Wenn wir es schon so etwas Simples nicht hinkriegen, wie eine Uhrumstellung einfach bleiben zu lassen — die Sommerzeit kann exemplarisch für das Unvermögen der Menschheit stehen, aus schädlichen Erzählungen wieder herauszufinden.

Tempora mutantur

Es gibt nicht viel Konstanteres und Älteres in meinem Leben. Zwanzig Jahre — kaum ein Ereignis, ein Anfang, eine Errungenschaft, die nicht in diese Zeit hineinragen, von ihr grundiert würden. Darin enthalten sind zwei Kanzlerwechsel; die Huygenssonde; drei Päpste; ein Austritt aus der EU. In zwanzig Jahren wird ein Mensch erwachsen. Trägt ein Nußbaum zum ersten Mal Früchte. Dieses Blog ist jünger als der Beginn dieser Zeit. Mein Lateinstudium ist jünger. Zweimal die Wohnung gewechselt. Das Wandern in der Eifel begonnen. Den Marathon. Ja, selbst meine Ehe ist jünger, ihr Beginn liegt schon mitten in diesem Strom, der nun endet. Und was endet da! Nie hab ich das gewollt, daß der Beruf einen solchen Raum gewinnt. Nun will mir kaum etwas Bedeutsameres einfallen als die in diesem Rahmen eingefaßten, gehaltenen und geordneten Vormittage. Etwas, das halt auch noch da ist, nebenher mitläuft, keine besondere Wichtigkeit in mein Leben wirft, so hab ich es haben wollen, so hab ich es mir eingerichtet. Mag sein, es ist sogar gelungen, aber im Rückblick fühlt es sich nicht so an. Da stellt es sich vielmehr heraus, als hätte alles Schöne seinen Halt in dieser Routine; als hätte alles Schlimme auch seinen Trost darin gehabt. Routinen sind unterschätzt, in unserer alles Neue preisenden, aufgeregten Welt bringt man sie gerne mit Langeweile und einem Alltag zusammen, dem regel- und reflexhaft das Farbwort grau beigegeben wird. Für mein Leben sind sie immens wichtig, die Routinen, ohne bin ich unglücklich. Es ist indessen schwer, sehr schwer, in Routinen hineinzufinden und noch schwerer, sie auch gelingen zu lassen.

Und das war nun also auch dieses Jahr, und nichts mehr daran zu korrigieren. Gestern beim Einschlafen meinen Kummer mit dem Gedanken besänftigt, daß, egal wie es gewesen wäre, ich doch an diesem wie an allen Jahren immer etwas fehlen finden würde.

Egal, wie sehr man plant; wie streng man sich an die Vorsätze hält; wie genau man durch die Zeit steuert, wie sorgfältig man Orte zum Verweilen auswählt, Wege ansteuert, Verrichtungen einübt und Rituale: es bleibt ein unverfügbarer Rest, der sich einstellen muß, damit gelingt, was gelingen soll. Es muß sich etwas dazugesellen, eine Gnade, ein Segen, der durch nichts zu erzwingen ist, ja, sich vielleicht sogar umso mehr entzieht, je mehr man ihn herbeizuziehen versucht. Es ist nur sehr schwer, sich zu öffnen für etwas, das sich vielleicht nicht einstellen wird. Und unmöglich zu merken, daß man es gerade erfährt, in dem Moment, wo es sich doch einstellt. Wenn man die Berührung spürt, ist sie schon vorbei. Man spürt sie nicht, niemals, man hat sie immer erst gespürt.

