Was sind da für archaische Bilder am Werk, wenn ich mich für den Versuch schäme, auf der Wanderung L. zu einem Schäferstündchen zu überreden, was für uralte Kategorien männlichen Rumkriegenwollens und weiblicher Sprödigkeit? Haben wir das nicht alles überwunden geglaubt? In solchen Momenten zeigt sich, nichts ist überwunden, bei mir jedenfalls nicht. Ich schmolle und glaube im Ernst, L. fällt es leichter zu verzichten. Ein weites Bachtal, silbernes Plätschern in der Mitte, von allen Seiten ferne Böschungen, blanke, grüne Wiesen, die die Hochsitze am Waldrand festpinnen. Jeder Winkel einsehbar, zugegeben, und doch: Es verlockt, unter einer Weide oder einem Hasel eine kaum wirksame Deckung zu suchen und sich dort nackig zu machen, vor der Sonne, dem Bach, dem ganzen wannenweise niederstürzenden Tageslicht, meinetwegen auch den Menschen, wenn welche kommen und starren sollten, in diesen Augenblicken ist mir alles egal, ich will L.s Schoß, komme was oder wer da wolle und Augen im Kopf habe, am Ende ist da vielleicht sogar ein gewisser Reiz bei dem Gedanken, man könnte uns sehen, in flagranti actu. Es ist ein warmer Frühlingstag, der Lerchensporn blüht und die Buschwindröschen, wer will es zwei Menschenkindern übellaunig mißgönnen, daß sie sich dem Frühlingstreiben willig anschließen, und seien sie auch nicht mehr die jüngsten. In actu ist sowieso jeder hübsch, meine ich. Und wen es stört, der kann ja weggucken und weitergehen. Die Wahrscheinlichkeit, daß uns hier wer kennt und boshaft unseren Partnern verpetzt, ist auch verschwindend gering. Also? Nein, L. ziert sich. Und ich falle in alte Muster, schmolle, kriege schlechte Laune — und unterschätze L.s eigenes Begehren, L.s eigene Frühlingsgefühle, nicht minder zielstrebig als meine. Wie sich zeigt, als wir eine halbe Stunde später — L. stumm mich Schweigenden, Schmollenden, Übellaunigen ertragend — an einem Fleckchen vorbeikommen, der ihr mehr zusagt, der ihr sozusagen ins Auge springt und ihrerseits ihre Phantasie in Schwung bringt.
Ich möchte nicht, daß du dich gedrängt fühlst, entgegne ich, als sie mich fragt, da oben? Und da bin ich schon wieder in der hergebrachten Rolle, während L., Ich habe gerade einen Vorschlag gemacht. Klingt nicht so, als würde ich nur nachgeben, oder? während meine famose Liebhaberin also auf ihrem eigenen Begehren besteht, zu meinem Glück, ohne dieses ihr Begehren auch nur im Geringsten problematisch zu finden oder in Frage zu stellen. — Inzwischen, gefällt mir zu denken, sind es die Männer, die sich in ihren komischen Rollenbildern verheddern und Frauen nichts zutrauen wollen. Dabei gibt es da gar nicht so viel zu verstehen. Oder was soll man davon halten, daß L. sich von meinem Begehren ebenso geschmeichelt fühlt wie ich mich von dem ihren? Glücklicherweise sind wir alt genug, dieses Begehren voreinander zuzugeben. Darf man davon ausgehen, vom Begehren nämlich, und das dürfen wir ja, finden sich auch stets Ort und Zeit. Man, das heißt, ich, muß lernen, es nicht länger anzuzweifeln. Man muß lernen, das Begehren ernst zu nehmen, das eigene nicht weniger als das des andern.
Kategorie: Nicht mit gar zu fauler Zungen
Vertumnus
Langes Haar, Laufhose und Fleecepulli. Wie das sofort Assoziationen an erste Freundinnen aufruft, an bequeme, bald abgelegte Kleidung, die man gegen Decken eintauschte, während draußen die Kastanienalleen verdämmerten. Lust und Liebe, die bei mir so oft mit dem Herbst sich verbanden, mit den frühen Abenden. Wie wir zu Bett gingen am Tage und im Dunkeln desselben Tages uns höchstens noch zum Abendessen erhoben. Wie die geliebten, angestaunten Gesichtszüge in die Dunkelheit eintauchten, nur noch für Küsse erreichbar, und wie man einander am Geruch wahrnahm, am Kitzeln von Haar und den Strahlungen von Haut, den Strömen von Feuchtigkeit unterm Haar. Und draußen der Herbst, wie ein wohlwollenden Tuch über Haus, Zimmer, Bett geworfen. Die Wege, die alle blieben, als stumme, wissende, verschwiegene Wächter, die uns besser kannten als wir uns selbst.
Solstitium
Als wir noch träumten vom Küssen, umstellten schon Uhren das Lager.
Zahllos die Küsse im Traum, zählt sie die kürzeste Nacht.
Küsse, gleich Wild in der Dämmerung, scheu vor den lärmenden Stunden.
Welche vorm Licht nicht geschenkt, flohen ins Dunkel des Traums.
