Noch einmal Tabu

Zu meiner These, daß Wörter wie Student auch dort vermieden werden, wo es keinen Grund zum Gendern gibt (also etwa Student im Bezug auf einen männlichen Studenten, oder Studentin, wenn man genau eine Studentin meint), habe ich kürzlich einen weiteren Beleg gefunden. In einer geschäftlichen Mail lese ich die Formulierung:

“Wenn sich ein Studierenden (sic!) bei Ihnen zu einer Masterarbeit meldet und der Anmeldebogen im Prüfungsamt eingeht, wird dies kontrolliert und dann zugelassen.

Das ist aus zweierlei Gründen kurios. Denn erstens hält sich der Verfasser zwar an die Regel, daß das (vermeintlich nur auf Männer zu beziehende) Studenten durch Studierende zu ersetzen sei, wobei er im Sinne meiner These übergeneralisierend die Regel auf den Singular ausweitet. Zweitens aber ist ausgerechnet hier der Singular des Partizips, weil nach Genus unterscheidbar (der/die Studierende) streng verboten (so wie in “Wenn einer eine Reise tut”, oder “wenn einer einen Ast zersächt” — solche Wendungen sind notorisch schwierig zu gendern), denn gemeint sind ja nicht nur männliche Berwerber. Damit konterkariert der Verfasser sämtliche vorherigen Vermeidungsverbiegungen und führt die gute Absicht in grandioser Weise ad absurdum. Er hätte hier genauso gut beim konventionellen Student bleiben können. Daß er es nicht getan hat, zeigt, daß sich die Vermeidungsregel, nach der jegliche Instanz von Student-, ganz gleich ob in Komposita, ob im Singular, im Plural oder in der movierten Form Studentin, durch die entsprechende Form auf Basis von Studierend- zu ersetzen sei, längst von ihrer ursprünglichen Motivation gelöst und verselbständigt hat.

Man sieht an solchen und ähnlichen Fällen, daß Gendern wider den natürlichen Sprachgebrauch ist und den Sprechern in keiner Weise leicht fällt.

Soll das nun heißen, Deutschland braucht den Islam? Oder, ohne den Islam würde Deutschland was fehlen? Oder, der Islam soll in Deutschland heimisch werden? Oder einfach konstatierend, daß er das bereits ist? Im letzten Fall müßte man sich nicht mehr das Maul verreißen, denn Behauptungen von Tatsachen lassen sich überprüfen, fertig.

Weiterhin: Was ist mit Deutschland überhaupt gemeint? Seine geographischen Grenzen? Seine Kultur und Sprache (aber welche Kultur ist das genau, und welche Dialekte, Soziolekte, Jargons und Slangs will man dazurechnen?) Oder ist Deutschland die Summe der Deutschen? Was es nicht leichter macht, denn was sind das überhaupt, die Deutschen?

Man könnte nun sagen, mit gehört zu ist gemeint, wie man landläufig sagt, Peter gehört doch auch mit zum Gartenverein, geäußert gegenüber Leuten, die Peter aus dem Verein raushaben wollen. Aber so einfach ist das nicht. Ein Nationalstaat ist kein Gartenverein, weswegen auch Gleichnisse der Art Die müssen sich hier wie Gäste benehmen barer Unsinn sind. Familien können Gäste haben, Freundeskreise, Vereine, Singgruppen können Gäste haben. Staaten können das nicht. Die Wortwahl zieht ungültige Parallelen und operiert im Großen mit Begriffen aus der Welt des Kleinen. Das kann nicht gutgehen.

Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Das Christentum gehört nicht zu Deutschland. Die Anbetung des großen Spaghettimonsters gehört nicht zu Deutschland. Trekkies gehören nicht zu Deutschland. Helene-Fischer-Fans gehören nicht zu Deutschland. Ja, nicht einmal die Deutschen gehören zu Deutschland. Sie sind halt nunmal da. So wie Juden, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Shintoisten, Sannyasin, Veganer und Ufologen einfach da sind.

Kurz gesagt: Der Satz: Der Islam gehört (nicht) zu Deutschland ist derart verkehrt, daß er nicht einmal falsch ist.

Statt über gehört zu und gehört nicht zu zu schwafeln, sollte man lieber einen Blick ins Grundgesetz werfen. Darin heißt es, Artikel 3, Absatz (3):

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Und weiter, Artikel 4, Absatz (2):

Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Und damit ist eigentlich schon alles gesagt.

Etwas anderes gehört sich nämlich nicht.

Daherkommen

Wann fing das eigentlich an? Seit ein paar Jahren fällt mir auf, daß Bücher in Rezensionen nicht einfach sind oder wirken oder auftreten oder einen ersten Eindruck machen, sondern, und ich finde diese Wortwahl irritierend bis lächerlich: sie kommen daher.
Da heißt es dann, das Buch kommt behäbig daher. Oder: Der Text kommt elegant daher. Oder gediegen. Oder monumental. In jedem Fall drängt sich mir immer das Bild eines gespreizten Adligen auf, der in erster Linie bewundert werden will. Manierierter Gang, manikürte Fingernägel, samtbeschlagener Schmerbauch, vorneweg ein Herold, ein Lakai trägt hinterdrein die Schleppe. Es mag sein, daß das für manche Bücher ein ganz passendes Bild ist; indessen wird das Verb aber so häufig von Rezensenten benutzt, so viele manierierte Adlige unter ihnen kann es eigentlich nicht geben. Wenn mit dem Ausdruck bereits etwas über das Werk ausgesagt sein soll, mag es ja noch angehen. Moby Dick etwa kommt durchaus daher; oder die Buddenbrooks; oder Hoffmanns Elixiere des Teufels. Aber würde man wirklich von einem feinen Fontane oder einem verliebten Eichendorff sagen, daß ihre Werke daherkommen? Fontanes Romane öffnen leise die Tür wie ein alter Diener, der das Licht bringt; Eichendorffs Erzählungen kommen angestolpert wie ein begeistertes Kind. Wieder andere Bücher, könnte man sich denke, schleichen sich an. Oder fallen mit der Tür ins Haus. Was weiß ich. jedenfalls kommen die allerwenigsten daher.
Bücher haben Charakter; Verben haben Charakter. Als Rezensent sollte man darauf achten, daß Verb und Werk zueinander passen.

Schönen Tach noch!

Wann hat das eigentlich angefangen? Beim Bäcker, an der Supermarktkasse, am Bahnkiosk, an der Eisdiele: Und dreißig Cent zurück, bittesehr, SchönenTachnoch. Natürlich hat man das nicht schon immer gesagt, gemurmelt, genuschelt, hingeworfen, diese Phrase, man hat sie nicht schon immer fast unbewußt heruntergeleiert mit der gleichen Mischung aus Pflichtgefühl und Gleichgültigkeit wie im Gottesdienst das WirhabensiebeimHerrn. Irgendwann fing es an, beendete diese Phrase eine Zeit, als man sich einfach bedankte und ging. Wie lange ist das her? Ich erinnere mich nicht mehr. Inzwischen machen es alle, und ich frage mich: Wer hat damit überhaupt angefangen? Und warum?
Einer Vermutung zufolge, die man recht häufig liest, ist es keineswegs eine spontane Erscheinung, sondern wird beispielsweise Kassiererinnen im Supermarkt von der Marktleitung angeordnet. Einer weitergehenden Vermutung zufolge handelt es sich um die Lehnübersetzung des englischen have a nice day. Konkret wird dabei vermutet, daß es von synchronisierten Fassungen englischsprachiger Filme und Serien seinen Anfang nahm, wobei die Partikel noch angepappt wurde, um die Viersilbigkeit beizubehalten.

Was mich an dieser Phrase so stört, ist nicht, daß sie nicht ehrlich gemeint, ist nicht, daß der Wunsch, ich möge einen schönen Resttag haben, nicht aufrichtig vorgebracht sei; das ist ohnehin Quatsch. Wir sagen ja auch Guten Tag einfach so daher, ohne es zu meinen, und wir sagen Auf Wiedersehen, auch dann, wenn wir wissen, daß das nicht wahrscheinlich ist, oder den anderen dorthin wünschen, wo der Pfeffer wächst. (Immerhin sind wir uns aber der wörtlichen Bedeutung der Floskel noch so bewußt, daß wir am Telephon Auf Wiederhören sagen, und Bestatter die Formel aus Pietätsgründen vermeiden, wenn sie sich von Angehörigen verabschieden.) Das allermeiste, was wir so tagtäglich sprachlich absondern, hat weder mit Ehrlichkeit noch mit Informationsübermittlung zu tun. Das allermeiste, was wir sagen, ist irrelevant („Schönes Wetter heute, was?“) oder liefert nicht nachgefragte Informationen („Ich krieg die Krise!“) oder dient nur der gegenseitigen Bekräftigung allseits bekannter Tatsachen („Die Bahn wird auch immer teurer.“) – es hat eine andere als die wörtliche Funktion, dient etwa dazu, ein Gespräch einzuleiten, die eigene Meinung gestärkt zu bekommen oder sich mit einem Gefühlsausdruck Luft zu verschaffen, wobei alles drei und noch weitere Funktionen zusammenfallen können. Oft sagt man einfach nur deshalb etwas, weil es blöd wäre, nichts zu sagen. Etwa, wenn man den Chef der Firma zufällig in der Straßenbahn trifft. Sprechen ist die neutralste Form der Interaktion zwischen zwei Angehörigen unserer Spezies. Mit Sprache akzeptieren wir die Gegenwart des anderen; ein Guten Tag! bedeutet nicht, daß wir dem andern einen guten Tag wünschen; es bedeutet: „Ich nehme dich zur Kenntnis und respektiere wenigstens vorübergehend deine Anwesenheit; ich bin zur Interaktion, zum allermindesten zur zivilisierten Höflichkeit bereit (selbst wenn ich dich nicht ausstehen kann).“

Es gibt Menschen, die solche Floskeln prinzipiell ablehnen, wenn sie nicht ehrlich gemeint seien. Diese Menschen haben die Funktion von Formeln nicht begriffen. Daß unsere Begrüßungsformel Guten Tag lautet, ist gänzlich zufällig, was man schon daran sieht, daß sie sich in vielen Situation durch das von jeder wörtlichen Bedeutung befreite Hallo ersetzen läßt. Zu sagen, Hallo sei nicht aufrichtig gemeint, ist sinnlos. Hallo leistet reine Funktion, weiter nichts. Es gibt auch Menschen, die meinen, als Ungläubiger dürfe man nicht Gottseidank sagen. Dieser Forderung liegt derselbe Irrtum zugrunde: Der Ausdruck der Erleichterung könnte von einer beliebigen anderen Form geleistet werden. Der Spanier sagt für unser “hoffentlich” ojalá, ruft damit aber keineswegs Allah um Beistand an. Die Formel zur Begrüßung ist nunmal wörtlich ein Wunsch; aber ihre Funktion ist nicht die, etwas zu wünschen. Und wo steckt beispielsweise der Wunsch in der erodierten Form Tach!?

