Untergänge (2)

Die Dachterrasse ist untergegangen. Wo gestern noch Vögel herumhuschten, Bienen summten, Fliegen durchs Sonnenlicht schossen, blickt jetzt das Wohnzimmerfenster auf den ebenen, bis zum Rand der Sichtweite, die höchstens zehn Meter beträgt, von hügelartigen Unebenheiten gewellten, wie mit abgelagerter Asche bedeckten Grund eines Meeres, in dessen träger Strömung graue, ins Milchigweiße spielende Partikel und Trübstoffe umhertreiben oder wie Flocken niederzugleiten scheinen. Gäbe es die Blitze nicht, läge die Landschaft in vollkommenem Dunkel, in dem dumpfes Wellengetön, das Grollen einer fernen Brandung, das Knistern ablaufender Gischt aus gewaltiger Höhe herabdringen. Doch ab und zu zerreißt die Dunkelheit wie ein Tuch. Scheinwerfer streifen immer wieder den Grund, tauchen das Terrain sekundenlang in magnesiumblaues Licht und erlöschen wieder, bevor die Schemen jenseits des Rands der Terrasse in die Erkennbarkeit getreten wären. Etwas wie Felsen scheint dort draußen zu liegen; wenn das Licht dort einfällt, sieht man die Schatten von Wülsten, Bändern und pilzförmigen Ausstülpungen des Meeresbodens. Vielleicht sind es Felsen, vielleicht Wracks, vielleicht ins Riesenhafte der Tiefsee hinein gesteigerte Ausgaben von Korallen oder Schwämmen oder anderer, bislang nicht klassifizierter Lebewesen. Etwas Bürstenartiges scheint auf ihnen zu hocken und das Suspensat der Trübstoffe zu durchkämmen. Aber bevor die Dinge selbst sich von ihrem ringartig um sie gelagerten, tintenschwarzen Schatten lösen und erkennbar werden, ist das Licht schon wieder erloschen. Allenfalls als Nachbild auf der Netzhaut bietet sich zur Spekulation an, was in unmittelbarer Nähe des Fensters als schlanke Aufbauten oder Säulen blitzartig aus der Folie der Finsternis stürzt und wieder darin verschwindet. Von Algen- und Muschelbewuchs verkrustet, läßt sich die einstige Funktion von Schornsteinen und Satellitenschüsseln nur noch vermuten. Der Scheinwerfer flackert, der Kegel tanzt, die Schatten krümmen sich, es scheint das Licht aus mehreren Quellen zu stammen. Plötzlich erklingt ganz in der Nähe etwas wie das Rutschen und Schürfen von Kies. Und während die Brandung verstummt, ist es, als ob über die Lichtkegel eine massive Braue fiele. Ein oberer Grund scheint sich in einer trägen Drehung herabzuwälzen, der den Raum bis zum unteren Grund rapide zum Verschwinden bringt. Für einen kurzen Moment, bis das Licht ganz ausgeht, erhellt der Blitz ein Stück pockennarbige Oberfläche, leuchtet eine Kaskade berstenden Felsens oder Mauerwerks wie eine Lilie aus Schnee auf, ehe sich vollkommene Finsternis niedersenkt und diese letzte Bewegung mit sich nimmt.

(1)

Fund

Ist mir doch wieder so ein Dings abhanden
gekommen, und nun hab ich meine Not
ein Dings zu suchen. Hat nie ein Chaot
denn ich je größers Chaos eingestanden.

Die Rechnung ist’s, die Quittung, Impfungspässe.
Halt so ein Wisch von größter Wichtigkeit.
Man sucht’s am Tisch, im Schrank, man ist bereit,
das Bett gar abzurücken, was verdrösse.