Ich finde inzwischen diese Filme oder Romane zum Kotzen, die einen wie auch immer gearteten “Gegenschlag” oder “Rachefeldzug” der Natur gegen die Menschheit in Szene setzen. Ja, damit ist uns allen geholfen, wie? Soll uns das aufrütteln, oder was? Indem eine Fiktion unsere Sehnsucht nach Strafe erfüllt, danach, endlich von einer höheren Gewalt in unsere Schranken gewiesen zu werden? Indem wir uns ausmalen, wie die Natur zurückschlägt, suhlen wir uns in unserer eingestandenen Schuld und fühlen uns so richtig wohl dabei, wie eine Wildsau im Schlamm. Der Grund für die Freude an solchen Erzählungen dürfte eine ebenso verführerische wie trügerische Katharsis sein. Na, geht’s jetzt besser? Wer sich vom Grauen eines “Schwarms” oder von Ameisen, die die Herrschaft übernehmen, oder sonst einem Kokolores anwehen läßt, darf sich für einen Moment auf der richtigen Seite wähnen, wie die Propheten, wie die Autoren der Sintflutgeschichte. Wir lesen den “Schwarm” oder das Alte Testament und fühlen uns schon vom Grusel genug bestraft. Zumindest aber sind wir ja im Lager der Aufgeklärten, derer, die sich so ein fiktives Szenario überhaupt antun, die den Mut haben, sich den düsteren Visionen überhaupt zu öffnen. Derer, die noch ein Gefühl für Gerechtigkeit, mithin der eigenen Schuld haben. Der zweite Grund liegt darin, daß wir in einer solchen Fiktion nicht mehr verantwortlich sind. Wir sind darin nicht mehr die Obermacker des Planeten. Etwas ist größer als uns, und endlich müssen wir nicht mehr wählen. Endlich tut jemand was. Endlich wird für uns entschieden. Wir brauchen nicht mehr gut zu sein! Herrlich. Diese Befreiung ist schon einen Weltuntergang wert. Ist ja nur Fiktion.

Zum Kotzen finde ich auch diese selbstgefällige Attitüde, mit der manche Zeitgenossen das Artepitheton unserer eigenen Spezies in Anführungszeichen zu setzen belieben, also Homo “sapiens” sagen, “sapiens”, höhö, wobei sie sich selbst natürlich implizit von den Anführungszeichen wieder ausnehmen, als gehörten sie schon deshalb nicht zu den nur vermeintlich Verständigen, weil sie solche Distanz einzunehmen imstande sind. Nicht wahr? Und dann steigen wir wieder ins Auto, bestellen ein fettes Steak und planen die nächste Reise in die Karibik. Und pflastern unseren Vorgarten, ohne daß uns in den Sinn kommt, daß jedes ausgezupfte Unkraut genau davon handelt, was wir gerade als gruselige Fiktion im “Schwarm”, ja, geben wir es ruhig zu, genossen haben. Es ist wie eine Beichte, und die Buße macht auch noch Vergnügen — weil sie uns von den wahren Umweltsäuen distanziert. Das sind nicht wir, neinnein! Wißt ihr was? Es ist geheuchelt und widerlich. Ihr sagt “sapiens”, höhö, aber ihr könnt nicht dumm sein wollen. Was tut ihr, um zu beweisen, daß ihr es nicht seid? Es ist dumm, an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt; sich selbst aber als dumm zu bezeichnen — und munter weiterzusägen, das ist … das ist … ich weiß auch nicht mehr, was das ist. Ihr könnt auch nicht wollen, daß die Natur wie in den Filmen und Romanen oder der Herr in der Bibel ernst macht und Konsequenzen zieht, also schreibt und lest nicht so einen Unsinn, tut lieber was. Oder, noch besser, tut nichts, laßt bleiben. Laßt bleiben, was ihr gerade vorhattet. In aller Regel ist es nämlich nicht gut für das Leben auf diesem Planeten.

