Halb sechs, letzte Stunden des Jahres. Vereinzelte Böller platzen nah und fern. Sonst ist es still. Das Treppenhaus kehrt in seinen eigenen Wendeln wieder. Sehr fern murmeln die Straßen. Um halb fünf sind Glocken gewesen, lange, festlich und traurig, wie Glocken immer sind. Ich höre vor allem das Traurige darin, die Sehnsucht, den Ausdruck eines unbenennbaren Verlustes, die Erinnerung an etwas, das einmal war, gestern, letztes Jahr, vor Jahrhunderten, und jetzt nicht mehr ist. Einmal, denkt man, müssen die Glocken anders geklungen haben. Tosend, jubelnd, zornig, selbstgerecht, hoffnungsvoll, panisch, freudig. Als das, was sie jetzt beklagen, noch nicht verloren war und sie auf nichts zeigten als auf die Gegenwart. Ich bin ein Kind, das die Nase an einer kalten Scheibe plattdrückt und in die Winterdämmerung hinausschaut, sehnsuchtsvoll, und es weiß nicht, wonach, und die verschneite Welt birgt diese hallenden, wogenden, klagenden Stimmen, irgendwo weiß vielleicht irgendwer, was verloren ging, und warum die Glocken so traurig sind. Das Gesicht spiegelt sich im Glas, ein Atemhauch fliegt darüber, noch ein Glockenschlag und noch einer, träger jetzt, mit längeren Pausen, wie ein Schluchzen, das sich langsam erschöpft. Schon damals, schon in der Kindheit, war alles voller Vergangenheit und Stunden wie diese, da die Abendglocken schlugen und ich vielleicht Fieber hatte oder Husten, angefüllt mit einer Trauer, von der ich gar nichts wissen konnte. Als würde ich mich nach eben der Kindheit bereits zurücksehnen, die ich gerade erlebte. Als würde ich Zeuge meiner eigenen dereinstigen Vergangenheit. Als wüßte ich schon, daß dieser Blick in die Winterwelt, über die der Glockenschlag sich in Wellen breitete, einer viel späteren Zeit angehörte; als sähe ich mich selbst von sehr, sehr fern, als das lang versunkene Kind, das ich in diesem Moment noch war. Das, was ich erlebte, war unendlich kostbar, und zugleich war unbegreiflich, warum es so kostbar war. Es war etwas, das ich verlieren würde, bevor ich es besäße, etwas, das ich erst wissen würde, wenn ich es vergessen hätte. Etwas, das ich in genau diesem Augenblick verlor, als der letzte Glockenschlag bebend in der Dunkelheit verklang.
Haareis (Für L.)
Unbefleckt
Man kann, wie Antje Schrupp das tut, die jungfräuliche Empfängnis Mariens mit dem Hinweis, es sei inakzeptabel, den Wert einer Frau an ihrer sexuellen Vergangenheit bemessen zu wollen, in Bausch und Bogen als patriarchalen Feuchttraum ablehnen — oder man nimmt die Geschichte ernst: dann bleibt man für andere Deutungen offen, die vielleicht nicht historisch-exegetisch zu verteidigen sind, aber dennoch prima Sinn ergeben. Wie es ja die Natur von guten Geschichten ist, offen für alle möglichen Deutungen zu sein. Die jungfräuliche Empfängnis steht für das Unmögliche, das im Wunder möglich wird. Sie ist so unmöglich, wie es unmöglich ist, daß Farn blüht, Vögel Milch geben oder Hasen Eier legen. Sie widerspricht jeder biologischen Erfahrung. Ist die Welt auch gesetzmäßig eingerichtet, so zeigt sich Gott in der Jungfrauengeburt als der, der an die eigenen Gesetze nicht gebunden ist. (Denn für Gott ist nichts unmöglich, Lk 1, 37.) Was aus menschlicher Sicht schon die ganze Welt schien, erweist sich als unvollständig, erweist sich als begrenzt, erweist sich gegenüber dem, was Gott ist, verarmt, des Wunders bedürftig. Man könnte salopp sagen, da ist noch Luft nach oben. Die Geburt Jesu durch eine Jungfrau ist eine Revolte gegen den Verstand und gegen das vermeintliche Wissen, das die Welt für vollständig hält. Die Welt stellt sich als unvollständig, als größer, viel größer heraus, als wir glaubten. Das Wunder ist der Ort, wo Gott diese größere Wirklichkeit für einen Moment aufscheinen läßt, indem er die Oberfläche, auf der wir leben und die wir für alles halten, als Willkürakt durchstößt. Als Zeichen seines Willens, der, an keine Kausalkette gebunden, eine eigene neue initiieren kann.
Freilich tut es zu diesem Zweck jedes beliebige Wunder. Gott hätte Jesus auch mit einem Schaf zeugen, ihn aus dem Oberschenkel Josephs heranwachsen oder ihn aus einer Schaumkrone ans Ufer spülen lassen können. Narratologisch-theologisch stellt sich das Problem, daß Gottes Sohn zwar das irdische Dasein mit allen Konsequenzen antreten, daß er ein Mensch aus Fleisch und Blut sein, daß er schwitzen und hungern und leiden, daß er den Härten des Irdischen unterworfen sein muß wie der Rest der Menschheit. Andererseits muß aber auch irgendwo die göttliche Herkunft durchschimmern, muß es irgendwo nicht mit rechten Dingen zugehen. Zu göttlich, und man glaubt dem Gottessohn sein Ausgeliefertsein an die irdische Natur nicht mehr: schließlich sind nach griechischer Erzähltradition alle von Göttern mit Sterblichen gezeugten Kinder nicht ganz von dieser Welt, haben einige interessante Eigenschaften ihren Mitgeschöpfen voraus oder sind gleich selbst Götter oder zumindest gottgleiche Wesen, jedenfalls kraft ihrer Herkunft auf die eine oder andere Weise privilegiert. Ein solches Privileg darf Jesus nicht haben, sonst fällt die theologische Konstruktion in sich zusammen. Die Fleischwerdung wäre quasi gemogelt. Aber ein kleines Wunder muß schon auch sein, sonst glaubt man die Vaterschaft nicht. Wenn nun schon das Gezeugte recht normal zu sein hat, verlegt man das Wunder eben, zwar nicht in die Mutter, aber immerhin in den Vorgang der Zeugung selbst.
