Halb sechs, letzte Stunden des Jahres. Vereinzelte Böller platzen nah und fern. Sonst ist es still. Das Treppenhaus kehrt in seinen eigenen Wendeln wieder. Sehr fern murmeln die Straßen. Um halb fünf sind Glocken gewesen, lange, festlich und traurig, wie Glocken immer sind. Ich höre vor allem das Traurige darin, die Sehnsucht, den Ausdruck eines unbenennbaren Verlustes, die Erinnerung an etwas, das einmal war, gestern, letztes Jahr, vor Jahrhunderten, und jetzt nicht mehr ist. Einmal, denkt man, müssen die Glocken anders geklungen haben. Tosend, jubelnd, zornig, selbstgerecht, hoffnungsvoll, panisch, freudig. Als das, was sie jetzt beklagen, noch nicht verloren war und sie auf nichts zeigten als auf die Gegenwart. Ich bin ein Kind, das die Nase an einer kalten Scheibe plattdrückt und in die Winterdämmerung hinausschaut, sehnsuchtsvoll, und es weiß nicht, wonach, und die verschneite Welt birgt diese hallenden, wogenden, klagenden Stimmen, irgendwo weiß vielleicht irgendwer, was verloren ging, und warum die Glocken so traurig sind. Das Gesicht spiegelt sich im Glas, ein Atemhauch fliegt darüber, noch ein Glockenschlag und noch einer, träger jetzt, mit längeren Pausen, wie ein Schluchzen, das sich langsam erschöpft. Schon damals, schon in der Kindheit, war alles voller Vergangenheit und Stunden wie diese, da die Abendglocken schlugen und ich vielleicht Fieber hatte oder Husten, angefüllt mit einer Trauer, von der ich gar nichts wissen konnte. Als würde ich mich nach eben der Kindheit bereits zurücksehnen, die ich gerade erlebte. Als würde ich Zeuge meiner eigenen dereinstigen Vergangenheit. Als wüßte ich schon, daß dieser Blick in die Winterwelt, über die der Glockenschlag sich in Wellen breitete, einer viel späteren Zeit angehörte; als sähe ich mich selbst von sehr, sehr fern, als das lang versunkene Kind, das ich in diesem Moment noch war. Das, was ich erlebte, war unendlich kostbar, und zugleich war unbegreiflich, warum es so kostbar war. Es war etwas, das ich verlieren würde, bevor ich es besäße, etwas, das ich erst wissen würde, wenn ich es vergessen hätte. Etwas, das ich in genau diesem Augenblick verlor, als der letzte Glockenschlag bebend in der Dunkelheit verklang.
Kategorie: du temps perdu
Schwangau (3)
Es soll tatsächlich Touristen geben, die sich über das Gebimmel der Viehglocken aufregen und über die Kuhfladen auf der Straße ärgern. Was wollt ihr hier, denke ich, was erwartet ihr euch von diesem Land? Ihr wollt Idylle ohne Klänge und Gerüche? Bleibt zu Hause und schaut euch lieber einen Heimatfilm an.
Abends aus dem Wagen steigen und das Gesicht in die Regenluft tauchen. Zusammen mit dem Herdrauch und den Kuhglocken ist da sofort wieder dieses immense Zuhausegefühl, eine Heimat der Zeit, abgelegte Spielzeug-Fremde, eine verlorene Art des Daheimseins, nach langer Fahrt, an einem wilden, abendkalten, bachklirrenden Ort im Schatten von Bergen. Damals zogen wir unsere Heimat in den vier Wänden des Wohnanhängers mit uns herum und waren, wo wir auch eintrafen, und sei es ein Atobahnrastplatz, daheim. Die Fremde blieb zahm, legte sich auf die Türschwelle und schnurrte. Menschen brauchen einen Innenraum, und sie schaffen ihn sich, wie Sloterdijk gezeigt hat, wo auch immer sie sich niederlassen und mit ihrer Umgebung auseinandersetzen.
Schon eine Nacht in der Ferienwohnung, und man kennt die Winkel und die Entfernungen und die Geräusche. Man entfernt sich sehr schnell vom ersten Eindruck und schaut auf die Ankunftsstunde mit Verwunderung. Man kennt noch die Fremdheit dieses Augenblicks, als man die Wohnung zum ersten Mal betrat, aber man empfindet sie nicht mehr. Man füllt die Räume mit Traulichkeit, und die Fremde bleibt vor der Tür.
Der Fremde ausgesetzt sein, mit allem, was man ist, das ist schrecklich. Die Heimatlosigkeit und das Heimweh. Mit müden Gliedern in einem regennassen Wald nichts als ein mickriges Zelt haben für den Bau der Heimatblase. Unter einer Masse gutgelaunter Gleichaltriger im Zeltlager einen Platz für Intimssphäre finden müssen und aber nirgends finden. In einem schmutzigen Hotel absteigen, von schlechtgelauntem Personal empfangen werden. In einer fremden Wohnung mit fremden Familienregeln unterkommen müssen. Der Grund, warum ich nicht mehr reise und eigentlich nie hätte reisen dürfen, ist der, daß ich sehr spezielle Dinge benötige, um diesen magischen Kreis des Zuhauseseins um mich zu ziehen. Ich brauche einen Filter zwischen mir und der Fremde. Eine Wand, die nur ich öffnen kann. Selbstwirksamkeit und vier Räder samt Motor. Das bewirkt ein Nicht-Ausgeliefertsein, das für die Reiseideologen gar kein richtiges Reisen ist.
