Während ich Deinen Brief lese, oder dies hier schreibe, muß ich an etwas denken, das nunmehr völlig bedeutungslos ist; aber nun hast Du im Grunde Dir eine Welt gebaut, die ich immer hatte fliehen wollen. MannKindHaus, ohne das geringschätzen zu wollen. Bist Du glücklich? Wie fühlst Du Dich? Von außen betrachtet sieht es wie ein Ankommen aus, ein Erreichthaben, eine Verwirklichung von lange Erträumtem, obwohl das wahrscheinlich nie so ist, und immer weitere Dinge erstrebenswert und erträumbar scheinen und scheinen werden. Aber es interessiert mich, wie Du das siehst. Auch, weil wir einmal einen gemeinsamen Weg für möglich gehalten haben, und mein eigener Weg nun äußerlich wie innerlich so gänzlich verschieden ist von Deinem.
Und ich denke an das, was ich einen alternativen Lebensentwurf habe nennen wollen. Alternativer Lebensentwurf (alternativ aber wozu?), der vielleicht gar kein Entwurf ist, sondern eine Not, die ich mir, umgedeutet als eigene Entscheidung, zur Lebensführung auspräge. Hatte ich eine Wahl? Gab es jemals den Ort und die Zeit, wo ich mich entschieden hätte, im Großen? Rückblickend stellt sich der Ort, an dem ich mich jetzt befinde, als Ergebnis einer Kette von unscheinbaren Entscheidungen dar, deren jede einzelne im Grunde unwesentlich war.
…
Kategorie: Als wären nicht zweimal die Kräfte
nebenbei bemerkt nicht abgeschickt
auch wieder charakteristisch für Dich, und ich möchte es als weiteres zeichen von modelleben deuten: daß Du „fertig stellen“ schreibst, statt „fertigstellen“, mit dem vermerk, daß man letzteres „ja nicht mehr schreiben dürfe“. und „schade, nicht?“.
warum? in einem persönlichen brief, ich bitte Dich. hast Du sorge, durcheinanderzukommen oder durcheinander zu kommen? da war es schon wieder, kein widerstand, keine eigene stimme. sondern die stimme des man.
aber nein, meine adresse in griechenland hast Du immer translitteriert, das war Dir „zu blöd, fremde buchstaben zu malen“. wenn ich daran denke, daß auch Du linguistik studiert hast.
aber das schreibe ich Dir nicht. das ist nur fürs protokoll, das innere.
Dafür nicht
“[…] Mich stört an einem Leben mit FrauHausKind, daß es ein millionenfach vorgelebtes, ein erprobtes Leben ist, ein Modelleben. Ich will kein Modelleben. Ich wollte, ich will, ein Leben leben, für das es kein Modell, kein Vorbild gibt. Ich will Räume aufstoßen. Ich will zerschneiden. Ich will Neuland betreten. Mit der Schreiberei ebenso wie mit meinem eigenen Leben. Als ich aus dem Zivildienst entlassen wurde, als ich von zuhause auszog, als ich anfing zu studieren, da war es ein Aufbruch. Eine Eroberung. Ein Ergreifen. Und ich konnte nie verstehen, wie es manchen nur darum zu gehen schien, anzukommen: bei einem Job, einem Partner, bei Kindern, beim Eigenheim. Dich mit eingeschlossen. Wenn die ersten Freunde und Bekannten verkündeten, daß sie sich ein Auto gekauft, geheiratet, Kinder bekommen hätten, habe ich oft gedacht: War es das? Doch wohl nicht! Dafür sind wir nicht aufgebrochen. – Und jetzt frage ich mich: Wofür dann? Ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht, um in der PR-Agentur eines Megaunternehmens zu landen, bitte um Verzeihung. Ich habe Dich einmal gefragt, warum Du es denn so eilig habest mit dem Studium. Ich ließe mir doch auch Zeit. Du sagtest, bei mir sei es etwas anderes, Du aber wollest in die „freie Wirtschaft“. So drücktest Du Dich aus. In die „freie Wirtschaft“. Es klang nicht wie „Freiheit“. Es klang wie „freie Wildbahn“. Ich verkniff mir damals die Gegenfrage. Sie hätte gelautet: Und warum studierst Du dann Germanistik? – Ich konnte (und kann) mir einfach nicht vorstellen, warum jemand so etwas „Schönes“ wie Germanistik studiert und dann aber nicht auch etwas „Schönes“ damit anfangen will, wobei ich die Erklärung, was denn etwas „Schönes“ sei und wo man es ausüben könnte, schuldig bleiben muß.[…]”
An C.
