Daß wir in einer Welt leben, die der Nützlichkeitsgedanke in jeden Winkel hinein beherrscht, wird wieder einmal am Welttag des Buches auf traurige Weise deutlich. Traurig dabei ist nicht, daß viele Menschen gar nicht, oder jedenfalls keine Bücher, lesen. Traurig ist auch nicht, daß viele Menschen lieber Shoppen gehen oder ihr Auto putzen, als es sich mit einem Schmöker auf der Sofaecke gemütlich zu machen. Traurig ist auch nicht, daß viele Menschen sich von einer spannenden Geschichte nicht locken lassen wollen, kalt sind gegen den Zauber der Sprache, der Verführung durch ganze Welten (der Phantasie) nichts abgewinnen können. Wenn ich selbst ein glücklich Verführter bin – was kümmert mich die Sprödigkeit der anderen?
Nein, traurig ist etwas anderes, nämlich wie das Lesen von seinen selbsternannten Rettern auf seine Zweckdienlichkeit reduziert wird. Das Plädoyer von Maura Kelly im Atlantic (zitiert hier) für das Lesen von Belletristik ist typisch für diese Reduktion. „Forscher“, schreibt sie, „haben herausgefunden, daß Testpersonen, die Kafkas ‚Ein Landarzt’ gelesen hatten, […] in einem anschließenden Lerntest besser abschnitten als eine Kontrollgruppe, die nur eine Zusammenfassung des Textes zu lesen bekommen hatte.“ Und deshalb sollen wir also Lesen? Das ist ein bedauerlicher Irrtum, dem Maura Kelly hier aufsitzt. Nicht weil die wissenschaftlichen Erkenntnisse falsch wären, mit denen hier und andernorts vielstimmig das Lesen propagiert wird; sondern weil eine solche Betrachtung des Lesens an der Sache vorbeigeht, den Kern dessen, was Lesen ist verkennt, und den Grund, warum die, die lesen, es überhaupt tun, ignoriert.
Der Verweis, wieviele wertvolle Spurenelemente, sekundäre Pflanzenstoffe und krebshemmende Antioxidantien in der Nudel zu finden sind, liefert allenfalls eine amüsante Nebeninformation für den, der gerade die köstliche Erfahrung von Penne alla boscaiola machen darf. Oder nehmen wir Fußball. Fußballspielen fördert die Beweglichkeit, stärkt die Kondition, ist gut für Koordination und wirkt sich als Mannschaftssportart positiv auf die Teamfähigkeit junger Leute aus. Aber niemand, der gerne Fußball spielt, geht doch aus diesen Gründen auf den Platz! Neuerdings untersucht man ja sogar die gesundheitsfördernden Auswirkungen von Sex. Aber wer ins Bett steigt, um etwas für das Herz-Kreislauf-System zu tun, dem ist, tut mir leid, echt nicht mehr zu helfen.
Und genauso verhält es sich mit dem Buch. Der Genuß der Lektüre, das Glück der langen Stunden beim Lesen, das Abtauchen in eine spannende, merkwürdige oder lustige oder gänzlich verrückte Geschichte, die Erfahrung einer Alternative zur Welt, hat überhaupt nichts mit dem Training von Empathie und Kognition, nichts mit der Förderung der sprachlichen Kompetenzen, nichts mit der Ausbildung sozialer Fähigkeiten zu tun. Aussagen über die Förderung von Kernkompetenzen berühren den Erfahrungsraum des Buches nicht einmal. Man hat den Verdacht, den Leseprogagisten gehe es eigentlich gar nicht ums Buch. Hätte den gleichen Effekt irgendeine andere Tätigkeit, würden sie halt die propagieren. Aber sich durch eine Lektüre zu quälen, weil Pädagogen und Psychologen es empfehlen, ist wie Sex haben, um die Blutgefäße jung zu halten, oder Wein trinken wegen der Antioxidantien. Das Entscheidende wird übersehen. Wer vor der Lektüre fragt, wozu das gut sein soll, braucht gar nicht erst anzufangen.
Worum geht es eigentlich? Um Bastian Balthasar Bux. Dieser leidenschaftliche Leser entwendet am Beginn des Romans Die unendliche Geschichte ein Buch mit eben diesem Titel aus einem Antiquariat. Der Grund: Bastian sehnt sich nach einer Geschichte, die niemals endet, weil am Ende des Buchs der Abschied von der Geschichte und ihren Helden immer so herzzereißend ist. Und hier ist nun eine Geschichte, die verspricht, ihm den Genuß zu bescheren und den Schmerz zu ersparen. Jeder echte Leser weiß, wie es Bastian in diesem Augenblick ums Herz ist. Was fühlt Bastian, während er, sonst alles andere als mutig, nach dem Buch greift um es zu entwenden? Ist er vom Verlangen bewegt, seine kognitiven Fähigkeiten aufzupolieren? Oder geht es ihm um etwas, wovon Maura Kelly und die Mitglieder der Stiftung Lesen nicht zu träumen wagen würden?