Jeden Tag beginnen, als beträte man als ungebetener Gast ein fremdes Haus.
Abnehmend
Das einzige, was zunimmt, ist die Angst.
Und das war nun also auch dieses Jahr, und nichts mehr daran zu korrigieren. Gestern beim Einschlafen meinen Kummer mit dem Gedanken besänftigt, daß, egal wie es gewesen wäre, ich doch an diesem wie an allen Jahren immer etwas fehlen finden würde.
Egal, wie sehr man plant; wie streng man sich an die Vorsätze hält; wie genau man durch die Zeit steuert, wie sorgfältig man Orte zum Verweilen auswählt, Wege ansteuert, Verrichtungen einübt und Rituale: es bleibt ein unverfügbarer Rest, der sich einstellen muß, damit gelingt, was gelingen soll. Es muß sich etwas dazugesellen, eine Gnade, ein Segen, der durch nichts zu erzwingen ist, ja, sich vielleicht sogar umso mehr entzieht, je mehr man ihn herbeizuziehen versucht. Es ist nur sehr schwer, sich zu öffnen für etwas, das sich vielleicht nicht einstellen wird. Und unmöglich zu merken, daß man es gerade erfährt, in dem Moment, wo es sich doch einstellt. Wenn man die Berührung spürt, ist sie schon vorbei. Man spürt sie nicht, niemals, man hat sie immer erst gespürt.
Solstitium
Spuren im Schnee, die uns folgten, wie waren wir Teil unsres Rätsels.
Einst, als noch nichts uns befahl, Teil auch der Lösung zu sein.
Schichten
“Mit einer gut funktionierenden Nase können Sie hier und da Faulgase wahrnehmen.” Das lese ich auf einer Infotafel, die das Gelände, ein lichter Pappelwald, als 1978 stillgelegte, renaturierte Mülldeponie ausweist. Minuten zuvor hatte ich mich über den Duft von vergammeltem Kohl gewundert, der zart in der Luft schwebte, und in Hundekot seinen Ursprung vermutet. Die Vorstellung, über vier Jahrzehnte alten Hausmüll zu laufen, ist nicht allein deshalb reizvoll, weil, was in zwei Metern Tiefe als vermoderte Schicht beginnt, Überreste von Gegenständen enthalten muß, die auch ich in meiner Kindheit hätte weggeworfen haben können, eine Capri-Sonnen-Tüte, eine Fritt-Verpackung, ein Sammelalbumtütchen, Durchschlagspapier, eine Audiokassette mit Bandsalat und andere heute vielleicht vergessene Dinge. Es hat auch seinen Reiz, darüber nachzudenken, daß diese Dinge unter meinen Füßen Spuren gelebter Leben sind, daß die Verpackungen, Staubsaugerbeutel und Porzellanscherben einmal in einem Einkaufswagen, in einer Besenkammer, in einer Küche standen, betrachtet, befühlt, benutzt wurden, Teil eines Alltags von Menschen waren, die in irgendeiner Beziehung zu ihnen standen — und daß diese Dinge jetzt da unten irgendwo immer noch liegen und vielleicht über die Hand nachgrübeln, die sie einst fortwarf; während einer wie ich dort langgeht, über den Schatten der Dingwelt, die einmal der Welt der Lebenden angehörte, und nun nicht mehr — aber immer noch, am Ende einer seltsamen Kausalkette (wie alles am Ende einer solchen Kette) existiert und, grübe man es aus, mit einiger Eingebung und Phantasie wohl auch noch — als Erzählung, als Zentrum eines Kontexts — deutbar wäre. Es braucht keine Archäologie dazu. Zur Faszination trägt auch jener komplizierte Nimbus bei, der stets anziehend wirkt an Aufgegebenem, Verlassenem, Zurückbleibendem. Die Geisterstadt Prypjat, aufgelassene Bergwerke, Schiffsfriedhöfe, geflutete Tunnel, Wracks am Grund des Ozeans, verstummte Raumsonden auf dem Mars. Gelebtes Leben, Reste, was übrig bleibt — aber auch Spuren, Geschichten und in den Geschichten die Geister, die darin wurzeln, die auf sublime Art manifeste Vergangenheit, die in den Gegenständen weiterwirkt, den Gebäuden, den überwucherten Straßen, den zerfallenden Artefakten. Man möchte sich eine besondere Spezies intelligenter Archivarwesen vorstellen, die sich überall dort ansiedeln, wo menschliches, in Narrativen sich artikulierendes Leben verschwunden ist, nachdem es dort längere Zeit ansässig war, auf seine Umwelt einwirkte und katalogisierbare Spuren hinterließ. Jemand, stelle ich mir vor, muß davon noch leben. Nicht im materiellen Sinn, nicht, indem es alte Kaffeefilter frißt. Sondern, indem es sich von sublimen Mustern abgelegten Lebens nährt, den morphogenetischen Prägungen praktizierter Lebensbewältigung, von den Geistern, den sedimentierten Schichten der Geschichten.
