Unterwegs

Wie ein Mensch langsam sichtbar wird, wie die Gestalt des Mädchens, die doch schon zuvor, bevor ich sie ansprach, weil sie auf meinem reservierten Platz gesessen hat (ihr Kopfnicken wissend, einverstanden, als hätte sie schon darauf gewartet, und zwar auf mich, als hätte sie nicht irgendeinen Fahrgast sondern diesen erwartet), vollständig gewesen ist, erst nach und nach sich zusammenfügt, als hätten die einzelnen Aspekte ihrer Erscheinung, erschreckt von meinem Auftreten, bis auf das Elementarste der Silhouette, der Figur, des Blicks, erschrocken das Weite gesucht, um erst in der Dauer der Zugfahrt von Köln nach Mannheim wieder zu der Form zurückzukehren. Ich mustere verstohlen die mir Gegenübersitzende, nachdem ich mich, schmollend, weil der Zug so voll ist, bis hinter Bonn in mein Buch vergraben habe (auch ich fortgescheucht, aber an einen inneren Ort, von dem ich nun langsam zurückkehre, um das Mädchen zu betrachten), korrigiere erst meinen flüchtigen Eindruck von vorhin auf älter, dann wieder zurück auf jung, als ich begreife, daß sie die Stirn in Falten legt, wenn sie etwas Aufmerksamkeit schenkt, und daß diese gespannte Grimasse ihr Gesicht älter erscheinen läßt. Älter oder jünger, ich komme zu dem Schluß, daß sie schön ist, auf eine sanfte, verletzliche, zweimaliges Hinschauen erfordernde Art, wie eine Illustration in einem alten Märchenbuch. Rotbraunes Haar, braune Augen. Bis sie endlich etwas ißt (einen Apfel, in den sie krachend beißt, was zu ihrer weichen, fließenden Erscheinung einen seltsamen Widerspruch bildet), bis sie also für kurze Zeit die untere Gesichtshälfte entblößt, rätsele ich herum, wie ihr Mund aussehen mag. Größer als erwartet (aber habe ich wirklich etwas erwartet? Solche Enthüllungen sind eigentlich immer gegen jede Erwartung, was so gut ist wie zu sagen, es gab keine Erwartung, mit der man den überraschenden Eindruck vergleichen könnte), ihre Lippen sind voll, die Mundpartie wirkt wie ein süßes Tier, das man plötzlich in einem leergeglaubten Terrarium findet, nicht nur äußerlich, sondern auch in seiner Schüchternheit, seiner Einfalt fast, seiner Selbstverlorenheit. Ehrlich wie ein Kind, und wie ein Kind leicht zu entrüsten, leicht zu verwundern. Mit ihrem Begleiter, einem Jungen, spricht sie in einer seltsamen Sprache, irgendwas Germanisches, der Zug fährt nach Zürich, ist es eine schweizerische Mundart? Später fällt mir auf, daß aus dem Mund des Mädchens dieses Idiom sich wie eine Fremdsprache anhört, mit deutscher Lautung, das r hinten in der Kehle, die Endkonsonanten stimmlos und scharf aspiriert, wie es nur Sprecher des Deutschen hinkriegen; irgendwann fällt ein Wort, eine Phrase, upstaan oder opstaan, ek denk, om dat ek, die mir das Idiom als Niederländisch kenntlich macht. Auch das Zögern, mit dem sie manchmal nach Worten sucht, läßt erkennen, daß sie eine Fremdsprache spricht. Manchmal scheint sie das Niederländische mit deutschen Phrasen zu vermengen, als würde sie gleich in die ihr vertrautere Sprache zurückfallen. Sie sprechen, soviel läßt sich erraten, über die Fahrt, mehrmals kommt der Name der Stadt Köln vor. Das Mädchen ist zerstreut, macht einen Denkfehler, korrigiert sich: Achso, von Köln! Ich vermute, sie hat sich Sorgen gemacht, ihr Platz mir schräg gegenüber könnte auch noch von jemandem mit Reservierung beansprucht werden. Dann wird ihr aufgegangen sein, daß der Platz ab Köln reserviert war, drei Stationen zurück, da wird jetzt keiner mehr kommen. Der Junge sagt etwas, das wie ein belustigtes Ach, Marijkje klingt. Habe ich das richtig gehört, ist das ihr Name? Wie passend für ein Mädchen, das Niederländisch spricht. Zwischen Mainz und Mannheim fragt sie den Jungen, wo sich die Toilette befindet, und der Junge zeigt die Richtung. Sie steht auf, bleibt eine Weile weg. Ich nehme mir vor, ihre aufrechte Gestalt nicht zu beobachten, versuche, mich ins Buch zu vertiefen, will den Blick nicht heben, hebe den Blick, und in genau dem Moment kommt sie zurück. Im Gehen sieht sie noch schmaler aus als im Sitzen, mit den zusammengeklappten, sortierten Gliedern. Ihre Schlankheit grenzt an Magerkeit, ich frage mich, ob sie eine Eßstörung hat, dem äußeren Eindruck nach, dieser Verletzlichkeit nach, die sie ausstrahlt, ist sie der Typ dafür. Als sie sich wieder gesetzt hat, fallen mir ihre langen Fingernägel auf, schade, weniger künstlich-kunstvoll als vernachlässigt, sind sie an den schlanken, anmutigen Händen (Märchenhände, auch sie) fehl am Platz. (Passend wären allerdings bis aufs Blut abgenagte.) Auf dem Handrücken hat sie einen Schriftzug, wie es Leute tun, die sich etwas auf die Hand schreiben, das sie nicht vergessen wollen (auch dazu ist sie der Typ), ich versuche, es zu entziffern, aber, P. bgdiseren oder so ähnlich, ich werde nicht schlau daraus. Sie kämmt mit den Fingern Strähne für Strähne, die sie sich über die Schulter gelegt hat, ihr Haar und nimmt eine Unterhaltung mit dem Jungen auf. Es fällt das Wort Irritacie (Irritatie?), mehrmals, een leichte irritatie, dann irgendwas, das mich an einen Arztbesuch denken läßt, und schließlich sagt sie lebhaft etwas, das klingt wie soll ich jetzt etwa ein Jahr warten?, worauf der Junge beschwichtigend die Hand hebt. Der Gedanke kommt mir, ob das Mädchen krank, ob die zwei vielleicht auf der Reise zu einem Spezialisten in der Schweiz sind. Einmal reicht sie ihre Hand — die mit dem Schriftzug — zu dem Jungen hinüber, der sie nimmt, einen Moment hält und streichelt. Ihre Hand ist schmal, sie sieht aus, als könnte sie dem Mädchen jederzeit verloren gehen. —

(Dezember 2021)