Grube Marie

Auf dem Burgenweg von Würxheim nach Hürxberg an der “Grube Marie” vorbeigekommen, dem aufgelassenen spätmittelalterlichen, im 18. Jahrhundert für kurze Zeit noch einmal bewirtschafteten Blei- und Silberbergwerk. Auf den Infotafeln sollen längliche Kleckse, über ein Geländeschema mit einem Bach und Wegläufen gelegt, die Stollen darstellen, die unter Bach und Weg im Grund verlaufen, da, wo ich jetzt vor der Infotafel stehe, unter meinen Füßen also. Sich tief unter einem Waldbach durch einen Stollen zu bewegen, ist eine paradoxe Vorstellung, aber offensichtlich war sie schon für mittelalterliche Bergleute nicht zu abwegig. Jede Abbauphase ist in einer anderen Farbe dargestellt, an Unübersichtlichkeit kaum zu überbieten, aber gerade das macht die Anlage so geheimnisvoll und anziehend, manche Kleckse haben die Form von Höhlen und stellen eine Assoziation mit ägyptischen Grabkammern her. Den Eingang (“Lebensgefahr! Betreten verboten!”) versperrt eine Wellblechplatte, die mit einem Vorhängeschloß gesichert ist. Dahinter Dunkelheit, aus der es modrig riecht, links gerade noch zu erkennen: eine Art Lore, ein metallenes Ding, vermutlich auf Rädern. Eine weitere Infotafel zeigt Photographien: Gänge mit niedrigen Felsdecken, Besucherstege, Lampen, Geländer, im Hintergrund mehr Stollen, mehr Dunkelheit. Ich stelle mir die Arbeiter des Mittelalters vor, fünfzehntes Jahrhundert, keine Maschinen, jede Verrichtung, vom Stollenvortrieb bis zur Wasserhaltung, mußte mit menschlicher oder tierischer Arbeitskraft erledigt werden. Mit welchen Gefühlen sind die Kumpels damals hier eingefahren (oder vielmehr gegangen, denn eine Fahrkunst gab es nicht), in dieses modrige Dunkel, das mir noch Jahrhunderte später durch den Spalt entgegenmieft? Ich schaue auf zu den Bäumen, den Eichen und Buchen, deren Wurzeln dort unten hineinreichen müssen. Anzusehen ist ihnen nichts. Nichts von den Unruhen im Grund, dem gestörten Gestein, den zerrissenen Muskeln der Erde. Die Wege liegen voll von Eicheln, es sind die gleichen Früchte wie schon vor sechshundert Jahren. Eine Bank mit etwas Herbstlaub darauf steht an der Wegbiegung. Niemand, scheint es, kommt hier je vorbei. Die Bank wird nicht so lange überdauern wie die Grube.

Schichten

“Mit einer gut funktionierenden Nase können Sie hier und da Faulgase wahrnehmen.” Das lese ich auf einer Infotafel, die das Gelände, ein lichter Pappelwald, als 1978 stillgelegte, renaturierte Mülldeponie ausweist. Minuten zuvor hatte ich mich über den Duft von vergammeltem Kohl gewundert, der zart in der Luft schwebte, und in Hundekot seinen Ursprung vermutet. Die Vorstellung, über vier Jahrzehnte alten Hausmüll zu laufen, ist nicht allein deshalb reizvoll, weil, was in zwei Metern Tiefe als vermoderte Schicht beginnt, Überreste von Gegenständen enthalten muß, die auch ich in meiner Kindheit hätte weggeworfen haben können, eine Capri-Sonnen-Tüte, eine Fritt-Verpackung, ein Sammelalbumtütchen, Durchschlagspapier, eine Audiokassette mit Bandsalat und andere heute vielleicht vergessene Dinge. Es hat auch seinen Reiz, darüber nachzudenken, daß diese Dinge unter meinen Füßen Spuren gelebter Leben sind, daß die Verpackungen, Staubsaugerbeutel und Porzellanscherben einmal in einem Einkaufswagen, in einer Besenkammer, in einer Küche standen, betrachtet, befühlt, benutzt wurden, Teil eines Alltags von Menschen waren, die in irgendeiner Beziehung zu ihnen standen — und daß diese Dinge jetzt da unten irgendwo immer noch liegen und vielleicht über die Hand nachgrübeln, die sie einst fortwarf; während einer wie ich dort langgeht, über den Schatten der Dingwelt, die einmal der Welt der Lebenden angehörte, und nun nicht mehr — aber immer noch, am Ende einer seltsamen Kausalkette (wie alles am Ende einer solchen Kette) existiert und, grübe man es aus, mit einiger Eingebung und Phantasie wohl auch noch — als Erzählung, als Zentrum eines Kontexts — deutbar wäre. Es braucht keine Archäologie dazu. Zur Faszination trägt auch jener komplizierte Nimbus bei, der stets anziehend wirkt an Aufgegebenem, Verlassenem, Zurückbleibendem. Die Geisterstadt Prypjat, aufgelassene Bergwerke, Schiffsfriedhöfe, geflutete Tunnel, Wracks am Grund des Ozeans, verstummte Raumsonden auf dem Mars. Gelebtes Leben, Reste, was übrig bleibt — aber auch Spuren, Geschichten und in den Geschichten die Geister, die darin wurzeln, die auf sublime Art manifeste Vergangenheit, die in den Gegenständen weiterwirkt, den Gebäuden, den überwucherten Straßen, den zerfallenden Artefakten. Man möchte sich eine besondere Spezies intelligenter Archivarwesen vorstellen, die sich überall dort ansiedeln, wo menschliches, in Narrativen sich artikulierendes Leben verschwunden ist, nachdem es dort längere Zeit ansässig war, auf seine Umwelt einwirkte und katalogisierbare Spuren hinterließ. Jemand, stelle ich mir vor, muß davon noch leben. Nicht im materiellen Sinn, nicht, indem es alte Kaffeefilter frißt. Sondern, indem es sich von sublimen Mustern abgelegten Lebens nährt, den morphogenetischen Prägungen praktizierter Lebensbewältigung, von den Geistern, den sedimentierten Schichten der Geschichten.