Auch seltsame Zeugungsvorgänge haben eine gute Tradition im Mythos. Wie genau soll etwa Zeus in Gestalt eines Schwans Leda geschwängert haben? Oder Danae — recht abstrakt — in der Körperlichkeit eines, ähm, Goldregens? (Ein Schelm, wer hier an golden shower denkt.) Von Kopf-, Schenkel- und Schaumgeburten mal ganz zu schweigen. Ich nehme an, die Griechen hätten über das Gewese, das Theologen, Kirchenkritiker, Häretiker und neuerdings Feministinnen über die Jungfrauengeburt machen, angesichts etwa der Zeugung des Orion nur mit den Achseln gezuckt. Aber der Gott der Juden ist theologisch von ganz anderem Kaliber; dieser Gott ist so unfaßbar, daß die Schnittstelle zwischen Göttlichem und Menschlichem zum Problem wird. Will man ihn in einer Erzählung Vater werden lassen, muß man mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen. Man kann diesem hinsichtlich Gestalt, Wesen, Natur ziemlich zurückhaltenden Gott nicht einfach einen Penis andichten. Daß Zeus einen hatte, daran besteht wohl kein Zweifel, zumindest berichtet der Mythos deutlich genug von göttlichen Ejakulationen. Da ist eine Menge Fleisch, wenn auch göttliches Fleisch im Spiel, wenn Götter zur Zeugung schreiten. Aber der alttestamentliche JHWH? Man tut sich schwer bei der Vorstellung, Gott habe bei Jesu Zeugung mit einem Penis in Marien Schoß herumgefuhrwerkt, sei dabei etwas grob zu Werke gegangen und habe dabei ein Häutchen zerrissen. (Das Hymen ist natürlich ein Mythos ganz eigener Art, aber darum soll es jetzt nicht gehen. Ich finde es nur interessant, daß bei den Griechen und Römern nie die Rede davon ist. Unerlaubter Geschlechtsverkehr verrät sich dort niemals durch Blut auf dem Laken, sondern immer gleich durch die Schwangerschaft.) Jedenfalls ist, wenn man schon an ein Hymen glaubt, der Schluß geradezu unausweichlich, daß dieses bei Gottes Intervention heil blieb — ganz einfach, weil die umgekehrte Vorstellung lächerlich wäre. (Wie es um den Zustand der noch einmal davongekommenen Membran nach der Geburt bestellt ist und ob es auch der Austreibung unseres Erlösers aus dem Geburtskanal standgehalten habe, mag hier mal außen vor bleiben.) Gott muß das also anders bewerkstelligt haben — aber wie, das entzieht sich in einer Weise, wie es eben typisch für diesen Gott ist, der Vorstellung. Allzu konkret (Goldregen?) dürfen wir hier nicht werden, sonst würde das Unnahbare und Unmanifeste Gottes in die Dinghaftigkeit gezerrt und zerstört. Das Konkrete ist der Feind des Mysteriums. Wenn man sich auf das Konkrete einläßt, entfesselt man eine Kaskade unangenehmer Fragen und Schlüsse. Wenn Gott konkret eine menschliche Frau schwängern konnte, dann muß er einen Penis haben. Dann muß er praktischerweise auch eine Erektion gehabt haben. Dann muß er auch ejakuliert haben. Hat er Vergnügen dabei empfunden? Irgendwie ist die Vorstellung absurd, Gott (dieser Gott zumal) könne Spaß am Sex gehabt haben. (Mit wem hat er dann Sex, wenn er nicht gerade Erlöser zeugt? Oder war ihm einmal genug? Und was ist eigentlich aus den nicht zum Zug gekommenen göttlichen Spermien geworden? Oder enthielt das Sperma Gottes nur eine einzige Samenzelle?) Wenn ein Gott, der Spaß hat, abwegig ist, ist freilich auch ein zürnender Gott abwegig, aber das führt jetzt zu weit. Jedenfalls bringt das unangetastete Hymen der Muttergottes diese und ähnliche Überlegungen mit einem Mal zum Verstummen, indem es darauf verweist, daß die Zeugung Jesu in einem unbegreiflichen Raum stattgehabt haben muß. Das Problem ist, wie man den Übergang vom Unmanifesten Gottes zum Manifesten von Schwangerschaft und Geburt gestaltet. Das heile Hymen Marias ist seine narratologische Lösung.
Sechs Uhr abends, seit einer Stunde dunkel, die Glocken läuten, sie läuten Heimat, läuten Frieden, läuten Hoffnung, läuten Trost. Vom Wald herunter bin ich vorhin an der Kirche vorbei gestapft, da dämmerte es schon. Aus dem halboffenen Portal fiel ein warmer Lichtschein auf die Stufen, und für einen Moment war ich versucht, hineinzugehen, verschlammten Fußes und verschwitzt wie ich war. Ich tat es nicht, mehr aus Eile, nach Hause zu kommen, denn aus Fremdheit den Glaubensdingen gegenüber. Nur die Glocken sind von diesem Teil meiner Lebensheimat übrig, das andere habe ich all die Jahre nicht beachtet. Vielleicht wird es Zeit, das wieder hervorzuholen und ernst zu nehmen, was mir guttut. Schließlich sind nicht die Menschen für Gott, sondern ist Gott für die Menschen da, auch für die Ungläubigen wie mich, vielleicht gerade für sie.
Das war im November: Asberg
Wenn jetzt eine Faust aus dem Wasser sich streckte, mit einem Schwert darin, und dies Schwert dreimal schüttelte, ehe sie wieder verschwände — man wäre an diesem Ort kaum erstaunt. Schilf hilft dem Nebel, ans Ufer zu kommen, die Bäume treten einen Schritt zurück und angeln nach Schlick, eine unhörbare Ursache wirft Ringe zur Wasserfläche hinauf. Ein Zucken von Schatten, und drüben, wo kaum das andere Ufer sichtbar wird, scheint es schon Abend zu werden.
Eine Erle streckt ihre fast ganz entlaubten Äste übers Wasser. Der Grund ist aufgeweicht, schlammig, von grauschwarzem Erlenlaub bedeckt. Der Pfad hierher, nicht leicht zu finden, windet sich durch Gestrüpp. Das Wasser, eher fühl- als sichtbar, zeigt sich erst, wenn man fast hineintritt, und verleibt sich Sumpfflächen ein, die die Grenze zwischen Land und See verschwimmen lassen. Ist das schon Spiegel mit treibenden Blättern oder Blätter, die über einer Schlucht hängen? Ein Vexierspiel, in der die Luft selbst spiegelnde Schichten einzieht, die sich als Trug erweisen und das Auge taumelnd weiterstürzen lassen. Wagte man hier zu schwimmen, bliebe man vielleicht aufgehängt zwischen den Spiegeln gefangen, eisig und zappelnd.
