Etwas, das mir nicht mehr gehört. Ein Nachholen und Besinnen. Schon bevor es vorbei ist, die Versuche der aneignenden Rekonstruktion. Reflex des Zurückholens. Die Symptome sind die des schon seit der frühen Kindheit vertrauten Abschieds, als ich lernen mußte, daß jede schöne Zeit erst dann als schön greifbar wird, wenn sie vorbei ist, also nur in der Trauer, im Verlust möglich ist; sie sind gewachsen, seitdem, die Abschiede und Erkenntnisse, und nie war ein Abschied größer und jeglicher Aussicht der Rückkehr, Rekonstruktion und Wiederholung barer als der, der bevorsteht, eher früher als später. Für später ist nur noch wenig Zeit. Angesichts dieses drohenden Abschieds erscheint es mir unbegreiflich, wie Menschen Heimat problematisch finden können. Ich weiß, wo ich zu Hause bin, habe es immer gewußt.
Kategorie: Confessiones
Ich weiß manchmal gar nicht so genau, wogegen sich dieser flammende Zorn richtet. Ich knalle Türen, ich werfe mit Besteck um mich, ich pfeffere eine Zeitung an die Wand, ich brülle in den Backofen. Ist es der Nachbar, wenn der sich wieder mit seinem Diesel anschleicht und im Zentimetertempo in die Hofeinfahrt ruckelt? Ist es die Waschmaschine der Vermieter im Keller, die ihr Tatütata durchs Treppenhaus plärrt, mit dem sie anzuzeigen beabsichtigt, daß der Waschgang beendet sei? Ist es das Stocken des Cursors im Mailprogramm, weil dieses wieder mit Kram im Hintergrund beschäftigt ist, der im Moment keine Priorität für mich hat? Oder das Fähnchen in der Taskleiste, mit der mir mein Betriebssystem nervtötend hartnäckig zu verstehen gibt, daß Aktualisierungen verfügbar sind? Will ich das überhaupt wissen, unaufgefordert? Will ich das haben? Bin ich unterzuckert? Ist es die Hitze? Ist es die Stumpfheit der Menschen, die auf ihr orakelndes Schächtelchen starren und denken (wenn sie überhaupt denken), der Klimawandel gehe nur die Bewohner Bangladeschs was an? Ist es die Art, wie mein Bett knarzt oder mein Kessel pfeift? Bin ich es am Ende noch selbst, den ich einfach nicht mehr ertrage?
Oder ist es ganz allgemein, weil die Dinge sich behaupten und da sind und nicht daran denken, mir entgegenzukommen oder wenigstens schamvoll zugrunde zu gehen? Diese dumpfe Hartnäckigkeit in allem, diese Trägheit, mit der sich alles behauptet, dieser Widerstand, dieser Unwille, sich ändern oder wenigstens abschaffen zu lassen? Das quälende Nicht-voran-Kommen der Welt?
Ich möchte mehr Sex und mehr Text. Ich möchte mehr Wein und mehr Küsse und mehr Spargel und mehr verrückte Geschichten und mehr Symphonien und viel mehr trunkene Sonnenaufgänge. Ich möchte mehr Briefe und mehr Papier, ich möchte mehr Zeit und mehr Gedanken, mehr Luft, mehr atmen, mehr Horizont. Ich möchte mehr Wasser. Und tieferes. Und kälteres. Ich möchte mehr Schlaf und mehr Kerzen.
Ich möchte nicht noch mehr Aktualisierungen. Ich möchte nicht noch mehr Bahnhof. Ich möchte keine Kommunikation mehr, sondern nur noch Gespräche. Ich will keine Werbung mehr, nur noch Dichtung, wer das nicht kann oder mag, hat mir eh nichts Relevantes mitzuteilen. Lärm will ich nicht mehr und Massen nicht mehr (außer Massen von Wein und Spargel, und oh, Schinken natürlich). Ich will keine Naturschutzgebiete sondern Natur. Scheinzwänge will ich nicht mehr und nicht mehr gegängelt werden. Ich will nicht mehr nach meiner Paybackkarte gefragt werden, oder ob ich das Brot geschnitten haben will. Ich will keine Punkte sammeln. Ich will keine Supermärkte mehr, sondern einkaufen gehen. Ich will nicht noch mehr Autos, nicht noch mehr Straßen, nicht noch mehr Parkhäuser, und auch nicht mehr Wachstum, keine neue Bioformel, keine Zahnpasta mit Maxibrush-X-o-Dent-Plaquentferner, ich will keine Produkte sondern schöne Dinge, ich will weder Global- noch Digital- noch sonst welche -isierungen, und Fortschritt, Fortschritt will ich schon gar keinen.