Hürxberg am Ellerntubel
Und der Weg hinunter, der halbwilde Weg den Bach entlang hinunter zum Wasserbehälter (wo man die Ebene sieht, die ganze Heimat auf einmal im Blick), da ist das Licht viel später, als es die Uhr sagt, und ich gehe ihn in der Dämmerung, dabei ist es erst vier Uhr, die Septembersonne noch warm und hoch am Himmel, ich gehe ihn in einer dämmrigen Abendstunde, allein deshalb, weil ich hier nach Hause gehe, wie ich nirgends auf der Welt jemals nach Hause gehen werde.
Und das ist alles so fraglos wirklich: die unverputzte Scheunenwand mit den Fenstereinlassungen ohne Scheiben, die roten Ziegelsteine zwischen den grauen, wie ein Strickmuster, die helle Mauer, die von einer Sonne, die man nicht direkt sehen kann, angestrahlten Dächer, und dahinter die grauen Regenwolken, vor denen das Mauerwerk noch heller strahlt, wie ein frisch restauriertes Fresko, das wir, nachdem wir es nur in Braun- und Grautönen kannten, nun zum ersten Mal in seiner echten Farbenpracht betrachten.
Die echte Farbenpracht. Was aber ist echt? Warum ist es echt? Und was verbindet mich mit diesem Anblick, daß ich die Sehnsucht verspüre, hier Abend für Abend zu sitzen und nichts weiter zu sehen als die Scheunenwand, eine Fläche, auf der meine Gedanken kommen und gehen? Mauern, Ziegel, Firste, alles so fest wie auf einem Bild, auf etwas Gemaltem. Wirklicher als echt. Manchmal ziehen eine Handvoll Sperlinge, ein Schwarm Stare vorüber, als hätten meine Gedanken, mir in ihnen abhanden gekommen, Freiheit erlangt.
Delta. Hürxberg
Die Vögel nehmen keinen Abschied. Sie verschwinden einfach. Eine Stimme nach der anderen verstummt. Als legten die Musiker in einem Orchester einer nach dem anderen ihr Instrument nieder und verließen die Bühne. Bis nur noch eine Handvoll Instrumentalisten ihren Part spielen, noch drei oder vier, eine Geige, zwei Violoncelli, eine Oboe, dann nur noch die einsame Oboe, dann niemand mehr. Wie abgestorbene Bäume stehen die Notenständer herum.
Und im Schweigen rollt unser Morgen heran. Er ist der erste einer unabsehbar langen Reihe. Es wird Tag werden auf Erden und Nacht und wieder Tag. Um die Steine kreisen die Schatten, die Flüsse entleeren sich ins Meer, der Horizont schluckt Wolken. In der allumfassenden Stille harrt die Partitur aus unter dem blinden Himmel.
Arithmetik
Alles, was man im Leben je tut, Großes wie Kleines, Bedeutsames wie Banales, läßt sich beziffern, hat am Ende eine genaue Zahl: die Zahl der Wohnungen, in denen ich gewohnt, die Zahl der Bücher, die ich gelesen sowie der, die ich geschrieben, die Zahl der Sprachen, die ich gelernt, die Zahl der Frauen, mit denen ich geschlafen haben werde, die Zahl meiner Orgasmen und die Zahl meiner Stuhlgänge, die Zahl der Kilometer, die ich mit eigenen Beinen zurückgelegt, die Zahl der Filme, die ich gesehen haben werde, die Zahl der Übernachtungen im Wald, die Zahl der Male, da ich im Meer schwimmen war, die Zahl der Flaschen Weins, die ich getrunken und die der Blogposts, die ich veröffentlicht haben werde. Auch wenn man nicht mitgezählt hat, wird es doch eine genaue ganze, eine endliche, eine gerade oder ungerade Zahl sein. Jorge Luis Borges hat einmal einen Gottesbeweis darauf aufgebaut, auf Zahlen, die niemand kennt, die aber endlich sein müssen, die der Vögel in einem Schwarm etwa. Jemand, so die Überlegung, muß sie gezählt haben, und dieser Jemand ist Gott. Und wenn alles, was man je tut, eine Zahl an Malen trägt, dann folgt unmittelbar daraus, daß es bei allem ein letztes Mal gibt. Nicht unbedingt ein erstes Mal, denn viele Dinge (etwa einen Fallschirmsprung, eine Mondlandung oder eine Weltumsegelung) tun die meisten von uns niemals, aber bei allem, das man mal angefangen hat, zwingend ein letztes. Das erste Mal kennt man notwendigerweise, aber das letzte Mal womöglich nicht, es sei denn, man entscheidet sich bewußt zum Aufhören. — Jugend ist, solange einen dieser Gedanke nicht einmal streift. Wenn man nicht bei allem, was man neu anfängt, denkt, daß man damit ja auch irgendwann wieder wird aufhören müssen.
