Oft habe ich gedacht, ich bin zu spät geboren worden. Zehn, fünfzehn Jahre eher, und ich wäre Professor geworden, weil es die natürlichste Sache der Welt gewesen wäre (so wie es für viele halbwegs begabte Leute eine Generation vor mir die natürlichste Sache der Welt war, sie sind in ihre Lehrstühle quasi hineingeschlittert, wenn sie das wollten, die meisten wollten sowieso nicht). Aber das ist ein Irrtum. Ein paar Jahre eher, ein paar hundert Kilometer woanders, und ich wäre nicht einmal aufs Gymnasium gegangen. Oder hätte mir an irgendeinem erzkonservativen Establishment die Stirn blutig geschlagen. So aber hatte ich das Glück, es nicht selbst tun zu müssen, sondern die Errungenschaften der blutigen Stirnen der 68er-Generation voll genießen und auf eine Schule gehen zu dürfen, wo das halbe Kollegium, heute würde man sagen, links-grün versifft war. Ich spreche mit einer Wandergefährtin darüber, und sie meint dazu, dann wäre ich eine Generation eher wohl ein sehr guter Realschüler geworden. Wahrscheinlich. Aber dabei wäre ich intellektuell verhungert. Alles, was ich gut gekonnt hätte, hätte mich nicht gereizt. Ich wollte immer etwas, das zu groß war für mich. Diese Feststellung berührt noch gar nicht den Ehrgeiz und das Geltungsbewußtsein. Ich wollte als Person meinen intellektuellen Bedürfnissen genügen. Zwar war ich auf dem Gymnasium. Aber egal, in welchem Maßstab, ich habe immer über die Verhältnisse meines Talents leben wollen. Meine intellektuellen Bedürfnisse waren zu groß für meinen Intellekt.

Dümpfhaubsee (Seepferdchen 2)

Und dann ist doch niemand am See. Der Wasserspiegel steht hoch, die kleine Bucht, wo ich mich schon zweimal entkleidet habe, ist überflutet, der Stein, auf dem ich meine Kleider gelegt habe, liegt mehrere Zentimeter unter der Oberfläche, wegen der Böschung kommt man vom Weg nicht zu der flachen Uferstelle. Ich muß mich am Steg festhalten und den Weg ins Wasser an Steinen vorbei navigieren, zu blöd, wenn ich jetzt stürzte und mir an diesem verlassenen Ort etwas bräche, noch dazu im eisigen Wasser. Achso, eisig. Wie kalt mag es sein? Gefühlt so wie es jedesmal in diesem Winter war, egal wann, egal an welchem Gewässer. Laut Thermometer 11° (an der Würbeltalsperre), aber das glaube ich nicht, es müssen weniger sein. Die Witterung ist kühl an diesem Morgen, regnerisch, auf dem Weg hierher mußte ich mehrmals den Schirm aufspannen. Eben ist die Sonne rausgekommen, jetzt zieht es sich wieder zu, und gleich beginnt es auch zu tröpfeln. Trotz dem ruppigen Wetter campieren unweit Leute. Oben, auf einer Wiese auf dem Plateau, habe ich etwas abseits hinter Gebüsch ein Zelt gesehen. Aber niemand ist jetzt unten am See. Niemand da, aber es kann jeden Moment jemand vorbeikommen, und dann will ich schon im Wasser sein oder es schon hinter mir haben, ich kann nicht erklären, warum, mir macht es nichts aus, nackt vor Leuten zu stehen, aber mich vor Leuten auszuziehen, da hätte ich erhebliche Hemmungen. Ich hampele etwas herum; wie immer, wenn es schnell gehen soll, bin ich unkoordiniert, zudem darf die Unterbekleidung weder auf den feuchten Grund gelangen noch unbedeckt bleiben, aber die Jacke rutscht immer wieder vom Kleiderberg hinunter. Nässe ist überall. Wie Reste eines Festes, verwelkte Rosen vielleicht, erloschene Kerzen, treibt pflanzlicher Detritus auf dem See. Weiter draußen kräuselt eine Brise die Oberfläche, verspielt wie Seifenblasen, eine Zone unerreichbaren Wassers im Schatten der Felswände, dämmervoll, daß es scheint, als träte das Gewässer dahinter in eine Höhle ein. Meine zehn klammen Schwimmzüge bringen mich nicht einmal an den Rand der Nachbarschaft des Vorbereichs dieser Zone.