Ich möchte meine Ruhe und ansonsten, daß mal endlich, endlich, endlich irgendwas gut wird, statt immer nur besser und besser.
Gedankenbibliothek
Ich laufe. Ich laufe in gemessenem Tempo. Ich laufe durch die Schwärze des frühen Wintermorgens. Durch den Wald laufe ich, schaue nach rechts und links, und die Stämme, gelockt von der Stirnlampe, treten aus der Dunkelheit heraus wie neugierige Geister. Zum gemessenen Tempo gehören gemessene Gedanken, Gedanken, die Zeit haben, Gedanken, die Muße haben, Gedanken, die zu Fuß gehen. Die Umgebung ist eine Kulisse, die nichts erfordert. Kein Autoverkehr durchkreuzt meine Spur. Keine Verkehrszeichen erfordern meine Aufmerksamkeit. Der Wald macht mir wohlwollend Platz. Den Weg kenne ich fast im Schlaf. Bestünde nicht die Gefahr des Stolperns, könnte ich den Weg ohne Licht laufen. Aber auch wenn die Füße sicher ihren Weg finden, in den Gedanken kann man sich verheddern und verrennen.
Es liegt eine große Kunst darin, das Richtige zu denken. Das beste wäre, man zieht einen Gedanken zum Denken wie zum Lesen ein Buch aus dem Regal. Falsche Gedanken können langweilig, ermüdend oder nervtötend sein; sie können aber auch verstören, Mut rauben oder schlechte Laune verbreiten. Ein guter Gedanke dagegen unterhält wie ein gutes Buch. Und wie ein gutes Buch zu weiteren Büchern führt, öffnet der gute Gedanken Räume zu weiteren guten Gedanken.
Leider stehen Gedanken aber nicht wohlgeordnet (oder wenigstens gut voneinander geschieden und ansprechbar) im Regal. Tatsächlich frage ich mich, wenn sie schon nicht geordnet sind, wie sie angeordnet sind. Bücher drängeln sich auch nicht vor; aber Gedanken haben die nervtötende Angewohnheit, sich ungebeten in die erste Reihe zu stellen. Weit davon entfernt, gute Gedanken zu sein, gehören zu den vorlauten Gedanken oft im Gegenteil die allerschlimmsten.
Ein dummes Buch läßt sich jederzeit zuklappen, ein dummer Gedanke aber, einmal aufgetaucht, ist kaum wieder wegzuschieben. Wenn es schon sehr schwierig ist, an etwas anderes zu denken, so ist es nahezu unmöglich, überhaupt nicht zu denken. Keinen Gedanken zu haben kann man sich eigentlich nicht vorstellen, denn schon die Vorstellung wäre ein Gedanke.
Selten gelingt eine so tiefe Konzentration beim Laufen, daß ich mich nicht mehr erinnern kann, an einem zurückliegenden Wegabschnitt vorbeigekommen zu sein. Welche Gedanken eignen sich besonders zur Versenkung? Verseschmieden: Während ich an einer Gedichtzeile herumfeile, bis Reim und Rhythmus stimmen, bin ich sowohl in mir drin als außerhalb von mir selbst. Ich bewege mich mit den Gedanken in einem Raum der Sprache, während meine Füße von selbst, und ohne daß ich den Befehl zum Abbiegen geben muß, meine Runde ablaufen. Solches inneres Arbeiten gehört zu den guten Gedanken, versetzt aber in eine gewisse Unruhe, weil man, was man nach längerem Probieren endlich gefunden hat, auch noch heil nach Hause bringen muß, während sich der nächste Vers auch schon halb formt und im Gedächtnis behalten werden will. So etwas kann in Arbeit ausarten, auch wenn man natürlich glücklich ist, wenn einem überhaupt was einfällt.