Nirgendwo zeigt sich das besser als dort, wo Floskeln bis zur Unkenntlichkeit ihrer wörtlichen Bedeutung verschliffen werden. Allah ist im spanischen ojalá nicht mehr zu erkennen; niemand, der Ciao oder Servus sagt, empfiehlt sich aufrichtig als Diener; auch gänzlich unreligiöse Menschen sagen in Bayern Pfüatdi ((Gott) behüte dich) und andernorts Tschüß (adieu, adiós). Wird die wörtliche Bedeutung solcher Formeln unkenntlich, bleibt nur ihre Funktion übrig: Man könnte auch Schmackofatz oder Vitzliputzli sagen, es würde die Funktion der Begrüßung nicht besser oder schlechter erfüllen als Guten Tag.

Was mich an Einen schönen Tach noch stört, ist etwas anderes, das indessen wirklich etwas mit Ehrlichkeit zu tun hat. Man darf vermuten, daß Bedien- und Kassenpersonal die Formel nicht freiwillig verwendet, sondern daß ihr Einsatz aus einem Geschäftskalkül heraus erfolgt, dessen Absicht freilich durch allzu liebloses Daherrotzen unterlaufen wird. Dann hätte die Schönentachnoch-Pandemie eine Parallele in der Mein-Name-ist-Herta-Hohlsprech-was-kann-ich-für-Sie-tun-Pandemie. Man lese sich einmal durch, was sich Verkaufsexperten so alles an Tips und Tricks ausgedacht haben. Am Telephon sollen die Mitarbeiter lächeln, weil man das an der Stimme hört und ihr einen wärmeren Klang verleiht; sie sollen den Kunden mit Namen anreden, weil jeder gern den eigenen Namen hört und sich geschmeichelt fühlt; sie sollen den Kunden nach weiteren Wünschen fragen, vielleicht sogar etwas vorschlagen („Darf es noch ein Teilchen zum Kaffee sein?“), weil Ablehnen immer schwerer fällt, als von vorneherein keinen Wunsch zu äußern, und so weiter. Ich finde solche Spielchen widerwärtig. Und ich finde es widerwärtig, Mitarbeitern Floskeln in den Mund zu zwingen, die sie nie freiwillig in denselben genommen hätten. Kassenkräfte müssen sich vorkommen wie Aufziehpuppen. Ich stolpere jedesmal darüber, es ist wie eine sprachliche Fliege, die man ständig fortwedelt, aber sie kommt immer wieder zurück. Soll man darauf etwas erwidern? Ihnen auch oder Ebenso oder Gleichfalls? Es ist eine aufgezwungene Interaktion, die die linguistische Pragmatik im deutschen Sprachraum nicht vorgesehen hat. Es ist, als stellte sich mir die Kassiererin plötzlich mit Namen vor. Oder als streckte mir der Kioskbesitzer zum Gruß die Hand hin. Es ist ein Skript, das hier unbekannt ist, und auf das man deshalb jedesmal mit einer Improvisation zu antworten gezwungen wird. Danke, auch so Es ist anstrengend. Am schlimmsten aber ist, daß solche Verordnungen rasch Nachahmung finden und über den Bereich, wo sie absichtsvoll eingeführt wurden, hinauswuchern. Unabsichtlich. Oder mit ganz neuen Absichten. Was sagt der Oberdachlose, wenn ich ihm nichts gebe? Richtig:
Schönentachnoch! (Lächeln nicht vergessen!)

Tabu

Neulich eine Geschäftsmail bekommen, die mich darüber informiert, daß «eine weitere Studierende zur Klausur zugelassen» sei.

Nun hätte der Absender ja auch einfach «Studentin» schreiben können. Da es hier nur um eine einzige Person weiblichen Geschlechts geht, entfällt jede Not, einen Begriff zu finden, unter dem sich mehrere Menschen unterschiedlichen Geschlechts angesprochen fühlen. Warum also die verschraubte Formulierung «eine Studierende»?

Ich denke es mir so: Sprecher des Deutschen fassen inzwischen jede Form des Lexems Student (ebenso wie Schüler → «Lernende»; Radfahrer → «Rad Fahrende» etc.) als verpönt auf – auch in den Fällen, in denen nur ein einzelner Student oder eine einzelne Radfahrerin (oder einheitliche Gruppen von Studenten oder Radfahrerinnen) gemeint sind. Unter dem beständigen Druck, nicht mehr «Studenten» zu sagen, gerät das Wort unter den Zwang eines Tabus, das auch in solchen Fällen wirksam ist, wo der Zweck der Ächtung fehlt. Für die Sprecher ist es natürlich einfacher, das Wort Student samt der Ableitung Studentin sowie in allen Komposita (Studentenschaft, Studentencafé, Studentenwerk etc.) zu streichen und durch Studierenden zu ersetzen.

Wörter wie Student, Fußgänger, Künstler, Arbeiter werden, könnte man sich denken, über kurz oder lang ganz aus dem Lexikon verschwinden und durch Studierende, zu Fuß Gehende, Kunstschaffende und Arbeitende ersetzt werden. Das Ableitungssuffix -er zur Bildung von Nomina agentis bliebe dann nur noch zur Bezeichnung unbelebter Agentia wie dem Bohrer, dem Rechner oder dem Schraubenzieher übrig – falls es bis dahin nicht schon unangebracht ist, Werkzeuge mit Männern gleichzusetzen.

Parsen Sie bitte diesen Satz

Ego enim adsentior eorum quae posuisti alterum alteri consequens esse, ut, quem ad modum, si, quod honestum sit, id solum sit bonum, sequatur vitam beatam virtute confici, sic, si vita beata in virtute sit, nihil esse nisi virtutem bonum.

Knifflig, was? Dies ist einer von diesen Sätzen aus der Feder des Meisters Cicero, bei dem man bei der Lektüre der Periode das dumme Gefühl hat, nach Ab- und Auftauchen aus der Verschachtelung nicht wieder in den Hauptsatz aufgestiegen zu sein, sich mithin irgendwo auf halbem Wege verheddert zu haben. Vielleicht hilft da eine Klammerung (zur besseren Übersicht sind die Klammern numeriert):

Ego enim adsentior eorum quae posuisti alterum alteri consequens esse, [1ut, [2quem ad modum, [3si, [4quod honestum sit4], id solum sit bonum3], sequatur2] [3vitam beatam virtute confici3], sic (sequatur)1], [3si vita beata in virtute sit3], [2nihil esse nisi virtutem bonum.2]

Im sogenannten Einrückverfahren:

ut
    quemadmodum
         si
             quod honestum sit
         id solum sit bonum
    sequatur
         vitam beatam virtute confici
sic (sequatur)
         si vita beata in virtute sit
    nihil esse nisi virtutem bonum

Eine besondere Schwierigkeit, die Kenner allerdings für eine besondere Raffinesse und stilistische Geschmeidigkeit des berühmten Redners zu halten geneigt sind, besteht darin, daß im letzten si-Satz die Reihenfolge der Einbettung umgekehrt wird, so daß, ehe der sic (sequatur)-Satz zu Ende geführt, ein weiterer Nebensatz eingeschoben wird. (Sie sehen, man fängt unwillkürlich an, diesen Stil zu kopieren.) Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Auslassung ausgerechnet des Verbs im obersten Gliedsatz, also im ut-Satz, das aus dem Vergleichssatz (quemadmodum … ) in der Parallele ergänzt werden muß.

Versuchen wir eine erste – zwar extrem wörtliche – Übersetzung, die aber die Verschachtelung eins zu eins nachzeichnet:

Ich stimme nämlich dem zu, was du behauptet hast, daß nämlich das eine aus dem anderen folge, so daß so, wie, wenn, was anständig sei, allein gut sei, folge, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, so auch, wenn das glückliche Leben in der Tugend liege, daß nichts gut sei außer der Tugend.

Mh. so daß so, wie, wenn, was – das ist noch kein Deutsch. Die etwas schwerfällige (tut mir leid, Cicero) id … quod-Konstruktion kann man auf Deutsch prima durch eine Nominalisierung ersetzen (das, was anständig ist = das Anständige. Durch Ergänzung des zu Ergänzenden, sowie ein paar Verdeutlichungen der Vergleichskonstruktion wird es noch durchsichtiger:

[…] so daß in der gleichen Weise, wie daraus, daß das Anständige allein gut sei, folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, daraus auch folgt, daß, wenn das glückliche Leben in der Tugend liegt, nichts gut ist außer der Tugend.

Man ist im Deutschen außerdem gewohnt, die so … wie-Konstruktion umgekehrt aufzuziehen als es im Lateinischen üblich ist. Also:

[…] so daß daraus, daß das Anständige allein gut ist, ebenso folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, wie auch, daß, wenn das glückliche Leben in der Tugend liegt, nichts gut ist außer der Tugend.

Nominalisierungen haben den Vorteil, daß sie ganze Nebensatzkonzepte in einem einzigen Wort bündeln, sich besser in einem komplexen Gedanken unterbringen lassen und also beim Lesen auch leichter interpretiert werden können. Das Verfahren hat aber seine Grenzen:

[…] so daß aus dem Alleinanspruch des Anständigen auf das Gute ebenso folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, wie auch, daß die Tugendbasiertheit des glücklichen Lebens den Alleinanspruch der Tugend auf das Gute begründet.