“[…] Wäre es also gutgegangen? Ich habe den Verdacht, daß sich in meiner Sicht auf die Vergangenheit etwas Typisches zeigt, nämlich, daß für mich das Imaginäre wichtiger war als das Wirkliche, der Traum bedeutsamer als das Erreichbare, die Vorstellung bedeutsamer als die Tat, das Erdachte wirklicher als das Praktische, die Idee wichtiger als die Entscheidung. Und die Vergangenheit der wirklichen Zukunft überlegen.
Und genau deswegen ist für mich die Vergangenheit, oder ihre Deutung, so immens wichtig. Wenn Du daher schreibst, daß Du das anders in Erinnerung hast, so klingt das für mich, als ob ein Teil meiner selbst ungültig würde. Indem es für Dich so viel weniger wiegt, bleibe ich endgültig allein. Mit einem Traum. Mit einer Vergangenheit, in der nur mehr ich vorkomme, und die Du, so wie ich sie mir deute, nicht teilst. Mit einer Erinnerung, deren imaginierte Fortsetzung zur Illusion geworden ist. Und nicht nur das: Auch mein Traum von damals hat sich dann als Illusion erwiesen. So bin ich in zweifacher Weise einsam: Im Jetzt und in der Erinnerung.
Verrückt? Vollkommen![…]”
Episteln: An C. Von Kindern und Männern (1)
“Der junge Mann spricht mit leuchtenden Augen. Seine vom Eifer bewegte, helltönende Stimme hat keine Mühe, sich gegen das Stimmengewirr und Fahrtgeräusch des Zuges durchzusetzen. Von der Geburt seines ersten Kindes berichtet er, im August war das, hört man mit halbem Ohr, das Erlebnis also noch frisch und eindrücklich, und genauso erzählt er es auch, erzählt es, wie man von einer Heldentat kündet, und zwar von der eigenen: Wie das Fruchtwasser abgegangen sei, wie man sich beeilt habe, in die Klinik zu gelangen, wo es dann doch nicht weitergegangen sei, das Kind zuletzt noch mit Zangen oder ähnlichem (ich hörte nicht so genau hin) habe geholt werden müssen, dann irgend etwas Kennerisches über die Nabelschnur, und dann, krönender Abschluß –: wie sein Sohn ihn über und über mit Blut! bespritzt habe, so daß jemand von den Verwandten sich später besorgt über sein Wohlergehen habe äußern wollen, „Alles klar bei dir?“
Kurzum, dieser Vater war der Held seiner Geschichte. Er kannte sich aus, er wußte bescheid, er trotzte der Gefahr und am Schluß floß Blut: Auf ihn, wohlgemerkt. Die Mutter und ihre Befindlichkeit kam übrigens nicht vor.
Nun ist für viele Männer ja das Kind der Beweis ihrer Manneskraft. Daß man dann von diesem Beweis der eigenen Kraft in den höchsten Tönen schwärmt, scheint gerade noch verständlich (Ich bin da anders, ich könnte nie in diesem Ton von der Geburt meines Kindes erzählen, und auch in keinem anderen Ton. Ein Kind gezeugt zu haben: Ich glaube, es wäre mir ein bißchen peinlich, wie ein öffentlicher Samenerguß. Ich korrigiere mich: Es ist ein öffentlicher Samenerguß.) – Aber es geht um mehr als das, nämlich um eine Art von Einmischung, um das An-sich-reißen-Wollen von Dingen, die wir Männer ja doch nie erreichen werden, und das darum ein um so würdeloseres Bemühen ist. Die meisten Männer begnügen sich nicht mit dem Kraftbeweis der Zeugung; nein: in dumpfem Bewußtsein ihrer Ohnmacht wollen sie selbst noch bei dem Vorgang, bei dem sie ein für allemal Ausgesperrte und Uneingeweihte sind, der Geburt, zugelassen, eingeweiht und: Held sein. Und dann spielen sie sich gewaltig auf mit ihrem angelesenen Wissen über Fruchtblasen und Nabelschnüre und Hormone und wasweißich noch alles, Blut und Schleim, ohne doch das letzte, das Wirkliche, das Mysterium haben zu können: Die Erfahrung, den Schmerz. Und: Sie