Unruhe versetzte, weil ich es nicht verstand. Ich fühlte damals, daß es mir auf immer entglitte, daß ich es verlieren würde, wenn ich nicht begriff, was das war. Ich hatte die Sehnsucht, es für immer zu besitzen; ich glaubte, daß ich nur verstehen müsse, was es war, um in diesen ersehnten Besitz zu gelangen, für immer teilhaftig des wundersüßen Geheimnisses.
Was ich noch nicht wissen konnte, war natürlich, daß solche Augenblicke unwiederholbar sind, und daß man nichts daran besitzen kann, daß man schon dabei ist, sie zu verlieren, noch während sie dauern. Selbst, wenn man irgendwann weiß, wie das Lied heißt. Die Stimmen werden sich entfernen, die Laterne wird noch einmal aufblitzen, dann wird die Melodie, Et la tête! – Et la tête! Alouette! – Alouette!, in der Tiefe zwischen des Stämmen verklingen, Silbe für Silbe, vielleicht hört man noch ein Lachen, und dann auch das nicht mehr, nur noch den Wind, wie er in den Föhrenwipfeln rauscht.

Traum, Choral, Buchfink

Vor einigen Tagen wieder ein klingender Traum. Es spielte in einem Kammermusikensemble, das man von der Straße her durch ein offenes Fenster erspähte, eine Fagottistin ein langsames Solo. Die Melodie ist einfach, in Dur, schmucklos, beginnt mit einer lang ausgehaltenen Note, welche die Solistin aus dem Mezzopiano wie aus einem gedämpften Hintergrund langsam crescendierend in den Vordergrund des musikalischen Geschehens einschwingen läßt. Ihr Ton ist sehr weich und näselnd, das allmählich vortretende Vibrato unaufdringlich und schmeichelnd. Die Melodie ist eine fallende Figur, gleitet aus dem ersten Ton hinab, fängt sich, schwebt wieder empor und erreicht eine vorläufige Kadenz; dann beginnt es noch einmal von vorn. Bei der Wiederholung bin ich schon ein paar Schritte weitergegangen, die Weise erklingt noch einmal neben oder hinter mir, indes ich das Fagott vor mir sehe, ein frühes Instrument aus merkwürdig hellem Holz.
***
Später im Radio den Bachchoral „Jesus bleibet meine Freude“ in einer Klavierbearbeitung von Busoni.
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Indessen, draußen, vor dem Fenster ein Buchfink, weder nah noch fern, und ebenso an den Dingen beteiligt wie unbeteiligt, ahnungslos, freundlich, ein vergnügter Teil der Welt, der bei allem, was diesen Augenblick ausmacht, unersetzlich ist.
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Der Traum, der Choral, der Buchfink: Die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt und etwas zu Seite geneigt, nur noch im Ohr beheimatet sein. Gestern und morgen, das Jahr und der Tag, Nächte und Morgen, Stimmen und Blicke, das Nahe wie das Ferne kommen in einem einzigen einfachen Ort zusammen, in dem alles, was man nur denken kann, die Bedeutung reiner Freude hat und sich ganz leicht auflöst in den Kullertränen eines unaussprechlichen Glücks.

und noch einmal

Bach. Ja, kein Geringerer als der Meister selbst. Im Traum erklang vermeintlich das Cembalokonzert in d, und zwar in einer vom Magister somniorum persönlich eingerichteten Fassung für Cembalo und zwei Blockflöten, allerliebst. Nicht zu verkennen das Streicherunisono zu Beginn des ersten Satzes, nur dunkler, verschattet, in braune und schwarze Ölfarben getunkt, dick wie Kakao, ich mußte (im Traum!) ans 6. Brandenburgische Konzert denken, wo Bach originellerweise auf Violinen gänzlich verzichtet hat. So ähnlich klang nun der barsche Anfang des Konzerts in d. Allerdings leicht verändert, ver-rückt, wie ein Weg, der plötzlich eine Wende macht, an die man sich nicht erinnert … Ich weiß noch die Überraschung, als plötzlich die beiden Blockflöten einsetzten und statt einem drei Soloinstrumente das Tutti ablösten. Überdies noch in eine ferne Tonart, wie es schien, modulierend, wobei sie harmonische Pfade betraten, von denen wohl seinerseits der Meister nicht zu träumen gewagt hätte.