(Die Stelle ist in Tusc. 5.21 zu finden. Es geht um die Frage, ob die Tugend allein zum glücklichen Leben ausreicht.)

Asylant

Trabant Erdbegleiter/in
Pedant Erbsenarithmetiker/in
Mandant Mandbewerber/in
Kommandant Mitmandbewerber/in
Intendant Impresario/ne
Elefant Dickhäuter/in Lebewesen mit Rüsselhintergrund
Gigant Maximalwüchsige(r)
Komödiant Harald/in Schmidt
Proviant Verpflegungsbevollmächtigte(r)
Denunziant Verhaftungshelfer/in
Fabrikant Fabrizierende(r)
Praktikant Coffee Facility Manager
Krokant Knusperflakes
Simulant Fachmann/frau für Rechenmodelle und Simulation
Querulant Cross-country Läufer/in
Informant Sportberater/in
Konsonant Mittonsänger/in
Garant Garprozeßbeaufsichtigende(r)
Hydrant Getränkebevollmächtigte(r)
Lieferant Lieferando-Mitarbeiter/in
Emigrant Zugvogel/Zugvögelin
Immigrant Geldgeber/in des Immi-Forschungsvorhabens
Aspirant Schmerzmittelbewerber/in
Deodorant Axillary Control Manager, Höhlenpfleger/in
Ignorant Erkenntniseingeschränkte(r)
Ministrant Ministerialbewerber/in
Demonstrant Beweisführer/in
Sympathisant Sympatex®
Passant Paßbewerber/in
Croissant (enthält Laktose; enthält Gluten; kann Spuren von Ei, Nüssen, Sesam und Soja sowie von allen anderen Schalenfrüchten enthalten)
Repräsentant Latexnachhaltigkeitsexperte/expertin
Protestant Prüfbefürworter/in
Dilettant PoH (Person of Hobby)
Debütant Ersti
Sekundant Zweiti
Adjutant Helferlein/in
Sextant Sechsti

Orthographisches (3): Von Schwierigkeiten & Reformen

In einem alten Spruch heißt es: Die Wiederholung ist die Mutter der Bemühungen (repetitio est mater studiorum). Das mag besonders dort gelten, wo das Ziel der Bemühungen weniger im Begreifen, als im wiederholten richtigen Handeln besteht, also dort, wo eine Fertigkeit so lange trainiert, eine Regel so lange angewandt werden soll, bis sie ganz verinnerlicht ist und ihre richtige Anwendung kein Überlegen mehr voraussetzt. Ein solcher Bereich ist etwa das Lernen unregelmäßiger Verben, oder etwa das Autofahren, wo die Wahl des richtigen Ganges, das Blinkersetzen, das Kuppeln nicht erst nach reiflicher Überlegung, sondern reflexhaft ausgeführt werden muß; es gilt für andere Tätigkeiten, wie Segeln, Klettern, Fallschirmspringen; und es gilt auch beim Schreiben, in der Anwendung von Orthographieregeln. Das Lernen fällt um so leichter, je zahlreicher die relevanten Situationen auftreten. Für die Bewohner einer Ebene ist das Am-Berg-Anfahren schwerer zu lernen als für den Fahranfänger, der in einer Bergregion fahren lernt, da die Situationen, in denen es eingeübt werden kann, für ersteren selten sind. Unregelmäßige Verben sind deshalb leicht zu erlernen, weil es gerade die häufigsten Verben sind, die Unregelmäßigkeiten zeigen, und man daher um ihren ständigen Gebrauch nicht herum kommt. Durch ihren häufigen Gebrauch aber prägen sie sich gerade ein.

Und in der Rechtschreibung heißt das, daß eine Schreibung um so schwerer anzutrainieren ist, je seltener sie vorkommt. Von daher ist es völlig abwegig, sich Gedanken über den Erwerb der Regeln für die Schreibung von s, ss und ß zu machen: Die Situationen, in denen diese Entscheidung gefällt werden muß, sind derart zahlreich, daß ihre reflexhafte Beherrschung bei einigermaßen regelmäßigem Schreiben nicht lange auf sich warten lassen wird. Die Schreibenden wußten vor der Reform, daß sie wußten, mußten, Mus, und Ruß schreiben mußten – ohne darüber nachdenken zu müssen, ebenso wie niemand beim Schalten darüber nachdenkt, in welcher Reihenfolge Kupplung, Gaspedal und Schalthebel in Gebrauch zu nehmen seien. Freilich wußte noch nie jemand, wie man Hawaii, Spaghetti oder Chicoree schrieb. Aber wer empfände es als Zumutung, als peinlich oder unwürdig, bei so seltenen und gefühlsmäßig „schwierigen“ Wörtern zum Wörterbuch greifen zu müssen?

Regeln wie die, wann welches S-Zeichen zu schreiben ist, haben daher keinerlei Vereinfachungsbedarf. Das Ziel des Schreibenlernens ist ohnedies nicht, die Regeln anwenden zu können, sondern unbewußt richtig zu schreiben, so wie man sich auch beim Autofahren nicht mehr Gedanken über die Reihenfolge von Kupplung und Gas machen darf. Und auch wäre es wohl ein mühsames Geschäft, bei jedem dass die Nach-Kurzvokal-kommt-Doppel-s-Regel zu memorisieren und anzuwenden. Schreiben lernen heißt automatisch richtig schreiben lernen.

Wer eine komplexe Rechtschreibung nur wegen ihrer Komplexität anprangert, möge sich nur einmal Schriftsysteme ansehen, deren Erwerb ein Leben dauert, weil zigtausende von Zeichen memoriert werden müssen, und sich dann fragen, ob die Schwierigkeiten, denen deutsche Schüler ausgesetzt sind, in irgendeinem Verhältnis stehen zu den Leistungen, die chinesischen oder japanischen Schülern (und Erwachsenen, das Lernen neuer Zeichen hört dort nie auf) abverlangt werden. Das Argument ist nicht zwingend, relativiert aber die Umstände. Im übrigen, um einem weitverbreiteten Mißverständnis entgegenzuwirken: Sicherlich ist das Schreiben – wie alle komplexeren Tätigkeiten – eine Frage des Talents. Allerdings gilt dies kaum in dem Maße, daß nur den Talentierten das korrekte Schreiben gelänge: Jeder und jede kann schreiben lernen. Einzig der dafür erforderliche Aufwand mag sich je nach Veranlagung von Schüler zu Schüler unterscheiden. Die einzige Ausnahme stellen echte Legasthenie, SLI (specific language impairment) Agraphie nach Gehirntrauma und ähnliches dar – Störungen, die nie vollständig heilbar sind, und für die die Betroffenen überhaupt nichts können. In solchen Fällen wäre aber auch der allereinfachste Fall einer Alphabetschrift – die phonemische Schrift – eine schier unüberwindlich schwierige Materie. Legastheniker sind nicht etwa außerstande, ein paar Regeln zu lernen, ihr Problem reicht tiefer, und sie machen Fehler, die selbst aus der Sicht eines Analphabeten widersinnig erscheinen müssen. So haben sie etwa allergrößte Schwierigkeiten, aus der Beobachtung der Folge von Lauten eines Wortes auf die Reihenfolge der Buchstaben zu schließen, und schreiben demnach wirre Folgen von Lauten, etwa utlena statt Lauten. Abseits dieses speziellen Problems, das in einer schriftlosen Kultur gar nicht bemerkt würde, sind sie in keiner Weise behindert. In einer hochgradig auf Schrift basierenden Kultur sehen sie sich natürlich auch in Fächern wie Mathematik, Physik oder Biologie den größten Hindernissen ausgesetzt. Zu meinen, einem Legastheniker sei mit einer systematisierten, vereinfachten Rechtschreibung geholfen, ist ein großer Irrtum; für alle gesunden Schüler aber gibt es überhaupt keine Entschuldigung, warum sie nicht eine Handvoll arbiträrer Regeln lernen können sollten. Jedenfalls ist der Aufwand, der von ABC-Schützen und ihren Lehrern betrieben werden muß, das Schreiben zu erlernen, gegenüber den Energien, die in das Projekt „Neue deutsche Rechtschreibung“ seit Mitte der achtziger Jahre geflossen sind, ein alberner Klacks.

Auf der anderen Seite ist es zugegebenermaßen geradezu lächerlich, eine komplexe Rechtschreibung als Erziehungsmittel und intellektuellen Prüfstein aufzufassen, und zu jammern, mit der alten Rechtschreibung gehe ein Stück Tugend, ein Stück Anspruch, ja, ein Stück Kultur dahin. Warum, so muß man doch fragen, steigern wir dann nicht die Komplexität, warum machen wir die Orthographie nicht noch schwieriger, damit sich die Jugend an ihr erprobe und an ihr wachse und reif werde? Wäre das nicht die Konsequenz derer, die um die Bildung der Jugend besorgt sind, weil die neuerdings dass und muss und so genannt schreiben soll? Es spricht zwar nichts für die alten Regeln als solche; es spricht aber einiges dagegen, sie ändern zu wollen. Das heißt, die Vorteile der neuen Regeln, oder irgendeiner anderen Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung sind so minimal, daß es am besten wäre, man ließe alles beim alten. Denn es gibt auch noch den anderen Spruch, nämlich daß zweimaliges Wiederholen mißfällt: Bis repetita non placent. Eine Rückkehr zu den alten Regeln jetzt, wo der Schaden schon angerichtet ist, erscheint denn auch wie ein Schildbürgerstreich, so leid es mir um die Schreibung ist, mit der ich selbst großgeworden bin (und die ich nicht mehr ablegen werde).