sind Nebensache, und nicht nur hier, auch bei der engsten Bindung zum Kind, dem Stillen, haben sie keinen Anteil, werden sie naturgemäß Nebenperson sein. Eine abermalige Demütigung: In ihrem eigenen Bereich, dem des Nahrungsbeschaffers, werden sie geschlagen. Da können sie sich noch so gut und noch so informiert über Mastitis verbreiten, es ändert nichts. Und so, meine ich, ist die ganze Aufmerksamkeit der Männer, was das Thema Geburt und Aufzucht angeht, eine gewaltige Kompensationsanstrengung, ebenso wie alle anderen Arten männlichen Heldentums, die alle nicht darüber hinwegtäuschen können, was wir Männer wirklich sind, nämlich arme Würstchen. Es hilft ja nichts, daß wir Dschungel durchqueren und auf den Everest klettern, am Ende noch zum Mond fliegen, oder, wenn alles nichts hilft, uns eine Religion ausdenken oder einen Krieg anzetteln; dort, wo es wirklich drauf ankommt, nämlich bei der Geburt der nächsten Generation unserer Spezies, spielen wir keine Rolle. Allenfalls als Helferlein und Schwimmlehrer sind wir zu gebrauchen. …”
Episteln: An C. Von Kindern und Männern (2)
Das ganze Kinderkriegen ist für Männer eine beschämende Angelegenheit, weil es sie bei Vorgang und Folgen zu bloßen Wasserträgern und Handlangern, zu Zuarbeitern degradiert; und je eifriger sie sich bemühen, dem abzuhelfen und eine zentralere Rolle zu spielen, desto lächerlicher werden sie bei all dem.
Das ist mir Stück um Stück nach einer Beobachtung auf einem Kindersachenflohmarkt (frag nicht, wie ich dahinkam!) klargeworden. Eine kleine Szene, äußerlich unauffällig, ein junges Elternpaar, sie voranpirschend, er mit dem Säugling auf dem Arm hinterdreindackelnd. Sie bleiben vor einem Stand voller Babysachen stehen. Die junge Mutter beguckt sich die Ware und fragt die Verkäuferin nach einem „Motorik-Ring“. Die andere bedauert, einen solchen habe sie leider nicht anzubieten. „Ach, Schade.“ Und jetzt kommt’s: Im Weitergehen tätschelt die junge Mutter ihrem kaugummikauenden Gefährten wohlwollend den Arm: „Ich erklär dir später, was ein Motorik-Ring ist.“ Dreht sich um und zwinkert der Verkäuferin verständnisheischend zu. Und der junge Vater (ich vermute, es war der Vater) guckt dazu blöde aus der Wäsche.
Kann man nebensächlicher sein als in einer solchen Situation? Dieser bedauernswerte Mann war gerade mal dazu zu gebrauchen, das Kind zu tragen (in einer seltsamen Stellung übrigens, von hinten durch die Beine die Hand auf der Brust des Säuglings, ihn so in Bauchlage haltend, als wollte er mit ihm Schwimmen üben), weiß nicht einmal, was ein Motorik-Ring ist und mußte sich dann auch noch die Ankündigung späterer Aufklärung, zusammen mit einer öffentlichen Bloßstellung seiner Unbedarftheit gefallen lassen. Na ja, immerhin wußte er den Säugling nach den neuesten Erkenntnissen der Brephophorologie, (oder vielleicht auch nur der letzten Mode gemäß?) zu handhaben. Auf eine pfiffige, und ich möchte sagen, perfide Weise wird hier der Mann gleichzeitig ausgeschlossen und doch wieder so zurück ins Boot geholt, daß sich über seine Unwissenheit wohlwollend spotten läßt. Dabei zielt der Spott auf einen Mangel, den der zu Verpottende ja gerade in der Situation hat, in die er vorher durch den Spottenden hineingezwungen wurde. Man drücke einem, der nicht einmal auf dem Kamm blasen kann, eine Violine in die Hand und amüsiere sich hernach köstlich über seinen unbeholfenen Eifer. Haha. Du kannst zwar nicht spielen, aber zum Dummanstellen und Sichverarschenlassen reicht es immer.