Kein Frühling
Wir froren, das machte den ersehnten Vollzug zu einer Aufgabe. Ohne Schuhe, doch noch in allen Kleidern auf dem Grund liegen und in den eichenlaubbekränzten Himmel schauen, das ging noch. Kalte Hände auf warmer Brust, warmem Bauch, fröstelnden Flanken, das war schön. Zwei Eichhörnchen, die sich balgten, unserer nicht achteten. Wir lagen und waren selbst Natur, wir hätten aus Erde, Laub, Fell und Holz sein können, aber das Frieren hielt uns warm, das Frieren hielt uns lebendig, das Frösteln unterschied uns vom Holz und flößte uns die Sehnsucht nach unserem warmen Inneren ein, hielt das Verlangen wach. Doch dann war Eile geboten. Du zittertest unter mir. Unser Schoß das einzig Warme unter der Sonne, so weit die Hügel reichten. Ich wäre so gerne ganz nackt neben dir in der Sonne gelegen. Aber die Täler bliesen kühl, Wind bemächtigte sich unserer Küsse, in deinen Augen fror die Sonne wie ein durchsichtiger Fisch.
(25.4.2020)
Kein Frühling
Vogelgesang hinter Fensterscheiben, Sonne hinter Glas. In Gedanken mit dir tun, was im Traum verhindert wurde. Nicht einmal die Träume sind uns gewogen.
Eine Stunde in einem Meer brausender Zeit. Eine Stunde mich an deinen Augen festhalten und mit meinen Händen betrachten. Ich denke jetzt schon daran, wie meine Augen, wenn du wieder abreist, dir nachstürzen werden; und wie ich sie dann wie wilde, traurige Hunde nach Hause schleifen muß.
(6.5.2020)
Solstitium
Decken im Frühlicht, Gedächtnis von Schnee, Gedächtnis von Speichel:
Schlafend fand Helle zu Haut, Haut zum Geküßtsein zurück.
Beaujolais
Beim Wort Beaujolais an Wollpullover, Decken und Winterabende denken; an erste Küsse und an einen feuchten Schoß denken, klebriger Samen auf einem warmen Bauch, tief eingewickelt in der Mitte der trockenen Wärme von Wolle, Stallgeruch des Geschlechtlichen. Beaujolais: junger Wein, der zu den jungen Erfahrungen paßte. Keine Reife, aber schon Kennertum bei mir wie bei ihr, und wie wir uns in den elementaren Fragen des Geschmacks von Delikatessen einig waren. Spaziergänge mit Kastanienlaub in den Alleen einer für beide fremden Stadt, in der man heimisch werden wollte, so wie eins verlangend im anderen zu Hause zu sein begehrte. Dazu der trockene, leicht irden schmeckende Wein, dessen Geschmack Jahrzehnte später, in einer völlig anderen Welt, nicht mehr auffindbar ist: Was bleibt, ist nur der Name der Rebsorte, der Name der Frau, die Erinnerung nicht nur an ihren, sondern an so viele Schöße, so viele Aromen, die alle dem ersten nicht mehr nahekamen. Eingekapselt wie Fruchtschalen innerhalb von Fruchtschalen, wie das warme, herbe, sanft Bittere von Kastanien. Ein stacheliger Herbst mit dem weichen Samt des Nebels und der Wärme der Fenster, in denen sich Kerzenschein spiegelt, und, vom Bett aus, dessen Enge gerade recht ist für zwei, nicht zu sehen, zwei nackte Leiber, die ihre Nacktheit voreinander bereits vergessen haben. Bibliotheken und Erkenntnisse, Buch- wie Körperweisheiten, und alle Wege voller Zukunft, unausschöpflich und geheimnisvoll. Lockend vor Fremdheit.
Schauen
Gegenüber in der Küche im ersten Stock ist schon Licht. Eine Frau ist dort beschäftigt mit Aufräumen oder Frühstückmachen oder was für Aufgaben am Morgen sonst so warten, erledigt zu werden. Sie wendet sich hierhin und dorthin, stellt etwas weg, hat vielleicht ein Geschirrtuch in der Hand. Am offenen Fenster warte ich darauf, daß sich mein Zimmer mit Frischluft füllt, keineswegs habe ich die Absicht, diese Frau zu beobachten, irgendwen zu beobachten, da sehe ich in meiner Absichtslosigkeit: die Frau trägt nichts weiter als einen Büstenhalter, der Verschluß hell und wie ein Stück Rüstung auf ihrem breiten Rücken schimmernd. Nicht einmal eine Sekunde dauert es, dann schließe ich, eher erschrocken als entzückt, das Fenster.