Schon besser für das innere Abtauchen geeignet ist die Mathematik. Manchmal vergegenwärtige ich mir einfache mathematische Zusammenhänge, versuche mich an das Heron-Verfahren zum Wurzelziehen zu erinnern oder memoriere den Beweis, daß es unendlich viele Primzahlen gibt. Sehr einfache Dinge, aber sie halten mich ein paar Kilometer davon ab, Unbequemes oder gar Schlechtes zu denken.
Schlechte Gedanken kommen von alleine. Ungerufen, sind sie schon lange da, bevor man sie überhaupt bemerkt. Haben sich eingeschlichen, ohne zu klingeln oder die Füße an der Matte abzustreifen. Die Hintertür stand auf, die Terrassentür, die Kellertür, und ehe ich es recht merke, sitzen sie mit einem Glas Wermut im Wohnzimmer, grinsen frech und verwickeln mich in die hitzigsten Diskussionen. Gegner, Feinde, denen ich selbst Stimmen verleihe, um sie dann niederzubrüllen. Ich bin Wort und Widerwort in einem, bin mir mein eigener Feind, fuchtele in der stillen Morgenluft herum, komme außer Atem, verziehe das Gesicht, es ist anstrengend, ärgerlich und so nervenaufreibend, daß ich manchmal richtig schlecht gelaunt vom Laufen nach Hause komme. Es heißt immer, Sport baue Streßhormone ab. Ich kann das nicht bestätigen. Ein zwei Stunden nichts zu tun zu haben bedeutet, den Kopf freizuhaben für die widerlichsten Arenen.
Da hilft dann manchmal wirklich nur noch ein Gedicht.
Ich verstehe, daß manche Menschen sich permanent ablenken müssen. Radio, Fernseh, Internet, nur um sich nicht mit den eigenen Gedanken abgeben zu müssen. Nicht, um die äußere Stille zu verscheuchen drücken sie aufs Knöpfchen, sondern um den Lärm im Innern zu übertönen. Solche Leute gehen auch in Gruppen laufen. Um zu quatschen. Dann quatschen sie nicht beim Laufen, dann laufen sie beim Quatschen, daß man es im ganzen Wald hören kann. Quatschen bei knappem Atem, das gibt ein ganz charakteristisches Geräusch, so ein bellendes Herausstoßen von möglichst vielen Silben zwischen den schnellen Atemzügen. Natürlich geht es dabei um mehr als ums Quatschen, es geht darum zu zeigen, wie überaus gut in Form man ist: Da ist, japs, noch, japs, Atem übr, japs, ig, um zu reden. Gott, was sind diese Leute cool.
Ich mache so etwas nicht, für mich besteht der Sinn des Laufens unter anderem darin, daß ich alleine bin. Meine Gedanken, wenn ich Pech habe, stören mich schon genug, da kann ich mich nicht auch noch mit Mitläufern befassen.
Am besten ist es – aber es gelingt nur sehr selten – wenn ich mir beim Laufen Geschichten erzähle. Für Geschichten braucht man ein gutes Auge und ein scharfes Gehör. Oft sieht man sie nur von hinten, ihren Schluß. Oder sie zeigen die Schnurrhaare ihres Anfangs, und dann, raschelraschel, sind sie wieder weg, und man steht da mit dem Anfang von Geschichten und weiß nicht weiter. Geschichten sind empfindlich, sind bei ihrem Entstehen zarte Gebilde, zarter als die Geister von Verstorbenen, schwerer faßbar als Geister von zukünftigen Menschen, man könnte sagen, sie sind scheu, flüchtiger als die Rehe, die manchmal im Morgengrauen unter den Schemen von Weiden und Weißdorn vor mir reißaus nehmen.
Erzähl er nicht weiter, Herr Urian!
Früher war es das Reisen.
Eine gebotene Narrheit, ein Traum, hatte das Reisen zur Hauptperson jemanden, der ich nicht war, der ich aber gerne gewesen wäre. Das Reisen erforderte Eigenschaften, die ich im höchsten Maß nicht besaß, aber besitzen wollte, Coolness, Anpassungsfähigkeit, Angstfreiheit, Extrovertiertheit, Neugier, Unerschrockenheit, Schläue, Abenteuerlust, und gerade deshalb war ich so oft auf Reisen, so mit verbissener Leidenschaft, Hartnäckigkeit, ja Trotz unterwegs, als könnte ich auf diese Weise die mangelnde Coolness erwerben oder einüben, bis sie saß. Je öfter gereist, je schwieriger die Umstände, desto cooler, auf Dauer. Dachte ich.