Zu guter letzt noch zwei gänzlich utopische Vorschläge für eine wirklich systematisierte Rechtschreibung, der eine gemäßigt, der andere radikal. Zuerst der radikale. Erstens: Lang- und Kurzvokale werden systematisch auseinandergehalten, etwa nach Vorbild des Finnischen durch Doppeltschreibung des Langvokals, oder nach dem Vorbild des Ungarischen und Tschechischen mit Akzent auf dem Langvokal (das würde aber neue Tastaturen erfordern, die auch Umlaute mit Akzent, oder wie im Ungarischen mit zwei Akuten zuließen). Sämtliche Konsonantverdopplungen (außer natürlich die mit einer Morphemgrenze zwischeneinander) werden dadurch überflüssig. Zweitens: Stimmhafter s-Laut wird mit z, stimmloser mit s geschrieben; das überflüssige z als Kombination von t und s, sowie das noch skurrilere tz werden abgeschafft. Sch wird durch ein kürzeres Zeichen ersetzt (das spart Zeit, Druckerschwärze, Papier und Tipparbeit). Wie sähe nun ein solcher Text aus? Jédenfals nicht mér glaich als Deutś erkenbár. Áber meinen zí nicht, das man zich śnel daran gewőnen könte? Natűrlich müste man auch fuks und akse vereinfachen. Dí śreibung von eu und ei kan – da zí eindeutig und óne ausnáme ist, beibehalten wérden. Diftonge zind zówízó imer lang.

Weniger gewöhnungsbedürftig, sofort einführbar, ohne jeden Aufwand zu erlernen und auch schon vielerorts praktizierte Wirklichkeit: die Kleinschreibung. Nur noch Eigennamen und Satzanfänge groß. Doch dieses Thema soll uns ein andermal beschäftigen.

Orthographisches (2): S-Laute des Deutschen und ihre Schreibung

Orthographisches (1): Sprachregeln und Schreibregeln

Die Hauppt-Punckte der Reformae / trefflichst dar-gestellet / unt mit eyn pfiffige Critica / nicht ohn mancherley bißig Spott / gar kurzweylig commentiret

Hinweis für Allergiker

Es heißt übrigens nicht *die (pl.) Pollen, sondern der (sg.) Pollen. Hieße es die Pollen, was wäre dann der Singular, ein Poll? Eine Polle? Pollen ist ein Massennomen wie Sand oder Kies und besteht — so wie Sand aus Sandkörnern und Kies aus Kieseln besteht — aus vielen mikroskopisch kleinen Pollenkörnern. Ein Pollenkorn repräsentiert die haploide Generation beim Generationswechsel der Pflanzen, ist also der (männliche) Gametophyt. Der weibliche Gametophyt heißt Embryosack, verbleibt auf der Mutterpflanze und ist allergologisch wie linguistisch unbedenklich.

Phonem, Phon, Allophon

Eine der griffigsten Definitionen von Phon und Phonem habe ich gleich zu Beginn des Studiums gehört, in meiner allerersten Veranstaltung überhaupt („Einführung in die synchrone Sprachwissenschaft anhand der deutschen Gegenwartssprache“). Sie lautet:

Ein Phonem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit auf der Ebene der Langue (des Sprachsystems).

Ein Phon ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit auf der Ebene der Parole (der tatsächlich statthabenden Rede).

Alles andere, Allophon, Realisierung, Opposition und der ganze Rest, folgen logisch aus dieser Bestimmung. Das ganze Studium bin ich immer gut gefahren damit, und wahrscheinlich würde ich sie immer noch unterschreiben, wenn ich nicht eines Tages selbst mit der Aufgabe betraut worden wäre, ein Einführungsseminar zu unterrichten.

Da dämmerte mir: Irgend etwas konnte nicht richtig sein. Die Definition besagt, daß Phone echte Sprachlaute sind, wie sie in der Wirklichkeit begegnen, die gehört werden, gemessen und zerlegt werden können, und die, jeweils für sich, einen zugrundeliegenden Lautplan, eine Art Lautvorschrift befolgen oder realisieren, nämlich das der Regelebene angehörende Phonem. Das Phonem kann man weder hören noch messen noch zerlegen. Es existiert nur als (vom Linguisten erschließbare) Regel, deren Anwendungsergebnisse wiederum die Phone sind. So weit so klar.

Dann ist da aber noch die Sache mit der Allophonie. In allen Sprachen (in manchen öfter und komplizierter, in anderen weniger und einfacher) stößt man auf das Phänomen, daß manche Phoneme nicht ein, sondern gleich mehrere Phone festlegen, und zwar je nach dem, in welchem Kontext anderer Phoneme das fragliche Phonem realisiert werden soll: Sprachlaute beeinflussen einander, und zwar tun sie das in regelmäßiger Weise. Man versäumt eine wichtige Verallgemeinerung, wenn man zwei Laute, die auf regelmäßige Weise miteinander korrespondieren, als zwei unabhängige Laute auffaßt. Tatsächlich sind sie schicksalhaft so eng miteinander verknüpft, daß man sie besser als zwei Erscheinungsformen desselben zugrundeliegenden Dings ansieht. Drei Illustrationen dazu, zwei aus einem anderen Bereich als dem der Sprachwissenschaft, eines aus der deutschen Standardsprache:
Die Uniformen des Zugbegleitpersonals der Deutschen Bundesbahn hat zwei klar geschiedene Formen, eine die aus Blazer, Hose und einem schirmlosen Hütchen besteht, eine andere mit Jacket, Hose und einer Schirmmütze als Hauptzier. Es wäre nun ziemlich ungeschickt, davon zu sprechen, daß die DB einfach zwei verschiedene Uniformen hat; insbesondere könnte man mit einer solchen Beschreibung den Sinn von zwei Uniformen gegenüber einer einzigen Uniform nicht erfassen. Bei genauerem Hinsehen fällt aber eine bestimmte nichtzufällige Verteilung auf: Weibliche Angestellte tragen das Hütchen, männliche die Schirmmütze. Das heißt, welche der beiden Uniformen erscheint, hängt vom Geschlecht dessen ab, der sie trägt. (Natürlich könnte es auch andersherum sein und das Geschlecht von der verwendeten Uniform abhängen; in der Humanbiologie ist das der eher unwahrscheinliche Fall, der aber in der Linguistik sorgfältig geprüft werden muß.) Es ist nun zweckmäßig, nur von einer einzigen DB-Uniform zu sprechen, deren Erscheinungsbild in voraussagbarer Weise variiert: Das Mützchen kommt auf Frauen-, die Mütze auf Männerhäuptern vor; wo das eine vorkommt, kommt das andere nicht vor und umgekehrt. Eine solche Distribution (Verteilung) zweier Erscheinungsformen desselben „Urdingens“ nennt man komplementär.
Zweites Beispiel. Die Buchstaben des Lateinischen Standardalphabets erscheinen immer in einer von genau zwei Formen, die man Groß- bzw. Kleinbuchstaben nennt. Obwohl das so ist, spricht man immer nur von einem einzigen Buchstaben, sagt also etwa, das Alphabet habe 26 Buchstaben, nicht ihrer 52, undsoweiter. In phonologischen Termini würde man für jeden Buchstaben von einem einzigen Phonem reden, das zwei Realisierungen hat, einmal als Klein- ein andermal als Großbuchstabe. Wo welche Form des Buchstabens erscheint, ist eine Frage der jeweiligen Orthographie und (mehr oder weniger) genau geregelt. Es gibt eine Menge von Kontexten für Großbuchstaben (Anfang von Eigennamen, Satzanfang, nie außerhalb vom Wortanfang etc) und eine zweite Menge von Kontexten für Kleinbuchstaben, und wenn die DUDEN-Redaktion ordentlich gearbeitet hat, überschneiden sich die zwei Mengen nicht. Auch die Groß- und Kleinbuchstaben des Lateinischen Alphabets sind komplementär distribuiert. Wo ein Großbuchstabe steht, steht kein Kleinbuchstabe, und umgekehrt.
In natürlichen Sprachen ist es nun sehr häufig der Fall, daß bestimmte Laute sich verhalten wie DB-Uniformen und Buchstabenformen, nicht, daß sie Mützchen tragen, sondern daß sie komplementär distribuiert sind.
An dieser Stelle kommt in allen Einführungen zum Thema unweigerlich die Sprache auf den deutschen ch-Laut. Dieser Text ist keine Ausnahme.
Der Laut am Ende des deutschen Worts Bach und der Laut am Ende des deutschen Worts ich kommen jeweils in genau dem Kontext vor, in dem der andere nicht vorkommt. Der Bach-Laut kommt nur nach den Vokalen a, o und u vor; der ich-Laut in allen anderen Kontexten vor. Ebenso wie man von einer DB-Uniform und einem Buchstaben sprechen kann, kann man das ch in Bach und vom ch in ich als ein einziges Dingens auffassen, das noch kein Laut ist, das überhaupt nichts hör- oder meßbares ist, aber in Abhängigkeit von seiner Position durch die beiden Erscheinungsformen ch-in-Bach und ch-in-ich als konkreter Sprachlaut realisiert wird. Das fragliche Element ist nicht so sehr dadurch charakterisiert, was es ist oder wie es realisiert wird, sondern vor allem dadurch, was es nicht ist, und daß es sich von anderen Elementen und ihren jeweiligen Realisierungen unterscheidet. Man könnte dem Ding auch eine Nummer geben und es grün anmalen. Man könnte es natürlich auch rot anmalen. Wichtig ist nicht, welche Nummer, oder welche Farbe, sondern nur, daß es anders ist als die anderen, in linguistischer Sprechweise: Daß es zu anderen Elementen in Opposition steht.
Opposition ist das genaue Gegenteil der komplementären Verteilung. Zwei Elemente stehen in Opposition zueinander, wenn sie im selben Kontext vorkommen können und das Auftreten des einen und nicht des anderen, mit einem Wort, der Unterschied zwischen ihnen bedeutsam ist. So ist der Unterschied zwischen den im Deutschen Standardalphabet durch und repräsentierten /k/ und /t/ bedeutsam, da er Bedeutungen wie die von Kasse und Tasse unterscheidet. /k/ und /t/ kommen hier im selben Kontext /__ase/ vor. Natürlich heißt das nicht, daß sie im selben Kontext gleichzeitig vorkommen und sich auf die Füße treten, sondern daß sie dort ein Gegensatzpaar bilden: Kasse vs Tasse. Zwei Ketten von Elementen, die sich wie Kasse/Tasse nur in einer (unteilbaren) Stelle unterscheiden, nennt man übrigens ein Minimalpaar.
Elemente, die Bedeutungen unterscheiden (also im selben Kontext vorkommen, also in Opposition stehen), nennt man Phoneme. Wobei wir bei Teil eins der eingangs erwähnten Definition angekommen sind.
Wie verhält es sich nun mit dem Bach-Laut und dem ich-Laut? Sie kommen in getrennten Kontexten vor, stehen also nicht in Opposition. Ihr Auftreten ist vorhersagbar, weswegen sie nicht bedeutungsunterscheidend sein können. Mit anderen Worten, es gibt im Deutschen keine zwei Wörter unterschiedlicher Bedeutung, die sich nur durch die Differenz von ich-Laut einerseits und Bach-Laut andererseits unterschieden. Diese bilden kein Minimalpaar. Wohl aber bilden sie gemeinsam, bzw bildet das Phonem, das sie beide je nach Kontext realisieren, Minimalpaare mit anderen, quasi unbeteiligten Elementen: Nacht und nackt (Bach-Laut gegen /k/, die Schreibung ist irrelevant); nüchtern und Nüstern (ich-Laut gegen /s/). Diese Erscheinung nennt man Allophonie, die zwei (oder mehr) durch Kontext bedingten Realisierungen eines einzigen Phonems Allophone.
Und jetzt zum eigentlichen Problem. Phoneme sind abstrakte Einheiten, die nur über ihre Realisierungen in Erscheinung treten. Diese Realisierungen sind die Phone, bzw die Allophone. Wenn man diese nun als konkrete, beobachtbare, meßbare, durch Sprecher produzierte Lautereignisse auffaßt (also quasi im Sinne von Verwirklichungen platonischer Ideen), kommt man in gewisse Schwierigkeiten, die Allophonie betreffend. Denn: Keine zwei Realisierungen desselben Phonems sind jemals gleich. Nicht nur die Sprecher unterscheiden sich in winzigen anatomischen und artikulatorischen Details; auch keine zwei von einem einzigen Sprecher nacheinander produzierten Realisierten eines Phonems sind wirklich identisch. Das t in Tasse kann ein bißchen mehr oder weniger stimmhaft, ein bißchen mehr oder weniger aspiriert, ein bißchen länger odr kürzer, ein bißchen dentaler, ein bißchen alveolarer artikuliert sein. Stets gibt es winzige Abweichungen. Alle diese winzigen Unterschiede sind natürlich nicht signifikant, sie verändern nicht die Bedeutung. Aber sie ließen sich schön praktisch als Realisierungen eines einzigen Phonems /t/ zusammenfassen. Also sind es Allophone von /t/?
Dann hätte aber nicht nur /t/, sondern jedes Phonem unendlich viele Allophone; und eine regelmäßige Verteilung wie man sie beim ich-Laut und beim Bach-Laut beobachtet, ginge in einem Wust von unsystematischer, sprunghafter Varianz verloren. Das ist ein bißchen so, als müßte man jedes lose Fädchen, jeden Kekskrümel, jede Sitzfalte und jeden Dreckspritzer als eigene Ausgabe der DB-Uniform auffassen, gleichberechtigt mit den weiblichen und männlichen Formen. Oder als müßten wir jeden verrückten Einfall irgendeines Schriftgraphikers, hier ein bißchen mehr Strichstärke, hier größere Punzen, dort kleinere Serifen, neben Versalien und Kleinbuchstaben als je eigenständige Buchstabenformen ansprechen. Wir könnten dann die Generalisierung, daß es prinzipiell zwei Formen gibt, nicht mehr aufrechterhalten.
Daher können Allophone noch nicht die tatsächlichen Realisierungen ihres Phonems, noch keine wirklichen, meß- und hörbaren Schallereignisse sein. Eine zweite abstrakte Ebene muß her, zwischen Phonem und Laut, eine Ebene, auf der die systematischen Zuordnungen zwischen Allophonen und Phonemen vorgenommen werden. Die tatsächlichen Realisierungen lassen sich ja wieder den Vertretern der systematischen Varianz zuordnen, beide Uniformformen haben ihre je eigenen Realisierungen in Gestalt von individuell verschmutzten, abgetragenen oder sonstwie veränderten Kleidungsstücken, dennoch bleiben sie als männliche oder weibliche Form erkennbar; der Bach-Laut und der ich-Laut haben je für sich ihre eigenen Winzvarianzen, ohne deshalb aufzuhören, Bach- oder ich-Laut zu sein. Die Varianz der tatsächlichen Laute wimmelt um das Zentrum dessen herum, was die Allophone artikulatorisch vorgeben:
Das Phonem ist die kleinste bedetungsunterscheidende Einheit auf der Ebene des Sprachsystems. Es wird realisiert durch Allophone, in denen sich eine systematische Varianz manifestiert. Allophone schließlich werden durch Lautereignisse realisiert, die zufälligen winzigen Abweichungen unterworfen sind.