Es ist eine Sekunde, die mehr Vorstellung enthält als tatsächliche Sichtbarkeit. Zum Beispiel wird mir die Bewegung, mit der die Frau sich von einer Seite der Küche zur anderen wendet, vielleicht von der Arbeitsfläche zur Spüle, wie ein Tanzschritt vorkommen, als hörte sie Musik (so leise, so beschränkt auf ihren privaten Umkreis, daß ich unten gegenüber nichts davon höre) und wiegte sich dazu, kaum ein Tanz zu nennen, im Takt, fröhlich darüber, daß der Tag losgeht, daß sie am Leben ist, daß ein Vergnügen irgendwann heute auf sie wartet, von dem ich keine Ahnung habe. Ebenso mehr gedacht als gesehen sind die Metallhaken der Schließe, die den Büstenhalter am Rücken zusammenspannt. Habe ich wirklich gesehen, wie sich die obere Lasche ein bißchen auswärts krümmte? Wie das dehnbare Synthetikmaterial im Licht der Küchenlampe leise schimmerte? Wie der Stoff sich weich in die Haut der Flanken jener Frau drückte? Die Frau ist jung, aber nicht sehr jung, jung auf eine reife, robuste, haltbare Art, sie trägt langes, blondes, vielleicht rötliches Haar, dessen Wellen, zusammengefaßt von Spange oder Band, über den Nacken fallen. Das habe ich nicht gesehen, das ahne ich, erfinde ich mir höchstens später. Die Erfindung tilgt auch bereitwillig den Widerspruch, daß die Haare eigentlich den Büstenhalter verdecken müßten. Was ich auch nicht gesehen habe, was aber alles in dieser Sekunde keimt, sind die anderen Bilder, die sich jenem jüngsten verbünden, der nackte Schemen hinter der Milchglasscheibe, der dampfenden Umriß im Badezimmerfenster, das sich damals dem Zugreisenden darbot.
Früher hätte ich vielleicht länger ausgeharrt, riskiert, selbst deutlich sichtbar am offenen Fenster, aber mit nichts beschäftigt außer zu starren, bei meinem heimlichen Entzücken, das mir nicht als freundlich ausgelegt worden wäre, entdeckt zu werden. Aber was wissen diese Frauen schon.
Das Sehendürfen ist eigentlich keine Frage der Erkenntnis, sondern eine der Zuwendung, und, in der Zuwendung, der offenbarten Bereitwilligkeit, der bereitwilligen Offenbarung. Komm, du darfst sehen. Und dann auch: fühlen, schmecken, hören. Diese Zuwendung fehlt natürlich in der heimlichen Erkenntnis, die man sich ungebeten holt. An ihre Stelle tritt der Reiz der Selbstvergessenheit und Ahnungslosigkeit der Beobachteten. Allein das heimliche Schauen, muß man wohl meinen, empfängt den Eindruck eines vom Beobachter unbeeinflußten Daseins. Die Zuwendung reagiert auf den Beobachter. Das eine schließt das andere aus: Der Beobachter kann nicht zugleich gemeint sein mit dem, was er sieht. Der Gemeinte kann nicht sehen, was das Geschaute ohne ihn ist. Ohne ihn: das geschaute Objekt, wie es ist, wenn keiner zuschaut und alle Vorsichtsmaßnahmen, Masken, Täuschungen (absichtliche wie unwillkürliche), Personae, Schutzwälle fehlen, abgenommen, abgelegt worden sind ebenso wie die Kleider, jene alltäglichsten aller Masken.
Genau das ist der Reiz von Bildwerken, die eine Morgentoilette zeigen. Nirgends, darf man annehmen, ist man so selbstvergessen und alleine, so ausschließlich und zugleich selbstverständlich, alltäglich und banal bei sich selbst wie beim täglichen Waschen, Zähneputzen, Frisieren, Tätigkeiten, die so beiläufig sind wie sie lästig fallen können. Wenn Maler nicht auch den Stuhlgang oder das Wasserlassen abgebildet haben, so liegt das vielleicht daran, daß diese Vorrichtungen die Ausübende in unvorteilhafter Weise zeigen würden. Eine Ästhetik der Kloschüssel ist noch nicht erfunden, so weit ich weiß. Eine Ästhetik der Waschschüssel sehr wohl. Eine noch intensivere und jedenfalls ihrerseits ästhetische Beschäftigung mit sich selbst ist allenfalls die Masturbation, und auch dieses Tun ist ja beliebter Gegenstand der bildenden Kunst, von der Pornographie zu schweigen. Der Betrachter wird darin zum Voyeur, bei einem Tun, das sich unbeobachtet glaubt, oder aber, je nach Darstellung, vom Beobachter weiß und diesen, verschämt oder unverschämt, zum Zuschauen einlädt, indem sie ihn, der, dadurch, daß er das Bild betrachtet, einwilligt, zum Voyeur, zum Komplizen seiner eigenen Übertretung, ja, zum Teilhaber an der intimen Verrichtung macht. Indem der Betrachter verweilt, nimmt er die Zuweisung an wie auch die Verantwortung, die damit verknüpft ist. Anders als das Waschen jedoch ist die Masturbation gerade nicht selbstvergessen. Sie ist weder banal noch beiläufig noch lästig, höchstens alltäglich, und schon gar nicht läßt sich vorstellen, daß eine Frau gedankenverloren masturbiert. Es sei denn verloren in ganz bestimmte, dem augenblicklichen Tun förderliche Gedanken – aber dann ist sie nicht gedankenverloren sondern konzentriert. Das Waschen und Zähneputzen ist eine automatische Verrichtung, unbewußt, die sich dem Tagträumen anempfiehlt.