Ich nun in einer solchen Rolle? Niemals. Nie könnte ich mich irgendwo, wo es drauf ankommt, mit einer Nebenrolle begnügen, und ich werde auch nie Männer verstehen, die ihre sogenannte Verantwortung darin sehen, diese Nebenrolle mit Freude und Enthusiasmus auszufüllen. „Ausfüllen“, ha, daß ich nicht lache. Nein, im Grunde, denke ich, sollte ein Mann die Finger von all dem lassen. Er spielt ja doch zweite Geige, da kann er Tritte-im-Bauch-tasten und bei-den-Wehen-Händchen-halten und wickeln und waschen und pudern und schnullern wie er will – am Ende dackelt er doch hinterdrein und muß sich dann noch über Motorik-Ringe belehren lassen.
An C.
Wäre es im anderen Fall gutgegangen mit uns? Ich werde diese Frage nicht los. Ich habe den Verdacht, daß sich in meiner Sicht auf die Vergangenheit etwas Typisches zeigt, nämlich, daß für mich das Imaginäre wichtiger war als das Wirkliche, der Traum bedeutsamer als das Erreichbare, die Vorstellung bedeutsamer als die Tat, das Erdachte wirklicher als das Praktische, die Idee wichtiger als die Entscheidung. Und die Vergangenheit der wirklichen Zukunft überlegen.
Wahrscheinlich wären wir zusammen an einen Punkt gelangt, an dem Du Anforderungen der Wirklichkeit an mich gestellt hättest, die mit meiner aufschiebenden und ausweichenden Träumerei in Widerstreit geraten wären. Nicht mit meiner eigenen Vorstellung von Lebenswirklichkeit, nicht mit meinen eigenen Zielen – sondern mit meinen Träumen, die ich, wie ich manchmal glaube, um ihrer selbst willen geträumt habe und träume. Nicht, um sie eines Tages wahr werden zu lassen. Aber wie auch immer man es deuten mag, Traum oder Ziel, ich hätte mich entscheiden müssen. Ich, wir, hätten miteinander um Verantwortung und Pflichterfüllung ringen müssen, und wahrscheinlich wäre das der Punkt gewesen, wo es Dir gereicht hätte, spätestens dann nämlich, wo Dir bewußt geworden wäre, daß Deine Wünsche für mich ein schmerzliches Arrangieren bedeuten müßten: eine Pflicht. Und ich wiederum hätte mich entscheiden müssen, ob mir unser Zusammensein so viel wert wäre, daß ich mich der Wirklichkeit, die damit voraussetzend verbunden wäre, stellen wollte. Einer Wirklichkeit mit viermal nachts von Säuglingsgeschrei geweckt werden; einer Wirklichkeit, in der ich einen Job in der freien Wildbahn würde annehmen und mich dafür verbiegen müssen; einer Wirklichkeit, in der es heißen würde: „nimm/wickel/fütter du ihn mal!“. Und so weiter. Aber genug der Konjunktive. Diese Entscheidung ist uns erspart geblieben. Die Wirklichkeit sieht nun anders aus, und ich kann weiterträumen.
Und genau deswegen ist für mich die Vergangenheit, oder ihre Deutung, so immens wichtig. Wenn Du daher schreibst, daß Du „das anders in Erinnerung hast“, so klingt das für mich, als ob ein Teil meiner selbst nachträglich ungültig würde. Indem es für Dich so viel weniger wiegt, bleibe ich endgültig allein. Mit einem Traum. Mit einer Vergangenheit, in der nur mehr ich vorkomme, und die Du, so wie ich sie mir deute, nicht teilst. Mit einer Erinnerung, deren imaginierte Fortsetzung zur Illusion geworden ist. Und nicht nur das: Auch mein Traum von damals hat sich dann als Illusion erwiesen. So bin ich in zweifacher Weise einsam: Im Jetzt und in der von hier aus erreichten erinnerten Vergangenheit.
Von vorn
Man müßte alles noch einmal von vorne erzählen. Es fällt schwer zu glauben, daß es nur eine einzige Geschichte geben soll. Der Raum hinter dem Rücken ist dämmrig. Jemand spricht gegen den Hinterkopf, lächelt einen Energiestrahl hinüber, und das Gewebe von Schatten und Raum erfährt eine winzige Erschütterung, die sich auf die Nackenhaare überträgt und sie in feine Schwingung versetzt. Es ist Sommer, noch einmal wäre Sommer. Eine Taube stürzt sich von der Dachrinne ins Sonnennetz, wo sie flügelklatschend im Nachmittag verschwindet. Stop.