Krieg oder Frieden (Ovid, Fasti 3, 207-228)

Längst sind nach dem Raub der Sabinerinnen mit gemeinsamen Nachkommen Tatsachen geschaffen worden, und die Sabinerinnen haben sich in ihrem neuen Leben als Römergattinnen recht gut eingelebt, da kommt es beinahe zum Krieg mit den beleidigten Vätern der Geraubten. Die Gattin des Romulus, selbst eine Sabinerin, weiß beherzten Rat, wie ein Krieg zu verhindern sei:

“o pariter raptae, quoniam hoc commune tenemus,
     non ultra lente possumus esse piae.
stant acies: sed utra di sint pro parte rogandi
     eligite; hinc coniunx, hinc pater arma tenet.
quaerendum est viduae fieri malitis an orbae.
     consilium vobis forte piumque dabo.”
consilium dederat: parent, crinesque resolvunt
     maestaque funerea corpora veste tegunt.
iam steterant acies ferro mortique paratae,
     iam lituus pugnae signa daturus erat,
cum raptae veniunt inter patresque virosque,
     inque sinu natos, pignora cara, tenent.
ut medium campi scissis tetigere capillis,
     in terram posito procubuere genu;
et, quasi sentirent, blando clamore nepotes
     tendebant ad avos bracchia parva suos.
qui poterat, clamabat avum tum denique visum,
     et, qui vix poterat, posse coactus erat.
tela viris animique cadunt, gladiisque remotis
     dant soceri generis accipiuntque manus,
laudatasque tenent natas, scutoque nepotem
     fert avus: hic scuti dulcior usus erat.

“Schwestern im Geraubtsein! Nun haben wir dieses gemein, und
     artig im Stillen sein weiterhin können wir nicht!
Schon sind die Heere bereit — wem die Götter den Sieg sollen schenken,
     wählt nur! Hier der Mann, dort zückt der Vater das Schwert.
Wählt, ob ihr lieber verwaist sein wollt, oder lieber verwitwet!
     Ich aber rate euch artig, biete euch kräftigen Rat.”
Kräftig war der Rat: sie folgen, zerwühlen ihr Haar und
     streifen ein Trauergewand über den gramvollen Leib.
Schon stand die Phalanx bereit, bereit zu Stahl und Verderben,
     schon holt der Herold Luft, Kampfschall zu blasen ins Horn,
als die Entführten zwischen die Väter und Gatten sich werfen,
     jede gedrückt an die Brust, Pfand ihrer Liebe, das Kind.
Wie sie zerrauften Haares die Mitte des Feldes erreichen,
     beugen sie flehend das Knie, flehen sie kniend am Grund.
Und da streckten die Ärmchen, als hätten sie alles begriffen,
     zärtliche Rufe im Mund, Enkel nach Großvätern aus.
Welches schon konnte, das rief nach dem Großvater, den es erkannte,
     welches konnte noch kaum, fand sich gezwungen dazu.
Waffe und Zorn sinkt den Männern zugleich, sie bergen die Schwerter,
     Schwäher und Tochtergemahl geben einander die Hand,
halten die lobreichen Töchter im Arm, auf dem Schilde den Enkel
     trägt der Opa, denn so taugte viel schöner der Schild.

Nachtrag zu Karneval

Muß nicht auffallen, wie sehr die Wahl eines Karnevalskostüms vom Geschlecht bestimmt wird? Die Frauen und Mädchen gehen als Prinzessinnen, Elfen, Meerjungfrauen oder schinken sich einfach nur mit Kranz, Glanz, Flitter und Glitter, als kämen sie alle geradewegs aus der Redaktion der Zeitschrift Lillifee (voll süß!) — wo aber sind sie alle, die Astronautinnen, Chirurginnen, römischen Soldatinnen, Piratinnen, Wikingerinnen, Feuerwehrfrauen, die ganzen Larven, für die sich ihre männlichen Mitfeiernden vorzugsweise entscheiden? Es scheint, als wollten die Närrinnen nicht mal imaginär bei den Jungs mitspielen. Darüber mal bei der nächsten Debatte über Geschlechtergerechtigkeit nachdenken.

