Trüb im Trüben, ein Grau, das alle Taschen umgestülpt hat, und in keiner findet sich noch ein Heller Farbe. Unermüdlich arbeiten die Vögel am Bau des Frühlings, während der Regen auch noch die Schatten fortspült, die Grenzen und Linien ausbluten läßt, die Schemen von Flügen durchweicht. In bewimperten Teichen zerfließen die Blicke. Noch die eigene Haut gerät ins Fließen, bis das Spiegelbild sinkt und Wasser in wärmeres Wasser greift.

Parsen Sie bitte diesen Satz

Ego enim adsentior eorum quae posuisti alterum alteri consequens esse, ut, quem ad modum, si, quod honestum sit, id solum sit bonum, sequatur vitam beatam virtute confici, sic, si vita beata in virtute sit, nihil esse nisi virtutem bonum.

Knifflig, was? Dies ist einer von diesen Sätzen aus der Feder des Meisters Cicero, bei dem man bei der Lektüre der Periode das dumme Gefühl hat, nach Ab- und Auftauchen aus der Verschachtelung nicht wieder in den Hauptsatz aufgestiegen zu sein, sich mithin irgendwo auf halbem Wege verheddert zu haben. Vielleicht hilft da eine Klammerung (zur besseren Übersicht sind die Klammern numeriert):

Ego enim adsentior eorum quae posuisti alterum alteri consequens esse, [1ut, [2quem ad modum, [3si, [4quod honestum sit4], id solum sit bonum3], sequatur2] [3vitam beatam virtute confici3], sic (sequatur)1], [3si vita beata in virtute sit3], [2nihil esse nisi virtutem bonum.2]

Im sogenannten Einrückverfahren:

ut
    quemadmodum
         si
             quod honestum sit
         id solum sit bonum
    sequatur
         vitam beatam virtute confici
sic (sequatur)
         si vita beata in virtute sit
    nihil esse nisi virtutem bonum

Eine besondere Schwierigkeit, die Kenner allerdings für eine besondere Raffinesse und stilistische Geschmeidigkeit des berühmten Redners zu halten geneigt sind, besteht darin, daß im letzten si-Satz die Reihenfolge der Einbettung umgekehrt wird, so daß, ehe der sic (sequatur)-Satz zu Ende geführt, ein weiterer Nebensatz eingeschoben wird. (Sie sehen, man fängt unwillkürlich an, diesen Stil zu kopieren.) Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Auslassung ausgerechnet des Verbs im obersten Gliedsatz, also im ut-Satz, das aus dem Vergleichssatz (quemadmodum … ) in der Parallele ergänzt werden muß.

Versuchen wir eine erste – zwar extrem wörtliche – Übersetzung, die aber die Verschachtelung eins zu eins nachzeichnet:

Ich stimme nämlich dem zu, was du behauptet hast, daß nämlich das eine aus dem anderen folge, so daß so, wie, wenn, was anständig sei, allein gut sei, folge, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, so auch, wenn das glückliche Leben in der Tugend liege, daß nichts gut sei außer der Tugend.

Mh. so daß so, wie, wenn, was – das ist noch kein Deutsch. Die etwas schwerfällige (tut mir leid, Cicero) id … quod-Konstruktion kann man auf Deutsch prima durch eine Nominalisierung ersetzen (das, was anständig ist = das Anständige. Durch Ergänzung des zu Ergänzenden, sowie ein paar Verdeutlichungen der Vergleichskonstruktion wird es noch durchsichtiger:

[…] so daß in der gleichen Weise, wie daraus, daß das Anständige allein gut sei, folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, daraus auch folgt, daß, wenn das glückliche Leben in der Tugend liegt, nichts gut ist außer der Tugend.

Man ist im Deutschen außerdem gewohnt, die so … wie-Konstruktion umgekehrt aufzuziehen als es im Lateinischen üblich ist. Also:

[…] so daß daraus, daß das Anständige allein gut ist, ebenso folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, wie auch, daß, wenn das glückliche Leben in der Tugend liegt, nichts gut ist außer der Tugend.