Hier anhalten, in diesem Moment.
Das Lächeln
Die Schatten
Die Taube
Und von hier aus. Die Taube ist verschwunden, das Licht hat sich hinter ihrem Flügelschlag wieder geschlossen. Von hier aus einen anderen Atem nehmen und das, was jetzt normalerweise folgen würde, links liegen lassen. Stimmt alles nicht, es war anders. Ich beweise es dir. Du lächelst. Die Taube, in Ordnung, das stimmte noch, aber dann? Ich habe ganz anders geatmet, die Luft, sie schmeckte ein bißchen anders, ein Herzschlag folgte eine Mikrosekunde später oder früher, ein Blick rutschte nicht weg, blieb haften, ein winziger Riß läuft durchs Licht, entlang einer Sollbruchstelle in der Textur der Zeit. Eine Mikrosekunde früher oder später, das ist der ganze Unterschied. Und jetzt, von hier aus …
Man wird das alles noch einmal erzählen müssen.
In A. oder Bad O. (Sommer 1993)
Was man am Ende behalten haben wird:
Ein Mäuerchen. Der Ortsname: ungewiß. Bürohausfassaden, eine breite Straße, vielleicht eine Kreuzung. Wahrscheinlich viel Verkehr. Verspiegelte Fassaden. Plustriger Sommer, die Zeit schmeckt nach Ewigkeit. Ein Mäuerchen, nicht einmal das ist gewiß. Geruch nach Duschgel und frisch getrocknetem Haar, das erschließe ich mir. Später im Auto Nachrichten aus dem zerfallenden Balkanstaat, die erste, damals, vieler Krisen. Merkwürdig, was man behält. Die Fahrt eine lange Steigung hinunter, während Namen auf -ic und -vic und -cic aus dem Radio drangen. Die Autobahn gibt es ja immer noch. Und auch die Raststätte, wo unser Fahrer dich in einer Pause, beim Kaffee, fragte, wie du es geschafft habest, in Klettenberg eine Wohnung zu bekommen. Du hast vorne gesessen, und ich habe manchmal deinen Scheitel berührt, wie um mich zu vergewissern, daß du noch echt seist.
Auf der Mauer, Stunden vorher. Ich weiß noch, daß da eine Fliege war. Ich habe den Versuch gemacht, auf dem Mäuerchen, das vielleicht gar nicht existiert, dir etwas zu sagen. Ein Anlauf, eine Ankündigung. Ein verhülltes Aussprechen, eine Formulierung, die das Wort, um das es ging, nicht enthielt, so intensiv nicht enthielt, daß du es leicht ergänzen konntest. Es war da, das Wort, unausgesprochen. Ummantelt von anderen Worten, das Wort im Negativ. Aber du: Mahntest: Wie das Gebot einer Göttin, du sollst so etwas Großes nicht leichtfertig aussprechen. Nicht einmal leichtfertig aussparen sollst du es, oder, weh uns! andeuten.
Leichtfertig oder nicht, ich hätte es sagen sollen. Es war groß, aber nicht zu groß. Auf dem Mäuerchen, in dem Ort mit dem Namen mit A oder Bad O, der für uns nur Durchgang war, ein zufälliger Fleck, auf dem man nur darauf wartet, weggefahren zu werden; oder später, so viele Augenblicke.
Du hattest Angst, es könne zu groß sein, nicht standhalten, zu früh sein, und, zur Unzeit ausgesprochen, später bitter werden angesichts der Zeit, der wir nicht gewachsen gewesen wären, möglicherweise.
Nun aber: Wir waren nicht gewachsen, der Zeit nicht, dem Unausgesprochenen nicht, und also keinem Wort nicht. Doch das Wort gesagt zu haben, wäre heute nicht bitter. Bitter ist, es nicht gesagt zu haben.