Schon fällt dort Licht, wo lange keins gewesen.
Ein Zettel blinkt! Ich klaub ihn unterm Bett
hervor, verblüfft, was mir da kommt zuhanden:

Denn nicht die Quittung blinzelt auf dem Besen.
Ein Vers ist’s, ein Gedicht, ja, ein Sonett:
„Ist mir doch wieder so ein Dings abhanden …“

zu: Haushaltssonette

Einkaufstüten

Sie liegen schwer am Ende ihrer Strecken
im dunklen Hausflur wie gefallne Mädchen,
sind heimgekehrt von Laden oder Lädchen,
und lehnen jetzt an kühlen Wänden, recken

die Griffe hoch und wie nach Priesterhänden,
und lauschen nach der Türe, ob von hellern
Bezirken Stimmen kämen, Lärm von Tellern,
ob jemand ging, den Pfuhl ins Licht zu wenden,

den sie im Innern tragen. Wie auf alten
Gemälden Faltenwurf von weicher Seide
so glänzt die Plastikhaut. Sie müssen sühnen

was sie an süßem Prassen in sich halten;
sie leidens nicht, wie’s knistert im Geschmeide
rings um ihr Herz aus Butter und Rosinen.

(Teil der Serie Haushaltssonette.)

Morgen mit Vogelmangel

Die Vögel schwinden. Wo
ihre Laute ausbleiben, kartieren
Libellen das Schweigen.
In den riesigen Hallen des Morgens
verlieren die Stunden den Halt
untereinander. Zwischen zwei
Seiten im Buch findet sich
ein Hahnenfuß des vorletzten
Jahres. Jahrhunderte dauerte
ein Fraktur-A. Im blauen Dunkel der
Kommode zappelt ein Junikäfer
den trockenen Leib auf die Krone
eingewanderter Tage gespießt.
Zwischen Umblättern und
Umblättern zerfallen die
letzten Klänge auf der Strecke
eines schartigen Alphabets.

30.5.2013

Ein plötzliches Aufschießen von Meisenstimmen verklingt ebenso schnell wieder, wie es aus dem Schweigen hervorgeplatzt ist, als wäre die Stille dieses Feiertagmorgens zu viel, zu mächtig, böte in der Dichtigkeit ihres Gewebes zu großen Widerstand, um sie länger als ein paar Takte Gezwitscher aufzuhalten. Die Stimmen erlahmen, die Geräusche verzagen. Selbst die Kirchenglocken probieren nur ein paar schwache Schläge, schweigen gleich wieder. Kein Fahrzeug, keine Motoren, keine Türen; jedes leise Geräusch klingt eingeschüchtert, hört sich selbst zu, findet sich zu laut, verstummt. Selbst der Wind geht auf Zehenspitzen. Versuche eines Morgens, wach zu werden. Selbst die Farben liegen verschämt umher, als hätten sie’s allzu bunt getrieben in der Nacht, als sie doch alle grau waren. Vielleicht haben sie zu vorwitzig geträumt. Zu guter letzt faßt sich der Buchfink ein Vogelherz und singt dem Morgen Mut zu.

Aequinoctium

Himmel, geklemmt zwischen Wein, über Steine klettern die Burgen.
     Wo deine Braue beginnt, öffnet die Ferne den Tag.
Höher greifen die Türme, entziffern die Gleichung der blauen
     Säume des Morgens, vom Feld holen die Wege den Lenz.
Mühlen gründeln im Tal, im Rucksack meutern die Karten,
     Hügel holen den Fluß zwischen den Büchern hervor.
Nie ist es weit zu den Schiffen, der Abend hält schon die Lampe.
     Wo deine Braue beginnt, schließt sich die Ferne im Kuß.

Rabenkrähe

Die Härte des Sonnenscheins schlug mich aus dem Schlaf. Die Fenster sirrten vor Helligkeit. Ich hatte von wildem Krächzen geträumt, schwarzen Schreien, die über einen Felsen herabgekollert waren und als plumpe Körper teils auf einem Fels zerschellten, teils sich taumelnd wieder in die Luft zu erheben versuchten und dabei Raum und Blick mit ihrem zausen Gefieder erfüllten. Und als ich jetzt, benommen von den Hieben der Sonne, den Kopf vom Kissen hob, klangen die Schreie immer noch nach. Ich schüttelte den Kopf, hielt mir die Ohren zu; bis ich begriff, daß ich nicht mehr träumte, vielmehr das Krächzen draußen wirklich war; es klang, als reibe sich die Sonne an den beschlagenen Scheiben. Auf dem Nachttisch lag das Buch, das ich am Vortag aus dem Antiquariat mitgenommen hatte.  Die verkratzten, mit Gold ehemals schimmernd ausgelegten Lettern des Titels schlugen die greisen Augen zu mir auf. Und als ich mich aus dem Bett erhoben hatte, so schnell, daß mich ein Schwindel erfaßte, hörte ich, während  ein buntes Geriesel mir den Blick durchschneite und ich mich am Bettpfosten festhalten mußte, um nicht umzukippen, plötzlich die Schreie nicht mehr aus dem hinter Schleiern verborgenen Räumen jenseits des Fensters, nicht mehr vom Feld, aus der frostigen-grellen Luft, aus dem wuchtigen Himmel, nicht mehr von Türmen oder Zinnen (oder Felsabstürzen) herunter- und heranschrillen, sondern als mühsame Stimmen aus dem Buch, aus dem Dunkel der nach unten aufgeschlagenen Seiten des Buchs, seinen seltsamen Geschichten, sich herausquälen.