Seepferdchen (1)

Nach den beiden Bädern in der Nordsee wieder an der Talsperre im Wasser gewesen. Der Tag war sonnig, elf Grad Lufttemperatur. Gegen zehn Uhr kam ich warmgelaufen an der Vorsperre an. Je nach Lichteinfall war das Wasser klar bis auf den hellen, steinigen Grund hinunter, oder im Gegenlicht abweisend-opak, ölig, nicht einmal zum Spiel mit dem Wind aufgelegt. Nur wenige Menschen unterwegs, eine ältere Dame verunsicherte ich, als ich auf der Suche nach meinem Plätzchen wieder ein Stück umkehrte (und ihr aus ihrer Perspektive zu folgen schien). Hoher Wasserstand, die Stelle von letztem Jahr unauffindbar. Zuletzt wieder die zweitbeste Stelle genommen, dort stand das Wasser so hoch, daß ein bequemer Absatz, sonst wahrscheinlich mehrere Meter von der Wasserlinie entfernt, jetzt einen Fußbreit unmittelbar darüber lag. Am ertasteten Grund beim Hineingehen war jedenfalls die Stelle nicht zu erkennen. Steil geht es hinab, nach drei Schritten bin ich eingetaucht, hektisch atmend. Es ist eisig wie immer, und doch auf subtile Weise garstiger, schwieriger. Härter. Ich kürze ab, zwei Schwimmzüge müssen reichen, einmal auf den Rücken gedreht, mit den Beinen gestrampelt. In diesem Moment beruhigt sich die Atmung wieder. Eine Art Zuversicht stellt sich ein: Ich habe es wieder geschafft. Zwei Züge zurück, bis ich Grund unter den Füßen habe: so noch einen Moment untergetaucht bleiben, dann raus. Keine Minute hatte das Bad gedauert. Gelauscht, geschaut: Die Wege waren alle leer. Ich griff zum Handtuch. Kein Mensch bekam den entzückenden Anblick des 50jährigen, nur mit einer Wollmütze und Badelatschen bekleideten Mannes mit, der sich die nasse Gänsehaut von den winterweißen Gliedern wischte.