Starke Verben im Französischen

Kürzlich beim Stöbern auf der Internetseite der Gesellschaft zur Stärkung der Verben fiel mir wieder ein, wie mein Banknachbar und ich in der Oberstufe im Mathematikunterricht ein neues französisches Verb erfanden. Ausgangspunkt war, daß wir uns angesichts der phantastischen Ereignisse an der Tafel des öfteren ratlos ansahen; irgendwann sagte einer von uns bei einer solchen Gelegenheit Moi, je raffe rien., womit auf Pseudofranzösisch gemeint war, daß die analytische Geometrie in vektorieller Darstellung momentan vor allem eines darstellte, nämlich eine Überforderung unserer intellektuellen Kapazitäten. Als Sprachenerfinder, Grammatikliebhaber und Wörternarr nahm ich das Spiel natürlich begeistert auf. (Vielleicht, denke ich in diesem Moment, wäre es an der Zeit, mal etwas über diese Dinge, über das Spracherfinden nämlich, zu schreiben. Schließlich verdankte ich dieser Liebhaberei mein späteres Studienfach, meinen Studienort und damit alles andere, was an solchen Entscheidungen als Folge noch dranhängt. Ich weiß nicht, warum ich mich hier noch nie damit beschäftigt habe; vielleicht, weil die Folgen wichtiger sind als die Ursache, zumal ich heute an meinen Erfindungen nicht mehr arbeite, seit Jahren schon nicht mehr. Aber zurück zum Thema.) Aus dem Ausdruck Je ne raffe rien ließ sich natürlich sofort ein vollständiges Paradigma zum Stamm raff- herleiten, das wir uns zunächst als das eines regelmäßigen Verbs auf -er, nämlich raffer dachten

je raffe
tu raffes
il/elle raffe
nous raffons
vous raffez
ils/elles raffent

Mit dem Passé Composé: j’ai raffé

Doch dann entdeckten wir (lange, bevor von einer Gesellschaft zur Stärkung der Verben die Rede sein sollte), die Freude an der Verbstärkung, was im vorliegenden Fall bedeutete, daß wir den Stamm raff- nun in eine andere Konjugationsklasse verschoben. Aus raffer wurde so ein raffir, das wie finir gebeugt wurde:

je raffis
tu raffis
il/elle raffit
nous raffissons
vous raffissez
ils/elles raffisse

PC: j’ai raffi

Damit war dann ein hübscher Subjonctif möglich, der sich fast in allen Formen vom Indicatif unterschied:

que je raffisse
que tu raffisses
qu’il/elle raffisse
que nous raffissions
que vous raffissiez
qu’ils/elles raffissent

So war das also damals. Natürlich hätte man noch einen Schritt weiter gehen und sich für den Stamm raff- eine Konjugation ausdenken können, die der von sortir ähnelt:

je rafs [ra]
tu rafs [ra]
il/elle raf [raf]
nous raffons
vous raffez
ils/elles raffent

PC: j’ai raffi

Ein stummes auslautendes -fs ist zwar orthographisch-phonetisch ein bißchen abenteuerlich, aber nicht ohne Vorbild, cf. oefs „Eier“. Jedenfalls wäre dieses Verb a) schön unregelmäßig und b) hätte man dann je rafs (Indicatif) von que je raffe (Subjonctif) abgegrenzt. Voilà.
An diese Dinge mußte ich also denken, als ich neulich auf der Seite der GSV Stärkungen im Englischen (apply, applought, applought) und Lateinischen (laudo, lausi, laustum) entdeckte. So lange es auch her ist, das Verb raffer/raffir hat sich mir unvergeßlich eingeprägt. Konfrontiert mit der analytischen Geometrie indessen müßte ich auch heute noch die Schultern heben und zugeben: Je regrette que je ne raffe rien!

sprachkritikastereien

Vor einigen Jahren konnte man in der taz einen Artikel der Kategorie “Sprachkritikastereien” lesen. Nun sind solche Artikel ohnehin zum Zähneziehen; dieser aber hat es besonders in sich, weil der Ärger des Autors sich aus einer etwas anderen Quelle speist als bei, sagen wir, Raddatz und verwandten Geistern, die die von ihnen festgelegte Unterscheidung zwischen “gutem” und “richtigem” Sprachgebrauch und “falschem” oder “schlechtem” als soziales Abgrenzungs- und Identifikationskriterium mißbrauchen. Anders unser Autor, der, wies scheint, seiner Angst, nicht dazuzugehören und überrollt zu werden, Ausdruck gibt. So beklagt der Verfasser unter anderem, daß der Ausdruck “Selters” für “Mineralwasser” nicht mehr gebraucht wird, daß man seit einiger Zeit “KITA” sagt statt “Kindergarten”, daß der “Sonnabend” dem “Samstag” weichen mußte und manches mehr.