Nominalisierungen haben den Vorteil, daß sie ganze Nebensatzkonzepte in einem einzigen Wort bündeln, sich besser in einem komplexen Gedanken unterbringen lassen und also beim Lesen auch leichter interpretiert werden können. Das Verfahren hat aber seine Grenzen:

[…] so daß aus dem Alleinanspruch des Anständigen auf das Gute ebenso folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, wie auch, daß die Tugendbasiertheit des glücklichen Lebens den Alleinanspruch der Tugend auf das Gute begründet.

(Die Stelle ist in Tusc. 5.21 zu finden. Es geht um die Frage, ob die Tugend allein zum glücklichen Leben ausreicht.)

“Wenn die Menschen ihren Schatten verlieren, wird das Leben unmenschlich. Nicht um ein Diplom zu machen, lesen wir Ovid und die anderen, sondern um unseren Schatten kennenzulernen. Kunst, große Kunst, bietet keine allgemeinen Lösungen für perönliche Probleme, sondern persönliche Lösungen für allgemeine Probleme. (Thódoris Kalliphatídis “Freunde und Liebhaber”)”

αν οι άνθρωποι ξεχάσουν τη σκιά τους, η ζωή γίνεται απάνθρωπη. Διαβάζουμε τον Οβίδιο και τους άλλους όχι για να πάρουμε ένα πτυχίο αλλά για να γνωρίσουμε τη σκίά μας. Η Τέχνη, η μεγάλη Τέχνη, δεν προσφέρει γενικές λύσεις σε προσωπικά προβλήματα, αλλά πρωσοπικές λύσεις σε γενικά προβλήματα. (Θοδωρής Καλλιφατίδης, Φίλοι και Εραστές)

Herodot, Historien I, 139

Bei Herodot (I, 139) gibt es eine Stelle, wo man sich an gewisse onomastische Verhältnisse bei Asterix erinnert fühlt:

Auch folgendes hat sich bei den Persern so ergeben, was ihnen selbst gar nicht klar ist, mir aber schon: Ihre Eigennamen, die körperliche Eigenschaften oder gesellschaftlichen Rang bezeichnen, enden alle auf denselben Buchstaben, den die Dorer „San“, die Ionier „Sigma“ nennen; wenn man diese Sache untersucht, stellt man fest, daß alle Namen der Perser so enden, nicht die einen so und die anderen anders, sondern alle gleichermaßen.

καὶ τόδε ἄλλο σφι ὧδε συμπέπτωκε γίνεσθαι, τὸ Πέρσας μὲν αὐτοὺς λέληθε, ἡμέας μέντοι οὔ• τὰ οὐνόματά σφι ἐόντα ὅμοια τοῖσι σώμασι καὶ τῇ μεγαλοπρεπείῃ τελευτῶσι πάντα ἐς τὠυτὸ γράμμα, τὸ Δωριέες μὲν σὰν καλέουσι, Ἴωνες δὲ σίγμα• ἐς τοῦτο διζήμενος εὑρήσεις τελευτῶντα τῶν Περσέων τὰ οὐνόματα, οὐ τὰ μὲν τὰ δ’ οὔ, ἀλλὰ πάντα ὁμοίως.

Dazu schreiben W. W. How & J. Wells (A Commentary on Herodotus, Oxford 1912):

Herodotus is at his weakest as a linguist (cf. explanation of royal names, vi. 98. 3 n.); yet he seems to have valued himself on this score. He makes two remarks on Persian names, which are both inaccurate:
(1) That they all have a certain meaning. σῶμα is variously taken (a) by Stein, in ageneral sense, „individuals (32. 8) and their honourable nature“; (b) by Macaulay, „their bodily shape“ (which is simpler). Whichever sense be given, Herodotus is too absolute; nor is he consistent; cf. vi. 98. Some Persian names referred to deities (cf. Mithradates, „given by Mithra“); others to personal appearance (Otanes, „fair of body“); others (e.g., Darius, „possessor“) to position, etc.
(2) That all names end in S. This, in the first place, ignores all feminine names. Even of men’s names, it is only true of the Greek forms; in Persian, s (sh) was retained after i or u, e.g., Darayavaush = Darius, but not otherwise, e.g., Vistâçha (Hystaspes), where, however, the final a was not written. For the interesting statement as to the Greek alphabet cf. Roberts, Gk. Epig. p. 8seq. The Phoenicians had four signs for sibilants, each of which was borrowed in part by Greece:
(1) The hard Samech (No. 15 in the Phoenician alphabet), probably = „Sigma“ Others, however, make „σίγμα“ („the hissing letter”) a genuine Greekword (from σίζω).
(2) The lingual Tsade.
(3) The palatal Shin.
(4) There was also the soft Zazin.
Of these the name Tsade survives in Zeta, while „Samech“ was transferred to the place of „Shin“ The sign of Samech and its place in the alphabet after Nun, were left to the later Xi.