Jemanden beim Tagträumen zu beobachten, darin liegt großer Reiz und eine ebenso starke Scheu hält davon ab. Tagträumen ist ein Zustand höchster Aufmerksamkeit, in dem die Tagträumende ganz von sich abgelenkt ist. Ein Gedanke führt zum nächsten, und alle führen sie fort vom ich-denkenden Ich und lassen dieses vom Gedanken an sich selbst unbastionierte Ich in größter Offenheit und Schutzlosigkeit zurück. Eine besondere Form der Gedankenverlorenheit ist die Lektüre. Glückt das Lesen, ist dazu keinerlei Konzentration vonnöten. Konzentration hat ja immer einen Aspekt von Anstrengung, willentlicher Anspannung. Man muß seinen Gegenstand festhalten und dafür Kraft aufwenden; der Gegenstand aber versucht immer wieder zu entkommen, was ihm meist auch gelingt. Beim geglückten Lesen aber hält nicht die Leserin den Gegenstand sondern der Gegenstand die Leserin. Der Text zieht einen Gedanken, eine Vorstellung nach der anderen aus ihrem imaginativen Potential, das sie und nur sie bewohnt. Sie ist aber, wo sie wohnt, nicht bei sich selbst, sie ist bei den Helden der Geschichte, an der sie lesend teilnimmt. Ihr dabei zuzusehen, heimlich, hat etwas ähnlich Voyeuristisches, wie ihr dabei zuzusehen, wie sie sich wäscht oder anzieht (oder streichelt). Als könnte der Beobachter für kurze Zeit sie dort besuchen, wo sie gar nicht ist, wie wenn man ein Zimmer betritt, das sie für kurze Zeit verlassen hat, in dem aber etwas von ihr zurückgeblieben ist, ein Duft etwa, etwas, worüber sie keine Kontrolle mehr hat. In ähnlicher Weise hat man schon an der abgelegten Unterwäsche der Freundin gerochen, auch dies ein Akt des Voyeurismus. Sie weiß nichts davon und kann sich gegen die darin gewonnene Erkenntnis nicht zur Wehr setzen, sie nicht ungeschehen machen.
Das Private ist Privat
Man kann natürlich aus allem ein Geschlechterrolenproblem machen, wenn man es darauf anlegt. In einer Kolumne, die den Einsatz von Vibratoren kritisch sieht, ist folgendes zu lesen:
Es bleiben Werkzeuge, die wir da benutzen. Dinge, die nicht zu uns gehören, die keine Empfindung haben und nicht auf uns reagieren können. Dinge, die zwischen uns und unseren Körpern stehen. Dinge, die Männer ursprünglich erfunden haben, um Frauen maschinell Orgasmen verpassen zu können.
Dabei brauchen wir Frauen nun wirklich keine Hilfe in Form von Silikon und Plastik. Was wir brauchen, ist die Freiheit, unsere Sexualität genau so schamlos leben zu dürfen wie Männer.
„Dinge die Männer ursprünglich erfunden haben.“ Herrgott. Auch der Tampon und die hormonelle Empfängnisverhütung wurden von Männern erfunden. Außerdem das Fahrrad und das Auto. Das hat ihrer Beliebtheit nicht geschadet. Wenn euch das stört, daß die Erfinder Männer waren, warum habt ihr es dann nicht selbst erfunden? Oder laßt es halt, nehmt eine Binde, benutzt Kondome (wer hat die eigentlich erfunden?), werft den Vibrator auf den Müll, wenn ihr ihn nicht mögt und euren Finger lieber habt. Aber hört doch bitte damit auf, irgendwelche politischen Erwägungen an seine Benutzung oder Nichtbenutzung zu knüpfen. Denn das nervt.
Wer hat eigentlich das Papiertaschentuch erfunden? Oder den Kugelschreiber? Und sollten Frauen nicht lieber mit dem Finger schreiben und sich in die Faust schneuzen, statt schon wieder Zuflucht zu einem Hilfsmittel zu nehmen, das Männer (vermutlich Oskar Rosenfelder im Falle des Taschentuchs, László József Bíró für den modernen Kugelschreiber) erfunden haben? Wird dadurch nicht eine Abhängigkeit von Männern zementiert? Und entfremdet es Frauen nicht von ihren Körpern, wenn sie so künstliche Dinge wie Taschentücher und Kugelschreiber benutzen? Der eigene Finger in der Malfarbe, die Rotze in der Faust dagegen vermögen Tabus und Hemmungen aufzubrechen, unter denen Frauen Jahrhunderte gelitten haben, und öffnen Frauen wieder den Zugang zum eigenen Körper, seinen natürlichen Funktionen und Ausscheidungen.