Geographie

Ein Eichhörnchen im Kirschbaum; die kaum knöcheltiefe, kieselklare Oure; die Ebene mit Blumenwiesen nach der einen, Gerstenfeldern nach der anderen Seite; die Hügel in der Ferne, deren Füße in der Tiefe verborgen im Fluß stehen; eine Ortschaft an den Hang geklebt, die wir kennen müssen und nach Auskunft der Karte tatsächlich kennen. Nasse Hunde interessieren sich für die Brötchentüte und stolpern über den Rucksack, Grabmale stehen in Grüppchen beieinander, beschattet von voluminösen Eichen. Symboliken des Untergangs, kirchenartige Oberflächen im Bogengang, Inschriften, die von einem Grauen berichten, das an diesem wunderschönen Ort ungreifbar und fern ist. Eine Art Dankbarkeit stellt sich ein, darüber, daß dieser Ort, indem er an das Böse erinnert, es für uns weit wegführt, an einen anderen, verschlossenen Ort voller Dunkelheit. Hier aber käme man gern öfter her, Friede strömt von den Eichen, dem Gras, dem Mäuerchen, das Licht steht ringsum in den Feldern, am Fluß ziehen die Weiden stromauf und stromab wie sanfte Herden.

Alte Wege, vertraute Orte flüchtig aufgesucht, wir haben es eilig, nach Hause und ins Bett zu kommen. Ich sage, hier haben wir uns über Iain M. Banks unterhalten, meine inneren Landkarten sind voll von solchen Orten, die mir, egal wo, Wehmut nach etwas Verlorenem einflößen. Je älter ich werde, desto mehr bevölkert sich die Geographie meiner Erinnerungen mit unerreichbaren Orten der Zeit und der Sehnsucht.

Hürxberg am Ellerntubel

Und der Weg hinunter, der halbwilde Weg den Bach entlang hinunter zum Wasserbehälter (wo man die Ebene sieht, die ganze Heimat auf einmal im Blick), da ist das Licht viel später, als es die Uhr sagt, und ich gehe ihn in der Dämmerung, dabei ist es erst vier Uhr, die Septembersonne noch warm und hoch am Himmel, ich gehe ihn in einer dämmrigen Abendstunde, allein deshalb, weil ich hier nach Hause gehe, wie ich nirgends auf der Welt jemals nach Hause gehen werde.

Und das ist alles so fraglos wirklich: die unverputzte Scheunenwand mit den Fenstereinlassungen ohne Scheiben, die roten Ziegelsteine zwischen den grauen, wie ein Strickmuster, die helle Mauer, die von einer Sonne, die man nicht direkt sehen kann, angestrahlten Dächer, und dahinter die grauen Regenwolken, vor denen das Mauerwerk noch heller strahlt, wie ein frisch restauriertes Fresko, das wir, nachdem wir es nur in Braun- und Grautönen kannten, nun zum ersten Mal in seiner echten Farbenpracht betrachten.