“Du willst doch jetzt nicht etwa ins Wasser?” Dazu ein Himmel, aus dem das Licht diffus und richtungslos ohne Schatten und ohne Reflexe fällt.
Aber ich habe die Schnürsenkel bereits gelöst und lehne mich mit dem Rücken an die Erle, um die Socken abzustreifen. Ringsum herrscht tiefe Stille, die Geräusche einer Landstraße kommen aus einem Traum, der seine Ränder nicht mit diesem Ort teilt.
“Na, doch.” Meine Stimme klingt wie in einem Karton. Irgendwo hinter den nebligen Brombeeren und Erlen sind Spaziergänger mit Hunden unterwegs, laufen Jogger in grellen Klamotten herum, aber diese Sphäre haben wir verlassen, indem wir uns über die Warnung von umgestürztem Baumstamm und Gestrüpp hinweggesetzt haben.
Braunes Laub drückt sich zwischen die Zehen. Meine tapfere Begleitung bietet mir ihren Arm als Kleiderständer. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich weiß, was ich tue. Wie jedesmal bei solcher Gelegenheit weiß ich aber selbst nicht mehr, ob ich das weiß. Das Wasser ist still, grau, vollgesogen vom Nebel, der über dem Ufer hängt wie eine bergende Hand. Mehr als anderswo bin ich Fremdkörper, Eindringling, unerwünscht, nur kurz geduldet. Wäre das Wasser wärmer, würde es wahrscheinlich schmeicheln, wäre weich und kühl wie die Gewandfalten auf einem Renaissancegemälde. Kalt wie es ist, unter acht Grad sicherlich, gleicht es eher einer Ritterrüstung, schwerem Stahl, der auf jeden Zentimeter Haut drückt. Ich habe die Mütze aufgelassen, untertauchen kommt nicht in Frage, fünf, sechs Schwimmzüge bringen mich in Sichtweite einer hinter Erlenbestand verborgenen Bucht, der See öffnet sich. Plötzlich stürzt ein Reiher aus dem Wald, schwingt sich so nah in die Luft, daß ich meine, den Flügelstrom im Gesicht zu spüren. Ich drehe mich auf den Rücken. Das Wasser färbt die Haut kupferfarben. Besonders klar ist es nicht. Der Nebel setzt sich unter Wasser fort. Und still ist es, sehr still, das Plätschern der Schwimmzüge weithin das einzige Geräusch. Sagenstill. Visionen- und Illusionenstill. Ich bin zu beschäftigt mit meinem Körper und seinen Signalen, um in diesem Moment zu sehen, was zu sehen gewesen wäre. Fern am Ufer wartet meine Wanderfreundin, und mir schmerzen die Glieder vor Kälte. Das hier ist etwas völlig anderes als vorgestern am Dümpfhaub. Als hätte der November über Nacht beschlossen, ernst zu machen. Mit kräftigen Stößen sehe ich zu, das ich schlammigen Grund gewinne, und taumele lange Augenblicke später ans Ufer. Meine Wanderfreundin reicht mir strahlend das Handtuch. Hast du ihn gesehen, fragt sie.
Nein, wen?
Den Eisvogel!
Ich habe nichts gesehen, wieder einmal war ich nicht da, nicht wach, nicht bereit. Ich sehe die Dinge immer erst später, am Schreibtisch, nicht klarer, aber schärfer umrissen in der imaginären Erinnerung. Blau, blitzend, eine Fremdwimper im seitwärts taumelnden Blick, im Davonzucken kaum zu registrieren, ein Wahrzeichen der Stille an diesem Ort, ein Siegel, das uns ausschließt von hier, eine Linie, die wir nicht übertreten können, und kämen wir auch mit Booten, Flößen, Plattformen, rückten mit Kameras und Tauchausrüstung dem See zu Leibe. Wir könnten nie einen Ort mit dem Vogel teilen.
Ich trockne mich schnaufend und schnaubend ab, das Handtuch bekommt schiefergraue Flecken, die noch Wochen später sichtbar sind, ich lasse mir von meiner Frreundin die Klamotten einzeln geben und zwänge zuletzt die eisigen Füße in die Schuhe, in denen kein Rest Wärme zurückgeblieben ist. Brombeergestrüpp, Erlenbüsche, sumpfiger Weg, dann die Stacheldrahtrollen, die zukünftige Besucher demnächst schon weit vor dem Ufer stoppen werden, unter einem umgestürzten Baum durchgeklettert, dann sind wir wieder auf dem Wanderweg und in der Welt der grellen Joggingklamotten, Bell00-Tüten, Funktionsjacken und Händiegelaber. Im Blick zurück sieht der Ort hinter den drahtigen Vegetationsschichten unzugänglicher aus als jemals ein durch Stacheldraht abgeriegelter Bezirk. Um uns laufen und hasten und quasseln Menschen; da hinten aber, nunmehr unerreichbar, läßt der Vogel sein unglaubhaft-blaues Gefieder leuchten, niemandem zu Gefallen als nur ihm selbst.
Solstitium
Schritte, zwei, der erste auf Grund, ins nirgends der zweite,
Was wie ein Augen-Blick bricht, fängt, noch im Fallen, das Licht.
Hellem Schweigen geraubt, als Pilger entblößt sich ein Windhauch.
Weither geeilt zum Altar, steht in den Schuhen die Zeit.
Immer nur armlang entfernt die nie zu erreichenden Glocken.
Immer ein Stückchen voraus zählt seine Meilen der Weg.
Lang der eigene Schatten, und weich, wie von Fremdem geworfen.
Taumelnder Falterflug bleicht in verwitterter Luft.
Das war im November (2)
Noch einmal Wuppertalsperre. Vergessen, auf die Uhr zu schauen. Mit dem Gefühl, eigentlich wäre die ganze Strecke bis zum anderen Ufer zu schaffen, etwa bis zur Hälfte geschwommen. Es reicht ja nicht, die 180 Meter bis dorthin zu schaffen; man muß ja auch wieder zurück. Andererseits, was soll passieren? Ich würde bestimmt nicht vor Erschöpfung absaufen, sollte es am Ende doch anstrengend werden. Inzwischen sind bestimmte exquisite Kälteempfindungen bereits vertraut, und darauf kommt es wohl an: wiederzuerkennen, was mit einem passiert, während man in 8° kaltem Wasser eingetaucht ist. Wiedererkennen, und, was sich als Abfolge von Phasen wiederholt, als Wegemarken nehmen. Wissen, bis zu diesem Punkt ist alles gut, was danach kommt, probiere ich besser nicht weitab von Ufer, Handtuch und warmen Klamotten aus.