Μίκης
In seiner Musik, den Liedern, von seiner eigenen rauchigen und doch notensicheren Stimme vorgetragen, den Oratorien, dem Canto General, war er stets eine freundliche Anwesenheit in meinem Leben. Es ist eines, die Musik eines lebenden Menschen zu hören; zu wissen, der Schöpfer dieser Melodie, er lebt und atmet und denkt und spielt vielleicht in diesem Moment fern von dir Klavier und ersinnt eine Melodie, die du nächstes Jahr zu deiner Freude hören wirst; diese Musik schreibt noch ihre eigene Geschichte fort. Sie ist noch in Bewegung als Ausgangspunkt und Aussicht. Sie ist noch nicht fertig, in keiner ihrer fixierten und zigmal gespielten Noten. Sie weist über sich selbst hinaus, auf Noch-Kommendes. — Etwas anderes, wenn dieser Schöpfer stirbt. Dann wird seine Musik zu etwas Kanonischem, aus dem heraus keine Entwicklung mehr möglich ist. Das Werk, es liegt vor, abgeschlossen; vollendet oder unvollendet wie es ist, so oder so: abgeschlossen. Und dann ist es, als würde auch die eigene Erinnerung, als würden auch die Stunden, deren Gedächtnis mit der Musik dieses Schöpfers verknüpft sind, ihrerseits ins Konservierte und Museale entrückt, fänden, auch sie, ihren Abschluß mit dem Tode dessen, der die verstrichenen Momente begleitet hat und immer weiter begleitete, bis er es nicht mehr konnte. Im Nachhinein sind jetzt diese Momente alle von ihm, dem großen Sänger, verlassen.
(14.10.2021)
Böschung. Hürxberg
Etwas, das mir nicht mehr gehört. Ein Nachholen und Besinnen. Schon bevor es vorbei ist, die Versuche der aneignenden Rekonstruktion. Reflex des Zurückholens. Die Symptome sind die des schon seit der frühen Kindheit vertrauten Abschieds, als ich lernen mußte, daß jede schöne Zeit erst dann als schön greifbar wird, wenn sie vorbei ist, also nur in der Trauer, im Verlust möglich ist; sie sind gewachsen, seitdem, die Abschiede und Erkenntnisse, und nie war ein Abschied größer und jeglicher Aussicht der Rückkehr, Rekonstruktion und Wiederholung barer als der, der bevorsteht, eher früher als später. Für später ist nur noch wenig Zeit. Angesichts dieses drohenden Abschieds erscheint es mir unbegreiflich, wie Menschen Heimat problematisch finden können. Ich weiß, wo ich zu Hause bin, habe es immer gewußt.
Böschung. Hürxberg
“Schön, hier zu sein”, rufe ich aus und breite die Arme aus, um Mutter und Vater zu umarmen. Und später, nach dem Essen, schaue ich gedankenverloren den Leuchter überm Eßtisch an, da zirkuliert schon das Bier angenehm schläfrig durch die warmen Glieder, und denke, vollkommenes Glück. Doch kein solcher Gedanke ist mehr für sich gültig, jeder dieser Momente trägt ein ungutes Wasserzeichen, das Bild seines dämonischen Gegenteils. Der Gedanke Wie lange noch?, er folgt nicht dem Glücksgedenken auf dem Fuß, er ist das Glücksgedenken selbst, seine Rückseite, sein zweites Gesicht am Hinterkopf, das das Glück nie mehr loswird, auch nicht für einen gedankenverlorenen Moment. Beim Zubettgehen sehe ich den Regendunst vom angestrahlten Kirchturm illuminiert, das Zimmer schließt sich um mich wie eine besänftigende Decke und ist in diesem Moment mehr als dieses Zimmer, ist alle Zimmer, in denen ich in der Vergangenheit hier gelegen habe, zusammen, die ganze, lange Reihe von Abenden, da ich hier nach einer anstrengenden Bahnreise zu Bett ging und glücklich war, alle diese Zimmer über- und ineinander, und auch da befällt mich die gleiche Trauer, die Trauer, die in dem Blick zurück liegt auf die Reihe der Abende, ein Standpunkt, der plötzlich ans Ende gerutscht ist und von dort alles im Blick hat, was war und schön war. Ein hoher, kühler Punkt ist das, und es könnte einem schwindelig werden von dieser Warte aus.
Hürxberg am Ellerntubel
Ort und Zeit, die einst eine Einheit bildeten, klaffen mir immer weiter auseinander. Wenn ich hier in Hürxberg den Wald aufsuche, finde ich meinen Lieblingswald und einen Ort, an dem mir wohl ist, der mein Lebensgefühl stärkt; was ich aber eben auch zu finden hoffe, ist der Anschluß an frühere Zeiten, in denen ich hier glücklich war, und die deshalb mit diesen Wegen verknüpft sind — das entzieht sich, das ist unerreichbar. Als könnte das Glück noch einmal und immer wieder daraus geschöpft werden, daß ich den Ort als vermeintliche Quelle des damaligen Glücks wieder und wieder aufsuche. Dabei ist es wohl umgekehrt. Ich war aus anderen Gründen glücklich damals, und dieses erhabene Lebensgefühl hat sich auf den Ort übertragen. Dieses übertragene, abgefärbte Glück ist nirgends mehr zu finden, man kann es nur erinnern. Es ist unser Schicksal, daß wir in Zeiten des Glücks nie in unserem Glück sind, nie diejenigen, an die wir uns später als Glückliche erinnern werden. Nie diese Glücklichen, nie an diesem Ort.