Musiktraum

Zweimal in der Folge weniger Tage von Musik geträumt oder besser, Musik geträumt. Diesmal keinen vorgeblichen Dvořák, diesmal erklang, so wollte es der Traum wissen, Beethoven, und die schneidenden Akkorde, in einem Dreierrhythmus stolzierend, triumphierend, bildeten das Ende einer Sonate für Violine und Klavier. Wieder bin ich mir sicher, daß es diese Musik nicht gibt, jedenfalls nicht von Beethoven, aber nach allem, was ich von dem Traum noch im Ohr habe, auch nicht von irgendeinem anderen Komponisten.
Heute nacht nun abermals Musik, diesmal nach Auskunft des Traumes ein Klavierstück von Prokofjeff. Das ist nun sicher kein Zufall, denn gestern morgen gab es im Radio ein kurzes Stückchen aus einer Klavierbearbeitung des Balletts Romeo und Julia von nämlichem Tonsetzer, und gestern nachmittag habe ich mir gleich eine CD des Balletts in der Bibliothek besorgt (aber noch nicht reingehört).
Was ist das also? Täuscht mich mein Wachgedächtnis und Wachohr, und erlebe ich vielleicht in solchen Träumen Musik, die ich schon kenne und mir nur von meinem Gedächtnis eingespielt wird? Ist ein solcher Traum nur ein Erinnern, das mir aber als völlig Neues vorgestellt wird? Stilistisch paßt das, was ich da höre, jedenfalls immer zum Komponisten, der Beethoven neulich ebenso wie die etwas hektischen, sehr virtuosen Läufe und Figuren des Prokofjeffstücks, die an seine Violin- bzw. Flötensonate erinnerten. Und vielleicht war es ja auch die Violinsonate. Oder erklingt da wirklich unerhörte Musik? Aber wo kommt sie her? Ich komponiere ja auch nicht im Traum, noch spiele ich das Instrument selbst, ich höre diese Musik, als einer, der keinen Einfluß auf das hat, was er da hört. Und wäre es möglich, sie zu bewahren, durch eine übermenschliche Gedächtnisleistung aus dem Traum in die Wirklichkeit zu heben? Oder würde man sie verblassen hören, wie manche leuchtenden Wasserpflanzen, wenn sie, ehemals sanft wehende, filigrane Anmut, an Land gehoben, zu fahler Belanglosigkeit zusammensinken?
Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß diese Träume, noch vor einer anderen Sorte Traum, das schönste sind, das ich jemals in Morpheus’ Reich, dieser anderen Seite erleben durfte.

Musiktraum

Wieder ein Musiktraum:
Konzertante Aufführung einer Oper. Drei Mezzosopranistinnen oder Altistinnen, auf etwas wie Thronsesseln sitzend, auf einer Bühne, sehr nah; die Gesichter geschminkt und bleich unter Perücken; sie sitzen seltsam starr; die Münder klappen puppenhaft auf und zu, während ihr Gesang den Raum füllt und sich, in den Terzen und Sexten, zu leuchtscharfen, beinah schrillen Schwebungen überlagert. Jemand findet das unangenehm, ebenso wie ihr rhythmisches, stark schwingendes Vibrato. Ich aber bin fasziniert und jubele innerlich, wenngleich ich verstehen kann, daß jemand diesen Klangeindruck als schwierig empfinden mag.

Traum

Ein Musiktraum.
Ich sitze auf einem Treppengeländer, das die Stufen zu einer Art Amphitheater teilt und habe Ausblick auf eine Schlucht, auf graue und rosa Sandsteinfelsen auf der anderen Seite, oben ein Buckel, durch einen Riß von der senkrecht abfallenden Klippe getrennt, und darauf wie die Krone auf einem Haupt, ein Schloß, eine Burg, eine Ruine? Dazu erklingt von seitlich, von hinten, mächtige Musik eines unsichtbaren großen Orchesters, leuchtende, glänzende, flirrende Streicher, Gebraus und Geklirr von hohem Blech, chromatische Abwärtsgänge, Wirbelwinde, das Ende eines großen Symphoniekopfsatzes, so hört es sich an, aber es klingt nicht mit einem gewaltigen Tuttiakkord aus, sondern in einer sehr einfachen, verspielten, bukolisch gefärbten, von zahlreichen Vorhalten (man fragte sich erst, ob es Ansatzprobleme waren, ein Verschlucken des Rohrs) verzierten Oboenmelodie, in der Atmosphäre ganz ähnlich, wie es Brahms in seiner zweiten Symphonie gemacht hat.
Dann sollten wir Zuhörenden ein wenig Platz schaffen, denn der Oboist, hieß es, brauche mehr Raum für das nun folgende große Solo des zweiten Satzes.
Eine Melodie, die nicht mehr erklang, denn zu meinem großen Bedauern erwachte ich in diesem Augenblick.