Aber Sprache verändert sich nunmal. Fortwährend. Alte Ausdrücke verschwinden, neue Ausdrücke tauchen auf, werden entlehnt, neu gebildet, erfunden. Endungen schleifen sich ab, an ihre Stelle treten periphrastische Formen, die wiederum verkürzen sich zu neuen Endungen, und so weiter. Laute verändern sich in bestimmten Kontexten. Redewendungen wandeln sich. Höfliches wird unhöflich, Unhöfliches höflich, Distanziertes vertraut, Freundschaftliches formell. Dieser Sprachwandel ist aus wissenschaftlicher Sicht völlig neutral und wertfrei. Wenn Sprache sich verändert, hat das nichts mit Verfall, Niedergang oder Zersetzung zu tun, und ebensowenig ist irgendeine Sprache „besser“, „reicher“, „vollkommener“ als eine andere. Jede Sprache befriedigt exakt die kommunikativen Bedürfnisse ihrer Sprecher. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und diese Bedürfnisse sind nicht nur von Sprecher zu Sprecher, sondern auch bei demselben Sprecher in verschiedenen Situationen verschieden. Viele landläufige Mißverständnisse die Sprache betreffend verdanken sich einer Auffassung, die Sprache als ein von ihren Sprechern losgelöstes, ein Eigenleben führendes Etwas betrachtet. Eine Sprache konstituiert sich aber ständig aus den Äußerungen ihrer Sprecher und den darin sich manifestierenden Regelmäßigkeiten neu. Deswegen können auch Anglizismen nicht „in die deutsche Sprache eindringen“, weil sie keine Wesen sind, die irgendwie zu handeln, keine Körper, die einen anderen Körper zu befallen oder in ihn einzudringen in der Lage wären. Sprachen handeln nicht, Menschen handeln, unter anderem, indem sie sprechen. Die Verwendung von Anglizismen ist heute weiter verbreitet als vor 20 Jahren, aber es sind Sprecher, die sie verwenden und auch verwenden wollen. Sich gegen den Sprachwandel wehren zu wollen mit dem Ziel, diesen Vorgang aufzuhalten, ist töricht. Warum Sprache sich wandelt, ist nicht so leicht einzusehen. Aber die Beobachtung mag aufschlußreich sein, daß Ausdrücke „ausbleichen“. Wenn wir begeistert sind oder angewidert, uns freuen oder todtraurig sind, reicht es eben nicht mehr, „traurig“ oder „froh“ zu sagen. Wir fühlen mehr als diese abgeschliffenen Wörter hergeben wollen. Also sind wir „happy“ und „depri“ und hoffen, damit sprachlich der Stärke unseres Gefühls nähergekommen zu sein. Durch den häufigen Gebrauch verblaßt aber auch die Wirkung dieser frischen Wörter, und abermals müssen neue her. Und so weiter: In diesem Sinne ist der Sprachwandel nicht unähnlich dem Wandel in der Mode. Es gibt kein „richtig“ und „falsch“ in der Sprache, ebensowenig wie in der Mode. Das, was die Menschen sagen, ist „richtig“, und nicht, was irgendeine Akademie, oder der Rundfunk, oder ein Regime als „richtig“ deklariert. Heißt es „wegen dir“ oder „deinetwegen“? Wenn man feststellt, daß „wegen dir“ gesagt wird, dann muß es wohl richtig sein, weil es offenbar zur praktizierten Sprachwirklichkeit gehört. Eine Form wie „dirwegen“ ist dagegen „falsch“ (besser: ungrammatisch), einfach deshalb, weil es niemand sagt.

Das ist das eine. Das zweite betrifft die ganz persönliche Wahl, Vorliebe oder auch die Ablehnung eines bestimmten Ausdrucks. Wenn jemand „deinetwegen“ statt „wegen dir“ verwendet, dann ist das eine Entscheidung, zu der eine ganze Reihe von Gründen führen können: Der Sprecher kann sich mit einer Form, die dabei ist, sich endgültig aus dem Sprachgebrauch zu verabschieden, zu einer bestimmten Generation von Sprechern bekennen; er kann darauf hoffen, sich mit „deinetwegen“ gegen eine Mehrheit abzusetzen und sich damit überlegen zu fühlen; er kann, umgekehrt, davon gehört haben, daß es „besser“ sei, die Genitivkonstruktion zu wählen, und hoffen, nacheifernd zu einer „besseren“ Welt zu gehören; er kann schließlich ästhetische Gründe haben, die rein persönlicher Natur sind; oder er hat es immer schon so gesagt, weil er die Sprache in einem Umfeld erworben hat, in dem nie etwas anderes zu hören war. Alle diese Gründe aber sind keine objektiven Gründe, die erklären, wieso „deinetwegen“ vorzuziehen sei. Mit anderen Worten, man kann nicht sagen, „deinetwegen“ sei EIGENTLICH richtig, ebensowenig wie man sagen kann, Schweinebraten sei EIGENTLICH mit Knödeln, nur weil es einem zufällig so schmeckt. Wie aber in der Mode, so gibt es auch in der Sprache subtile Regeln, die darüber entscheiden, wer in welcher Situation „dazugehört“ und wer nicht, Konventionen, die festlegen, was „gehoben“, „formell“, „freundschaftlich“ und „verpönt“ ist. Aber auch in der Mode gibt es kein objektivierbar Richtiges. Und wie in der Mode muß man nicht jeden Mist mitmachen. Man kann aber, wenn es so gefällt. Natürlich haben die Konventionen eine soziale Kraft, und ihre Einhaltung oder Übertretung zieht bestimmte soziale Konsequenzen nach sich; meist aber richten sie nichts weiter an, als daß sie Geschmack, Alter, Geschlecht und Herkunft des Sprechers bestimmen lassen. Wer sich darüber echauffiert, weil jemand Samstag statt Sonnabend sagt oder umgekehrt, oder gar das eine als „hochsprachlich“, das andere als „dialektal“ betitelt, ist einfach nur albern.

Und ein letztes zu den Anglizismen: Ich glaube, die Mehrzahl derer, die sich über Anglizismen aufregen, verwechselt Ärger über die fremden Ausdrücke (die man ja nicht zu benutzen braucht) mit Ärger über die –- vermeintliche oder tatsächliche -– kulturelle Hegemonie des englischen Sprachraums, und besonders der vereinigten Staaten von Amerika. Das ist aber etwas, das mit Sprache nur insofern etwas zu tun hat, als sich in ihr kulturelle Entwicklungen widerspiegeln. Dasselbe ist beim immer noch heftig ausgetragenen innerdeutschen Ost-West-Kulturstreit zu beobachten. Auch hier gilt: Wenn die Menschen Ausdrücke, die nur im Westen verwendet wurden, plötzlich toll finden, weil alles, was aus dem Westen kommt, toll sei, dann kann man mit Sprachpflege überhaupt nichts gegen das Faktum ausrichten, daß die Menschen so reden, WEIL sie den Westen toll finden, und nicht umgekehrt. Auch unser taz-Autor verwechselt da etwas. Sprache ist nur das Symptom. Was ihn ärgert, ist etwas ganz anderes.

Übrigens: „Kindergarten“ sagt man natürlich immer noch, genau dann nämlich, wenn man auch „Kindergarten“ meint. „KITA“ ist eine Kindertagesstätte (Ganztagsbetreuung mit Essen und so), und das ist nun mal was anderes. Daß immer mehr Familien so wenig Zeit für ihre Kinder aufzubringen bereit sind, daß die Kindertagesstätte und nicht der Kindergarten zum Normalfall wird, ist ebenfalls durch Sprachgebrauch nicht zu verhindern. Wie überhaupt durch Sprachpflege oder Korrektur der Sprachgewohnheiten die Mißstände nicht aus der Welt geschafft werden können, die der Sprachgebrauch lediglich abbildet. Es werden nicht mehr Frauen Professor, indem man überall und ständig Professor/in sagt und schreibt, und die Probleme von Ausländern lassen sich nicht lösen, indem man sie “Mitbürger mit Migrationshintergrund” nennt. Aber das ist ein anderes Thema.