Startfenster
Mein Wissen über die beiden Eisriesen des Sonnensystems auf den neuesten Stand gebracht. Die NASA begutachtet derzeit mehrere Missionsvorschläge, darunter einen Orbiter mit Atmosphärensonde, und sofort stellt sich bei mir die von Kindertagen vertraute Erregung ein. Ungeduldig und enttäuscht darüber, wie langsam es voranging mit der Erforschung des Weltraums, wäre ich am liebsten sofort mitgeflogen. Hätte es damals schon Hubschrauberflüge auf dem Mars gegeben (es gab zwei Lander, Viking I und II, die ein paar Photos geschossen und ein wenig im Boden gestochert haben, das wars), ich wäre außer mir gewesen vor Entzücken. Was ich aus Büchern erfuhr, war alles bereits lange her, aus Kindersicht zumindest. Als ich anfing, mich für die Raumfahrt zu interessieren, waren die Bilder vom Mars, die verwackelten Schnappschüsse von der Venusoberfläche, ja sogar die phantastischen Bilder, die Voyager 1 erstmals von den Jupitermonden aufgenommen hatte, nichts Neues mehr. Ich war nicht teilnehmend dabeigewesen, als letztere entstanden, vor allem aber waren diese Himmelskörper, als sie erstmalig in solcher Detailfülle untersucht wurden, zuvor noch nicht als Frage in meinem Geist aufgetaucht, hatte ich sie noch nicht als etwas Unbekanntes identifiziert, auf das sich meine Neugier hätte richten können. So konnte ich ihrer Kartographie nicht entgegenfiebern, denn als ich lernte, daß der Jupiter überhaupt Monde hat, waren diese Bilder bereits vorhanden. Ich habe keine Erinnerung an eine Zeit, da man nicht wußte, wie diese Monde aussehen.
Das aufregendste, was ich diesbezüglich in späteren Jahren erlebte, war fraglos die Landung der Sonde Huygens im Rahmen der Cassini-Mission im Jahr 2005 auf dem Saturnmond Titan. Da ich damals zu Hause noch keinen Internetzugang hatte, blieb ich bis nach neun Uhr abends in meinem Büro und verfolgte die Nachrichten auf der NASA-Seite. Dann eine (übereilt hochgeladene, Minuten später wieder gelöschte, andertags in redigierter Form wieder eingestellte) Pressemitteilung. Dann die ersten, rötlichtrüben Bilder, Sand, Kiesel aus Eis, eine Ebene, ein rostbrauner Horizont, die ein für allemal sämtliche künstlerischen Phantasien, mit denen man zuvor versucht hatte, sich die Oberfläche des fernen Himmelskörpers auszumalen, obsolet machten, von einem Moment zum nächsten zu überholten Vorstellungen eines vergangenen Zeitalters werden ließen.
Wie oft ist es einem Menschenleben verstattet, einen Blick auf die Oberfläche eines unerforschten Himmelskörpers zu tun? Als mein Vater geboren wurde, hatte noch niemand eine Mondlandschaft, ja, es hatte noch niemand die Erde als blaue Perle aus einer Umlaufbahn heraus gesehen. Vom Mars zu schweigen. Bilder, die es schlichtweg nicht gab. Wie die Erde vom Mond aus betrachtet aussieht, war ebenso spekulativ wie es die künstlerischen Impressionen der Titanoberfläche vor dem Jahr 2005 waren. Bislang haben Landesonden die Oberflächen von Venus, Mond, Mars, Titan sowie vier Asteroiden und einem Kometen erreicht. Doch während ein geeignetes Zeitfenster für einen Flug zum Mars alle paar Monate offensteht, sieht das für die äußeren Planeten aufgrund der enormen Distanzen ganz anders aus. Um Treibstoff und damit Gewicht zu sparen, sind Missionen ins äußere Sonnensystem auf ein Swing-by-Manöver am Jupiter angewiesen, müssen also dessen jeweilige Position mitberücksichtigen. Das nächste Zeitfenster für einen Flug zum Uranus wäre von 2030 bis 2034, der Flug würde elf Jahre dauern, eine Sonde wird also frühestens 2041 vor Ort sein. Zum Neptun kann man schon etwas eher losfliegen, man braucht dafür aber 15 Jahre Flugzeit. Früheste Ankunftszeit wäre 2044. Das nächste Startfenster geht dann erst wieder 2041 (mit einer Ankunftszeit Mitte der fünziger Jahre des 21. Jahrhunderts) auf.
2041, da werde ich siebzig sein. (Und beim nächsten Venustransit hundersiebenundvierzig.) Und jetzt komme ich endlich zum Punkt. Der wäre: Es ist zutiefst deprimierend zu erleben, wie die Aussichten auf noch Erlebbares zusammenschrumpfen. Natürlich stehen diese Zeitfenster fest, das taten sie bereits bei meiner Geburt, das taten sie bereits, bevor noch irgendein Mensch darüber nachgedacht hat, in den Weltraum zu fliegen. Ich hätte mir schon als Kind von zwölf Jahren ausrechnen können, wie viele solcher Missionszeitfenster in ein Leben von, sagen wir mal achtzig Jahren passen, wenn es mich interessiert hätte. Und genau das ist der springende Punkt: Es interessiert einen nicht, wenn man zwölf ist. Es interessiert einen auch nicht, wenn man zwanzig oder dreißig ist. Man wartet mit zwanzig auch gerne zehn Jahre, ohne sich viel dabei zu denken. Oder man hat soviel Zeit, daß man gar nicht wartet, denn es lohnt sich nicht, es dauert ja viel zu lange. Ich kann mich jedenfalls nicht an den Start der Cassini-Huygens-Mission erinnern, nur an die Bilder von der Titanoberfläche, als das Ding endlich da war. Zwanzig ist ebensosehr Mitte wie dreißig. Auch vierzig ist noch Mitte; siebzig definitiv nicht, siebzig ist der Rand, und Ereignissen entgegenzufiebern, die an diesem Rand passieren werden, ist ja töricht, bedeutet es doch nichts anderes, als es nicht erwarten zu können, den Rand selbst zu erreichen. So bewegt man sich in solchen Erwartungen auf zwei Skalen. Auf der einen, der herunterzuzählenden Zeit bis zum Eintreffen der Sonde, möchte man Gas geben. Auf der anderen, der herunterzuzählenden Zeit bis zum Ende des Lebens, möchte man auf die Bremse drücken. Das ist ein Widerspruch, der im Grunde nur zu ertragen ist, wenn man sein Interesse aufgibt und nicht mehr wartet, auf nichts.