Das Wasser ist ohne Glanz, von kleinen Wellen bewegt, grau unter dem tief hängenden Himmel. Morgens noch Regen, auf dem Weg noch ein paar Spritzerchen, mehr nasse Luft als echte Tropfen. Mehrere Kranichzüge, Minuten vorm Erscheinen schon durch Trompeten angekündigt, ziehen vorbei, eine Weile löst ein Zug den nächsten ab. Wie schön das wäre, denke ich, ein solcher Kranichzug würde über den Talsperrensee fliegen, während ich im Wasser bin. Zwanzig Minuten später ist es tatsächlich so weit. Ich höre sie, bevor ich sie sehe, drehe mich auf den Rücken, und da sind sie, tauchen in den Glasrand der Schwimmbrille, viel tiefer, scheint es, aus der Perspektive des Schwimmers als von Land aus gesehen, und lauter auch, ein schönes Dreieck athletischer Flieger, und ich denke an jenen Moment, da ein Reiher in Zeitlupe übers Wasser strich, im Sommer, gar nicht so lange her, und bin glücklich.
Das war im November (1)
Spaziergänge vom Bahnhof Obertwiern hinauf zum Dümpfhaub. Jede Woche jetzt ein- oder zweimal der Weg. Erst Spätsommer- dann unmerklich Herbstregister im Laub, die Wege beginnen zu nuscheln und mit den Zähnen zu knirschen. Erste verhüllte Vormittage, kalt wird es trotzdem nicht, ich komme jedes Mal verschwitzt am See an, streife vorm Bad ein feuchtes T-Shirt von den Schultern. Blätter fallen, jedes einzeln und wie zufällig. Als ginge der Herbst die verbleibenden nichts an. Ich aber ginge den Herbst gern, oder der Herbst mich, etwas an.
Und so, in einer Beziehung wechselseitigen Etwas-Angehens, wäre ich wieder so sehr Teil der Welt wie ihr melancholischer Beobachter. (Muß ich deshalb so verzweifelte Dinge unternehmen, wie im November im See schwimmen — ist es der Versuch, die Trennung zur Welt durch Schmerz zu überwinden? Weil die Welt mir anders nicht als durch eisiges Wasser auf der Haut zu brennen kommt?) Ein Vers: “Erster Versuch: Melodie. Die das Blaue der Ferne herbeizieht.” Der Herbst bleibt fern, keine Musik zieht ihn ins Nahe. Selbst der Schlaf ist sachlich und gut. Die Wege: bereitwillig. Doch ohne Seele, nicht mit dem Herzen dabei, nicht bei mir. Es ist eine seltsame Beiläufigkeit in allem, eine Routine, über der man das Erstaunliche vergißt. Oder man vom Erstaunlichen als seinesgleichen — vergessen wird.
Schwangau (3)
Es soll tatsächlich Touristen geben, die sich über das Gebimmel der Viehglocken aufregen und über die Kuhfladen auf der Straße ärgern. Was wollt ihr hier, denke ich, was erwartet ihr euch von diesem Land? Ihr wollt Idylle ohne Klänge und Gerüche? Bleibt zu Hause und schaut euch lieber einen Heimatfilm an.
Abends aus dem Wagen steigen und das Gesicht in die Regenluft tauchen. Zusammen mit dem Herdrauch und den Kuhglocken ist da sofort wieder dieses immense Zuhausegefühl, eine Heimat der Zeit, abgelegte Spielzeug-Fremde, eine verlorene Art des Daheimseins, nach langer Fahrt, an einem wilden, abendkalten, bachklirrenden Ort im Schatten von Bergen. Damals zogen wir unsere Heimat in den vier Wänden des Wohnanhängers mit uns herum und waren, wo wir auch eintrafen, und sei es ein Atobahnrastplatz, daheim. Die Fremde blieb zahm, legte sich auf die Türschwelle und schnurrte. Menschen brauchen einen Innenraum, und sie schaffen ihn sich, wie Sloterdijk gezeigt hat, wo auch immer sie sich niederlassen und mit ihrer Umgebung auseinandersetzen.
Schon eine Nacht in der Ferienwohnung, und man kennt die Winkel und die Entfernungen und die Geräusche. Man entfernt sich sehr schnell vom ersten Eindruck und schaut auf die Ankunftsstunde mit Verwunderung. Man kennt noch die Fremdheit dieses Augenblicks, als man die Wohnung zum ersten Mal betrat, aber man empfindet sie nicht mehr. Man füllt die Räume mit Traulichkeit, und die Fremde bleibt vor der Tür.
Der Fremde ausgesetzt sein, mit allem, was man ist, das ist schrecklich. Die Heimatlosigkeit und das Heimweh. Mit müden Gliedern in einem regennassen Wald nichts als ein mickriges Zelt haben für den Bau der Heimatblase. Unter einer Masse gutgelaunter Gleichaltriger im Zeltlager einen Platz für Intimssphäre finden müssen und aber nirgends finden. In einem schmutzigen Hotel absteigen, von schlechtgelauntem Personal empfangen werden. In einer fremden Wohnung mit fremden Familienregeln unterkommen müssen. Der Grund, warum ich nicht mehr reise und eigentlich nie hätte reisen dürfen, ist der, daß ich sehr spezielle Dinge benötige, um diesen magischen Kreis des Zuhauseseins um mich zu ziehen. Ich brauche einen Filter zwischen mir und der Fremde. Eine Wand, die nur ich öffnen kann. Selbstwirksamkeit und vier Räder samt Motor. Das bewirkt ein Nicht-Ausgeliefertsein, das für die Reiseideologen gar kein richtiges Reisen ist.
Dümpfhaubsee
Dümpfhaubsee
Neue Erfahrung von Kälte. Das Thermometer zeigt 7° Wassertemperatur, mit gutem Willen und scheelem Blick 7,5°. Neulich schon bis fast zur Hälfte des kleinen Sees am Dümpfhaub zurückgelegt, gestern dann wirklich die Hälfte, bis an die Stelle, wo sich das Gewässer weitet. Meine zehn klammen Schwimmzüge bringen mich nicht einmal an den Rand der Nachbarschaft des Vorbereichs dieser Zone, schrieb ich im Frühjahr; inzwischen bin ich da, wohin zu gelangen damals unmöglich schien. Beim Zurück dann ein erstaunliches Brennen in den Oberarmen. Keine Schwäche; aber eine spannende neue Empfindung; ein Gefühl von Wärme, wie von einem Panzer. Die Atmung macht noch Probleme, tauche ich den Kopf ein (in der graugrünen Wassersäule schweben hydrostatisch aufgehängte Blätter und vermitteln ein Gefühl von Tiefe und Räumlichkeit, deren es der trüben Brühe sonst ermangelt), will mir der Atem stocken, man muß eine Weile untergetaucht bleiben, und sich zum Ausatmen zwingen. Immerhin schmerzt die Stirn nicht mehr, das war vor zwei Tagen noch sehr unangenehm. Was sonst noch schmerzt, davon will ich lieber schweigen … Was bei normalen Wassertemperaturen nicht auffällt, daß ich rechts nicht so gut atme wie links, wird, je kälter das Wasser, desto deutlicher.