Orthographisches (2) S-Laute des Deutschen und ihre Schreibung

Und nun wird es etwas schwieriger. Wie in jeder Sprache, so gibt es auch im Deutschen Eigenschaften von Lauten, die relevant sind, da mit ihnen Wörter unterschieden werden, und solche, die irrelevant sind, weil ihr Vorhandensein oder Fehlen ein Wort vielleicht verfremdet aber nicht in ein anderes Wort oder ein Unwort überführt. Eine Eigenschaft der ersten Art ist die Stimmhaftigkeit, deren Fehlen oder Vorhandensein Wörter unterscheidet: was beginnt mit einem stimmhaften, Faß mit einem stimmlosen Laut, und es ist die Stimmhaftigkeit allein, die die beiden Wörter voneinander unterscheidet.
Ein Laut, der die Kraft hat, Bedeutungen zu unterscheiden, heißt Phon (bzw. Allophon); er repräsentiert eine abstrakte Einheit, die die Linguisten Phonem nennen, dies aber nur der Genauigkeit halber.
Für unsere Untersuchung ist nun wichtig, daß es Stellungen gibt (vor oder nach anderen Lauten, am Wortanfang, oder -ende, zwischen Vokalen etc), in denen nur Laute mit ganz bestimmten Merkmalen vorkommen können, so daß in diesen Stellungen die unterscheidende Kraft eines bestimmten Merkmals gleichsam aufgehoben scheint: So steht im Deutschen am Wortende immer nur ein stimmloser Laut, niemals ein stimmhafter. Dies führt dazu, daß dort die Stimmhaftigkeit nie für die Bedeutungsunterscheidung relevant sein kann, denn dazu müßten ja beide Laute, der stimmhafte wie der stimmlose an derselben Stelle erscheinen dürfen. Also gibt es eine Menge Wörter, die sich im An- und Inlaut durch Stimmhaftigkeit unterscheiden, wie z. B. Gasse/Kasse, rauben/Raupen, Waden/waten, kein Wortpaar jedoch, dessen Glieder sich voneinander einzig und allein im Auslaut durch dieses Merkmal unterschieden. Merkmale wie Stimmhaftigkeit, die zumindest in manchen Stellungen Wörter voneinander unterscheiden, heißen distinktive Merkmale.
Im Deutschen gibt es zwei S-Laute: einen stimmhaften wie in reisen und einen stimmlosen, wie in reißen. Die Stimmhaftigkeit ist beim S-Laut, wie bei fast allen deutschen Konsonanten, distinktiv. Die Distinktion ist jedoch aufgehoben im Wortanlaut, wo (hochsprachlich) nur stimmhaftes s erscheint, im Wortauslaut, wo (gleich den anderen Konsonanten) nur der stimmlose Laut vorkommt. Tatsächlich ist sie nur in einem einzigen Kontext distinktiv: intervokalisch nach einem langen Vokal oder Diphthong (Doppelvokal). Und hier kommt nun das ß ins Spiel. Das Drama der beiden S-Laute ist nämlich, daß es nicht wie bei den anderen Stimmhaft-stimmlos-Paaren zwei Schriftzeichen gibt, die, unabhängig von Stellung und Unterscheidungsvermögen den stimmhaften und den stimmlosen Laut bezeichnen, sondern es gibt ihrer drei, und in die Entscheidung, wo s, ß oder ss zu schreiben ist, fließen immer Betrachtungen nicht nur der Stimmhaftigkeit, sondern auch der Vokallänge und der Stellung mit ein. Um die Sache noch weiter zu verkomplizieren kann einer der drei Zeichen, nämlich s, je nach Stellung sowohl den stimmhaften als auch den stimmlosen Laut schreiben: Sonne (stimmhaft, Anlaut), Geheimnis (stimmlos, Auslaut); das ist auch gar nicht dumm, wenn man bedenkt, daß die Stellung allein schon bestimmt, welcher Laut auftritt; also ist die Information über Stimmhaftigkeit im Anlaut irrelevant, da dort sowieso nur der stimmhafte Laut vorkommt, und ebenso irrelevant im Auslaut, weil dort nur der stimmlose Laut auftritt. Der einzige Kontext, in dem eine Unterscheidung im Schriftzeichen sinnvoll ist, ist intervokalisch nach Langvokal oder Diphthong. Diese Unterscheidung leistete und leistet nach wie vor das ß, das einen stimmlosen S-Laut in intervokalischer Stellung nach Langvokal oder Diphthong schreibt: reisen, aber reißen.
Nun wären die Verhältnisse nach Langvokal beschrieben, was noch einfach war. Wie aber schreibt man nun einem S-Laut nach Kurzvokal? Nach Kurzvokal erscheint intervokalisch im (Hoch-) Deutschen immer nur der stimmlose S-Laut. Mit welchem Zeichen soll man ihn nun schreiben? Nicht mit ß – denn dieses steht ja nur nach Langvokal. Aber auch nicht mit s – denn das dient ja schon der Schreibung des stimmhaften Lauts, ebenfalls nach Langvokal. s und ß bezeichnen also immer auch die Länge des vorangehenden Vokals. Mit anderen Worten, die Folge Vokal-s-Vokal enthält immer einen stimmhaften S-Laut nach Langvokal, die Folge Vokal-ß-Vokal immer einen stimmlosen S-Laut nach Langvokal.
An dieser Stelle ist ein kleiner Ausflug vonnöten. Es gibt nun im Deutschen generell keine eindeutige Schreibung zur Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen. Ein mit einfachem Vokalzeichen geschriebener Laut kann lang oder kurz sein, weswegen zur Kennzeichnung eines kurzen Vokals der folgende Konsonant verdoppelt wird. Umgekehrt gibt es eine Reihe von Schreibungen für lange Vokale, die gleichsam nicht das Vokalzeichen selbst verändern, oder an ihm ausgeführt werden: Dehnungs-h, Doppelvokal und Dehnungs-e. Die Verdoppelung des nachfolgenden Konsonanten zur Markierung der Vokalkürze gibt es natürlich auch beim s. Und so schreibt man -ss- zur Bezeichnung der Vokalkürze; daß dieser Laut stimmlos sein muß, folgt aus der Stellung (nach Kurzvokal hochsprachlich nur stimmloses s!). Man kann nicht Mase schreiben, weil dort das s stimmhaft und der Vokal lang ist. Man kann auch nicht Maße schreiben, weil dort zwar der S-Laut stimmlos, der Vokal aber immer noch lang ist. Also schreibt man Masse/Maße/Masern. Das ist nun schon in nuce die Schreibregel nach neuer Rechtschreibung. So viel Erklärungsaufwand ist also schon für die neue Rechtschreibung nötig, wenn man die Hintergründe verstehen will. Nach alter Rechtschreibung gab es eine einschränkende Zusatzregel. Sie ist sehr einfach und lautet: Gerät ss im Zuge einer Beugung oder Ableitung an den rechten Silbenrand, verwandelt es sich in ß. Das ist alles. Zu schwierig? Das ss in müssen etwa verwandelt sich in der Wortform mußt oder muß in ß, ebenso wie in müßt und gemußt. Das ss in küssen verwandelt sich im Singular Kuß in ß. Doch Vorsicht: Wenn es keine Wortform gibt, in der überhaupt jemals ss geschrieben wird, dann ist die Regel null und nichtig. Sie gilt nur als Beziehung zwischen Wortformen mit intervokalischem ss und Wortformen, in denen dieses ss nicht mehr intervokalisch ist, sondern am rechten Silbenrand steht. Daher schreibt man nicht *wenigess, *Resst, *Rosst oder *Rasst (oder *wenigeß, *Reßt *Roßt, *Raßt), weil es zu diesen keine verwandten Wortformen oder Ableitungen mit S-Laut in intervokalischer Stellung gibt.
Aber leider leider … gibt es Ausnahmen. Sie betreffen vor allem den Auslaut von Wortstämmen mit Langvokal. Hier ist die Schreibung einfach nicht voraussagbar. Laut Regel müßte man Apfelmuß schreiben, da Langvokal. Natürlich ist es überflüssig, weil im Auslaut keine stimmhaften Laute vorkommen, dennoch wäre es systematischer. Dasselbe gilt für aus (aber man schreibt außen, weil die Stellung relevant ist!), und auch für Eis. Für Wörter wie Maus kann argumentiert werden, daß die verwandten Wortformen (Mäuse) einen stimmhaften Laut haben. Und umgekehrt ist die Schreibung Geheimnis regelwidrig, weil es eine korrespondierende Wortform mit ss gibt (Geheimnisses, Geheimnisse).
Der einzige Ausweg aus dem Dilemma wäre eine konsequente Markierung von Lang- und Kurzvokalen und entweder die Schreibung von s für jeden stimmhaften Laut und nur für diesen, und von ß für jeden stimmlosen Laut; oder aber die Einführung eines neuen Zeichens für den stimmhaften Laut und die Schreibung von s für den stimmlosen (dies würde auch dem Umstand Rechnung tragen, daß s in den allermeisten Sprachen einen stimmlosen Laut, z den entsprechenden stimmhaften Laut bezeichnet). Eine die Tradition und das vertraute Schriftbild halbwegs wahrende Kennzeichnung von Lang- bzw. Kurzvokalen ist aber unmöglich, wie wir unten sehen werden.

Orthographisches (1): Sprachregeln und Schreibregeln

Orthographisches (3): Von Schwierigkeiten & Reformen

Orthographisches (1): Sprachregeln und Schreibregeln

Wannimmer im deutschsprachigen Raum über das leidige Thema der Orthographie verhandelt wird, geschieht dies mit ebensoviel emotionalem Engagement wie völliger Unkenntnis der einfachsten linguistischen Zusammenhänge und unter Vorbringung derselben und aberderselben von ebendieser Unkenntnis zeugenden Argumente; dies will ich zum Anlaß nehmen, mich einmal in aller Ausführlichkeit dazu zu äußern.
Es empfiehlt sich vielleicht, zunächst die Hauptirrtümer zur besseren Übersicht aufzulisten:

  1. Verwechslung von Sprache mit Orthographie sowie Unkenntnis der Eigenarten des Sprachwandels und Unkenntnis des Wesens von Orthographieregeln. Vielleicht das meistgehörte Argument gegen die Rechtschreibreform bzw. gegen eine Regulierung überhaupt ist die Vorstellung, unsere Sprache könne auf alle möglichen Arten „Schaden“ nehmen. Die neuen Regeln „verhunzen“ unsere Sprache. Die Reform „schade“ der Sprache. Sprache sei „ein Kulturgut“, das man nicht „kastrieren“ dürfe. Und so weiter.
  2. Unkenntnis der Phonologie des Deutschen. Wie sich besonders in der Diskussion um das „ß“ beobachten läßt, kennt kaum jemand derer, die hier eine ganz entschiedene Meinung geharnischt vortragen, die zugrundeliegenden phonologischen und darauf bezugnehmenden orthographischen Regeln.
  3. Der dritte Irrtum betrifft die angebliche bessere Lernbarkeit oder Schwierigkeit der alten oder neuen Schreibung. Ein Teilaspekt dieses Irrtums besteht darin, zu glauben, wir seien uns beim Schreiben der Regeln ständig bewußt. Dieser Irrtum verkennt die Mechanismen des Lernens, wie beispielsweise, daß am einfachsten zu lernen ist, was am häufigsten angewandt werden muß.
  4. Ein vierter Irrtum verkennt die Beweggründe der Befürworter und Ablehner einer vereinfachten Rechtschreibung.

Bevor ich mich dem ersten Punkt widme, noch eine Anmerkung. Die folgenden Ausführungen beziehen sich natürlich nur auf Alphabetschriften. Das sind Schriften, die sich den Umstand zunutze machen, daß jede Sprache nur eine begrenzte Zahl von Lauten aufweist (das sogenannte Phoneminventar), die in immer anderen Kombinationen eine (prinzipiell) unbegrenzte Zahl von Wörtern bilden können. Eine Sonderform, und vielleicht die Idealform der Alphabetschriften ist die phonemische Schrift: Ihr Vorzug besteht darin, daß sie ein Zeichen für jeden Laut der Sprache hat, und jeder Laut genau ein Zeichen, das ihn abbildet. Einfacher ausgedrückt: Man weiß immer, wie man etwas Geschriebenes auszusprechen oder etwas Gehörtes zu schreiben hat.