Die echte Farbenpracht. Was aber ist echt? Warum ist es echt? Und was verbindet mich mit diesem Anblick, daß ich die Sehnsucht verspüre, hier Abend für Abend zu sitzen und nichts weiter zu sehen als die Scheunenwand, eine Fläche, auf der meine Gedanken kommen und gehen? Mauern, Ziegel, Firste, alles so fest wie auf einem Bild, auf etwas Gemaltem. Wirklicher als echt. Manchmal ziehen eine Handvoll Sperlinge, ein Schwarm Stare vorüber, als hätten meine Gedanken, mir in ihnen abhanden gekommen, Freiheit erlangt.

Frederik

Der Herbst naht mit frischeren Nächten, und mit ihm wächst die Nervosität. Nach allem, was man so hört, steht uns ein kalter und teurer Winter bevor. Menschengemacht, wie so vieles. Irgendein Businesskasper kriegt an der Börse einen Schluckauf, und schon fliegen uns die Heizölpreise um die Ohren. Und als wäre das alles naturgestzlich und unvermeidlich, werden schon erste Stimmen laut, die sich in solcher Lage um die Aufrechterhaltung des Kulturbetriebs Sorgen machen.

Manchmal sehnt man sich nach einer einfallsreicheren Rhetorik, nach einem neuen Kniff. Einerseits, weil man die ewige Leier (G. Thunberg: “Blablabla”) leid ist; andererseits, weil man allmählich zu der Überzeugung kommen muß, für dumm gehalten zu werden.

Jedenfalls ist es schon nachgerade beleidigend, wie hier wieder einmal soziale Güter gegeneinenader ausgespielt werden. Wie überall: die Kita gegen das neue Seminargebäude, das Schwimmbad gegen Wohnungsbau, der Spielplatz gegen das Sommerkino. Als wären für beides die Mittel zu knapp. Wie groß aber müßte die Not sein, wenn wir wirklich vor solchen Entscheidungen stünden? Sicherlich wären dann keine 100 Milliarden für Kriegsspielzeug möglich gewesen. Sehen Sie?

Hundert Milliarden, meine Damen und Herren. Das sind hundert mal tausend Millionen. Zum Vergleich: Der Haushalt einer mir befreundeten Familie kommt mit 2400 Euro an Heizkosten einigermaßen über den nächsten Winter (das ist bereits fast doppelt so viel wie vergangenes Jahr, und das war auch schon ein teures). Von diesen für Blech und Sprengstoff verpulverten hundert Milliarden ließen sich also über 40 Millionen vergleichbarer Haushalte über den Winter bringen. 80 Millionen bei einer Heizzulage von nur 1200 Euro pro Haushalt. Pro Winter, nicht pro Monat, versteht sich.

Aber davon will ich gar nicht sprechen.

Wovon ich sprechen will? Von einem Irrtum.

Es ist eine erst in jüngster Zeit aufgekommene, gleichwohl weitverbreitete Fehleinschätzung: zu meinen, in Zeiten der Not sei Kultur entbehrlich, ein hungriger Bauch habe andere Sorgen als den Theaterbesuch. Völlig falsch, je schlechter die Lage, desto wichtiger ist die Kultur. Je kälter die Füße, desto größer die Sehnsucht nach Tanz und Theater. Je stiller und eisiger der Winterabend, desto befreiender eine Stunde Beethoven oder ein Abend mit Rossini. Davon wird man zwar nicht satt, aber wenn die Pizza nicht zu haben ist, hilft einem die Kultur, den Hunger besser zu ertragen. Kultur ist Ablenkung, Ermutigung, Ausflug und Aufatmen. Ist Alternative, ist Ausblick auf Besseres. Denn der Magen wird ja davon nicht voller, wenn die Vorstellung ausfällt und der Saal dunkel bleibt. Wenn wir das Museum aus Gründen der Ersparnis schließen, wärmt solcherart Erspartes keinesfalls die eigenen vier Wände. Doch zwei Stunden Sommernachtstraum im (beheizten) Theater lassen die Lage schon nicht mehr ganz so auswegslos und den nächsten Frühling viel näher erscheinen. (Wer sich schon einmal darüber gewundert oder sogar geärgert hat, daß obdachlose Bettler nicht selten ein Smartphone besitzen, dem sei gesagt: Schlimmer manchmal als Hunger ist die Langeweile).