Das Zeitfenster danach, das von 2041, man kann sich ausrechnen, daß man diese Sonden nur noch starten sehen wird.
Locus transiens
Die Zeit: Gestern im Hauptgebäude wegen der Grippeimpfung. Dozentenzimmer, ein heller, unbestuhlter Raum mit Parkett, gegenüber der Aula 2. War es hier, dachte ich, als ich darauf wartete, eingelassen zu werden und durch die halboffene Tür schaute, hier muß das doch gewesen sein, jener Abend der Verabschiedung Professor Stephanys. Oder nicht? In diesem Moment kam es mir wieder so vor, als vergingen die Orte ebenso wie die Zeit, mit ihr, in ihr. Es gibt ein Damals des Dozentenzimmers (wenn es dieser Raum war, aber was heißt dann noch dieser Raum? Es heißt so viel oder so wenig wie ein wiederkehrendes Datum, also etwa der 22. Juli, jedes Jahr ein anderer Tag und auf eine recht sublime Weise nur “derselbe”), ein Damals dieses Raumes, so wie es ein Jetzt dieses Raumes gibt, seine Fortsetzung ins Heute. Aber in welchem Sinne ist es derselbe Raum? Ich versuche mir vorzustellen, wie das damals war, Sommerabend, der Raum mit Tischen und Stühlen versehen, die zu vorgerückter Stunde zusammengeschoben wurden, um eine vertrautere Runde zu bilden. Ich weiß kaum noch etwas über den Abend, außer, daß ich damals auf dem Weg zum Institut einem Trupp von dort begegnete, der bereits auf dem Weg zur Festlokalität war, was Erheiterung auslöste und mir die Hektik des Erklärenmüssens einflößte; daß Stephany statt Blumen und Geschenken um Spenden für irgendein Kinderhilfswerk bat; daß ihre Ziehtochter anwesend war, und von diesem Menschen her ein schmaler Streif Lichts in das Privatleben der strengen Wissenschaftsgouvernante fiel, das fällt mir jetzt erst wieder ein; und daß Frau Ohlshausen, von der ich doch glatt den Vornahmen vergessen habe, zu diesem Zeitpunkt selbst schon in Rente, mit Frau Stephany zum Du übergegangen war.
Sirene
Jedes Jahr einmal, immer an einem Mittwoch vormittag, kamen die Bomber.
Sie kreisten über den Dächern der Kleinstadt, drehten wieder ab, kehrten ein paarmal zurück, ohne die tödliche Fracht loszuwerden, bis sie endlich am Horizont verschwanden, und eine letzte Entwarnung verkündete, daß man wieder einmal für ein Jahr davongekommen war.
Falls in der Zwischenzeit nicht der Ernstfall einträte.
Man nannte das „Probealarm“, und es war einer der größeren Schrecken meiner Kinderzeit.
Auf einem der Gebäude meiner Schule, auf der anderen Seite des Hofs, genau gegenüber von meinem Klassenzimmer, erhob sich, groß, gräßlich, weithin sichtbar, eine Sirene. Dieses Ding auf dem Dach schien mir in seiner Eigenschaft, einen fürchterlichen Lärm zu produzieren, an sich schon gefährlich Bereits dieser Lärm war die Gefahr, war Schmerz, Krampf und heillose Konfusion. Schon ihre unheilvolle Silhouette, die an genau jenen anderen Pilz zu erinnern schien, vor dem jede Warnung ja doch vergeben gewesen wäre, verbreitete in meinen Augen Angst und Schrecken, weniger vor der oder als Sinnbild für die erwartete Katastrophe als vor der Angst selbst – der Angst vor der Angst.
Vor dem Erschrecken.
