Gefangen im Hobbykeller

Mitten in der Nacht, nachdem auf der Straße ein Mann und eine Frau die Leerung der Mülltonnen am nächsten Tag ausdiskutiert hatten; nach dem Verstummen des anschließenden Rollgeräuschs der Tonnen; nachdem auch der Nachbar mit seinem Gefummel am Auto fertig geworden war; nachdem weitere Nachbarn unter Grunzen und Stöhnen vom Fechttraining nach Hause gekommen, den Waffensack unter meinem Fenster vorbeigeschoben, erst die Haustür, dann die Wohnungstür gegenüber ins Schloß fallen gelassen, ein paarmal wieder geräuschvoll geöffnet und geschlossen, dann mit Rumms endgültig zugeschmissen hatten: Lag ich, nun vollends wach, im Bett, starrte an die Decke, an der der Mond sich noch nicht abzeichnete, lauschte auf den abklingenden Autoverkehr und hatte die traurige Einsicht, daß ich seit Anfang dreißig das Leben eines Rentners führe.

Life-Photoalbum

Es ist merkwürdig, sich einem Ort zu nähern, den man, früher oft und gern frequentiert, seit ein paar Jahren nicht mehr betreten hat. Es ist, als habest du den Ort vergessen. Aber der Ort erinnert sich besser an dich als du dich an den Ort. Du fühlst dich wiedererkannt. Das heißt nicht, daß du schon willkommen bist, und wer bist du denn eigentlich und stiefelst hier herum, als gehörtest du dazu? Du wirst taxiert. Du bist fremd geworden, du bist hier ganz allein, allein mit deinem Packen Zeit, das du mit dir rumschleppst, und mit dem du dir so lächerlich vorkommst, als trügest du die Mode eines vergangenen Zeitalters: Mache ich auch alles richtig? Man möchte das irgendwie loswerden, diesen Ballast. Und hier wie zum ersten Mal erscheinen, am kurzen Mittagsschatten einer Erzählung, die jetzt erst anfängt. Aber hier ist ja alles herbstlich. Wie ein abgelassenes Schwimmbecken, an dessen regenfeuchtem Grund Laub liegt, die Umkleidetüren sind abgeschlossen, die Duschen abgedreht, der Eiswagen dichtgemacht, auf den Tischtennisplatten liegen Ahornsamen und Vogeldreck. Der Ort liegt verlassen und seines Zwecks verlustig da, wie ein Freibad im Winter.

Es ist ein Freibad! Aber es ist Sommer, abermals Sommer, doch nicht mehr dein Sommer, nicht mehr einer jener Sommer, du weißt schon. Als die Zukunft vibrierend überall bereit lag, man mußte nur zugreifen. Als es noch nicht schnell genug gehen konnte mit ihr. Als sie noch unendlich war und in dieser Unendlichkeit sich für jedes Unglück ein Trost, für jede Niederlage ein Sieg, für jeden Verlust ein anderer Reichtum finden ließ. Es würde alles, alles gut werden, lachte diese Zukunft, nach jedem schwierigen Stück Wegs ist immer noch genug von mir da für ein leichtes, für jede triste Zeit hab ich immer noch genug in mir für eine heitere, du kannst auf mich und zu jeder Zeit immer noch einen Tag hinzuzählen, der alles wieder wettmacht, aufhellt, überwindet, was dir an Argem zustoßen wird. Einmal hat dich ein Mädchen auf der Liegewiese angelächelt, und dann warst du zu schüchtern. Das beschäftigte dich eine Weile, aber dann machte es nichts. Es gab ja die Zukunft, und wofür du heute zu gehemmt warst, morgen würde es sicher klappen, wie überhaupt genug Zeit für alles war, um einmal einzutreffen und sich zu zeigen. Schüchtern sein, sich nicht trauen, es war nur die andere Seite der Stärke, die andere Seite von Mut, der Anfang vom Werden und Wachsen, über dich hinaus, so weit, bis du ein ganz anderer Mensch geworden sein würdest, der Mensch, der du immer sein wolltest, der Mensch, der du hättest werden sollen, der Mensch, der du ja eigentlich immer schon warst – in der Zukunft würdet ihr beide endlich eins werden, du und dieser Mensch. Wenn nicht morgen, dann nächstes Jahr, und dann würdest du, denn die Zukunft hielt so viele Wiederholungen bereit, wie du brauchtest, wieder hier liegen, das Mädchen würde dir zulächeln, und wie im Film deines eigenen Lebens würdest du dann aufstehen, zu dem Mädchen hingehen und ganz genau wissen, was du zusagen hättest, das Zauberwort.