Großgeworden im Zeitalter des aufstrebenden Rucksacktourismus (Stichwort „Land und Leute kennenlernen“), neuentdeckter Authentizität von Balsamico-Essig und Single-Malt-Whisky, in einer Generation, die plötzlich genau zu wissen glaubte, wie das Originalrezept für Tiramisù gehe, und denen „Insalata caprese“ leichter über die Lippen kam als „Grünkohl mit Pinkel“, unter Menschen, die größere Vertrautheit mit dem Didgeridoo als mit der Zupfgeige bewiesen – in dieser plötzlich ganz dem Außen zugewandten, Weltoffenheit und -läufigkeit demonstrativ zur Schau stellenden Umwelt galt für mich nicht minder, was für alle Altersgenossen galt. Wer jung war, mußte reisen. Wer es nicht tat, galt als vorzeitig vergreister Toast-Hawaii-Esser. Das wollte ich natürlich nicht sein. Niemand wollte das, auch wenn der Toast Hawaii heimliche Lieblingsspeise blieb. Man war nicht ehrlich, man verschwieg das, und bildete sich ein, die „original italienische Salami“ vom Discounter sei besser. Wenn ich ehrlich zu mir gewesen wäre: Dann hätte ich lieber Ostfriesenmischung als Assam FTGFOP getrunken. Und wenn ich noch ehrlicher gewesen wäre: Dann wäre ich zu Hause geblieben.
Denn wohl habe ich mich nie gefühlt auf Reisen. Ich habe es immer schon gemütlich, vorhersagbar und bequem haben wollen. Zwar wäre ich gern ein Abenteurer gewesen, nur Abenteuer erleben, das war nun doch etwas viel. Ich wollte mutig sein, aber nicht in Situationen geraten, die Mut erfoderten. Sein, nicht machen: Ich wollte jemand sein, für den es keine Gefahren, sondern nur Herausforderungen gab, kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung (und schlechte Laune), einer, dem es gelingt, die ganze Welt zu seinem Wohnzimmer zu machen. Dabei haßte ich schon den unbedeutendsten Zwischenfall, einen verspäteten oder verpaßten Zug etwa, oder wenn ich mich in einer Altstadt verlief, mir die Landessprache trotz Intensivkurs verschlossen blieb oder eine Hoteladresse nicht zu finden war. Schmutzige Betten, kaltes Duschwasser, unlesbare Fahrpläne, überlaufene Sehenswürdigkeiten konnten mich ebenso ärgern wie nervtötende Eigenschaften Einheimischer, etwa, immer freundlich „ja“ zu sagen, wenn sie „nein“ meinten (Bolivien), mir das Blaue vom Himmel herunterzulügen über das hübsche Hotel des Schwagers (Griechenland), bei Regenwetter mit Sonnenbrille herumzulaufen (auch Griechenland), oder aus zehn Kilometern zehn Meter zu machen (überall auf der Welt).
Ich arbeitete hart an mir. Irgendwann mußte es mir doch gelingen, die albernen Sonnenbrillen exotisch zu finden und das Ramschgeschäft mit dem heruntergekommenen Hotel des Schwagers für unverfälschte autochthone Gastfreundlichkeit zu halten. Das machten die andern doch schließlich auch! Laß es einfach auf dich zukommen, sprach ich zu mir selbst mit zusammengebissenen Zähnen, alles ist Erfahrung, urteile nicht so viel, entspann dich einfach. Ich entspannte mich – und verpaßte den Bus, weil ich den Fahrplan nicht zu entziffern vermochte.