Gerade Beethovens “Appassionata” gehört. Maurizio Pollini. Ein Klanggewitter. Ein Akkordorkan. Oktavenstürme, Sechzehntelirrlichterei, dumpfes Donnergrollen, silbriges Wetterleuchten, und am Ende, am Ende, wenn man meint, es geht nicht noch mehr — ein hexentanz.

Nie bin ich so glücklich, wie wenn ich geschrieben habe. Obs gut war, was ich geschrieben? Am Ende des Tages scheint alles gut.

L’Inverno

Auf dem Münsterplatz läßt mich der plötzlich auffedernde Ton einer Klarinette innehalten. Es sind drei Musikanten, Typ „Russische Musikstudenten aus St. Petersburg“, und wie alle dieses Schlages sind es Profis, die wissen, was sie tun. Ich suche mir ein Plätzchen abseits und höre zu. Eine Tuba, ein Akkordeon, eine Klarinette. Der Platz bleibt, bis auf ein zwei verstreute Enthusiasten, menschenleer.

Sie spielen Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, den Winter, in einem merkwürdigen, aber nach anfänglicher Verwirrung vergnüglichen Arrangement, in dem sich Akkordeon und Klarinette die Tutti- und die Solopassagen der Violine voneinander übernehmend einander überkreuzend teilen. Das verfremdet und verzaubert, und taucht die barocke Sprache in ein ganz seltsames Licht.

Lässig spielen sie, trotz der Kälte fliegen die Finger über Klappen und Tasten. Der Klarinettist hebt, unter seiner strengen Mütze kaum zu sehen, ab und an vergnügt die Brauen, während der Akkordeonspieler recht finster und in sich hinein gewandt aussieht, als spiele er ganz allein; der Tubist lehnt sich gar, ein Bein bequem um das andere gewickelt, an einen Laternenpfahl. Schön hingetupft breiten sich die wuchtigen und doch leicht gewippten, schwingenden Klangfundamente der Tuba aus, das Akkordeon vermittelt, während die Klarinette glasklar die winterkalte Luft durchklirrt. So muß Vivaldi gespielt werden, denke ich, und diese denkwürdige, jede historische Aufführungspraxisideologie frech verlachende Darbietung macht mir plötzlich mehr Freude, als so manche vibratolose, darmsaitenverkratzte Akademikereinspielung. Da läßt man aufwallen, und versiegen, bricht aus, nimmt zurück, trampelt stolz herum, um schon im nächsten Augenblick wieder auf Zehenspitzen einher zu trippeln. Die Läufe prasseln und rauschen. Die Dissonanzen klirren frostig. Die Tuttipassagen knarren und rumpeln. Die da spielen nicht einfach Vivaldi – sie führen ihn auf.

12. Weinen

Es gibt eine Art von katalytischer Musik, die mich innerhalb kürzester Zeit in Tränen ausbrechen läßt. Nach drei Takten beginnt die Kopfhaut zu prickeln, nach noch einmal drei Takten zieht sich der Hals merkwürdig zusammen, überall rieselt es, die Augen beginnen zu brennen. Und dann der Choreinsatz, die Synkope, die Donnerschläge der Pauken, das schon ersehnte Streichertremolo, die sonnenhaft aufleuchtende Wendung nach Dur: und es packt mich, es schüttelt mich durch und durch. Ich weine. Ausgiebig. Herzhaft. Gelöst.

Era el crepúsculo de la iguana … Es ist so schön, als wäre ein Engel vorbeigegangen und hätte mich, unwürdig-niederes Dasein, berühren wollen. Ich weiß nicht warum, eigentlich klingt diese Musik wie von der Sakro-Pop-Gruppe der katholischen Kirchengemeinde. Warum hat sie auf mich diese Wirkung, diese unglaubliche Kraft? Gestern wieder. Lang aufgestaute Sturzbäche der Erschöpfung, der Anspannung, des Vergeblichseins. Yo no voy a morirme/salgo ahora/en este día lleno de vulcanes/hacia la multitud/hacia la vida

Danach ist es gut.
Ganz bestimmte Musik muß es sein, und meistens klappt es zuverlässig: Brahms, Ein deutsches Requiem, Theodorakis, Canto General, Verdi, Requiem, „Dies Irae“ (ja, ich weiß. Trotzdem.), Mozart, Klavierkonzert A-Dur, 2. Satz, Brahms, Klavierkonzert Nr. 1, d-Moll, 2. Satz. Und anderes, von dem ich es vielleicht noch nicht weiß. Ist es beschämend, weil ich so eine Erlösung manchmal brauche und mir nicht anders zu helfen weiß, als es durch ein paar billige Töne herbeizuführen?