Sub omni canone

Manchmal kann man den Eindruck bekommen, daß die Spannweite des Niveaus kultureller Aktivität (kulturell im allerweitestmöglichen Sinne) in diesem Lande sich vergrößert hat. Freilich nicht, weil das Niveau am oberen Ende der Skala gestiegen wäre.
Unwillkürlich frage ich mich, ob kultureller Ausstoß beliebig schlecht oder beliebig exzellent werden kann; ob sich also eine untere Grenze, eine Art Nullniveau (sinnfreies Geplapper, Gestammel oder Gewinsel, ich verweise hier auf Texte wie „Wadde hadde dudde“ und ähnliche Höhenflüge menschlichen Geistes) definieren läßt, darunter keine Leistung je sinken kann, um noch als menschlicher Absicht verschuldet zu erscheinen; bezeihungsweise ob es in anderer Richtung, ungeachtet des Begriffs, der auf das Überragen und Übersteigen (ex-cello) abzielt, eine höchste erreichbare Exzellenz gibt. Oder vielleicht so etwas wie eine obere künstlerisch-kognitive Schranke, bis zu der sich weitere Steigerungen der Qualität und Komplexität nur noch infinitesimal annähern können, oberhalb derer aber Bereiche liegen, die dem menschlichen Geist nicht mehr erschließbar sind – und also auch gar nicht von Menschen gedacht und geschaffen werden können.
Vielleicht ist eine untere Grenze leichter denkbar; denn gänzliches Fehlen von Sinn scheint leicht vorstellbar, wenn nicht als konstatierbarer Zustand mancherorts bereits erreicht. Was aber wäre das genaue Gegenteil oder der Gegenpol von Sinnlosigkeit?

Archaeum aus dem Genus Sulfolobus: Vielleicht geht es nicht einfacher

Man sollte in diesem Zusammenhang auf ein Buch von Stephen J. Gould verweisen, das eine interessante statistische Überlegung zu Erklärung der Komplexität lebender Systeme bietet. Komplexität ist unter dieser Betrachtung nur ein statistischer „Ausreißer“. Da Organismen nicht beliebig einfach sein können, weil sie sonst eins oder mehrere der Kriterien für Leben nicht erfüllen könnten; es mithin ein Untergrenze für die Komplexität gibt, kann es in der Evolution von Organismen immer nur die Bewegung hin zu mehr Komplexität geben. Nach Stoffwechselart, Lebensraum, Genetik aber auch nach Anzahl von Arten und Individuen ist der Grundtyp des Lebens auf diesem Planeten immer noch das einzellige Bakterium oder Archaeum. Komplexität in Gestalt mehrzelliger Organismen, vom Schleimpilz bis zum Homo sapiens, ist eine eher merkwürdige und seltene Abweichung. Zu erwarten ist diese Abweichung, weil nur für den Aufbau von Komplexität evolutionäre Wege offenstehen; nach unten gibt es eine Schranke, unterhalb derer man nicht mehr von Leben sprechen kann.
Man mag sich nun trefflich fragen, was das kulturelle Äquivalent eines Bakteriums sein könnte.