Sauattrappe

Das Problem mit der KI ist überhaupt nicht, ob und welche menschlichen Tätigkeit künstliche Systeme ersetzen; ist nicht, wo KI besser sein könnte als der Mensch. Das wahre Entsetzen über KI, und das wird in den Debatten immer übersehen, kommt aus einer anderen Möglichkeit: daß die KI – und sie hat die ersten Schritte jenseits dieser Schwelle längst getan – das Vertrauen untergräbt, es in der Kommunikation noch mit einem Menschen zu tun zu haben, und also, ob überhaupt Kommunikation stattfindet. Denn anders als Watzlawick behauptet setzt Kommunikation ein bewußtes Gegenüber mit kommunikativen Absichten voraus. (Nicht jedes Aussenden und Interpretieren von Zeichen ist Kommunikation.) Wo das nicht gegeben ist, ist die Kommunikation, na ja, nur eine Simulation oder schlimmer: eine Täuschung. Der Zuchteber, der, mit Duftstoffen bis zur Raserei gereizt, auf eine Sauattrappe geführt wird, um sich seinen Samen abzapfen zu lassen – er mag den Turnbock, auf dem er hockt, für eine echte Partnerin halten. Selbst wenn seinem Trieb nichts fehlt: Würden wir nicht sagen, daß diesem masturbatorischen Betrug etwas zutiefst Trauriges anhaftet? Solange ich weiß, daß ich mit einer Maschine kommunikative Masturbation betreibe, ist gegen KI nichts einzuwenden; das Unbehagen beginnt mit dem verunsichernden Gedanken, es vielleicht nicht zu wissen. Was, wenn ich nicht weiß, ob der Popsong, der mich zu Tränen rührt, nur das auf meine Gefühle hin berechnete Produkt einer Maschine ist? Ob der Roman, der mich aufwühlt, nicht auf genau meine Aufwühlung von einem Algorithmus maßgeschneidert worden ist? Auch die Beziehung zwischen Künstler, Werk und Rezipient ist eine Form der Kommunikation; ist etwas, das zwischen Menschen stattfindet; ist ein Audruck menschlicher Beziehungen – worauf das Menschliche exklusiv Anspruch hat. Mehr noch: Kunst ist etwas, das den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnet: es ist wie Sprache und Lachen ein nicht-akzidentielles Wesensmerkmal. Insofern läßt es sich per definitionem nicht durch eine Maschine ersetzen. Und so wollen wir uns auch nicht von einer Maschine zu Tränen anrühren, nicht von einem künstlich maschinell erzeugten Text aufwühlen, nicht von einem synthetischen Witz zum Lachen bringen lassen. Warum nicht? Weil die Maschine nicht mitlacht. Weil die Maschine nicht weiß, was Tränen sind, oder was es bedeutet – wie es sich anfühlt – aufgewühlt zu sein. Als kommunikativer Akt setzt das Sich-Rühren-Lassen – wie alle Kommunikation – ein fühlendes Gegenüber und also: Empathie voraus. Kommunikation spiegelt uns ein denkendes Wesen, das uns versteht und uns aufgreift und uns verwandelt zurückschenkt. Lassen wir uns von einer Maschine zu Tränen rühren, sind wir nichts weiter als ein verzückter Eber auf seiner Attrappe. Man darf auch nicht immer nur die Perspektive der (Kunst)Rezipienten einnehmen, weil zu jeder Rezeption immer ein Kunstschaffen gehört. Es ist nie die Rede davon, daß die KI den Zuhörer, Leser, Zuschauer wird ersetzen können. Das auszuklammern bedeutet, die kommunikative Rolle des Kunstschaffenden zu ignorieren. Die Tätigkeit des Künstlers ist nur das andere Ende der künsterischen Kommunikation, und der Künstler braucht sein Publikum, wie das Publikum den Künstler braucht, damit die Kommunikation zustande kommt. Wer kein Problem mit der Vorstellung hat, Computer könnten uns demnächst Romane schreiben oder Filme drehen, darf auch kein Problem damit haben, Computer könnten demnächst die Bänke im Auditorium füllen und im Theater der Vorstellung applaudieren. Oder gehen wir noch einen Schritt weiter: Was, wenn Computer beides tun? Wenn Computer betrachten, was Computer gemalt, lesen, was Computer gedichtet, hören, was Computer komponiert haben? Wo wäre der Sinn? Es ist immer die Rede davon, daß die KI vieles überflüssig macht: Fließbandarbeiter, Kassierer, Setzer, Raumpfleger, demnächst Busfahrer, vielleicht bald Krankenpfleger, Sportjournalisten oder Nachrichtentexter – aber ganz gleich, was noch alles: die KI kann dem Menschen den Menschen nicht ersetzen. So wie wir die Liebe, Sex oder gutes Essen nicht an Maschinen delegieren können. Den Menschen dem Menschen nicht ersetzen heißt auch: Sich selbst nicht ersetzbar zu sein. Denn der Kommunikationscharakter der Kunstproduktion und -rezeption bestimmt Kunst noch nicht ganz. Kunst findet auch ohne Publikum statt. Vor etwa 10000 Jahren nahm ein Künstler oder eine Künstlerin ein Stück Walknochen zur Hand und schnitzte daraus die Figur eines Rentiers im Galopp. Das Stück ist äußerst fein gearbeitet und fußt auf exakter und sorgfältiger Beobachtung. Man darf sagen, es ist mit Hingabe, ja Liebe gefertigt. Jemand, ein Mann oder eine Frau, hat sich damals die Mühe gemacht, aus einem Stück unnahbarer Materie etwas zu machen, das mehr war als ein Werkzeug; etwas, das für ein anderes einstehen konnte; etwas, das Bedeutung hatte. Was immer der Grund war – es war diesem Menschen wichtig, sonst hätte er oder sie nicht soviel Mühe darauf verwendet. Mühe nicht nur auf dieses eine Stück, denn um die Figur so genau schnitzen zu können, bedarf es langer Übung, bedarf es zahlloser mißlungener Zwischenschritte, in denen der Künstler sich an die Perfektion der Darstellung angenähert hat. Was wir sehen können, ist das ferne Ende, das Ergebnis eines langen, von Frustration und Rückschritten, Durchbrüchen, Aha-Erlebnissen und Triumphen geprägten Lernprozesses. Warum hat dieser Mensch damals das auf sich genommen? Wir wissen es nicht genau – aber wenn wir ehrlich sind, können wir uns doch hineinfühlen, sind wir diesem Menschen ganz nah, kennen seinen Impuls, jedes Mal, wenn wir einen Stift nehmen und gedankenverloren eine Figur kritzeln. Wir kennen alle diesen Moment, wo etwas, das wir formen wollten, tatsächlich gelingt. Und wir bewundern die, denen es besonders gut gelingt. Können – wollen – wir diesen Moment an eine Maschine delegieren? Was wäre der Sinn, wenn wir es tun? Wir treiben ja auch Sport und quälen uns an Bestzeiten und Rekorden ab, obwohl eine Maschine schneller wäre. Was war das Gejammer groß, als in den nuller Jahren ein Automat den damals amtierenden Schachweltmeister schlug. Bewundern und feiern wir jetzt den Automat? Man stelle sich vor, es erhöbe sich ein Geheul, weil ein Auto den Weltrekordhalter auf der 100-m-Distanz schlägt. Man bedenke: Roboter auf dem Rasen statt Menschen bekämen vielleicht auch die interessanteren Spiele hin, wenn man sie so programmiert; und man könnte sie so programmieren, daß sie niemals foulen. Aber eins könnten sie eben nicht: triumphieren. Und was vielleicht noch bedeutsamer ist: Sie könnten auch niemals scheitern. So wie eine Sauattrappe keinen Liebeskummer haben kann.