Seneca Ep. II, 1, 3–5

Nimm trotzdem, wenn du magst, eine Hilfe an, mit der du dich wappnen kannst. Die Dinge, mein Lucilius, die uns Angst einjagen, sind zahlreicher als die, welche uns wirklich zusetzen, und oft quälen wir uns nicht der Tatsachen wegen, sondern aus bloßem Glauben. Ich spreche jetzt nicht zu dir mit der Stimme des Stoikers, sondern einer milderen; wir sagen ja, daß alles, was uns Stöhnen und Seufzen hervorruft, in Wahrheit leicht sei und verachtenswert. Lassen wir diese großen aber, ihr guten Götter!, wahren Worte einmal beiseite: Ich lege Dir nahe, dich nicht vor der Zeit zu grämen, da doch das, was du als bevorstehend fürchtest, vielleicht niemals eintreten wird, ganz sicher aber noch nicht eingetreten ist. Manches quält uns also mehr als nötig, manches quält uns früher als nötig, und manches quält uns ganz unnötigerweise; wir vergrößern den Schmerz oder nehmen ihn vorweg oder bilden ihn uns ein.

Tamen, si tibi videtur, accipe a me auxilia quibus munire te possis. [4] Plura sunt, Lucili, quae nos terrent quam quae premunt, et saepius opinione quam re laboramus. Non loquor tecum Stoica lingua, sed hac summissiore; nos enim dicimus omnia ista quae gemitus mugitusque exprimunt levia esse et contemnenda. Omittamus haec magna verba, sed, di boni, vera: illud tibi praecipio, ne sis miser ante tempus, cum illa quae velut imminentia expavisti fortasse numquam ventura sint, certe non venerint. [5] Quaedam ergo nos magis torquent quam debent, quaedam ante torquent quam debent, quaedam torquent cum omnino non debeant; aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus.

Über die Zeit (Seneca an Lucilius)

Immer wieder eine lohnende Lektüre: Seneca:

In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeterit; quidquid aetatis retro est mors tenet. Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas complectere; sic fiet ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris. [3] Dum differtur vita transcurrit. Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit quicumque vult. Et tanta stultitia mortalium est ut quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, imputari sibi cum impetravere patiantur, nemo se iudicet quicquam debere qui tempus accepit, cum interim hoc unum est quod ne gratus quidem potest reddere.

Darin nämlich täuschen wir uns, daß wir den Tod als vor uns liegend betrachten: Dabei ist ein großer Teil von ihm schon geschehen; alles, was an Lebenszeit hinter uns liegt, hält der Tod in Händen. Mach es also so, mein Lucilius, wie du es geschrieben hast, und halte alle Stunden fest; so wird es geschehen, daß du weniger am Morgen hängst, wenn du nur erst das Heute in deinen Besitz genommen hast. Das Leben geht vorbei, während man es aufschiebt. Nichts, mein Lucilius, gehört wirklich uns, nur die Zeit ist unser eigen. Dieses einzige Flüchtige und Vergängliche gibt uns die Natur zum Besitz, und es verjagt uns daraus, wer immer will. Und so groß ist die Dummheit der Menschen, daß sie, wenn sie um wertlose oder doch sicher ersetzbare Kleinigkeiten gebeten haben, sich diese in Rechnung stellen lassen, während keiner, dem jemand Zeit geschenkt hat, der Ansicht ist, dem andern etwas schuldig zu sein; dabei ist die Zeit doch das einzige, daß niemand je zurückzahlen kann, und sei er auch noch so dankbar.

Manches hat sich seit der Antike nicht verändert.