Songtext: Vielleicht geht es nicht einfacher

Gesundheitsinspektion

Draußen standen zwei Herren auf der Schwelle, den Fuß schon fast im Zimmer, so nah, als hätten sie, während Überweg sich vom Boden aufgerappelt hatte, draußen ihre Nasen an die Tür gedrückt; ihre echten Nasen, muß man sagen, denn unverschämterweise trugen sie keine Masken, sondern starrten ihm mit bloßen Gesichtern entgegen. Diese waren rund und voll und auf obszöne Weise rotwangig, und hatten etwas aufreizend Gesundes an sich, wie aus einer Werbung für Orangensaft oder die Ortskrankenkasse. Und der Eindruck täuschte nicht.
„Gesundheit“, fiepte der eine und schwieg dann einen Moment, als wolle er dem Kunstwerk ihres Erscheinens damit einen Titel verleihen, „Gesundheit, Herr Überweg, ist ein teures Gut.“ Der andere nickte beifällig. Überweg bemerkte, daß sie beide ein Namensschildchen am Revers trugen, konnte aber die Aufschrift nicht erkennen. In Ermangelung einer anderen onomasiologischen Lösung, und da die beiden es offensichtlich für überflüssig hielten, sich vorzustellen, beschloß er, sie Hinz, respektive Kunz zu nennen.
„Ein sehr teures Gut“, fuhr Hinz fort und machte eine Bewegung, als wolle er sich ins Zimmer zwängen. Der andere warf schon mehr oder weniger verstohlene Blicke an Überweg vorbei, wie ein Kind, das die Bescherung nicht erwarten kann.
„Krank werden wir alle mal. Das läßt sich bedauerlicherweise noch nicht ganz verhindern. Doch wie oft und wie schwer jemand erkrankt, das liegt mehr in seiner eigenen Hand, als so mancher glaubt. Die einen achten ein wenig auf sich – und ersparen sich und anderen immense Kosten, indem sie seltener krank werden und die Kassen weniger belasten. Die anderen …“
„Die anderen“, übernahm Kunz wieder, „die anderen machen durch unsachgemäße Lebensführung ein ohnehin kaum bezahlbares Gut gänzlich unbezahlbar. Für uns alle unbezahlbar, Herr Überweg. Dabei muß das alles nicht sein. Es ist Ihnen vielleicht nicht klar, welche Summen vermeidbar wären, wenn die Menschen mehr auf sich achtgäben. Risikobereitschaft und Unachtsamkeit führen zu Unfällen; Genußmittel, Drogen und andere Gifte, bewußt oder unbewußt aufgenommen, haben schleichende Vergiftung, Abhängigkeit, Nachlassen der Leistungsfähigkeit zur Folge; falsche Ernährung, zuwenig Bewegung, leichtsinnige Lebensweise machen akut und chronisch krank, und Krankheit gleich welcher Form oder Schwere schwächt die Moral, den Arbeitswillen und die Leistungsbereitschaft. Besonders aber …“
„Besonders aber“, fuhr Hinz fort, „erfordern Krankheiten kostspielige Behandlungen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wer den Herzschrittmacher von Herrn Müller gegenüber“ – Hinz zeigte tatsächlich hinter sich in den Flur – „oder das Insulin von Fräulein Mechernich im ersten Stock“ – der Finger ging nach unten – „zahlt? Nein? Kein anderer als Sie, Herr Überweg. Eine hohe Belastung des Gesundheitswesens trifft uns alle, Sie, mich, Ihre Nachbarn, Ihre Mitbürger, Freunde, Kollegen. Dabei ist es manchmal lediglich Unkenntnis, die die Menschen ihrer Gesundheit beraubt – und damit uns alle unseres sauer verdienten Geldes. Wissen Sie, wieviel die Schmerzmittel Herrn Mittelspechts vom zweiten Stock monatlich kosten? Mo. Nat. Lich! Sehen Sie. Aus diesem Grund …“
„Aus diesem Grund“, fiel ihm Kunz ins Wort, „haben wir Ihnen vor einigen Wochen einen Fragebogen zugesandt …“