Schon als Säugling war ich, so versichern es die Eltern, geräuschempfindlich bis zur Nahrungsverweigerung. Wenn irgendwo was knisterte, zischte, prasselte, stellte ich das Trinken ein, und war ich auch noch so hungrig. Alle Arten von plötzlich einsetzendem Tuten, Schlagen, Heulen waren (und sind mir bis auf den heutigen Tag) ein Greuel. „Wird es laut?“ war meine erste Frage, wenn meine Eltern mich auf irgendeine Unternehmung mitnehmen wollten. Auf ein Ausflugsschiff übern Vierwaldstättersee rannte ich mit den Händen auf den Ohren über die Gangway, panisch, das Schiffshorn könne lostuten, bevor ich das gedämpfte Innere erreicht hätte. Ich wußte, daß ich mich lächerlich machte, aber die Furcht vor dem Krach war ärger als die Scham. Die Schilderung eines Schulkameraden, der schon einmal eine Flugreise gemacht hatte, so ein Jet sei lauter als die Sirene (dabei zeigte er auf die dräuende Silhouette überm Schulhaus), flößte mir Mitleid mit dem armen Jungen ein. Eine Hafenrundfahrt wurde zum Martyrium, weil ich jederzeit erwartete, die Erfahrung vom Vierwaldstättersee könne sich wiederholen. Und auf dem Sportfest lief ich eine schrecklich schlechte Zeit über die hundert Meter, weil ich vom zuerst erwarteten, dann tatsächlich empfundenen Schrecken des Startschusses (aus einer echten Pistole) weiche Knie hatte. Und in der Eisenbahn hatte ich beim Übergang von einem Waggon in den nächsten nicht etwa Angst, die Verbindung könne mir unter den Füßen wegbrechen; nur der entsetzliche, ungedämpfte Krach von Gleis, Wind, Fahrwerk schreckte mich. Tröten, Knallen, Tuten, Jaulen. Überall lauerte er, der Krach. Im Zirkus, auf dem Feuerwehrfest, bei der Flugschau, beim Karnevalszug.
Und in der Schule. Wo auf dem Nachbardach die Sirene hockte, schlimmer als jede imaginierte oder wirkliche, leicht zu verdrängende Bombengefahr. Eine stets latente Angst war, wir könnten vielleicht umziehen, und in einem Haus mit Sirene auf dem Dach mit dem allezeit drohenden Schrecken überm eigenen Kopf leben müssen. Kaum besser war die Vorstellung, ich könnte vielleicht eines Probealarmmittwochs ausgerechnet in jenem Gebäude Unterricht haben, das die Sirene trug. Und als ich später umgeschult wurde, spähte ich überall umher, ob auf dem Dach der neuen Schule nicht etwa eine Sirene installiert sei. Zu meiner übergroßen Erleichterung waren alle Dächer des Komplexes sirenenfrei.
Noch heute ist mir dieses Grauen, dieser durchaus panische Schrecken gegenwärtig, rieselt es mir eiskalt durch die Glieder, wenn ich irgendwo eine Feuerwehrsirene höre. Egal, wie weit weg ich bin, egal, wie niedrig der Schallpegel tatsächlich ist, die Art des Geräuschs, dieses unerbittliche Warnen, dieses Geheul, das geradewegs aus der Hölle selbst emporzufahren scheint, seelenlos, kalt, mörderisch, flößt mir immer noch Angst ein. Und genau das soll es ja auch.
Meine Eltern versprachen mir, sie würden mir beim nächsten Probealarm, dessen Datum in der Zeitung angekündigt werde, bescheid sagen, dann wüßte ich, was mich erwarte. Die Folge war, daß ich einen halben Vormittag im Angstschweiß badete, während ringsum die Mitschüler sich ihres Lebens freuten. Natürlich erschraken sie dann genau wie ich, wer würde nicht erschrecken, wenn keine fünfzig Meter entfernt eine Sirene losgeht? Aber im Unterschied zu mir machte es ihnen eben nichts aus.
(Eins der Dinge, die ich an Musik schätze, ist, vermute ich, daß sie den Lärm bändigt, indem sie ihn in eine Form zwingt, verwandelt und nutzbar macht. Natürlich ist Musik mehr als nur domestizierter Lärm, aber sie ist es auch, ein bißchen. Vielleicht deswegen mag ich es auch nicht leiden, wenn undomestiziertes Geräusch durch die Hintertür wieder hereingelassen werden. Schlagwerk mag ich, wenn überhaupt, nur in feinster Dosierung, und niemals nur darum, wie etwa in der populären Musik allegegenwärtig exemplifiziert, weil man es halt so macht. Beethovens Gewitter in der sechsten Symphonie mochte ich immer schon, an die entsprechende Klangmalerei bei Strauss, der eine Windmaschine benötigt, mußte ich mich erst, sie lange rigoros ablehnend, gewöhnen.
Ein bißchen klingt sie nämlich wie eine Sirene.)
Sprachen erfinden (1)
Es begann alles damit, daß ich im Frühjahr und Sommer 1984 den Herrn der Ringe las. Damals war überhaupt nicht zu ahnen, was dieses Buch mit mir machen würde. Es war nicht einmal vorauszusehen, daß cih dieses Buch lieben würde. Ich war zögerlich, ja skeptisch: Zwei Jahre zuvor hatte ich Bekanntschaft mit dem Kleinen Hobbit gemacht und ihn abgelehnt; nur auf die dringende Empfehlung einer Freundin meiner Mutter näherte ich mich noch einmal Tolkien. Wenn ich daran zurückdenke, wird mir ein bißchen schwindlig angesichts der Tragweite einer derart simplen und ephemeren Entscheidung. Ohne die Lektüre dieses Buches wäre mein Leben völlig anders verlaufen. Lesen oder nicht lesen? Ich las.