Wenn ich reiste, war ich nicht so sehr irgendwoher irgendwohin unterwegs; besuchte ich nicht andere Länder oder Gegenden; war ich nicht auf der Suche nach etwas, sondern nach meiner Rolle dabei. Spaß machte das nicht. Meistens nicht. Natürlich gab es Momente seltsamer Intensität, an die ich heute noch gerne zurückdenke. Die Fahrt um Mitternacht Ortszeit vom Flughafen El Alto hinunter in den Canyon, an dessen Hängen das Lichtermeer von La Paz, tief, tief unten, emporbrandete; ein fetter Vollmond, geschwollen wie eine leuchtende Made über Piräus, beim Auslaufen der Fähre hinüber nach Kreta; ein Tagesanbruch in einem Park in Hieraklio, griechische Erde und Sonne, das Blitzblanke eleganter Frauen beim Morgenspaziergang mit ihrem Hund. Aber diese Erinnerungen, eingebettet in den größeren Kontext der Widerwärtigkeiten, die solchen Momenten vorausgingen (Streit mit Taxifahrern) und folgten (stressige Hotelsuche im Zustand völlier Übernächtigung), sind heute stets begleitet von der Erleichterung, daß es vorbei ist – und dem Bedauern darüber, daß das Reisen insgesamt nicht schön gewesen ist, und ich an der Stelle meines Scheiterns an Widerständen, meiner Unfähigkeit, auch diese Widrigkeiten als positive Erfahrung abzuspeichern, gern eine andere Erinnerung über dieselben Ereignisse und Begegnungen besäße, eine angenehmere, anders gefärbte ebenso wie eine versöhnlichere, stolzere von mir selbst.
Das Reisen war insofern eine Probe, in der ich mich selbst zu spielen versuchte – und scheiterte. Ich mochte nicht das Reisen, ich mochte die Vorstellung vom Reisen, ebenso wie es mir mehr Freude und Erkenntnis bringt, bei einer Tasse Kaffee einen Ausstellungskatalog zu studieren, als selbst ins Museum zu gehen. Ich mochte über fremde Länder lesen; sie selbst zu bereisen, dazu fehlte mir jedes Talent, jedenfalls, wenn ich dabei einen Genuß haben wollte.
Nicht nur Mut, Anpassungsfähigkeit, Coolness fehlten. Es fehlten auch die Hartnäckigkeit und die Neugier des Entdeckers. Nicht, daß ich nichts hätte entdecken wollen. Nur wollte ich es um des Entdeckens, nicht des Entdeckten Willen. Ich wäre gern der erste gewesen, ein erfolgreicher Jäger von Kuriosem, Grandiosem, bis dato unentdeckt Spektakulärem, wäre gern auf das gestoßen, was man heute so paradox als Geheimtip weitergibt. Auch hier ging es nicht ums Reisen, auch nicht darum, etwas Aufregendes zu erleben oder etwas Neues zu sehen. Es ging einzig darum, später einem staunenden Publikum davon berichten zu können. Natürlich entdeckte ich auf diese Weise nichts, weil mir ja, was es vielleicht zu entdecken gegeben hätte, im Grunde egal war.
Einmal, auf Klassenfahrt in London, ging ich allein ins British Museum. Wir hatten einen Nachmittag zu unserer freien Gestaltung, und meine Wahl fiel auf das BM. Sicher wird mich das Museum interessiert haben, es gibt dort derart viel zu sehen, daß für jeden etwas dabei ist. Aber das war es nicht. Mir gefiel die Vorstellung von mir, wie ich ganz allein in London ins British Museum ginge. Wie ich einer wäre, dem eine solche Unternehmung Spaß machte und – gelänge. Ich ging also hin und sah – nichts. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung von den schier unermeßlichen Dimensionen dieser Institution, ich hatte mich nicht informiert, ich zog keine Pläne zu Rate, ich fragte nicht nach einer Führung. Ich sah mich in der allerersten Halle ein wenig um, wo es irgend etwas Altägyptisches zu sehen gab, versuchte vergeblich, etwas von dem griechischen Text auf dem Rosetta Stone zu entziffern, nickte dennoch fachmännisch mit dem Kopf (sieh da, Griechisch) – und ging wieder. Nach einer halben Stunde. Weil ich dachte, das sei alles. Ich war weder enttäuscht noch verwundert, weil ich nicht wußte, was ich hätte erwarten sollen. Ich war auch eigentlich nicht besonders neugierig. Ich war dagewesen, damit war es gut. Erst später ging mir auf, daß ich vielleicht ein Promill des Museums gesehen hatte, das erste Wort im ersten langen Satz eines tausendseitigen Romans. Es war so, wie stolz darauf zu sein, die erste Seite von Schuld und Sühne aufgeschlagen zu haben. Ein bißchen schämte ich mich später dafür, aber in dem Moment, wo ich das British Museum an jenem Nachmittag wieder verließ, im Glauben, es gesehen zu haben, zählte nur eins: Ich war ganz allein in London ins British Museum gegangen. Und außerdem war mir langweilig. Jahrzehnte später las ich Neil McGregors Geschichte der Menschheit in hundert Objekten, eine kulturhistorische Schwarte, die an hundert ausgewählten Exponaten des BM entlangerzählt ist; ich fand es großartig, zum Durchlesen, zum Stöbern, zum Immer-wieder-Nachblättern und Staunen. Damals, in London, hätte ich auch besser einen Katalog oder eine Geschichte der Pharaonen zur Hand genommen, als durch die sommerheiße, schmachtende City of London zu latschen, um sowohl einer Rolle zu entsprechen, wie auf der Suche nach etwas, von dem ich erzählen könnte.