„Alii summum decus in carruchis solito altioribus et ambitioso vestium cultu ponentes sudant sub ponderibus lacernarum, quas in collis insertas cingulis ipsis adnectunt nimia subtegminum tenuitate perflabiles, expandentes eas crebris agitationibus maximeque sinistra, ut longiores fimbriae tunicaeque perspicue luceant varietate liciorum effigiatae in species animalium multiformes.“

Ammianus Marcellinus. XIV.6

Andere erblicken die größte Zierde in einem vierrädrigen Wagen, der höher ist als das gewöhnliche Maß, oder verwenden viel Ehrgeiz auf ihre Kleidung und schwitzen förmlich unter dem Gewicht des Obergewands, das sie in den Kragen einstecken und am Gürtel festmachen. Gewänder, die aufgrund der allzugroßen Feinheit der Kettfäden zum Bauschen neigen: Sie lassen sie denn auch mit häufigem Schütteln auffächern, besonders auf der linken Seite, damit die ziemlich langen Fransen nur ja deutlich sichtbar sind und die Tuniken darunter hervorleuchten, die vermittels verschiedenfarbiger Schußfäden mit den Abbildern vielgestaltiger Tiere versehen sind.

ars poetica

Nec sic incipies, ut scriptor cyclicus olim:
“Fortunam Priami cantabo et nobile bellum”.
Quid dignum tanto feret hic promissor hiatu?
Parturient montes, nascetur ridiculus mus.

noch sollst anheben du wie einst der epische dichter:
„krieg der Edlen will ich besingen und Priamus’ schicksal“ –
Was wird uns würdiges zeigen, wer seinen mund derart voll nimmt?
berge liegen in wehen, heraus kommt ein lächerlich mäuslein.

Naso

Iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis
nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas.
cum volet, illa dies, quae nil nisi corporis huius
ius habet, incerti spatium mihi finiat aevi:
parte tamen meliore mei super alta perennis
astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum,
quaque patet domitis Romana potentia terris,
ore legar populi, perque omnia saecula fama,
siquid habent veri vatum praesagia, vivam.

schon hab das werk ich vollendet, das Iuppiters zorn nicht noch feuer
noch kann das eisen zerhaun, noch zerstören das nagende alter.
Mag jener tag, wenn er will, der nur des sterblichen körpers
rechte besitzt, mir beenden die spanne des unsichern lebens:
ewig doch werde ich kraft meines besseren selbst über höchste
sterne gehoben sein, und mein name wird niemals verlöschen,
und, wo die römische macht auch die länder immer bezähmt hat,
werd ich gelesen vom volk, und im ruhme durch alle äonen
werde ich, ist etwas wahr an der seher ahnungen, leben.

Incipe!

dimidium facti qui coepit habet; sapere aude,
incipe! Viuendi qui recte prorogat horam,
rusticus expectat dum defluat amnis; at ille
labitur et labetur in omne uolubilis aeuum.

halb hat die arbeit getan schon, wer anfängt nur. klug zu sein, wage,
mach dich ans werk! denn wer aufschiebt die stunde des richtigen lebens
wartet dem bauer gleich, daß nur versiege der strom, aber jener
fließet und wirbelnd wird fließen dahin bis ans ende der zeiten.

(Q. Horatius Flaccus, Epist. I, 2)

Lateinische Fundstücke: Marmorstein & Eisen …

Das Problem der späten Dichter: Es ist schon zuviel gedichtet worden. Glücklich, wer, am Beginn stehend, den ganzen ungehobenen Schatz der Sprache, das Riesenkaleidoskop des noch nicht Ausgesprochenen, Schlummernden, Verfügbaren überblickend, seine Geliebte noch mit einer Rose vergleichen durfte. Was müssen das für Zeiten der Frische und des Beginns gewesen sein, wo ein solcher Vergleich unerhört und aufregend und betörend war. Was bleibt uns denn noch? Bemühen müssen wir uns, zusammenkratzen, weitherholen, erkünsteln. Zu retten ist nichts. Wir sitzen auf einem schwindenden, allzu lang schon der Plünderung anheimgegebenen Hort.

Da ist zum Beispiel dieses, das vielleicht damals, vor 2000 Jahren, auch schon nicht mehr taufrisch war …

alta prius retro labentur flumina ponto,
annus et inversas duxerit ante vices,
quam tua sub nostro mutetur pectore cura:

„eher die hohen Flüsse zurück in die See werden strömen,
wechselnder Jahreszeit eher sich kehren der Lauf,
als daß in meiner Brust sich die Lieb für dich würde wandeln.“

Tja, mein lieber Drafi, so alt ist dieser lyrische Gedanke schon. Mindestens.