Mag sein, es stimmt, Lesen fördert dies und das, macht uns schlau und empathiefähig (und läßt uns, darum geht es doch wohl? im Bewerbungsgespräch besser aussehen), aber das ist nicht der Punkt. Kein begeisterter Leser, niemand, der einmal (wie Bastian) bis zum Morgengrauen aufblieb, weil es so spannend war, wird Bücher aus diesem Grund lesen. Ok, lesen ist nützlich. Aber wir lesen nicht, weil es nützlich ist. Wir würden auch lesen, wenn es nicht nützlich wäre. Vielleicht lesen wir sogar, weil es nicht nützlich ist. Und jetzt kommt’s: Wir würden sogar lesen, wenn es schädlich wäre. Denn wir sind süchtig. Lesen hat etwas mit Nicht-anders-Können, mit Begeisterung zu tun. Mit Hingabe. Mit Faszination. Kurzum, mit Leidenschaft. Und die läßt sich keinesfalls durch Hinweise auf etwaige Verwertbarkeiten wecken. Wem Wein und Rausch nicht behagen, kann sich die Antioxidantien sparen. Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen. Die Leser brauchen keinen Welttag des Buchs. Die Nichtleser auch nicht. Wozu gibt es ihn dann?
Denn warum sollte man die Leidenschaft bei Nichtlesern überhaupt wecken? Für den leidenschaftlichen Briefmarkensammler hält das Sammeln von Postwertzeichen sicher ein ebensolches Entzücken bereit wie für den Leser ein gutes Buch. Trotzdem macht sich niemand Gedanken darum, mehr Menschen fürs Sammeln zu begeistern, obwohl es wahrscheinlich die Wahrnehmung schärft und das optische Gedächtnis schult. Warum sollte man also Nichtleser ans Lesen heranführen und das frustrierende Unternehmen angehen, einen Nichtleser zum Leser zu konvertieren? Wer, außer dem Buchhandel, hat etwas davon? Die Kognitionsfähigkeit läßt sich sicher auch Schachspielen fördern. Es ist wie der verrückte Plan, mehr Hörer für die Klassische Musik zu gewinnen. (Wahrscheinlich fördert Beethoven die Empathiefähigkeit.) Als litte der Konzertbetrieb unter mangelnder Zuhörerschaft. Es gibt genug Mozartfans. Und es gibt genug Leser. Vielleicht gibt es nicht genug Käufer, die die Bücher subventionieren für diejenigen, die sie auch lesen. Aber das ist eine andere Frage. Man darf jedenfalls vermuten, daß Nichtleser aus guten Gründen nicht lesen. Wenn sie dem Lesen etwas abgewönnen, hätten sie längst damit angefangen. Bücher sind ubiquitär, sie liegen überall rum. Es gibt Leihbibliotheken und öffentliche Bücherschränke, es gibt Bookcrossing und das Projekt Gutenberg. Jeder hat heutzutage Zugang zur Literatur, und die Existenz von Büchern ist wahrlich kein Geheimnis. Wer ein Leser ist, der liest. Der braucht keine Aufforderung. Und wer nicht liest? Liest halt nicht. Und wenn schon, laßt sie. Philatelie oder Schach ist auch nicht jedermann Sache. Greif zu, schlag auf, tolle lege. Wenn du willst. Und wenn du nicht willst, spiel lieber Fußball. Das ist gut für die Kondition und die Teamfähigkeit. Warum aber sollte ich jemandem etwas Gutes angedeihen lassen wollen, das der gar nicht haben will? Der Eifer, mit dem Nichtleser zum Buche bekehrt werden sollen, hat etwas Missionarisches. Es wird das Buch gepriesen als ginge es um nichts weniger als um das Seelenheil derer, die (noch) nicht lesen. Nichtleser scheinen ein Dorn im bibliophilen Fleisch der Literaturmissionare zu sein. Es läßt ihnen keine Ruhe.
Kinder, klar. Natürlich muß man Kindern Bücher anbieten. Dringend. Wie soll jemand herausfinden, ob Lesen etwas für ihn ist, wenn die Bücher außer Reichweite sind, in einem Alter, in dem man sie sich nicht selbst beschaffen, ja, noch nicht einmal wissen kann, daß es etwas so Wundervolles überhaupt gibt. Wer Bücher nicht früh kennenlernt, kommt dann später vielleicht auch nicht mehr auf den Trichter. Also die Bücher herangeschafft! Und den Kindern vorgelesen, solange sie es noch nicht selbst können! Aber nicht, um ihre kognitiven Fähigkeiten zu stimulieren. Sondern, um ihnen nichts weniger als die Erfahrung eines Wunders anzubieten. Ob sie diese Erfahrung dann machen, ist eine andere Frage. Vielleicht läßt sie das Wunder kalt. Und halten Sie sich fest: Das wäre gar nicht schlimm. Nur die Möglichkeit, die darf niemandem vorenthalten werden. Und wer das Wunder einmal erfahren hat, wird nie wieder von den Büchern lassen.
Bücher öffnen Türen, nehmen den Leser mit in anderen Welten, in andere Leben, sie berühren, entzücken oder schlagen mit dem Hammer zu…
LG von Rosie
… und sie sind keine Sportgeräte, auch wenn sie manchmal schweißtreibend sein können.
Wir würden sogar lesen, wenn es schädlich wäre.
Ganz genau.
resignieren persiflieren mitregieren integrieren intrigieren publizieren… Bücher gehen nicht tot, nur Leser. Bücherleser wie Porschefahrer: einsam aber selbstbewußt. Und die Kinder: die müssen es am Ende selber herausfinden – die Herrschaft der peer group ist unantastbar.
In eigener Sache:
zurück nach 2 – 4jähriger Sprachlosigkeit.
auf http://grau.dabe-art.org
zur untertänigen Be-gut-achtung