es ist nicht die frage was als nächstes kommt.
ein kulgelschreiber malt zähe linien auf ein blatt papier. darunter erstirbt ein trockenes gekritzel. innen hallt es lateinisch wieder. draußen steht das telephon, wie eine verschwörung sämtlicher ungenutzter möglichkeiten, ein schlechtes gewissen, eine allegorische statue.
allegorien mag ich nicht. allegorien sind aufdringlich, besserwisserisch, sie schreiben immer ein bißchen vor, wie man zu denken habe. allegorien sind ein-zu-eins. wenn man den anfang hat, hat man alles, die fäden sind endlich, ich aber liebe das offene und ausfransende, ausufernde, auswegende, liebe das stets deutbar bleibende, das schillernde eins-zu-vielen. auch alles, was sich entzieht. wer berührt Hajime am ende an der schulter? welche von beiden, das zimmermädchen oder die transsexuelle, ist noch am leben? gibt es noch ein gespräch mit Midori? für viele sind das unerträglich offene fragen (sie sind nicht beantwortbar, da sie nach und also außerhalb der geschichte liegen), für mich nicht. ich mag es, aber nicht deshalb, weil es zum weiterspinnen auffordert, nicht deshalb, weil es noch etwas zu tun gibt, nicht deshalb, weil man sich eine antwort für die fragen ausdenken kann, nein: einfach, weil die letzte antwort stumm bleibt. nie hab ich es leiden können, wenn in einem schulbuch die aufgabe gestellt wurde: wie könnte die geschichte weitergehen? sie geht nicht weiter, sie ist zuende erzählt. punkt. was jetzt noch bleibt, ist nur im leser, nicht in einem ohnehin nur hypothetischen weiter. die geschichte und also das, was erzählt werden soll, sind hier und genau hier zuende. der rest ist die stille des danach.
eine stille, die alles, was man zuvor gelesen hat, empfängt und aufnimmt und in kreuzweisen bögen widerspiegelt.
spiegel sind besonders schön in der literatur. ich mag spiegel, in wirklichkeit wie in büchern. man kann alles mit ihnen machen. sie sind überall, pupillen, wassertropfen, autolack, schaufensterscheiben, überhaupt fenster, wasserflächen, klar, weingläser mit und ohne wein, erloschene monitore, uhrgläser, löffel, ein aufgeschlagenes ei, früher einmal telephonhörer, öl, chromgegenstände aller art. die spiegelung kann exakt sein oder das gespiegelte geheimnisvoll verändern, etwas subtrahieren oder hinzufügen, verzerren, verbiegen, verfärben. verunklaren, mit geheimnissen umwittern, oder bloßstellen, hervorheben, betonen. etwas aussehen-lassen-wie. aussehen-lassen-als-ob. spiegel sind manchmal masken.
masken gibt es bei mir nicht im zimmer. jetzt spüre ich ihr fehlen. ich brauche eine maske. nicht für mein eigenes gesicht oder ein fremdes, nein: ich brauche eine maske mit nichts darunter, damit ich mir ein gesicht dahinterdenken kann. jedes nur mögliche gesicht, und wie es wirkt, unsichtbar hinter der maske.
und wie sich die maske selbst verändert durch das gesicht, das sie verbirgt. oder mehrere gesichter, die sich hinter der maske drängen, herauswollen, gegeneinander und gegen die maske streiten, von der maske in schach gehalten werden: ein schweigender lärm, an meiner zimmerwand.
aber das bringt mich nicht weiter. der kugelschreiber ist zerbrochen, das telephon hat zweimal geklingelt, die versammlung ist flüsternd auseinandergestoben. jetzt kommen sie alle zurück zu mir. in den flur mit den kisten von aussortiertem. ich will loswerden, wegwerfen, verschenken. zurückgeben, endlich, den geruchlos gewordenen bademantel, der alles, was er von dir einmal angenommen hatte, ausgeatmet hat. ein lebloses hemd. meine alten schulhefte. bücher. in bonn gibt es auf der poppelsdorfer allee, ziemlich weit unten, am bahnhof, einen bücherschrank unter freiem himmel. da kann, wer will, bücher hineinstellen und herausnehmen, wer will. da kommen die bücher hin, die ich loswerden will. neulich habe ich mal wieder eines mitgenommen, ein glücksgriff, „Robinson“, eine erzählung von einer niederländischen schriftstellerin, die hier keiner kennt. jetzt längst vergriffen, zu unrecht.
zeit für einen kaffee. zuletzt losgeworden bin ich fünf bildbände über fabelwesen, hexen, magier, kobolde und entrückte länder, gekauft als teenager, nie richtig hineingesehen, was wollen die noch in meinem regal. dazu noch „Die letzten Abenteuer dieser Erde“, mit einem jugendlich-vollbärtigen Reinhold Messner auf dem umschlag, Jacques-Yves Cousteau aus einem u-boot herausblinzelnd, eine straße, ein berg, ein ozean. weg damit. helden einer versunkenen zeit. es hat etwas tieftrauriges, wie das schwindet. bezüge schwinden. ich habe dann jedesmal das gefühl, selbst nicht mehr aufgehoben zu sein in der welt. andererseits, was war das schon für eine welt, als es noch neun planeten gab und dallidalli und wadenwärmer, die heutzutage, wo sie keiner mehr haben will, sicher immer noch genauso funktional wären wie damals.