Also, laßt uns, wenn ihr uns schon nicht das Heizöl bezahlen könnt (oder wollt), öffentliche Räume der Wärme, des Lichts, der Inspiration und der guten Laune! Laßt uns unsere beheizten Museen, unsere warmen Theatersäle, unsere beleuchteten Bibliotheken. Laßt uns Lesungen, Konzerte, Aufführungen, laßt uns auch Kirchen, Moscheen und Bethäuser, laßt uns, wenn wir schon zu Hause darben sollen, einen Ort, an dem wir das Darben vergessen und einen anderen Blick einnehmen können auf Welt und Krise, laßt uns unseren Helikon, wie flüchtig die Tänze der Musen dort auch sein mögen. Eine halbe Stunde dort macht viele Wochen Dunkelheit wett.

Es ist der allerletzte Ort, der verschwinden darf, wenn’s eng wird.

Fiktion ist, na ja, nicht wirklich

Was haben Ritter, Piraten, Hexen, Orks, Astronauten, Kriminalkommissare und Kasperle gemeinsam?

Sie sind allesamt Fiktionen.

Die einen — Ritter, Piraten, Astronauten und Kriminalkommissare — mag es zwar in der Wirklichkeit außerhalb der Fiktion auch geben. Mit dieser Realität haben sie aber so wenig gemein, wie Orks und Hexen gar keines realen Vorbildes bedürfen, um am fiktionalen Leben teilzuhaben. Ein Tatort-Kommissar ist daher ebenso fiktional wie ein Ork.

Es ist leicht zu sehen, warum das so ist. Die tägliche Arbeit eines Kriminalkommissars, das wirkliche Leben eines Piraten oder Ritters, vom Astronauten zu schweigen, ist entweder langweilig und unglamourös, oder elend und grausam. Ein Ritter, das war ein mitunter wenig vermögender Landadeliger, der sein Lehen ausbeuten mußte, um Waffen und Pferd unterhalten zu können, und verpflichtet war, seinem Lehnsherrn in den Krieg zu folgen, gleich wie idiotisch das Vorhaben auch sein mochte; wo er nicht selten seine Gesundheit verlor oder gleich sein Leben. So eine Gestalt taugt weder für die Tafelrunde noch für irgendeine andere Geschichte. Geschichten handeln nicht von der Realität. Sondern von dem, was wir dafür halten. Von unserer Erfindung der Realität. Mit anderen Worten, von einem Klischee. Keine Erzählung ohne Typisierung, ohne Klischee.

Der Irrtum nicht nur der Zuständigen beim Ravensburger-Verlag sondern all jener (die echten Indianer eingeschlossen), denen Karl May und seine Darstellung der nordamerikanischen Ureinwohner ein Dorn im Auge sind, liegt darin, zu meinen, Karl Mays eigene oder in seiner Nachfolge entstandenen Geschichten seien Geschichten über Indianer. Das sind sie nicht. Es sind Geschichten über Phantasie-Indianer, so wie Krimis Geschichten über Phantasie-Kommissare sind. Karl Mays Indianergeschichten brauchen, um zu funktionieren, keinen einzigen echten Indianer, noch weniger, als ein Krimi einen echten Kriminalbeamten benötigt.

Deswegen trifft auf Indianergeschichten auch nicht der Vorwurf des Rassismus zu, kann überhaupt nicht zutreffen. Die dargestellten Rothäute haben mit echten Angehörigen der Apachen, Navajo, Shoshoni, Potawatomi etc. genau so wenig zu tun wie die in diesen Geschichten auftretenden Cowboys mit den echten Kuhhirten des sogenannten wilden Westens; wie überhaupt der ganze wilde Westen eine einzige kolossale Erfindung ist.