Briefe in die Vergangenheit
Daß Du mir nicht mehr schreibst, zu den Anlässen nicht, dazwischen sowieso nicht: Das schlimme daran ist nicht, daß ich das schlimm finde, sondern daß ich es nicht schlimm finde. Denn:
Was verbindet uns noch, außer der bloßen archäologischen Tatsache, daß wir mal ein Paar waren? Was Dich mit mir verbindet, kann ich nicht sagen. Was mich betrifft, so verbindet mich mit Dir eine Erinnerung, eine Vergangenheit, mit der ich nicht abschließen kann, und diese Vergangenheit ist in gewisser Hinsicht lebendiger als die Gegenwart (ich bin versucht zu sagen: lebendiger als Du jetzt für mich bist). So weiß ich gar nicht mehr, an wen ich eigentlich schreibe, wenn ich mich zu einem Brief an Dich hinsetze. Der Schreibtisch ist so leer, als hätte nie jemand dort einen Brief geschrieben. Es scheint mir, ich schicke Briefe an einen Menschen aus der Vergangenheit, Briefe, die, wie ich fürchte, mehr an meine eigenen Erinnerungen als an eine echte Person gerichtet sind. Und zurück sind zuletzt immer Briefe gekommen aus einer Gegenwart, über die ich rätsele und mir den Kopf zerbreche, ich verstehe sie nicht. Es scheint diese Gegenwart nicht meine Gegenwart zu sein, auf jeden Fall ist es keine, die uns beide gleichzeitig enthalten könnte. Ich kann diese erratischen Hinweise (Job; Kinder; Haus) und Informationsschnipsel zu keinem Bild eines Lebens zusammensetzen, und sagen: Das ist also Deins, so lebst du also, das bist Du. Es bleibt das alles ein Job, Kinder, ein Haus. Beliebig. Fremd. Isoliert. Nichts, woran Deine urpersönliche Sicht auf die Welt, Deine ureigene Bemühung, Dich darin zurechtzufinden, kenntlich würde. Nichts, worin sich sich ein Dein Du zeigen würde.
Und jetzt kommen gar keine Briefe mehr, keine aus der Gegenwart, weder verständliche noch unverständliche. Ich nehme es zur Kenntnis. Es berührt mich nicht. Ich habe lange vergebens auf einen Brief aus der Vergangenheit gewartet, aus unserer Vergangenheit, von einem Menschen, der noch dieselbe Zeit mit mir teilt. Von dort habe ich nie wieder etwas gehört. Deshalb kann ich nicht sagen, daß mir irgendetwas fehlt. Wir könnten uns nur immer wieder unsere eigene Geschichte erzählen. Vielleicht ist es besser, es zu lassen, weil es sinnlos ist und nicht guttut, und weil das Ende häßlich war, und unseren Briefwechsel einzustellen. Vielleicht hast Du diesen Entschluß bereits gefaßt, denke ich, vor einem Jahr und länger, vielleicht hast Du eines Tages, schon am Schreibtisch, lange nachgedacht und nichts gefunden, und den Federhalter sinken lassen, aus dem Fenster gesehen, in bewegtes Laub oder Sonne oder Schindeln anderer Häuser, hast geseufzt und den Kopf geschüttelt und Papier, Feder und Umschlag wieder weggeräumt, bist aufgestanden und hinausgegangen, und vielleicht warst das gar nicht Du sondern ich war das. Ich stelle mir eine leere, spiegelnde Schreibtischfläche vor und eine Tür, die ins Schloß fällt, rufende Stimmen, die dahinter verhallen, ein unbehaustes Zimmer. Wann haben wir das letzte Mal wirklich miteinander gesprochen?, frage ich mich, und dann finde ich es doch noch schlimm.
Was sich zeigt
Was zunimmt, die Stunden. Was wach ist, die Glocken. Was von sich weiß, der Raum. Was abkürzt, die Straße. Was zwinkert, der Himmel. Was Krach schlägt, das Ohr. Was schläft, ein Traum. Was vergißt, ein Wort. Was wartet, eine Türschelle. Was spricht, Grammatik. Was küßt, der Regen. Was sieht, ein Fenster. Was kommt, eine Treppe. Was Liebe macht, eine Matratze. Was flackert, die Wand. Was lächelt, eine Haltestelle. Was liebt, ein Sommer. Was fortgeht, eine Treppe. Was zunimmt, die Stunden. Die Stunden. Was sich erinnert, die Jahre. Was abnimmt, der Grund und die Gründe. Was müde ist, alles.