Wie jeder weiß, ist die Geographie Mittelerdes mit Kartenmaterial gut belegt. Auch ist es wohl niemandem, der auch nur einen flüchtigen Blick auf eine dieser Karten geworfen hat, entgangen, daß eine Vielzahl an Toponymen in einer merkwürdigen Sprache begegnen. Ebenso offensichtlich steckt hinter diesen Namen ein System. Wenn Ered Nimrais „Weißes Gebirge“ bedeutet und Ered Luin „Blaue Berge“, dann mußte Ered natürlich „Berge“ oder „Gebirge“ bedeuten. Derlei Übereinstimmungen finden sich nicht nur in den Toponymen, sondern auch in den Ausrufen, Sprüchen und Gedichten auf Quenya oder Sindarin, die im Text des Herrn der Ringe eingestreut sind.
Die Karte, die fremde Sprache, die Namen – das alles hatte es mir so sehr angetan, daß ich selbst begann, Karten eines Phantasielandes zu zeichnen, und natürlich bedurfte es fremder, klangschöner Namen zur Bezeichnung von Flüssen, Gebirgen, Wüsten und Wäldern. In der Zusammensetzung dieser Namen sollte eine ebensolche Regelmäßigkeit aufscheinen, wie sie in den Karten von Mittelerde zu erkennen war. Damit hinter den Toponymen für meine Karte ein System erkennbar sei, mußte ich mir natürlich zuerst das System selbst ausdenken. Ich brauchte Wörter für geographische Erscheinungen, und ich mußte festlegen, auf welche Weise sich diese Wörter zu größeren deskriptiven Benennungen zusammenfügen ließen. Ich brauchte Nomen, die „Berg“, „Schlucht“, „Meer“ bedeuteten. Ich brauchte Adjektive, die man modifizierend zu diesen Begriffen stellen konnte. Ich mußte mir Gedanken zu Komposition und Wortbildung machen. Kurzum, eine richtige Sprache mußte her, und das war der Anfang.
Urlaub
Urlaub?
Seit ich meine Eltern Jahr für Jahr miesepetrig aus dem Urlaub habe heimkommen sehen („das war’s jetzt wieder für ein Jahr“ – Als müßten sie anderntags in den Knast oder ins Arbeitslager), stand für mich fest: Das machst du anders.
Sie blinzelten in die fremdgewordenen Räume der Wohnung, rissen Rolläden und Fenster zum Lüften auf und stöhnten über die Berge von Post, die eine Nachbarin auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Seufzer ausstoßend und mit den Zähnen knirschend räumten sie das Wohnmobil aus, ächzten verbissen durchs Treppenhaus, kratzten sich am Kopf, rangen die Hände über die eingegangenen Topfpflanzen, die gemahnten Rechnungen und den frischen Schimmel im Bad, räumten, fluchten, schüttelten den Kopf und saßen dann endlich inmitten von halb ausgepackten Taschen, Mitbringseln, Badematten, Wanderschuhen und Sandalen, an denen noch der feine Sand ferner Meere klebte, im Wohnzimmer, den Geruch von Fahrgastraum vertrömend, das Brausen der Autobahn noch im Ohr. Wehmütig öffneten sie eine Flasche mitgebrachten Rotweins und schwärmten bald von den wunderbaren Landschaften, durch die sie gereist waren, bald schmatzten sie genießerisch den ungewohnten Speisen der Fremde nach, bald wurden sie wieder trübsinnig und malten einander in den schrecklichsten Farben die Ödnis der bevorstehenden 11 Monate Alltags aus: Die Trübsal des Winters! rief mein Vater, Das triste Wetter! ergänzte meine Mutter, Die Scheißarbeit! stöhnte mein Vater, Die öden Supermärkte! das verschrumpelte Gemüse! beschwor meine Mutter die düstere Zukunft. Fassungslos alle beide: Vor nicht einmal 12 Stunden haben wir noch im Meer gebadet! Ach, und die französischen Pfirsiche! Jetzt litten sie unter ihrer Heimat, die ebenso flach wie meerlos ist, wie unter einer chronischen Krankheit, von der sie für kurze Zeit ein viel zu teures Medikament erlöst hatte. Die Heimat: Eine im Sommer feuchtheiße, im Winter feuchtkalte und ansonsten verregnete Ebene. Neubaugebiet, Gewerbegebiet, Industrieanlage. Der Himmel selten farbig. Selbst die Luft und die darin immerhin vorhandenen Amseln schien ihnen langweilig und widerwärtig zu sein. Besonders meiner Mutter: „Ich könnte auf dem Absatz kehrtmachen!“ rief sie mit einer Geste, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Man spürte, wie sie körperlich litt, an der Wohnung, an den Nachbarn, am Geruch der Zimmer, dem Ausblick auf die Fassade gegenüber, den trivialen Sonderangeboten im Discountmarkt und den Amseln, natürlich.
Man sah es ihnen an, daß sie im Stillen schon wieder den nächsten Urlaub planten, nach dem Wohnmobil schielten, das Jahr, 11 Monate, über 330 Tage, in einem Satz der Imagination übersprangen und mit dem Herzen schon im Juli des nächsten Jahres zu Hause waren. Mir aber schwebte schon damals etwas anderes vor, ein Leben, in dem jeder Tag zählt. Gelungen ist mir das nicht immer. Aber eins wußte ich: Ich würde nie zwischen Badelatschen und Reisetaschen in meiner Wohnung sitzen und fassungslos dem verschwundenen Paradies nachweinen.
Sæby (3)
Weil die Stimmen niemandem gehören, konnten sie sich entfernen, ohne Angst zu bekommen.
Daher bedurften sie nicht des verzauberten Kindes.
Doch das Kind bedurfte ihrer.