„… den Sie leider versäumten, zurückzusenden“, übernahm wieder Hinz und schüttelte kummervoll den Kopf. „Sie sind sicher auch der Ansicht, daß eine Kontrolle jedes Einzelnen im Interesse Aller ist, nicht war? Also hat der Gesetzgeber beschlossen, dem Druck der Krankenkassen wie der Öfentlichkeit nachzugeben und in regelmäßigen Abständen Kontrollbesuche bei den Bürgern durchzuführen …“
„… um festzustellen, ob die Regeln zur größtmöglichen Gesunderhaltung eingehalten werden“, fuhr der zweite fort, „andernfalls nämlich …“
„Andernfalls nämlich“, Hinz hob ein wenig die Stimme, „Sie zurückgestuft werden, also höhere Beiträge zu zahlen haben, und zwar saftig. Wer sich schadet und andere zwingt, diesen Schaden wieder gutzumachen, handelt asozial. Sie gestatten …“
Und er machte Anstalten, sich an Überweg vorbei und durch die Tür ins Zimmer zu drängen. Ein Kampherartig-herber Geruch strömte ihm voraus. Der andere zückte ein Notizbuch und setzte eine ernste Miene auf, wobei ihm die Zunge in den Mundwinkel rutschte.
Unwillkürlich war Überweg einen Schritt zurückgetreten. Das genügte Hinz, um in einer flinken Bewegung ins Zimmer zu gleiten. Ehe Überweg protestieren konnte, hatte sich der andere schon umgesehen und stieß einen verzückten Schrei aus.
„Aaaaaa-ha“, machte er fröhlich und schnalzte mit der Zunge. „Sie trinken Alkohol. Drei Punkte.“ nickte er Kunz zu, der es eifrig notierte.
„Es ist in ihrem eigenen Interesse, damit aufzuhören“, wandte er sich an Überweg. „Alkohol macht süchtig, schlaff, dumm, aggressiv, hat zuviele Kalorien, fördert unguten Appetit, raubt den Schlaf, vermindert Konzentration und Leistungsbereitschaft, und in schlimmen Fällen führt es gar zu Leberversagen.“
Überweg fühlte einen leichten Unwillen in sich aufsteigen. Während der Eingangsrede hatte er kaum richtig zugehört; daß diese Orangensaftwerbungsfritzen aber seine Wohnung inspizierten, ging ja noch. Seit er hier alleine wohnte, war es ohnehin nur seine halbe Wohnung. Aber daß es jetzt dahin kam, daß seine Trinkgewohnheiten kritisiert wurden, das ging nun doch etwas weit.
„Meine Leber gehört mir“, brummte er.
„Das glauben Sie“, entgegnete Hinz, „nach der neuesten Gesetzgebung haben Sie sich ihre Leber nur geliehen. Sie sind ausdrücklich verpflichtet, sorgsam damit umzugehen, damit sie im Falle Ihres Ablebens noch gebraucht werden kann. Die Entnahme von Organen im Falle ihres Gehirntodes ist ab dem ersten ersten kommenden Jahres in jedem Fall rechtmäßig. Auch gegen Ihren Willen. Wo kämen wir denn hin, wenn man dem Egoismus auch noch posthum zu seinem Recht verhelfen wollte? Wissen Sie, wie eng es derzeit auf dem Gebrauchtlebermarkt aussieht? Sie machen sich keine Vorstellung davon, wieviele Lebern jetzt in diesem Augenblick dringend benötigt werden. Übrigens sollten Sie nicht mit einem nassen Handtuch auf den Schultern herumlaufen, Sie glauben ja nicht, was Erkältungen das Gesundheitssystem kosten. Was ist den das?“
Plötzlich war es still. Kunz hatte im Schreiben innegehalten. Hinz war ein wenig blaß um die Nase geworden. „Oh mein Gott“, lispelte Kunz. Beide starrten mit einer Mischung von Abscheu und Faszination in den prallen Versicherungswerbungsgesichtern auf den Gegenstand, den Hinz mit spitzen Fingern hochhob und am ausgestreckten Arm in die Höhe hielt. Eine Zeitlang sagte niemand etwas. Überweg tastete verstohlen nach seiner Leber.
Kunz fand als erster die Sprache wieder. „Das gibt’s doch nicht“, wisperte er mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Hinz räusperte sich. Dann bedachte er Überweg mit einem Blick, wie sie Fernsehkommissare haben, wenn sie zur Verhaftung des Mörders schreiten, und sagte:
„Sie haben … getötet.“
Jedenfalls klang es so. Tatsächlich sagte er, und seine Stimme wurde brüchig: „Sie … rauchen“