Über einen Briefblock wandern. Noch einmal die Dimensionen des leeren Blatts vermessen. Ein Stück der wortlosen Unendlichkeit einholen mit dem abnehmenden Bleistift. Sich Sprachen ausdenken und die dreizehntönige Oktave. Die Dinge noch einmal frisch aus der Taufe heben. Alte Steine umdrehen. Dem Regenbogen neue Farben zuerfinden.
Der Zeit beizukommen versuchen.
Diesen Morgen in den Griff kriegen, bevor er einen in den Griff kriegt. Endlich die Schuhe geschnürt und ins Feld hinaus, wie in ein leeres Blatt da hineinspaziert, unter dem Himmel voller Frostblumen und den am Horizont festgeeisten Wegen.
Wo die Drähte am Firmament summen, erschauern die Hügel. Die verdorrten Alphabete abgelegter Jahreszeiten bleiben hängen im Haar. Tritte und Furchen und Schnittflächen, losgelöst von Sinn und Zeit, wie alte Kreidespuren vom letzten am ersten Tag des neuen Schuljahrs. Nicht ganz wirklich, ein Salto der Erinnerung. Frostbeeren, klatschrot, die letzten Vorräte leuchtender Farbe. Unpassend fast, wie die Vögel singen. Dreist, sich jetzt wieder zu Wort zu melden, als wäre nichts gewesen. Riesenschatten liegen quer überm Acker. Hagebutten kratzen an den Schollen. Diesen Ort hat es schon gegeben, als wir uns noch gar nicht kannten. Auch Vögel gab es da schon. Verrückt.
Die klammen Füße auf die Matte gestampft. Wieder allein in der Küche gehockt, das Kinn auf die Hand gestützt, den Abendsaum schwer an den Lidern. Der Briefblock liegt noch von gestern so da, der abgekaute Bleistift im selben Winkel, die Tasse mit ihren vielen Schichten Tannin löst sich in ihrem Schatten auf. Als wäre es schon immer so gewesen, das Jetzt ist nur ein Beispiel für Alles. Wie wäre es, dich nach so langer Zeit wiederzusehen. Den Bleistift berühren und es dann doch nicht tun. Die Unmöglichkeit der Unmöglichkeit der Liebe einsehen. Wieviele Steine noch umwenden. Der größte Irrtum. Der größte im Leben. Nie wieder wird man sich so irren, so irren können, ist das jetzt tröstlich. Kein Licht machen. Endlich nach dem Stift greifen.
Dir beizukommen versuchen mit dem weißen Blatt.
Oder dem weißen Blatt mit Dir.
Über einem Roggenfeld
Du hast es gesagt, das Wort, hinter dem ich vermutlich die ganze Zeit her war, du hast es gesagt, es ausgesprochen, und es ist gut. Ich durfte es ja damals nicht sagen, in Ahrensburg oder wo immer es gewesen ist, daß wir auf unseren Fahrer warteten, du wolltest nicht, daß ich es sagte, und ich habe geschwiegen, obwohl nie ein Wort wahrer gewesen wäre als dieses, in jenem Augenblick. Du konntest ja nicht ahnen, ebenso wenig wie ich, obwohl alles meine Schuld war, es geahnt hätte damals, wie wenige Gelegenheiten wir noch haben würden, dieses große kleine Wort einander zu sagen. Nie wieder so wahr: Seitdem habe ich es oft gesagt, zu anderen, aber immer hat es sich dabei ein bißchen wie eine Lüge angefühlt.
Manchmal vom Zugfenster aus ein Roggenfeld, fast reif die graugrünen Halme, überall so ein silbriges Geflimmer, Wogen, die hin und her über die Ähren fahren, und dann, in einem seltenen Augenblick, läßt der Wind eine Welle einmal quer übers Feld laufen, ohne abzusetzen oder die Richtung zu ändern, von einer Ecke zur anderen, fernen; konzentriertes beharrliches Voranschreiten, und dann denke ich, Einmal, und ich denke: Einmal war es doch gut, einmal, in einem einzigen Augenblick, war alles, war wirklich alles richtig, und ich denke, Dieser Augenblick bleibt wahr, was immer geschieht, und dann ist die Welle fast ans andere Ende des Feldes gelangt, so ein Wirbel aus nichts als Licht und Luft, ohne abzusetzen, und dann will man, dann könnte man beinahe, glücklich sein.