Schwangau (2)
Früh am Tag in Füssen, ein Herbstmorgen Ende September, die Berge überzuckert von vortäglichem Schneefall, die Straßen naß, die Luft kalt, klar, trägt jedes Sonnengleißen leicht und weit in die verschatteten Straßen hinein. Leuchtender Kaminrauch, darunter stehen die Häuser kältestarr, Atemwölkchen verdampfen von den Lippen der Touristen, die sich, noch nicht allzu zahlreich, am Bussteig (“Tegelberg Station via Castles”) einfinden.
Ein katholisches Land, die Glocken tragen uns stundenlang bergauf, bis wir das Tal hinter uns gelassen haben.
Überhaupt, Glocken: eine Herde Kühe ist vom Schlafzimmerfenster aus hörbar am Abend. Wenige Geräusche sind so friedevoll wie das Läuten von Viehglocken, munter, behaglich, träge wie die Wiederkäuer selbst, die die Glocken tragen.
Nachts Stille, wie man nur sehr selten nichts hört. Es ist weniger als nichts zu hören. Als wäre der Raum, in dem sich das Schweigen abspielt, größer als dort, wo ich zu Hause bin. Als verteilte sich das Schweigen und würde dabei immer noch tiefer, nein, nicht tiefer; reiner, klarer, durchhöriger, offener und empfindlicher für jedwede Störung. Ein hochskaliertes Nichts, die akustische Parallele zur Nachtschwärze, in der selbst ein raschelndes Blatt, ein fallender Tropfen, der Schritt eines Vogels noch wie Lärm toben würde.
Schwangau (1)
Fahrt durch Wiesen, gepflegte, wie Teppiche dargebotene Flächen. Die häufigen Raubvögel, Bussarde wohl, wollen gar nicht passen zu dieser Gepflegtheit. Die Anwesen stehen auf winzigen Inseln darin. Man spart am Gärtlein, es ist knapp den die Gehöfte umwallenden Wiesen abgezwickt, Wiesen, Weiden, Heu sind wichtiger als Rosen und Hortensien.
Vermeintlich harmlos strecken diese Weiden sich, freundlich und grün spannen sie sich über sanfte Hügel, bedrängen dabei aber Forste, die sich, in die Vereinzeltung getrieben, von allen Seiten vom Offenen belagert, kaum behaupten können.
Das Land der Weiden aber ist selbst in Gefahr. Irgendwann schiebt sich eine Art Schatten ins Sichtfeld, während der Zug träge durch dieses Wiesenland rattert. Zuerst scheinen es Wolken zu sein, doch dann verdichtet sich diese Masse zum Grund hin, bis deutlich wird, das Dunkle, gegen die Wiesen Hinunterrollende gehört nicht dem Ätherischen sondern dem tellurischen Element an. Erde ist es, Hang und Grat, das nicht so sehr ins Neblige hinaufführt, als von dort, von dem Himmelssphären, langsam herabgelassen wird, bis seine Füße den Grund berühren und es dort Stand nimmt.
Man schaut und schaut, man folgt dieser mal fels- mal baumbestandenen Linie, hinauf und immer höher hinauf, wo die Gefilde des Himmels beginnen, und Land so unmöglich und dann so bestürzend doch möglich ist, daß einen ein Schwindel überkommt. Die Welt steht Kopf, wo Himmel war, steigt Erde auf, und man wendet schnell den Blick ab, um nicht dort hinaufzustürzen.
Die alte Faszination hat mich sofort wieder, wenn ich diese echten Berge anschaue. Wie oft aus dem Autofenster betrachtete geheimnisvolle Riesen, deren Reich jenseits des Genfer Sees begann — es ist ein Bezirk nicht nur der reicheren Geographie und Topologie, es ist auch ein Bezirk der reicheren Geschichten. Der Nebel überm See, aus dem auf der anderen, entrückten, nie, es sei denn, in der Phantasie, zu erreichenden Seite die ruhenden, ihre Geheimnisse hütenden Berge aufstiegen. Wie Traum und Welt ineinanderflossen und sich fruchtbar berührten zu mehr als dem dürren Augenblick, in dem eingeschlossen man über den Spiegel blickte, mit seinen Segelbooten und Schiffen, die immer nur dem diesseitigen Ufer angehörten, wie weit draußen sie auch ihre Segel entfalteten. Man brachte Geschichten mit, die von den fabelhaften, Fabel-haften, Räumen der Berge am andersanderen, am fremden Ufer neu ausgesponnen wurden, von dort weiterführten, ins Unerhörte hinein. So wie man die Reihen der Buchrücken mit einem Schauer der Erregung abegschritten war in der Kinderbibliothek. Nur daß dies keine eingerollten, verpackten Geschichten mit Anfang und Ende waren. Sondern die Räume boten für dieser Geschichten Unendlichkeiten.
Aequinoctium
Spiegel, und zögernd nur zeigt sich das Bild seinem Bild an der Grenze.
Nächtlicher Strenge Zoll, zahlen die Schatten den Stein.
Letzte Schwelle tritt in die schwankende Hütte des Dunkels.
Flughunde strömen befreit blindlings aus Tunneln des Schlafs.
Straffer spannt sich, was tags die Bilder im Wasser einhegte,
fängt den Mond ein und senkt tiefer als Lotblei den Grund.
Späte Wege verschwinden, ihr Haus verfehlend, im Dickicht.
Ratlos die Weiser, in Nacht fallen die Zeichen vom Schild.
Ende der Straße. Zu ihrer Ewigkeit kehren die Wälder
heim aus dem Stundenverlies, bis wieder alles schon war.
Zwei, schon im Abenddämmer, nehmen stumm ihren Platz ein,
wo das Gemälde sie sah, unsterblich, hell vor dem Wald.
Wuppertalsperre
Huh! Hah! Oh, oha!