Man findet solche Überlegungen zu Recht lächerlich. Und doch werden sie allen Ernstes beispielsweise in bezug auf Tampons angestellt. Der Tampon blockiere den natürlichen Abfluß; er trage mit dazu bei, die Menstruation zu einem Problem zu machen; er suggeriere die Unreinheit des Menstruums und fördere so Schamgefühle bei den Frauen; er verhindere, daß Frauen ihre Regelblutung als etwas Natürliches, ihrem Körper Gemäßes erlebten. Undsoweiter.
Hat das eigentlich mal jemand über Klopapier so formuliert? Oder wie wäre es damit: Das Kondom verhindert den freien Ausstoß des Samens; es suggeriert die Unreinheit des Ejakulats und löst Schamgefühle bei Männern aus; es verhindert, daß Männer ihren Samenerguß als etwas Natürliches, Schönes, ihrem Körper Gemäßes erleben.
Das letzte könnte man auch vom Papiertaschentuch sagen.
Reden wir, statt solchen und ähnlichen Quatsch zu phantasieren, lieber über was Schönes. Reden wir über Vibratoren. Was für Typen gibt es, worin unterscheiden sie sich, was für Vor-und Nachteile haben sie, wie sind sie zu gebrauchen, wie eher nicht, wozu taugen sie, wozu eher nicht. Es gibt sicher gute Gründe, warum Vibratoren zum Einsatz kommen. (Sonst würden sie nicht so gerne benutzt.) Es gibt sicher auch gute Gründe dagegen. (Die Geschmäcker sind eben verschieden.) Politische Überzeugungen gehören nicht dazu. Mag sein, der Vibrator zwickt oder ist zu laut oder zu kalt oder zu starr oder was weiß ich. Dann läßt man es halt bleiben und nimmt lieber den Finger oder die Quietscheente. Jedoch bleiben zu lassen, was eigentlich Spaß macht, nur weil vermeintlich emanzipatorische Gründe dagegen sprechen, scheint mir eine bescheuerte Idee zu sein. Und was ist das überhaupt für eine Emanzipation? Von einem Gerät? Du meine Güte. Und was die in der Kolumne erwähnte Freiheit zur Schamlosigkeit betrifft: Die habt ihr. Längst. Ihr müßt sie nur noch nutzen. Das ist riskant. Aber das ist Freiheit immer.
Tüchtig (Ovid Ars II, 703-710)
Conscius, ecce, duos accepit lectus amantes:
Ad thalami clausas, Musa, resiste fores.
Sponte sua sine te celeberrima verba loquentur,
Nec manus in lecto laeva iacebit iners.
Invenient digiti, quod agant in partibus illis,
In quibus occulte spicula tingit Amor.
Fecit in Andromache prius hoc fortissimus Hector,
Nec solum bellis utilis ille fuit.
Siehe, in Mitwisserschaft beherbergt das Bett unser Pärchen:
Muse, schließe die Tür, laß nun die beiden allein!
Ohne dich, ganz von selbst lassen Schmeichelreden sich hören,
wird nicht die linke Hand untätig ruhen im Bett.
Merken werden die Finger, was alles man tun kann an jenen
Stellen, wo insgeheim Amor die Pfeile benetzt.
So mit Andromache tat’s schon früher der tapfere Hektor,
tüchtiger Recke im Krieg, tüchtig im Kriege nicht nur.
(Mit Ovid habe ich mich schon mehrfach beschäftigt, zuletzt hier und hier im Zusammenhang mit gewissen Skandälchen.)
un admirador
Aestus erat, mediamque dies exegerat horam;
adposui medio membra levanda toro.
pars adaperta fuit, pars altera clausa fenestrae;
quale fere silvae lumen habere solent,
qualia sublucent fugiente crepuscula Phoebo,
aut ubi nox abiit, nec tamen orta dies:
illa verecundis lux est praebenda puellis,
qua timidus latebras speret habere pudor.
ecce, Corinna venit, tunica velata recincta,
candida dividua colla tegente coma—
qualiter in thalamos famosa Semiramis isse
dicitur, et multis Lais amata viris.
Deripui tunicam—nec multum rara nocebat;
pugnabat tunica sed tamen illa tegi.
quae cum ita pugnaret, tamquam quae vincere nollet,
victa est non aegre proditione sua.
ut stetit ante oculos posito velamine nostros,
in toto nusquam corpore menda fuit.
quos umeros, quales vidi tetigique lacertos!
forma papillarum quam fuit apta premi!
quam castigato planus sub pectore venter!
quantum et quale latus! quam iuvenale femur!
Singula quid referam? nil non laudabile vidi
et nudam pressi corpus ad usque meum.
Cetera quis nescit? lassi requievimus ambo.
proveniant medii sic mihi saepe dies!
(Ovid, Amores 1,5)
Heiß war’s, es hatte der Tag schon die Mittagsstunde durchlaufen;
matt übers ganze Bett hatt’ ich die Glieder gestreckt.
Halb war das Fenster geöffnet, die Läden halb nur geschlossen;
Dämmrung ähnlich dem Licht, wie es in Wäldern oft herrscht,
Zwielicht wie solches im Morgengrauen, wenn Phoebus davoneilt,
wenn nicht ganz fort ist die Nacht, noch auch der Tag schon ganz da:
grad so ein dämmriges Licht muß schüchternen Mädchen man bieten,
drinnen die ängstliche Scham hoffen kann auf ein Versteck.