Und so war es eben oft. Doch mochte ich mir nie eingestehen, daß ich die Landkarte spannender fand als die Landschaft, deren Abstraktion sie war, eine Landschaft, deren tatsächliche, sicht- und anstaunbare Merkmale, egal wie großartig diese auch sein mochten, immer hinter der Unendlichkeit der imaginierten Räume zurückbleiben mußte, die das bedruckte Papier in seiner abstrakten Repräsentation anbot. Ich mochte mir nicht eingestehen, daß Reiseberichte weit vergnüglicher waren, als sich selbst auf den Weg zu machen. Denn mein Wunschbild von mir selbst war nicht das eines gelehrten Stubenhockers, da hätte ich niemals hineinschlüpfen können; sondern das eines Unerschrockenen, der sich selbst ein Bild von der Welt macht. Ich mochte mir nicht eingestehen, daß ich, selbst wo ich versuchte, die Rolle dieses Draufgängers möglichst echt zu spielen (wozu immer auch gehörte, daß ich mich so zu fühlen bemühte, wie ich meinte, daß sich ein Draufgänger fühlen müsse), doch nichts weniger als ein Draufgänger war. Ich hoffte, meinem Rollen-Ich immer ähnlicher zu werden, bis wir zwei, der Schauspieler und seine Rollenfigur, dereinst ununterscheidbar geworden wären.
Was ich nicht begriff, oder jedenfalls erst viel später, war, daß das Reisen, weit entfernt davon, den Reisenden in eine mutigere Version seiner selbst zu verwandeln, im Gegenteil sein wahres feiges Selbst überhaupt erst richtig zum Vorschein brachte, quasi freipräpariert vom Skalpell der Fremdheit, die es umgibt. So wurde ich auf Reisen nicht der, der ich sein wollte, sondern unvermeidlich der, den ich in mir selbst am meisten verachtete.
Da steckt doch mehr dahinter!
Dieses Gefühl, daß mich jemand durchschaut, oder wenigstens zu durchschauen glaubt. Da werde ich sofort fuchsig. Mich kennen? Du ahnst nicht, was du alles nicht einmal ahnen kannst! Und dennoch, was man mir da beim Abendessen auf den Kopf zusagt, daß ich ein ängstlicher Mensch sei, das stimmt. Grund zu der Vermutung habe ich indes niemals gegeben, und so tröste ich mich damit, daß dieser Schluß von falschen Beobachtungen auf etwas zufällig Richtiges geht. Vielleicht mußte man auch einfach ein bißchen Vergeltung dafür üben, daß ich die Frage nach meinem Roman abgeblockt habe, und zwar mit klaren Worten. Doch noch ein bißchen was rausgekriegt haben über mich.
Es ist ein Muster, das sich oft wiederholt, und für einen ganz bestimmten Menschentypus charakteristisch ist. Wenn ich mich mal ausnahmsweise des gleichen Musters bediene, würde ich sagen, diesem Nachbohren liegt eine tiefe Unsicherheit zugrunde: Woran bin ich mit dem? Warum sagt der nix? Gehe ich ihm auf die Nerven? Der verbirgt mir doch was! – Und dann wird halt gestochert. Und im Nebensatz behauptet: Es ist ja nicht schlimm, wenn du Angst hast. – Wer hat hier Angst? Das sind dieselben Menschen, für die alles immer natürlich und locker sein muß. Mach dich doch mal locker! Und dabei sind sie selbst die verkrampftesten in ihrer Unfähigkeit, den andern so schweigsam, verkrampft und eingeigelt zu lassen, wie er halt ist: Da muß man doch was machen! Sei doch mal locker. Du kriegst es noch an der Nackenmuskulatur.