Rechtschreibregeln sind, wie überhaupt die ganze Fixierung von Sprache mittels Schriftzeichen, etwas Künstliches und Gemachtes. Schreibregeln sind von ihrer Natur her immer explizit. Ihre Formulierung und Erlernung erfordert ein Nachdenken und ein Sich-bewußt-Werden, wie überhaupt die Erfindung der Schrift eine intellektuelle Leistung war. Schrift ist sekundär, der Sprache nachgeordnet. Deshalb verändern sich Schreibregeln auch nicht (jedenfalls nicht, solange es eine amtliche oder ähnlich für alle verbindliche Regelung gibt), es sei denn, jemand beschließt eine Änderung. Weil aber einerseits Schreibregeln ersonnene und starre Konstrukte, Sprachen andererseits sich fortwährend wandelnde Regelsysteme sind, folgt daraus, daß jede Orthographie irgendwann entweder historisch einen älteren Sprachzustand abbildet oder bewußt geändert werden muß, wenn sie dem aktuellen Sprachzustand folgen soll. Bestes Beispiel für eine historische Schreibung: die englische Rechtschreibung. Warum schreibt man „enough“ und „laugh“ statt, sagen wir, „inaf“ und „laf“? Weil die Aussprache früher anders gewesen ist, die diese Aussprache abbildende Schreibung sich aber nicht geändert hat: Früher wurde laugh etwa „lach“ gesprochen (vgl. dt. lachen), und der Velarlaut noch plausibel mit „gh“ wiedergegeben. Die Veränderung des Velarlauts zum Labial hat die Schrift nicht mitgemacht, daher klaffen jetzt Schreibung und Aussprache auseinander. Historische Schreibungen haben nun Vorteile und Nachteile. Vorteile haben sie besonders für historische Sprachwissenschaftler; für die übrigen Benutzer des Alphabets ist es unerheblich, ob sie wissen, daß laugh früher „lach“ gesprochen wurde, oder daß Ziegel ein lateinisches Lehnwort ist (eigentlich müßte man es „tiegel“, oder gleich „tegula“ schreiben). Die Nachteile liegen auf der Hand.

Sprachregeln dagegen sind nicht gemacht, sind nicht explizit und werden spontan erworben. Ihre Kenntnis ist unbewußt, und ihre explizite Formulierung ist so schwierig, daß sich dafür eine eigene Wissenschaft entwickelt hat: die Linguistik. Mit anderen Worten: jeder Mensch ohne spezielle Beeinträchtigung kann sprechen, ohne die Regeln der Grammatik bewußt zu kennen. In dieser Hinsicht gleicht das Erlernen der Rechtschreibung ein bißchen dem Erlernen einer Fremdsprache, deren Regeln meistens auch bewußt gelernt werden. Schreibregeln sind also der Sprache nachgeordnete, künstliche, explizit formulierte Abbildungsregeln, die durchaus mit Verkehrsregeln vergleichbar sind. Es ist nun leicht einzusehen, daß eine Änderung der Schreibregeln die Sprache völlig unangetastet läßt. Eine Sprache ist prinzipiell von jedem sie abbildenden Schriftsystem zu trennen. Befürworter der alten Rechtschreibung können sich daher schwerlich auf „die deutsche Sprache als gewachsenes Kulturgut“ berufen, in das man nicht eingreifen dürfe. Natürlich ist die deutsche Sprache ein gewachsenes Kulturgut; als solche ist sie aber von den zufälligen Gegebenheiten ihrer schriftlichen Fixierung unabhängig. Es schert die Sprecher des Deutschen wenig, ob sie „so genannt“ oder „sogenannt“ schreiben. Es hat keinerlei Einfluß darauf, wie die Sprecher sprechen, und also keinerlei Einfluß auf die Sprache. Auch die deutsche Rechtschreibung ist in gewissem Sinne ein gewachsenes Kulturgut; das sind aber auch die Verkehrszeichen und das DIN-A4-Format und fünfstellige Postleitzahlen. Ich kenne nur wenige, die sich beispielsweise über die neuen Bahnübergangsschilder und die Adaption des Eisenbahn-Ikons an moderne Verhältnisse beschweren würden. Zwar hat die Schriftlichkeit als solche durchaus einen Einfluß auf die Sprache, da sie, sofern es eine Alphabetschrift ist, lautliche Aspekte der Sprache den Sprechern bewußt machen kann, und weil sie auch die mündliche Rede beeinflußt, wenn nämlich Schriftsprache im mündlichen Bereich Vorbildfunktion übernimmt. Dieser Einfluß gilt aber für jede Form der Schriftlichkeit; es ist nachgerade albern zu meinen, die Schreibung von ss oder von ß habe irgendeinen Einfluß auf Deutsch als Sprache. An der Abschaffung des leidigen th in Wörtern wie Thor, Thür, That ist die deutsche Kultur auch nicht zugrundegegangen (obwohl der Kaiser darauf bestand, daß weiterhin Thron geschrieben werde). Ob und inwiefern nun das gewachsene Regelsystem einer Orthographie ein schützenswertes Kulturgut ist, das genau ist die Frage. Franzosen und Engländer würden hier sicher zugunsten des Schutzes plädieren. Dies ist aber kein Streit, der mit Argumenten des Nützlichen entschieden werden kann: Das müssen die Verfechter der alten Orthographie einsehen.

Orthographisches (2): S-Laute des Deutschen und ihre Schreibung

Orthographisches (3): Von Schwierigkeiten & Reformen

Kopf voll Draht

„Die Jugendlichen heutzutage können ja nicht einmal mehr einen ordentlichen Satz bilden“, sagt Herr S., Studienrat mit Doktortitel und nebenbei Dozent an der Universität einer größeren westdeutschen Stadt. „Hören Sie sich das mal an“, fährt er fort, „Zack!, Rums!, Schrei!, Stöhn!  – wie wollen Sie denn das überhaupt grammatikalisch beschreiben? Das ist mit der Grammatik überhaupt nicht analysierbar.“
Mit der Grammatik? Welcher?
Herr S. ist ein hochgebildeter, hochkultivierter Mensch und kennt sich in lateinischer und griechischer Literatur ebenso gut aus wie in Mythologie, europäischer Literaturgeschichte, Archäologie, Stahlerzeugung oder Kohlebergbau. Ich verdanke ihm so manche Einsicht in das Geistesleben der Antike und die herrliche Vokabel abteufen.
Aber leider hat er nicht die geringste Ahnung von den allerbasalsten Grundlagen der Sprachwissenschaft – bei seinem Fach ein echter Verlust. Und was er über die Sprache der Jugendlichen von sich gibt, ist, ja, es tut weh es auszusprechen, hanebüchener Blödsinn. Hier ist leider der Studienrat mit ihm durchgegangen und über Mauer und Graben gesprengt.
Ich vermute, daß Herr S. die griechisch-lateinische Grammatik meint, wenn er von Grammatik spricht. Damit kann man die griechische und lateinische (Schrift!-)sprache beschreiben, was nicht Wunder nimmt, da sie an jenen Sprachen entwickelt wurde und auf sie zugeschnitten ist. Es gibt aber keinen Grund, warum man damit irgend eine andere Sprache erfassen können sollte. Bei einem solchen Versuch können dann so treffliche Ergebnisse herauskommen wie die Kasuslehre einer mittelamerikanischen Sprache, wie sie ein gewisser Missionar des 16. Jahrhunderts (ich habe vergessen, wer und was für eine Sprache das war) formuliert:

Nominativus: pilpilo
Genitivus: pilpilo
Dativus: pilpilo
Accusativus: pilpilo
Ablativus: pilpilo
Vocativus: o pilpilo!

Wer nun vermutet, daß hier eine fehlgeleitete Analyse vorliegt, die an den tatsächlichen Verhältnissen dieser Sprache vorbeigeht, könnte recht haben. Man kann sich denken, daß derartige Höhenflüge europäischen Scharfsinns nicht gerade dazu beitrugen, indigene Sprachen als Sprachen überhaupt ernst zu nehmen.
Herr S. begeht eine Todsünde nicht nur der Linguistik, sondern jeder empirischen Humanwissenschaft, indem er nämlich Deskription mit Präskription verwechselt. Wenn ein sprachliches Phänomen, sagen wir, die Comicsprache von Jugendlichen, mit einer Grammatik nicht beschrieben werden kann, dann bedeutet das, daß die Grammatik zu schwach ist und so modifiziert werden muß, daß sie den Phänomenen Rechnung trägt.
Schon die Einheit des Satzes, die Herr S., und mit ihm ein Heer von Sprachpflegern, die den Untergang des Abendlandes prophezeien, als Grundeinheit und sprachliches minimum morale beschwört, ist vom Standpunkt gesprochener Sprache aus hochproblematisch, wenn nicht sogar unsinnig. Der Satz ist ein Ergebnis, ein Konstrukt der Schriftlichkeit. Er ist ein Postulat, eine stilistische Norm – im mündlichen Ausdruck aber kein Normalfall. Insofern ist eine Grammatik von Sätzen eine Grammatik, die ohnehin nur für den Teilausschnitt geschriebener Sprache und für wenige Bereiche der gesprochenen Sprache Beschreibungsmacht hat. Und selbst in Schriftsprache bleibt der Satz als Analyseeinheit problematisch, da seine Definition recht unklar ist. Zu sagen, was die Jugendlichen da fabrizieren, sei keine „echte“ Sprache, oder kennzeichne einen Verfall, einen Niedergang, weil es mit der Grammatik (was auch immer für eine) nicht beschrieben werden könne, ist gerade so, als behaupte man, Quantenphänomene seien gar keine echten physikalischen Erscheinungen, weil sie nicht durch die Newtonschen Mechanik beschreibbar seien.
Die Elektronen wird das kaum beeindrucken.
Die Jugendlichen auch nicht.