Schau, Corinna ist da, ins Unterkleid lose gehüllt nur,
während zwei Ströme des Haars bergen den schneeigen Hals —
So hat in ihr Gemach Semiramis, heißt’s, die berühmte,
und, vieler Männer Schwarm, Einzug gehalten Lais.
Fort mit dem Rock — das Stöffchen verdarb mir ja eh kaum den Anblick;
trotzdem kämpfte sie noch, sich zu bedecken damit.
Aber da sie so kämpfte, als wär ihr am Sieg nichts gelegen,
ward sie nicht ungern besiegt durch ihren eignen Verrat.
Wie sie nun stand vor dem Aug mir, nachdem der Schleier gefallen,
war an dem ganzen Leib nirgends ein Makel zu sehn.
Oh, was sah ich für Schultern, was sah, was berührte ich Arme!
Oh wie des Busens Form war fürs Massieren gemacht!
Oh wie der Bauch so straff war unter den schüchternen Brüsten!
Was für und Taille wieviel! Schenkel so jung und in Form!
Was soll ich Einzelnes durchgehn? Ich sah nichts nicht Lobenswertes,
drückte die Nackte gleich fest an den eigenen Leib.
Wer kennt nicht den Rest? Ermattet ruhten wir beide.
Ach, es möchten mir oft blühn solche Mittage noch!
Aequinoctium
Klamm sind die Hände des Winds in den pelzigen Taschen der Sonne.
Schatten im kahlen Gezweig tauchen nach tieferem Blau.
Süßer jetzt schmecken die Küsse mit Borden aus Wind, der Kalender
sterbend um Tage sich schließt wie um den Zucker die Frucht.
Römisch
„Kennst du das Versmaß?“ — Du nickst. Da befeucht ich den kundigen Finger,
mal den Pentameter hin, dir auf den staunenden Bauch.
Selbstermächtigung
Merkwürdige Assoziation, die sich an die Erinnerung an einen Schatten knüpft, der mittags über ein Schulpult wandert: Es muß dasselbe Klassenzimmer gewesen sein, in dem in einer Religionsstunde in der zehnten Klasse der damalige Lehrer eine ablehnende Bemerkung zur Selbstbefriedigung machte, nachdem er einen Mitschüler aus dem Religionsbuch einen entsprechenden Passus hatte ablesen lassen. Natürlich weiß ich nicht mehr, was für ein Buch das war, aber vielleicht weiß das Netz etwas. Ein Forum, über dessen sonstige Ausrichtung ich mir kein Urteil erlaube, führt mich in diesem Zusammenhang zu folgendem Auszug aus dem «Jugendkatechismus der Katholischen Kirche, Youcat» (Was es alles gibt!):
Die Kirche verteufelt Selbstbefriedigung nicht, aber sie warnt davor, sie zu verharmlosen. Tatsächlich sind viele Jugendliche und Erwachsene davon gefährdet, im Konsum von geilen Bilder, Filmen und Internetangeboten zu vereinsamen, statt in einer persönlichen Beziehung Liebe zu finden. Die Einsamkeit kann in eine Sackgasse führen, wo Selbstbefriedigung zur Sucht wird. Nach dem Motto «Für Sex brauche ich niemanden; den mache ich mir selbst, wie und wann ich ihn brauche» wird aber niemand glücklich.
Und siehe da! Genau das war die damals vertretene Auffassung. Wie der weiteren Lektüre in der Diskussion zu entnehmen ist, gibt es tatsächlich Menschen, die so etwas immer noch glauben:
Und kann da nur zustimmen! Es gibt Menschen, die werden durch Pornokonsum beziehungsunfähig und denken beim «realen» Sex nur mehr an ihre «heimlichen» Fantasien. Man braucht ja nur in irgendein Erotikforum zu schauen und bekommt alle Möglichen Fantasien geboten.
Beziehungsunfähigkeit durch Pornokonsum? Steht so ein Quark eigentlich heute immer noch in den Religionsbüchern? (Ich würde mein Kind sofort abmelden.) (Nicht daß mich das damals beeindruckt hätte. Aber verunsicherten Jugendlichen kann man leicht was vom Pferd erzählen.)
Du bist zu dick, du bist zu schlaff, mach mal Sport, du bist zu käsig, ernähr dich gesünder, geh früher zu Bett, iß mehr Obst und Gemüse, wasch dir die Haare, geh mal an die frische Luft, drück nicht an den Pickeln rum, halt dich gerade, popel nicht, nimm die Hand aus der Hose!
Als hätten Eltern, Lehrer, Geistliche, sonstiges Erziehungspersonal iregndein Anrecht auf den Körper von Jugendlichen. Irgendein Mitbestimmungsrecht. Eine Verfügung. Als hätten die heranwachsenden Söhne und Töchter ihren Körper nur von den Eltern geborgt. Als müßten sich jene bei diesen für jedes Vergnügen dieses Körpers noch eine Extraerlaubnis wegen Zweckentfremdung einholen.