Gegeninterpretation

Wenn zwei so verliebt sind, daß sie im Angesicht des Anderen zu zittern beginnen; wenn zwei so verliebt sind, daß sie so sehr zittern, daß ein Becher Weins, von ihr zu ihm gereicht, ihnen beiden entgleitet; wenn daraufhin der Wein aus dem Becher schwappt und sich dunkel auf den Boden ergießt: Warum ist das ein Zeichen dafür, daß ihre Begegnung scheitert?

Die Beiden

Sie trug den Becher in der Hand,
ihr Kinn und Mund glich seinem Rand,
so leicht und sicher war ihr Gang,
kein Tropfen aus dem Becher sprang.

So leicht und fest war seine Hand:
Er ritt auf einem jungen Pferde,
und mit nachlässiger Gebärde,
erzwang er dass es zitternd stand.

Jedoch, wenn er aus ihrer Hand,
den leichten Becher nehmen sollte,
so war es beiden allzu schwer.

Denn beide bebten sie so sehr,
das keine Hand die andre fand,
und dunkler Wein am Boden rollte.

(Hugo von Hofmannsthal)

Die beiden werden dargestellt als im Vollbesitz von Anmut, Kraft und Sicherheit. Ihr Gang ist „leicht und sicher“, und sie hat keine Schwierigkeiten, einen vollen Becher Weins ohne Überschwappen zu balancieren. Seine Hand ist „leicht und fest“, so fest tatsächlich, daß er ein junges Pferd ganz ohne Kraftanstrengung („mit nachlässiger Gebärde“) bezähmt und unter seinen Willen zwingt. Doch das ist vor der Begegnung. Unter den Augen des Geliebten dann werden die Hände so schwach, daß der Becher „beiden allzu schwer“ wird. Beiden wird der Becher zu schwer, beide beben: Ihr Gefühl ist wechselseitig. Alle Kraft und Sicherheit sind dahin, wenn man vor dem Geliebten steht. Und so stehen die Beiden einander gegenüber und werden im Wortsinne schwach, der Becher kippt um, „dunkler Wein“ rollt am Boden.

Ohne nun das Überlaufen, Auskippen, Überschütten von Flüssigkeiten in überkommener Weise als ein Bild sich entladender Lust, die dunkle Farbe des Weins dagegen als Bild weiblicher Reife zu deuten, ist die Begegnung dennoch eine Situation, in der sich etwas zuspitzt und in eine Art Miniaturkatastrophe gipfelt. Es ist ein Augenblick des Atemanhaltens. Wie geht es weiter? Werden die Beiden herzlich über ihre Ungeschicklichkeit lachen? Wird es ihnen peinlich sein? Werden sie im Beben des anderen das eigene Beben wiedererkennen? Auf diesem Höhepunkt der Spannung entläßt uns der Beobachter.

Mißgeschicke dieser Art sind natürlich, ebenso wie krankheitsähnliche Symptome (Gliederzittern, Herzrasen, Schweißausbruch, Stottern), ein gängiger Topos in der komischen Darstellung der Verliebtheit. In seinem Gedicht schafft es Hoffmannsthal, die Komik auf wundervolle Weise zu überhöhen und mit dem aus der Komik bekannten Topos ein Bild heiteren Ernstes zu zeichnen.

Wer in dieses Gedicht das Scheitern einer Begegnung hineinliest, war vermutlich selbst noch nie verliebt. Ein solches Mißgeschick ist weit weniger ein Zeichen des Scheiterns, als ein offenkundiges Zeichen dafür, daß die zwei bis über die Ohren verliebt sind. Gibt das nicht Anlaß zur Hoffnung? Wäre es nicht vielmehr umgekehrt? Daß die Begegnung gescheitert wäre, wenn beide die Ruhe selbst sind bei ihrer Begegnung? Daß das nachgerade gar keine erzählenswerte Begegnung wäre? Eine Begegnung zwischen Mann und Frau, bei der keiner der beiden bebt, ist wohl eine alltägliche, eine belanglose Begegnung. Jedenfalls würde man nicht ein Gedicht darüber schreiben. Hugo von Hoffmansthal hat in Die Beiden durchaus kein Gedicht über das Scheitern geschrieben, sondern über das Beben von zweien, die allen Grund zum Beben haben: vor süßer Angst.

Zitat

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.