sage mir was für bücher du weggibst und ich sage dir wer du bist. ich hasse phrasen, weswegen ich diesen satz ohne kommata (früher sagte man auf griechisch kommata, heute kommas, aber ich kann nicht einsehen, warum ich das mitmachen sollte, ich sage auch mobiltelephon und niemals h–, weil das ein unwort ist, ein wort, das aussehen soll wie, das klingen soll wie, ohne es zu sein), ohne kommata also, schreibe. ich hätte auch alles mit bindestrichen schreiben können, aber dann sagt der editor, ich spinne.
editoren aber, bloße deterministische realisation vorhergesehener abläufe, die sie sind, sollten ihre klappe halten.
ich weiß ohnehin am besten, wer ich bin, weshalb ich mich auch strikt gegen jede form von psychoanalyse wehre, deren erklärungswille und -anspruch ich immer als anmaßung empfunden habe. auch in büchern. jedenfalls aber konnte ich mich nur schwer von der Tlingonischgrammatik trennen (was wohl ein Psychologe dazu zu sagen hätte?); schwer gefallen ist mir auch „Die Entdeckung des Himmels“, andererseits auch wieder nicht, weil ich es einer zeit las, an die ich mich am liebsten nicht mehr erinnere.
so geht es ja überhaupt mit büchern, daß sie mit einer zeit des eigenen lebens verbunden sind, und die frage ist, ob es überhaupt eine neutrale lektüre geben kann, eine objektive lektüre, oder ob sich nicht in die wahrnehmung der geschriebenen und gelesenen welt die tatsachen, gefühle, meinungen, stimmungen der gelebten welt einmischen und ungebeten mitwirken. bereichernd kann das für beide welten sein oder störend, hindernd, mißtönlich vom einen ins andere hineinschallend, sich vordrängend, so daß man hinterher gar nicht mehr weiß, warum man nun so mißgestimmt ist, des buches wegen, oder weil die welt einem wieder mal auf der nase herumtanzt.
natürlich ist auch der weg denkbar, daß das eigene leben literatur wird. manchmal handele ich so, wie es mir für eine geschichte stimmig vorkommt, eine seltsame form von aberglaube, ich bekomme von einer frau ihre telephonnummer, frage mich einen halben tag lang, ob ich sie am abend anrufen soll, verliere in einer warteschlange den zettel, höre, wie mir jemand hinterherruft, sie haben da was verloren, und beschließe, ich rufe an. und am ende mache ich es doch nicht. ich will dem keine macht über meine entscheidungen einräumen. könnte ich aber. weil es stimmig wäre. oder ich nehme einen bestimmten weg, weil er in einem roman, der mein leben abbilden würde, szenisch passend wäre. ähnlich die auswahl des nächsten buchs. oder ob ich ins kino gehe oder lieber einen spaziergang zum grab jennifer helds mache. bestimmte orte bekommen eine symbolische dimension, sind aufgeladen mit bedeutung, werden zu einer art text, der bestimmt, was als nächstes passieren kann und was nicht, der festlegt, an welchem punkt meiner lebensgeschichte, in welcher geistesverfassung oder auch an welchem punkt meiner eigenen entwicklung ich mich befinde; ein text, der kreisläufe und wiederholungen ebenso anzeigt wie fortschritte und entwicklungen, oder manchmal auch geschehnisse und begegnungen auf eine bestimmte weise einfärbt, klassifiziert oder prismatisch aufbricht, indem er ihnen einen bestimmten modus, eine bedeutung, einen zweck, eine aussageform zuweist oder abspricht und damit ihre deutungsmöglichkeiten, ihre interpretatorischen spielräume, festlegt oder verunklart, einengt oder ausweitet. oder ich verwebe durch gezieltes hören und wiederhören ein musikstück leitmotovisch in den ablauf meiner tage und absichten. lasse es abfärben auf bestimmte vorbereitungen, ein treffen, eine wanderung, ein gespräch, einen abschied. das kann soweit gehen, daß ich dann umgekehrt von der welt erwarte, sie möge ihrerseits von literarischen kräften beherrscht sein und, indem sie meinem motivischen handeln literarisch entspricht, wahrmachen und eintreten lassen, was ich mit meinem motivischen handeln vorausweisend vorweggenommen wissen will. wer denkt, das sei nur ein literarisch-intellektuell verbrämter schamanismus, hat so unrecht nicht.
merkwürdig ist, daß sowohl die zeit, die die Tlingonischgrammatik, als auch die zeit, die die „Entdeckung des Himmels“ umgibt, schwere zeiten waren, weil sie mit der trennung von einer freundin zu tun hatten. wie eigentlich alle schwere zeiten immer in derselben weise schwere zeiten waren. es hatte immer mit einer frau zu tun. größere nöte habe ich nie gekannt. ob das daran liegt, daß ich viel glück hatte im leben oder daran, daß mir anderes unglück nie als so bedeutsam erschien, weiß ich nicht. wahrscheinlich ersteres. andere bücher, an denen schwere zeit haften geblieben ist, sind: „Morbus Kitahara“, „Die Tage müssen anders werden, die Nächte auch“, „Sommerhaus, später“, „Marie Antoinette“, dies nur exemplarisch.
und die frage ist: was werde ich als nächstes weggeben? und die frage ist: was werde ich dereinst zuletzt weggeben haben, als wäre es ein teil meines lebens, der überflüssig geworden ist und unbequem.
draußen immer noch das telephon.