Die Geräusche sind unmißverständlich. So nah sind die Stimmen, wenn ich mich ein bißchen recke, müßte ich die beiden sehen können. Tatsächlich, da schimmert ein Kopf durchs Gezweig. Also bin ich heute nicht alleine hier. Das ist gar nicht verkehrt. Wenn andere auch so verrückt sind wie ich, stehen wir schon zu dritt gegen eventuelle behördliche Spaßverderber. Erheitert entkleide ich mich und stopfe die Sachen in den Rucksack.
Huah, ist das kalt. huh, ist das kalt, ist das kaaaahalt!
Wieso, ich bin doch noch gar nicht drin?
Kaaaahalt! Huh!
Boje umschnallen, Schwimmbrille auf und rein ins Wasser. Das Wasser verändert sich mit der Zeit, höre ich die Stimme, jetzt ruhiger, sagen. Nach ein paar schnellen Zügen Kraulstil sehe ich einen Frauenkopf mit Schwimmbrille ufernah vorbeidümpeln. Das Gesicht der Schwimmerin ist zum Ufer gewandt, sie sieht mich nicht, oder, so mein Eindruck, sie will mich nicht bemerken. Und mit wem spricht sie eigentlich? Mit sich selbst? Oder mit dem Hund, der am Ufer steht und uns einigermaßen fassungslos zusieht? Dabei muß ich ihr recht geben, das Wasser verändert sich, nicht alleine seine Temperatur, sondern auch seine Textur, die Art der Reibung, die es auf die Haut ausübt. An manchen Tagen ist es härter, wie grobkörnig, an anderen weich, geschmeidig, durchlässig. Manchmal ist es schwerer, dann wieder wiegt es fast nichts. Schon die Art, wie es in seinem Talbett liegt, ist wandelbar. Mal ist der Raum zwischen den Hängen wie mit Blei ausgefüllt, dann wieder scheint die Flüssigkeit so beweglich wie Nebel, mal wirkt die Masse prorös, spröde, dann wieder kompakt; oder luftig, oder aufgerauht, oder schwammartig-dicklich. Wenn es sehr kalt ist, beißt das Wasser wie Chili oder Pfeffer.
Weil man sich als die einzigen zwei Schwimmer auf zehn Quadratkilometer Wasserfläche schlecht ignorieren kann, wünsche ich guten Morgen, als ich vorbeischwimme. Ich habe schon ein Sprüchlein auf den Lippen wie, daß bei so viel Andrang demnächst die Überfüllung drohe, aber die Frau scheint nicht zu Späßen aufgelegt. Tatsächlich scheint es ihr unangenehm zu sein, daß da noch jemand im Wasser ist. Als hätte ich sie bei etwas Unziemlichem ertappt.
Oder bin ich derjenige mit der Unziemlichkeit?
Später unterhalte ich mich mit einer Freundin darüber. Ich hätte, sage ich, der Mitbadenden fast ein Scherzwort zugerufen, oder zurufen wollen, aber die Dame habe nicht so ausgesehen, als würde sie Spaß verstehen. Die Freundin, etwas streng, meint, wer als Frau alleine schwimmen gehe, wolle nicht angesprochen werden. Das sei zwar, erwidere ich, idiotisch, aber dann hätte ich, indem ich mich auf ein Guten Morgen! beschränkte, alles richtig gemacht. Nicht auszudenken, scherze ich, ich hätte auf die Badehose verzichtet. Die Freundin behauptet, das würde sie persönlich weniger stören als irgendwelche Kontaktaufnahmen. Oder würde ich mich gern ansprechen lassen, wenn ich in Ruhe meine Bahnen ziehen wolle? Ein Witzchen machen, finde ich, ist noch nicht ansprechen, aber die Freundin beharrt darauf, irgendwelche Witze oder Fragen, nee nee. Das läßt mir keine Ruhe. Ausnahmsweise nämlich habe ich mich mal gefreut, nicht der einzige Schwimmer zu sein auf weitem Spiegel. So etwas verbindet ja auch. Und zudringliche Menschen pflegen nicht so weit zu gehen, als Vorwand der Kontaktaufnahme ins Wasser zu steigen, wenn sie es ursprünglich nicht vorgehabt hätten. Und ganz bestimmt nicht mit Schwimmbrille und Boje hinter sich, da scheinen mir die Absichten klar zu sein. Aber vielleicht, vermute ich, sehe ich das anders, weil ich mich als Mann grundsätzlich nicht bedroht fühle. Wie sich das anfühlt, wird man als Frau wahrscheinlich so wenig begreifen, wie wir Männer das Gefühl ständiger latenter Bedrohung begreifen können, das Frauen zur zweiten Natur wird, wenn sie heranwachsen. Jedenfalls war ich fast ein wenig bestürzt, daß diese aus meiner Sicht spaßige Begegnung von der anderen Seite möglicherweise als so wenig lustig wahrgenommen worden ist. (Meine eigene Vermutung ist, daß der Schwimmerin bei meinem Anblick klar wurde, daß ihre Selbstgespräche mitgehört worden waren, und daß ihr das peinlich war. Huh!, Hah! Kahalt! — Mir wäre das jedenfalls peinlich gewesen.)
Ich lasse die Schwimmerin hinter mir, schwimme ein paar hundert Meter die Länge des Tals vor, quere zur anderen Seite rüber, schwimme zurück, und als ich mich wieder meiner Ablegestelle nähere, ist niemand mehr zu sehen auf der Wasserfläche, nicht Hund nicht Schwimmerin, die Verstecke und Einstiegsstellen am Ufer sind alle leer. Was an Stimmen zu hören ist, tönt von den entfernten Wegen übers Wasser. Ich steige ans Ufer, wo mein Rucksack in der Sonne leuchtet, und ziehe mich um, ohne einem Menschen mit meinem Anblick zu nahe zu treten.
Drei linguistische Beobachtungen
Über Sinn und Bedeutung: ein neuer Ausdruck der Jugendsprache fragt nach dem Sinn, wo eigentlich nur eine ablehnende Haltung oder so etwas wie milde Entrüstung transportiert werden soll. Neulich in der Bahn unterhalten sich zwei Schülerinnen über Vornamen. Ein Mitschüler von ihnen heißt Wolfgang, sie finden den Namen unmöglich. „Wie kann man sein Kind Wolfgang nennen?“ sagt die eine von ihnen, „Wo. Ist. Der. Sinn?“ Eine andere Mitschülerin heißt Susanne. Wo ist der Sinn? Susanne, meint eine, sei ein Name für Tanten und Großtanten. (Als wären die schon immer Tanten und Großtanten gewesen.) Einen Moment bin ich entsetzt, doch dann rechne ich ein bißchen. Die sich da unterhalten, sind dreizehn oder vierzehn. Und mir kommt Susanne völlig normal vor, weil ich altersgemäß schon nicht mehr der Vater, sondern wohl eher schon der Großvater der beiden sein könnte und also der Generation genau der Großtanten angehöre, die als meine Mitschülerinnen Susanne, Yvonne, Sibylle, Monika, Sandra, Michaela hießen, nur daß sie damals noch keine Großtanten waren. Ich dagegen finde, wie kann man sein Kind nur Emilia oder Greta nennen? Das ist ein Name für Großeltern! Wo ist der Sinn?