„Er … raucht …“, hauchte Kunz und vergaß vor lauter Schreck, es aufzuschreiben. Hinz stellte den Aschenbecher vorsichtig ab und betrachtete einen Moment lang seine Finger, als überlege er, ob Wasser und Seife zur Reinigung ausreichen würden oder man die Gefährdung der Gesundheit durch Pflanzenasche doch besser mit Alkohol oder Parachlorbenzol ausmerzen müsse.
„Wissen Sie eigentlich …“, begann er dann.
Überweg hatte die Untersuchung seiner Leber abgeschlossen. „Ja, weiß ich“, fiel er Hinz ins Wort.
„Warum tun Sie es dann?“
„Das interessiert Sie doch gar nicht.“
„Mich interessiert Ihre Gesundheit.“
„Da bin ich aber gerührt. Der Kühlschrank bleibt zu!“
Denn Kunz hatte die Inspektion auf die Küche ausgeweitet und nach der Kühlschranktür gegriffen.
„Wie sollen wir Sie denn versicherungsmäßig einstufen, wenn wir nicht wissen, wovon Sie sich ernähren?“
„Gar nicht.“
Einen Augenblick schien Hinz aus der Fassung. „Sie ernähren sich gar nicht?“ blinzelte er.
„Sie sollen mich nicht einstufen, meinte ich.“
„Seien Sie doch nicht so stur. Damit kommen Sie nicht weiter. Also, vernünftig. Wovon ernähren Sie sich?“
„Von Gin und Zigaretten.“
„Das kann doch nicht sein.“
„Stimmt auch nicht.“
„Also?“ Hinz zog an der Tür. Überweg hielt dagegen.
„Ein bißchen Vermuth, ab und an.“
Hinz blinzelte. Der Kühlschrank wackelte.
„Und wozu haben Sie dann einen Kühlschrank?“
„Für die Eiswürfel.“
„Hören Sie“, keuchte Hinz und zerrte an der Tür, die Überweg weiterhin entschlossen zugedrückt hielt, „hören Sie. Es steht schlecht genug um Sie. Sie rauchen. Sie trinken. Sie sitzen mit einem nassen Handtuch um die Schultern in der Zugluft. Ihre Matratze ist durchgelegen. Treiben Sie Sport? Hab ich mir doch gedacht. Sie machen alles noch schlimmer. Zeigen Sie uns wenigstens, daß sie da drin ein Vitaminpräparat von Strahlemann & Mausi haben, oder wenigstens einen Apfel® oder eine Tomate™, und wir vergessen die Matratze, ja? Mensch, so hilf mir doch mal, Kunz!“
Apfel® ? Tomate™? In diesem Augenblick riß Überweg der Geduldsfaden.
„Raus!“
„Erst wird der Kühlschrank inspiziert.“
„Raus sage ich. Und zwar raus™. Von Strahlemann & Mausi. Alle beide. Und zwar sofort®.
„Erst der Kühlschr-…“
„Nix da. Schluß jetzt mit dem Auftritt. Übrigens ernähren Sie sich offensichtlich von Hustenbonbons. Verpesten Sie nicht länger meine Wohnung mit ihrem Pfefferminzatem. Sonst werde ich wirklich krank. Bedenken Sie, was das die Gesundheitssysteme kostet.“
„Un-ver- schämt- heit“, keuchte Hinz und zog im Verein mit dem erstaunlich kräftigen Kunz bei jeder Silbe an der Tür. Der Kühlschrank schwankte bedenklich. Die Tür klappte kurz auf und knallte wieder zu, als Überweg sich dagegenwarf. Die Lage wurde kritisch.
In diesem Moment kam ihm der rettende Einfall.

„Das ist Körperverletzung!“ schrie Hinz unter Husten.
„Wir werden zurückgestuft!“ wimmerte Kunz und hustete noch heftiger .
„Das wird Sie teuer …“, hob Hinz an und wackelte mit dem ausgestreckten Zeigefinger, aber Überweg hatte, während der erste vor dem Rauch der Zigarette das Weite suchte, den zweiten schon am Kragen gepackt und begonnen, ihn zur Tür zu schleifen.
„Aua, nicht wehtun“ fing der an zu flehen, „bitte nicht verletzen, bei einem Arbeitsunfall werde ich zurückgestuft …“
„Idiot, sei doch still“, rief der andere von draußen. Ein Stoß, ein Griff, ein Zug. Die Tür schloß sich über den roten Wangen, Namensschildchen und Geschrei. Überweg schloß ab und lehnte schnaufend an der Tür. Die kämen wieder, so viel war klar.
Erstmal einen Schnaps, dachte Überweg, und dann machen wir einen Plan©.