Insulationen (3)

An der Raiffeisenbank in Nebel hängen Immobilienangebote aus. Zu verkaufen ist neben einem Baugrund in Nebel für eine halbe Million Euro (nur das Grundstück) eine Eigentumswohnung in Wittdün. Erdgeschoß, 2 Zimmer (Wohn- und Badezimmer), 45 qm, 25 qm Nutzfläche, kein Balkon, kein Garten, von einem Keller ist auch nicht die Rede, 405.000, Hausgeld 290. Wer dem Zentrum entfliehen, die Sehnsucht aufgeben und sich den Rand der Welt zur Heimat machen will, muß reich sein oder Verwandte auf der Insel haben. Uns anderen, den Habenichtsen, Pechvögeln und Enterbten, bleiben nur das Nahe, das Innere und die Städte.

Insulationen (2)

Gefurchte, genarbte, von selbstähnlichen Kräuselmustern ausgemalte Flächen; oder Flußdelten, Zopfmuster, weder dem Mineralischen noch dem Aquatischen ganz zugeordnete Materie; Zwischenwesen, verflüssigter Sand, geronnenes, zu ornamentalen Diagrammen halberstarrtes Wasser; zarte Gebilde, unverwechselbar einmalig wie Schneeflocken, nur durch die Kraft von Oberflächenspannung zusammengehalten, emergente Struktur: man scheut sich, diesen Arbeiten von Wellen, Strömung, Regen und Wind ins Handwerk zu pfuschen und darauf etwas so Profanes wie Fußspuren zu setzen. Es fühlt sich an, als würde man einem Künstler über die Leinwand latschen. Aber diese Welt ist sowieso ständig in Bewegung, und die fraktalen Furchen im eben erst trockengefallenen Schlick, sie werden bei der nächsten Flut mitsamt den gepfuschten Fußpuren darauf verschwinden — um bei der nächsten Ebbe neugeschaffen wieder aufzutauchen, ohne Gedächtnis, ohne Spuren, ohne Erinnerung an die Schuhsohlen, die hier zwölf Stunden zuvor ein paar Sandkörner verschoben haben, flüchtiger als ein Gedanke. Die Hybris besteht darin, anzunehmen, man könnte sich hier dauerhaft aufprägen; Rücksicht nehmen zu sollen, Schonung walten zu lassen, darin liegt die eigentliche Selbstüberschätzung. Du bist nichts, Mensch. Du bist so wenig, daß du nicht einmal Rücksicht nehmen kannst. Mit deinen Vibramsohlen, deinem Outdoor-Outfit, deinen Brillengläsern und Fernrohren bist du weniger als ein Sandkorn, leichter als der Wind, der das Sandkorn an seinen Platz in den unerschöpflichen Ordnungen trägt.