Busfahren ist eine stete Quelle linguistischer Puzzle und Preziosen. Auf einer anderen Fahrt belausche ich zwei junge Frauen, in Ausbildung oder Studium befindlich, aber um Jahre jünger, als ich in ihrem Alter war. Daß sie gebildet sind, daran besteht nicht der geringste Zweifel (einmal sagt die eine zur anderen „Dafür bist du nicht die geeignete Kontrollgruppe“), aber das Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch, das die zwei unter sich verwenden, ist haarsträubend. Für echtes code switching ist die Aussprache im Englischen, ansonsten für deutsche Lernsprecher ausgezeichnet, dann doch nicht native genug. Das ganze geht auch weit über die übliche Beliebtheit von Anglizismen hinaus. Ein Beispiel (geht um einen Typen): „Ich wäre halt nicht so confused und hurt und mad, wenn er sich wenigstens mal melden würde.“ Das geht so weit klar; aber dann fällt wieder und wieder ein anderes Wort, aus dem ich nicht schlau werde, ich kann es nicht einmal phonetisch auflösen. Es reimt sich auf rigid oder Bridget oder doch eher auf gadget? Und es scheint als Affirmation verwendet zu werden: „Ich wäre halt nicht so hurt, verstehst du?“ — „Rigid!“ „Man kann doch nicht mit dem besten Freund ins Bett!“ — „Gadget!“ Ich rätsele. Widget? Bridge it? Fudge kit? Zum Glück weiß ich, wen ich da fragen muß. Eine meiner Nachhilfeschülerinnen klärt mich auf: nicht Bridget, nicht gadget, legit heißt es, kurz für legitimate, und es bedeutet so viel wie „ganz recht“, „unbedingt“, „das kannst du laut sagen“.
Voll schöön! Voll süß! — Was ich schon länger geahnt habe, bestätigt mir Jutta Allmendinger im Gespräch mit Tilo Jung. Frauen werden oft ihrer Stimme wegen nicht ernst genommen. Zu hoch, zu schrill, zu süß, nicht laut genug: Es lasse sich experimentell nachweisen, so Allmendinger, daß man Menschen mit tiefer, sonorer Stimme eher zuhört und leichter Glauben schenkt, als solchen mit hoher, gar schriller Stimme. Nun mag man das für einen Fluch der Anatomie halten, der halt noch zu den übrigen anatomischen Flüchen hinzutritt, mit denen Frauen ohnehin schon beladen sind und an denen sie nichts ändern können. Aber eine hohe Stimme mag anatomisch bedingt sein, Schicksal ist sie nicht. Ein Bekannter, der von Berufs wegen viel vor Publikum sprechen muß, belegte an der Uni einen Stimmbildungskurs. Beeindruckt von den Fähigkeiten des Dozenten, eines Schauspielers, erzählte er mir von den Problemen, die eine der Teilnehmerinnen mit ihrer Stimme hatte: zu piepsig, zu flach, zu wenig tragfähig, nicht überzeugend. Der Schauspieler, so mein Bekannter, riet ihr, sie solle sich beim Sprechen vorstellen, daß sie gerade total genervt sei und ihren Frust ablasse. Treffer! Mein Bekannter sagte, der Effekt sei fulminant gewesen, die Stimme der Teilnehmerin habe völlig anders geklungen, nicht etwa genervt, sondern volltönend, sonor und voller Autorität. Also, liebe Frauen auf dem Podium, am Rednerpult, beim Vorstellungsgespräch, in der Diskussion mit Freunden: Erwartet nicht, daß man euer Gezwitscher ernst nimmt und laßt das Voll-schön-Gesäusel. Dann hört man euch viel lieber zu. Zumal, was die einen säuseln, als Klischee auf alle anderen abfärbt. Und bevor jetzt wieder eine den Finger hebt und mich des victim blamings bezichtigt: Man kann schmollend erwarten, daß die Welt sich ändere und gefälligst auch die eigene Piepsstimme ernst nehme. Oder man kann trickreich den Effekt einer tieferen Stimme für sich nutzen. Entscheidend ist eben nicht nur, wie wir auftreten, sondern auch, wie wir uns anhören. Gilt für alle, auch für Männer. Nur daß die nicht zum Säuseln neigen. Legit!
Hürxberg
Die Scheunenwand, stumpf von Wolken. Rechts eine Taube auf der Telegraphenleitung. Genau das könnte Frieden sein. Ein Abend, verschlafenes Spatzenrufen, brütende Wärme, die Scheunenwand, die den Sonnenschein von heute abend vergessen hat, Tauben, gespannte Drähte. Alles sehr still, seit langem verstummt, schlummernd. Nichts zu tun, keine Aufgaben, keine Pflichten, keine Sorgen. Dem Tag hat man geweiht, was zu weihen war, nun ruhen die Glieder, und die Augen auf der Scheunenwand. So oft geschautes Gemäuer, man kann sich nicht sattsehen daran. Man findet überall etwas zum Sich-nicht-sattsehen-Können. Überall, allezeit. Man schaut, und es kommen die Vögel. Man schaut, und sie fliegen wieder davon. Man schaut, und der Abend wird. Wird mit Wolken und Himmel, mit Drähten und Tauben und Mauerstein. Wird und ist geworden und geht und war.
Wuppertalsperre
Schon beim dritten Besuch ein alter Vertrauter: der Felsenfleck an der Höchstener Landzunge. Ab da geht es wirklich ins Offene, entferne ich mich definitiv von Rucksack, Handtuch und Klamotten. Das Wasser still, glatt, dunkel, mein Kielwasser die einzige Kräuselung, ich enpfinde fast ein Bedauern darüber, die glattgestrichene, perfekte Fläche zu zerschneiden, und nehme mit Befriedigung zur Kenntnis, daß das Wasser sich hinter mir wieder zum kratzerlosen Spiegel schließt.