Insofern könnte man die Selbstbefriedigung auch als einen Akt der emanzipatorischen Selbstbehauptung ansehen, der Ermächtigung über den eigenen Leib. Dazu müßte man Jugendliche eigentlich nur ermuntern, wenn darin nicht über den Akt des Gewährens wieder eine subtile Ermächtigung läge.
(Ich würde mich so gerne nackt hinter dich Nackte stellen, körperlang an Körperlänge, mich an deinem Hals festsaugen und meine Hände dir auf die Brüste legen, ganz leise, wie man ein Vogeljunges beruhigt. Ich hätt so gern, daß du den Kopf in den Nacken legst, erst ein-, dann lange ausatmest dabei, dein Mund ganz dicht an meinem Ohr, voll Vorsicht, als könnte er es zerdrücken.)
Pension Arnulfini
Du glaubst, dich für deinen Geruch entschuldigen zu müssen, ich aber mag dich am liebsten so verschwitzt, wie wir beide von der Wanderung kommen. Den ganzen Tag über bin ich dieser deiner Spur gefolgt, süß und herb zugleich und voller Versprechungen, und jetzt, Können wir uns ausziehen?, im Hotelzimmer, bist du einverstanden, ist die Rede erst gar nicht von Dusche und duftlosem Wasser, fallen die klebrigen Kleider, und alles, was sich Dreck nennt, bleibt in dem feuchten Haufen am Boden zurück, aus dem wir frisch und blitzsauber wie die ersten Menschen heraussteigen, aus Lehm geboren. Die Schuhe poltern in die Ecke. Aus dem Hosenumschlag fällt eine Bucheckerhülse.
Es ist das erste Mal für uns in einem fremden Bett, und es scheint fremder als die Wälder, als die Laublager, auf denen wir uns schon geliebt haben. Eine weiche Matratze, ein Gestell, das später ein bißchen rumpeln wird. Wir achten es nicht, und auch nicht, daß man uns, wenn man nur wollte, durchs Fenster sehen könnte, wir sind so vollkommen allein auf der Welt, wie man es nur gemeinsam sein kann. Wir sind die einzigen Augen, die einander in die Blicke geschraubt sind, die einzige Haut, die je an einer andern mehr gefühlt hat als sich selbst. Wir sind beide ein einziger Mund voller Salz, das aus dem Akt der Schöpfung übrig blieb. Dein Hals voll warmer Adern. Deine Hände voller Geschenke. Mein Körper fließt in deinen wie Milch. Ich sage dir, wie sehr ich dich will, und sage es doch nicht, denn die Worte hören Meilen vor dem auf, was ich fühle. Ich liege im Moos deiner Achseln, ich blinzle ins Laub deines Blicks, ich schenke dir mein Fell voller Heu.
Ich löse mich halb von dir, und um dich besser zu betrachten, kehre ich zu mir zurück, und wie ich, durch zitternde Tempelbrücken mit dir verbunden, über dir schwebe, da sind wir wie zwei junge Birken, die aus einem einzigen Stamm sich teilen, weiß, schimmernd, glatt, eins sind und zwei zugleich.
Und ich greife unter deinen schwebenden Kniekehlen durch und schaue auf dich, wie dein Antlitz sich immer schöner verzieht vor fassungslosem Staunen, und wie dein Blick, zwei starre Kiesel inmitten von fließendem Sand, mir meine eigene Fassungslosigkeit wiederschenkt, und bevor ich dir sage, daß ich gleich ein bißchen unbeherrscht sein muß, sage ich dir, will ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe, aber die Wörter lachen nur und geben glücklich auf. Oh, sei unbeherrscht, bitte, stammelst du, und ich schließe die Augen, um besser zu fühlen, mich, dich, mich durch dich, uns in uns, unsere Kehlen rufen ohne uns, das Bett rumpelt, aber wir hören es nicht.
Wochenende
Apollinarishütte
Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Premium-Wanderweg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben, und was oben am Weg, was auf der Landstraße sich nähert, vor sich geht, sich wieder entfernt, geht uns nichts an. Wir sitzen umschlossen von Holz und vor uns hängt Wildwuchs vorm Tal.
Wir sind an dem Ort, der uns schon von zwei früheren Malen kennt. Keine Umschweife, kein Essen und Trinken, nicht einmal der Form halber, unser Hunger, er ist ein ganz anderer, unser Durst ein lange, allzu lange nicht gestillter. Die Rucksäcke legen wir ab, wenden uns einander zu. Wir fassen uns bei den Händen, wir küssen uns und nehmen den Faden, der uns den ganzen Weg hierher zitternd verbunden hat, wieder auf wie ein unterbrochenes Gespräch – aus Küssen. Wozu die Lippen und die Zungen nicht alles gut sind, wir entdecken es wieder und wieder neu. In diesem Moment gibt es nichts zu sagen, was mit Sprache besser oder schöner oder poetischer zu sagen wäre, als mit der stummen Phonetik des Speichels.