Nachbohren und Zuschreibungen: Klar hast du Schuldgefühle. Wir Frauen haben alle Schuldgefühle. – Das macht mich selbst stellvertretend wütend, vielleicht auch, weil die, um die es ging, es nicht wurde. Eine boshafte Vermutung wäre: Diese Menschen sind selbst so ängstlich und unlocker und voller Schuldgefühle und zugleich voller Neid auf die, die nicht ängstlich sind und keine Schuldgefühle haben, daß sie einen solchen Makel überall vermuten müssen. (Denn ein Makel ist es, sonst müßten sie nicht so sehr betonen, auch dies eine gängige Phrase aus dem Mund solcher Menschen, daß das doch nicht schlimm sei.) Und natürlich haben sie immer recht mit ihrer Vermutung! Denn wer hat nicht schon einmal Angst oder ein schlechtes Gewissen gehabt? Man muß nur laut und bestimmt genug drauflos vermuten, um Verunsicherung zu erzeugen. Und vielleicht geht es genau darum.
Dazu gehört auch, ins Licht zu zerren, was ich lieber auf dem Wege des Ausweichens oder der Diplomatie lösen würde. – Ich weiß ja, du läßt dich nicht gerne umarmen. (Gefolgt von einer dicken Umarmung.) Manche Leute sind ebenso taktlos wie dreist. Sie scheinen es darauf anzulegen, daß ich den Mund aufmache. Und loben mich dann noch dafür, daß ich unhöflich bin. – Endlich sprichst du mal Klartext! (Ich will aber keinen Klartext sprechen. Klartext ist unter Menschen, die sich nicht gut kennen, unangenehm, für beide Seiten.) Mir wäre es lieber, wir würden ganz im Stillen verstehen und unsere Schlüsse daraus ziehen. Das nennt man Rücksicht. Insbesondere, wenn es um Dinge geht, die mir peinlich sind. Nicht: die peinlich sind, sondern mir peinlich sind. Das Besprechen von Peinlichem ist etwas für engste Freunde. Aber vielleicht ist genau das das Problem: Solchen Menschen ist eben nichts peinlich, und darum akzeptieren sie nicht, daß mir etwas peinlich ist. Das muß dir doch nicht peinlich sein! Aus der Sicht solcher Leute ist das dann nur eine Frage der Lockerung, und also ein Fehler meinerseits, wenn ich eben nicht locker bin. Mir ist ja schon peinlich, daß mir überhaupt etwas peinlich ist. Und noch peinlicher, wenn das jemand merkt.
Selbst keine Geheimnisse haben, und dann dem andern die seinen nicht lassen, auch das gehört in das Muster. Alles von sich preisgeben, auch das, was ich gar nicht hören will. Neulich sagt mir jemand, Sie mögen nicht gern photographiert werden, stimmt’s? Ins Schwarze getroffen, und schon wieder werde ich ungehalten. Ich lasse mich nicht gerne beobachten, nein. Und daß jemand genau diese Scheu vor Beobachtung beobachtet hat, macht mich erst recht wütend. Wie aber verbarrikadiert man sich, ohne daß man die Barrikaden merkt?
Solche Menschen, die einem das eigene Innenleben aufzwingen und dann fast beleidigt sind, wenn man selbst von sich schweigt (Und du so? Erzähl doch mal was von dir!), haben, vermute ich, den Wunsch nach klarer Sortierung. Du bist so, ich bin so, ein Dritter ist so. Und fertig. Diese Menschen sind immer schon fertig mit ihrem Gegenüber. Dabei fängt man ja dort erst an, wo man eine Vermutung über einen fremden Menschen hat. Man wird ja mit sich selbst schon nicht fertig, wieviel weniger dann mit einem anderen.
Die Aussicht auf eine Dauer, der Ausblick auf noch und noch, ist für mich die entscheidende Voraussetzung für das Glück des Augenblicks.