Insulationen (1)

Beim Spaziergang über den Deich vergeht mir jede Wasser-, Schwimm- und Abenteuerlust. Der Wind schlüpft zu den warmen Händen in die Taschen, zupft hinten an der Jacke, brüllt Seefahrerparolen ins Ohr. Es stürmt, sagt der Binnenländer, und es ist ihm egal, daß das hier für Einheimische noch lange kein Sturm ist. Also stürmt es halt, ein anderes Wort steht für dieses Luftereignis nicht zur Verfügung. Luftkohorten, die von weit draußen Anlauf nehmen und den Spaziergänger vom Deich zu stoßen trachten, Inselwinde mit dem Geschmack nach Salz und Wolken. Es reißt am Gesicht, als flögen gleich die Augenbrauen dem Rotz aus der Nase hinterher.

Wir gehen, nun mit dem Wind im Rücken, vor dem Deich am Wattenmeer, das in der Flut langsam von Westen her volläuft, entlang nach Osten, auf einen fernen dunklen Fleck zu, der in dieser streckengeladenen Flachheit meilenweit entfernt scheint und sich, als wir dann doch irgendwie, vom Wind geschoben, näherkommen, als Haufen grauer Steine entpuppt, die von einer Vergangenheit als Ruine zu träumen scheinen. Und dann sehen wir das Bahnübergangszeichen, und allmählich werden von links über den Deich herabgeführt Bahngleise sichtbar. An dem Steinhaufen biegen sie nach rechts ab, überqueren den Weg und streben hinaus ins Watt. Rostige Stränge, Schwellen aus Beton, dazwischen zittert Wasser, der Schienenstrang verschwindet nach kurzem in einem Gewirr aus Marschpflanzen, Schlick und Wind. Erst auf dem Rückweg lesen wir auf einer Infotafel, bei dem Schienenstrang handele es sich um eine Verbindung zwischen der Hallig Langeneß und dem Festland. Diese ist auf einem Damm montiert, dem sogenannten Olanddamm. Ein Photo dazu zeigt einen Wagen, der wie ein Seifenkistenrennauto aussieht, aber einen Mast hat, mit einem schönen Segel daran. Ein Segel auf Schienen! So etwas kann auch nur Küstenbewohnern einfallen. Ein Segel hätten wir jetzt auch gerne, ein Segel, das uns schneller zu dem fernen, am windzerblasenen Horizont klebenden Hotel zurückbringt, aber der Wind käme sowieso von vorn.

Das einzige verbliebene Licht. Das Pilotlämpchen einer Türschelle hängt in der Nacht. Es schwebt ohne Verbindung zu stützenden Strukturen, gehalten nur von den Strängen der Dunkelheit. Ein verlorener Posten, nur noch von Pflicht und Durchhalten am Leuchten gehalten. Dauern wird es, bis sich Mauern darum herum materialisieren. Ankämpfen gegen die Traurigkeit, der letzte zu sein. Sich einbilden, man wäre der erste. Der Wind läuft eingebildeten Schritten hinterher. Hinter unsichtbaren Garagentoren sterben vielleicht Hunde.

Phoebe

Der Mond, fast voll, weißlich und gequetscht, über der schwarzen Kante einer Photovoltaikanlage. Ich verringere die Belichtungszeit, bis die Narben und Schrunden des gequälten Trabanten hervortreten wie der Leib eines alten Soldaten. Ich mache mein Bild, aber was im Sucher erscheint, hat nichts mit der eisigen Wirklichkeit des Gestirns zu tun, die Silhouetten der Gebäude, über denen es steht, die Dächer, die Tiefe des Bahnsteigs, das alles versinkt in dunklen Flächen, überläßt der leuchtenden Kugel darüber die Bühne. Und dieser Himmelskörper, keine Sonne, nur zu geliehenem Leuchten imstande und gerade in diesem Leihen ein Meister, steht über dem Dach, als wolle er alle unsere Bemühungen, uns die Sonne dienstbar zu machen, verhöhnen.