Ich habe indessen noch keinen Viehwirt reden hören, daß er sich von der Darstellung von Cowboys diskriminiert fühle. Einem Kriminalkommissar, der sich ähnlich äußerte, würde man wohl auch mit einiger Verständnislosigkeit begegnen.

Belsazar

Zurückziehen ins Kleine. Im Großen kann man nicht mehr leben.

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Im Kleinen auch nicht. Die Zwetschgen am Baum, die Bienenschwärme, die die Jungfernrebe abernten, die Blütenpracht in K.s Garten, der rotschwarze Schmetterling an der Buddleya — alles eine papierene Hülle. Eine falsche Idylle. Der letzte Atemzug einer sterbenden Welt. Im Großen wie im Kleinen, im Außen wie in meinem kleinen privaten Leben — was wir kannten, was ich kannte, geht zu Ende, und es ist gar nicht fraglich, ob das, was kommt, besser ist. Es wird erheblich schlechter sein. Es wird schlimm werden. Sehr schimm.

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Was selbst der bescheidenste, genügsamste Mensch noch als gutes Leben bezeichnen würde, wird immer auf einem massiven Eingriff in natürliche Kreisläufe und Regelsysteme der Natur fußen, auf Verbiegungen dieser Regelsysteme zu seinen, des Menschen, Vorteil. Auf diese Manipulation verzichten zu wollen, würde wieder hohe Säuglingssterblichkeit, Tod nach Ablauf der Auslegungslebensdauer (30–40 Jahre), unvorhersehbare Schwankungen im Nahrungsangebot und in der Folge regelmäßige Hungersnöte bedeuten. Vom Fehlen “höherer” Güter wie elektrischer Strom, fließend Wasser, Schmerzmittel, Fernsehen oder Internet mal ganz zu schweigen. Natürlich ist nichts an unserem Leben, nichts.

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“Ich war schon an meinem Hause”, sagte Thomas, “und erst als ich sah, daß die Fenster noch alle hell waren und die Wagen unten hielten, bin ich umgekehrt.”
“Ja, sie leben wie Belsazar und seine Knechte … immer war das so in solchen Zeiten … man soll nicht schelten, man soll nur immer da sein, immer da sein …” Er legte den Kopf an die Lehne seines Stuhles und schloß die Augen. Jedes Linie des Gesichtes erstarb in erschreckender Müdigkeit.
(Ernst Wiechert, Das einfache Leben, S. 27)

Der Sommer war sehr groß

Nur noch leere Hallräume sind die Wälder jetzt. Nicht einmal Zaunkönige lassen sich noch hören, nicht einmal Rotkehlchen. Und kaum ist die letzte Stimme verstummt, ziehen sie wieder ein, fallen sie wieder her über den Wald wie Heuschrecken über eine Pflanzung: die Motorsägenmänner. Und übergroße Hornissen umschwirren in der Tiefe der Wege ein Opfer. Die Luft wird sauer unter dem zornigen Geheul. Was kann dieser Morgen dafür, daß Bäume starben? Krank ist nicht der Wald, krank ist die Stille, der an allen Gliedern Beulen und Geschwüre wachsen. Die Wege streben alle zum Ort des Geschehens, sensationslüstern schlängeln sie sich, drängeln sie um bessere Sicht, wollen die ersten sein, und ich werde von ihnen fortgezogen, wo ich überhaupt nicht hin will. Ein Lieferwagen mit einer Aufschrift, die lustig sein soll, steht auf dem Waldweg an einer Lichtung. Ahrweiler Kennzeichen, ich bin versucht, mir die Nummer zu merken, doch was bringt’s? Alles, was hier passiert in diesem, nein, nicht Wald, in diesem Forst (wem das hier Wald genug ist, der hält IKEA für ein Möbelhaus), ist sicher durch irgendeine paragraphene Rechtmäßigkeit gedeckt. Ich passiere das Fahrzeug, kein Mensch weit und breit, nur das anhaltende Heulen der einander ins Wort fallenden Hornissen, zu dem alle Wege hinfließen. Und dann gibt es aber doch einen Pfad, der sich schämt, mich am Kragen zupft, mich wegbringt von da. Schon fast zu Hause erschrecke ich über den Schrei eines Spechts, der warnt, aber wen, mich vor den Hornissensägemännern oder seine Artgenossen vor harmlosem mir? Nicht einmal den August konnten sie abwarten, die Idioten.