Ab und zu lassen wir ab voneinander, schauen uns in die Augen, Stirn an Stirn. Schon haben wir die Brillen abgelegt, ist der Umkreis in wolkige Unschärfe gesunken. Ein Knacken, ein Rascheln: Wir lauschen. Waren da nicht Stimmen? Nein. Wir sind allein, allein in einem Kreis Unschärfe, der uns schützt wie eine Zeltplan. Wir wenden uns einander wieder zu.
Es gibt ein Wort von dir, das mich immer in verlegenes Entzücken versetzt. Du schöner Mensch, sagst du dann, und weil ich weiß, du meinst es so, macht es mich noch mehr verlegen. Jetzt zupfst du mir das Hemd aus der Hose, schiebst es mir hoch bis über die Brust und murmelst etwas davon, was du die ganze Zeit schon gewollt habest. Deine Finger sind warm vom Gehen. Im hölzernen, trockenen Schatten der Hütte leuchtet weiß mein Bauch hervor, rund und weich wie der Bauch eines ruhenden Kindes. Die ganze Zeit klingen Hammerschläge aus dem Tal herauf; Hunde bellen, als hätten sie uns gewittert; im Gebüsch zetern Vögel. Wir halten inne, lauschen. Einmal sind wir zwar nicht erwischt, aber heikel überrascht worden. Auch dieses Mal werden wir so eben noch Glück haben.
„Du schöner Mensch!“ sagst du und beugst dein Gesicht über meinen weißen, weichen Kinderbauch. Dein Mund ist noch wärmer als deine Finger.
Und während wir die Zeit vergessen, vergißt uns die Zeit nicht. Sie drängelt nicht, sie bummelt, wartet, läßt die Momente genau ineinanderfallen. Höflich und diskret teilt sie aus von sich, so daß uns genug von ihr bleibt, um aufzuknöpfen, was aufzuknöpfen, um abzustreifen, niederzureißen, was abzustreifen und niederzureißen ist, und während oben gerade der Wagen in den Parkplatz abbiegt, haben wir genug Zeit, um zueinander zu finden, und während oben der Wagen mit knirschenden Kieseln zum Stehen kommt, haben wir uns aneinandergedrängelt, an die Wand der Hütte gelehnt mit Faust und heiserem Atem, und die Zeit schaut genau hin, daß sich nichts überschneide und peinlich überlappe, die Zeit ist schamhaft und meint es gut mit uns, sie ist unsere Verbündete, unsere Komplizin, die wohlmeinende Amme an der Tür, ich habe dich umfaßt und drücke dir Küsse in den Nacken, während oben eine Wagentür zuschlägt, ein Jubellaut sammelt sich in deiner Kehle, während Schritte über den Waldweg herbeikommen, und bis wir zusammenzucken und die Beine unter uns nachgeben, sind sie schon auf den Pfad zur Hütte eingebogen; aber nichts stört uns auf, die Zeit verlangsamt dort den Gang, beschleunigt ihn hier, läßt unserer Lust die Dauer, hemmt drüben die Schritte, die sich erst nähern, dämpft die Stimmen, die erst dann aufklingen dürfen, wenn wir ermattet auf die Bank zurückgesunken und zu Atem gekommen sein werden; erst wenn wir die Augen zueinander aufgeschlagen, erst wenn wir uns geräuspert, Haar und Hemd in Ordnung gebracht haben; erst, wenn wir uns träge, der Wonne nachschmeckend, geküßt haben, erst, wenn niemand uns mehr etwas ansehen würde (es sei denn, er schaute sehr, sehr genau hin): Erst dann hören wir beide die Stimmen, deutlich jetzt und unbezweifelbar, und wie sich die Familie, zwei Erwachsene, ein Kind, vom Wege her im Rücken der Hütte, wie sie sich unserem Versteck nähern und endlich ins Blickfeld stürzen.
Später, da sitzen wir an der Bank im Freien, wird uns das alles wie ein Traum vorkommen. Die Straße ist still. Die Besucher haben sich umgesehen und sind wieder verschwunden. Niemand kommt mehr vorbei, so lange wir noch hier verweilen. Ein Traum. War da überhaupt jemand? Wir blinzeln einander zu, erwachend. Wir küssen uns beklommen, fast scheu. Nachdenklich kosten wir von den Mirabellen.
Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Weg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben. Wir küssen uns. Ein Vogel zetert. Im Tal bellen wieder die Hunde.
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Solstitium (21.6.2014)
Mußt du nicht gehen? Noch einmal bietest du dar mir die Lippen.
Kommst oder gehst du? Ineins fallen die Zeiten im Kuß.
Nicht kann die Schildkröte je der schnelle Achilles erreichen,
Ewig müht sich der Pfeil ab an der Länge des Wegs.
Eh er die Hälfte erreicht, muß die Hälfte er davon erst schaffen,
Undsoweiter: Er steht, ewig gehalten im Jetzt.
Wolltest du daher den Zug noch erreichen, so hättest du müssen
Schon vor unendlicher Zeit lösen dich aus unsrem Kuß.
So viel Zeit war nie: Laß Hälften von Hälften nur fahren,
Unmöglich ist’s wie du siehst. Küß mich noch einmal. Und bleib.