Etwas unangenehm nur, gegen das Sonnenlicht zu schwimmen, mit zunehmend beschlagener Brille, das bewaldete Ufer verliert die Konturen und tritt in eine schattige Nichtentfernung ein. Rechts ein paar hundert Meter weg die wie gewaltsam ins Wasser tretenden Säulen der Krähwinkler Brücke, leuchtend in der Morgensonne. Autolärm fliegt von dort übers Wasser. Jenseits davon wird unweit der lächerliche Schwimmbezirk der einzigen offiziellen Badestelle des ganzen Stausees liegen, eingepfercht durch eine Bojenkette, damit niemand übermütig werde. Schon was ich während der ersten fünf Minuten zurückgelegt habe, ist dreimal so lang wie die Strecke zwischen Strand und Kette, und dafür soll ich auch noch Geld bezahlen?
Ich schwimme, umsonst und draußen. Unbeaufsichtigt, unversichert und frei.
Der schönste Moment war vielleicht, wo vier, fünf Meter vor mir zwei Gänse vom Wasser aufflogen, einen Strauß silbriger Trofen hinter sich her ziehend, in meiner Erinnerung werden die Tropfen minutenlang schwerelos in der Luft hängen.
Wenn ich das noch ein paarmal mache, bin ich für für jedes gekachelte Wasser verloren.
Wuppertalsperre
Einige Male in meinem Leben habe ich sehr schlimm gefroren, schlimmer als Zähneklappern, so schlimm, daß man sich vom Tod angehaucht fühlt. Ich weiß die Male noch genau: in der klirrenden Morgenfrühe, knapp 5000 m über und bei einem zweistelligen Celsiusbetrag unter Null, auf einem Gletscher unterhalb des Wayna Potosí, nach einer Nacht, in der ich vor Frost nicht schlafen konnte, darauf wartend, daß die Tour endlich begönne und wir uns warm gehen könnten; nach einem Bad im Freibad vor Jahren im September, wo mich die Kälte in der Umkleidekabine heimsuchte wie ein böser Geist; oder das stygische Frösteln, wenn man bei Fieber auf die Toilette muß; oder erst neulich einmal nach einem eisigen Bad auf dem windigen Weg vom Beckenrand zur heißen Dusche, zum Glück gab es eine.
Es ist eine Kälte, die das letzte Flämmchen Wärme, das irgendwo zwischen Magen und Wirbelsäule flackert, auszulöschen droht. Ein Gefühl von Elend, das jedes bloße Bibbern weit hinter sich läßt.
Zweihundert Meter sind es an der Talsperre von einem Ufer zum anderen, hin und zurück vierhundert, neulich bin ich das geschwommen, die Strecke ist ein Klacks, fünf Minuten hin, fünf Minuten zurück, man glaubt, gar nicht richtig im Wasser gewesen zu sein, wenn man sich hinterher abtrocknet, und denkt, eigentlich ist man erst richtig geschwommen, wenn man das Doppel zweimal hinter sich gebracht hat. Achthundert Meter, zwanzig Minuten, das sind gerade mal 16 Freibadbahnen, normalerweise schwimme ich 40.
An diesem windigen und bewölkten Tag Mitte Juni kehre ich, nachdem ich nach zweihundert Metern kabbeligen Wassers die Bucht wieder erreicht habe, wo meine Sachen auf mich warten, noch einmal um und schwimme die Strecke zum zweiten Mal. Die Sonne kommt heraus und schneidet tanzende Bahnen in die grüne Tiefe, gleich fühle ich mich in meinem Vorsatz bestärkt, das Wasser flimmert, der Himmel zeigt fahles Blau, die Ufer scheinen näher zusammenzurücken. Ich bin allein auf dem Wasser, mitten auf dem weiten Wasser, hundert Meter vom nächsten Ufer entfernt, und alles jubelt in mir vom Gefühl, Widerstandskraft zu haben und stark zu sein. Ich erreiche das andere Ufer, betrete zum zweiten Mal den Grund mit den algigen Steinen hinter der überfluteten Weide. Schwimmbrille reinigen, ein Moment Pause, bis sich der Atem etwas beruhigt hat. Los geht’s, murmele ich und mache mich auf den Rückweg. Noch merke ich nichts. Ich merke auch noch nichts, als ich abermals die Hälfte hinter mir habe. Auch als ich in die Bucht steuere, merke ich noch nichts. Sicher, es ist kalt, und die Arme sind schwer und müde, aber so kalt ist es nun auch wieder nicht. Wie kalt es wirklich ist, wie kalt ich innerlich bin, ausgekühlt bis zu dem kleinen Flämmchen zwischen Magen und Wirbelsäule, merke ich erst, als ich mich schon abgetrocknet habe. Wind kommt auf und droht den letzten Rest Wärme aus mir herauszublasen, so fühlt es sich an. Ich zerre am T-Shirt, sehne mich nach bloßem Freibadbahnenbibbern, im Vergleich zu dem hier mollig warm, muß mich setzen, um die Hose anzuziehen, ich kann das Gleichgewicht nicht mehr halten, ich schluchze vor Frustration, weil ich das Hosenbein nicht über die feuchte Ferse gezogen kriege.
Zum Glück vergißt man schnell, und was bleibt, ist nicht das Elend des erbärmlichen Frierens, sondern der Triumph, das Glück und jene Überzeugung der eigenen Kraft und Stärke, die nur Schwimmen in kaltem Wasser vermitteln kann. Wie beim Schwimmen alles ins Lot kommt: “I can dive in with what feels like a terminal case of depression and step out again a whistling idiot”, schreibt Roger Deakin, und ich kann das nur bestätigen.
Eine heiße Dusche gibt’s hier nicht, nur eine anstrengende, unter anderen Umständen schweißtreibende Fahrradfahrt nach Hause; aber nicht einmal die erste anstrengende Steigung vermag mich aufzuwärmen, vom Ins-Schwitzen-Geraten gar nicht erst zu reden. Noch zu Hause in der warmen Küche, nach einer Stunde Radeln und zwei heftigen Anstiegen, fröstelt mich. “Ich habe immer noch eine kalte Nase”, sage ich zu meiner Frau, die mich lachend auf die Spitze derselben küßt.
Solstitium
Der Hügel bebt, von Hörnern angestoßen,
die Lüfte tragen Pelz, sind wild wie Narren
und Mandeln stürzen weiß wie süße Schloßen.
Vom Kraut entblößt, liegt Lehm in wüsten Barren,
wie peinlicher Gedanke. Furchen, Fluchten
versenken einen festgefahrnen Karren.
Die Bäche phantasieren sonder Zuchten,
wo sie im Dunkel stehen. Schräge Weisen
verfehlen ihren Ton in Flüsterbuchten.
Ein Lichtgang saugt sich fest an Wolkenschluchten.
Der Horizont kommt her auf schwarzen Gleisen.