Vom Wetter

Seit Tagen ist schon von ihr die Rede. Kommt sie? Kommt sie nicht? Wann kommt sie? Kommt sie später? Wie schlimm wird es, wenn sie kommt? Wie lange wird sie bleiben, wie viele Tote hinterlassen?

Jetzt ist sie da.

Die Hitzewelle nämlich.

Über das Wetter spricht der Mensch vermutlich, seit er sich auf die Hinterbeine gestellt hat und den Kopf in den Nacken legen kann, um den Himmel, und alles, was sich dort abspielt, zu betrachten. Und nicht nur spricht er darüber, er denkt auch darüber nach, verflucht das herrschende, hofft auf besseres, hält Regentänze ab und versucht sich in allerlei Vorhersagen und Regeln (Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, etc.).

Doch während das Nachdenken übers Wetter eher den Meteorologen und Landwirten eignete, beschränkte sich der Umgang der meisten anderen Leute darauf, eine Regenjacke mitzunehmen, Salz zu streuen oder Sonnencreme einzupacken und ansonsten das, was der Himmel bescherte, zu nehmen wie es halt kam.

Damit ist es seit ein paar Jahren vorbei.

Denn das Wetter ist nicht mehr einfach nur das Wetter. Das Wetter ist ein Zeichen. Es steht immer auch für für etwas anderes. Es ist ein Symptom. Und wir, mit Argusaugen, orakeln an Himmel, Wolken und Wind als dem Symptomträger herum. Ist er das? Ist er das schon? Ist das dieser Dings, von dem jetzt alle reden, dieser Klimawandel?

Dabei ist dann selbst normales Wetter nicht normal. Normales Wetter, das gibt es nicht mehr. Nach welchem Maßstab normal? Es gibt auch kein normales Symptom. Ein Zeichen ist ein Zeichen, es bedeutet etwas. Und so bedeutet jetzt selbst ein erwartbar naßgrauer Novembertag etwas oder ein heißer Augustabend mit der Neigung zu Gewitter. (Welches auf jeden Fall zu stark, zu schwach, zu spät, zu grollend, zu naß oder zu wenig naß sein wird.) Wir legen den Kopf in den Nacken und runzeln die Stirn. Was mag dieser naßkalte Novembertag oder die Augusthitze bedeuten? Sicher nichts Gutes. Wir zittern vor dem Wetter, wie man vor einem Orakelspruch zittert.

So ist das Wetter nichts mehr, das wie der Große Wagen oder der Andromedanebel unabhängig von uns existiert, nichts Gegebenes mehr, das auch ohne uns da wäre und zu dem wir uns einfach nur verhalten müßten. Das Wetter ist, ob wir wollen oder nicht, in eine spannungsvolle Beziehung zu uns eingetreten. Es fordert Rechenschaft von uns. Es war nicht vor uns da. Es erinnert uns mit jedem Regen, mit jedem Hagelschauer und jeder Hitzewelle an etwas, das wir lieber ausblenden würden.

Es ist unser Werk. Die Geister, die wir riefen.

Delta. Hürxberg

Die Vögel nehmen keinen Abschied. Sie verschwinden einfach. Eine Stimme nach der anderen verstummt. Als legten die Musiker in einem Orchester einer nach dem anderen ihr Instrument nieder und verließen die Bühne. Bis nur noch eine Handvoll Instrumentalisten ihren Part spielen, noch drei oder vier, eine Geige, zwei Violoncelli, eine Oboe, dann nur noch die einsame Oboe, dann niemand mehr. Wie abgestorbene Bäume stehen die Notenständer herum.

Und im Schweigen rollt unser Morgen heran. Er ist der erste einer unabsehbar langen Reihe. Es wird Tag werden auf Erden und Nacht und wieder Tag. Um die Steine kreisen die Schatten, die Flüsse entleeren sich ins Meer, der Horizont schluckt Wolken. In der allumfassenden Stille harrt die Partitur aus unter dem blinden Himmel.