Irrtum

Spätes Begreifen aufgrund der unausrottbaren Neigung, von mir auf andere zu schließen. Es trifft nicht zu, worüber ich jahrelang erst gestaunt, dann gespottet, bald schon mich geärgert habe, daß die Leute auch noch in Bus, Bahn und Zug telephonieren müssen. Mein Irrtum bestand darin, anzunehmen, es handele sich um ein Laster, dem überall, und eben auch in Räumen, wo es nicht am Platz sei, gefrönt werde; dabei ist das Gegenteil der Fall: nicht auch noch in der Bahn, nein, gerade in der Bahn wird gequasselt. Bestand doch mein Denkfehler darin, vorauszusetzen, der eigentliche Ort zum Führen von Telephongesprächen sei das eigene Zuhause, die Festnetzleitung, und sonst benutze man halt das Mobiltelephon, wenn es sich nicht vermeiden lasse und telephoniere unterwegs, wenn es bis nach Hause zu weit sei. Weit, ach, allzu weit gefehlt! Zu Hause hat man Besseres zu tun; der Ort, die Zeit, wo man in aller Ruhe seinen konversationellen Pflichten und Bedürfnissen nachgehen kann — ist unterwegs. Wo man, auch darin sieht sich meine Erwartung getäuscht, eben nichts Besseres zu tun hat. Längst scheint es ja aus der Welt, daß man diese Zeit unterwegs nutze, indem man ein Buch oder die Zeitung läse.

Was den Wegen gelingt: sich selbst zu begegnen, wieder und wieder, Anfang und Ende zusammenzuknüpfen, Ankunft und Aufbruch gleichzeitig zu sein, bleibt unmöglich.

Also noch einmal in die Wanderstiefel, noch einmal die Haustür hinter sich ins Schloß fallen hören. Nicht auf den Regen achten, sich den Wald überstreifen wie einen Mantel. Bis ganz hinauf, wo die Böschungen müde am Weg stehen und sich mit den Erdschichten verzählen. Hinter den Hügeln arbeitet sich wie je die Ebene mit ihren Straßen an der Ferne ab. Keine Zeit für Glocken, unter den Steinen knackt schon die Dunkelheit mit den Gliedern. Der Wind bringt keine Geschichten; für die unseren ist er taub.

Von irgendeinem Weg weiter oben klingt Kinderlachen auf, gleich wieder verstummt, zu seiner eigenen Zeit etwas Spätes und Letztes, das es eilig hat, ohne es zu wissen, wie Blätterfall. Auf dem Schotter die Mumie einer vor Monaten vergessenen Socke. Unten im Tal ein geschlossenes Freibad, im gefüllten Becken schaukelt der Himmel mit Gewölk.

Es wäre Zeit, aber wofür? Vor der Hütte warten die Wege, abmarschbereit. Namen im Holz, Jahreszahlen, in der Dämmerung kaum noch lesbar, auch diese mußten weiter zu ihrer Zeit.

Gaza, 24.12.2023

“Steht in der Zeitung, sie haben jetzt Sprengstoffgürtel — für Kinder, in Gaza”, sagt mein Vater am Abendbrottisch, er sagt, “Wer plant so etwas?”, und er sagt, “Was sind das für Menschen, die sich so etwas ausdenken?”, und seine Stimme, als er das sagt, beinahe mitfühlend mit denen, die sich so etwas ausdenken, ist ganz klein.

Und auch

(Und auch dich kennt dieser Raum durch mich, kennt uns, und von Anfang an, kennt die Knospen und Wurzeln, die ersten sprossenden Silben des Gesprächs, das uns seither bis ins Körperliche hinein verbindet. Als ich schlaflos lag und die auf mich Ruhlosen herabblickenden Bücher bat, ihre Spiegelungen auch in der Scheibe, mir von dir zu erzählen. Hier war es. Und doch war es nicht hier. Es war nirgends. Es war in der Vergangenheit eines Ortes, der seine eigene Zukunft hatte, damals, wie wir die unsere, unbekannte.)