Das warst du. Das war hier. Hier. Zwar war es auch andernorts, doch hier, hier hat es der Ort wie nirgendwo sonst aufgehoben. Und der Ort spiegelt es dir wieder zurück: als einen Betrug, dem du damals aufgesessen bist. Du kommst zurück in dieses alte Schwimmbad, in dein Lieblingsbad, das erste, das du, noch ganz neu in der Stadt, ausprobiertest, in das Bad, in dem du so oft verliebt warst oder vor Sehnsucht nach dem anderen, nach dem gänzlich fremden Glück schmachtetest, wo du im Hochgefühl des eigenen jungen Körpers, geschmeidig gemacht und aufgeladen durch Wasser, Bewegung und Sonnenhitze, einen ebenso glühenden, dir aber als etwas gänzlich Fremdes, als warmes, lebensechtes Anderssein begegnenden Leib imaginiertest (wie du und doch nur fast wie du), entwarfst und schmerzlich vermißtest (du mußtest immer wieder mit dem eigenen, vertrauten Leib vorlieb nehmen) – hierher also kommst du zurück, kehrst du wieder, als könntest du nochmal etwas von der damals prachtvollen Zukunft zurückhaben, jener Zukunft, die an die Stelle jeder Sehnsucht eine Erfüllung zu setzen versprach. Aber natürlich ist da nichts. Die jungen Frauen, diese fast unglaubhaft jungen Körper sind unerreichbar, und im Gegensatz zu damals werden sie es auch bleiben. Keine Zukunft wird daran mehr was ändern, keine Zeit verspricht dir noch was, und hier, hier ist die Zukunft, deine Zukunft, einmal verlorengegangen. Die jungen Männer am Dreimeterturm stehen wie Blinde gegen deren eigene Zukunft; nur schwer erkennst du dein damaliges Selbst in ihnen wieder, es ist, als wärst du auch in deinen Erinnerung plötzlich kurzsichtig geworden.

Damals, denkst du, während du dich ins Wasser läßt (sie haben das Becken erneuert, der Wasserspiegel ist jetzt ebenerdig, vormals ragte der Rand einen Kopf über den Schwimmern empor, eine Überlaufrinne säumte den Innenrand, man brauchte eine Leiter, um auszusteigen, das ist nach heutiger Sicht wohl zu gefährlich), damals, als alles Verheißung war, als ständig etwas in der Luft lag, als du dir sicher warst, bald, noch eher der Sommer vorbei wäre, würde etwas passiert sein, eine neue, frische Liebe, die Rothaarige aus dem Yukatekischseminar oder die Dunkle aus Theorien und Modelle, oder wieder eine andere, unbekannte, irgendeine, es wäre auf jeden Fall die richtige. Und dann passierte es tatsächlich. Die Versprechen der Zukunft gingen alle so sicher in Erfüllung, daß du dich nicht zu wundern brauchtest. Du erinnerst dich so genau, du weißt sogar noch, auf welcher Bahn du damals in welche Richtung schwammst, als dich dieses Gefühl größter Zuversicht und Ruhe durchströmte, zugleich dieses Gefühl, daß das Glück einfach sei und niemals ausbliebe, und daß dir nur geschehen würde, was dein rechtmäßiger Anteil sei, was dir billig zustehe.

Dieser Ort also, jetzt. Als bewegte man sich durch ein Photoalbum. Nur daß es das für die andern, die hier entweder jung sind oder mit diesem Schwimmbad durch eine Kontinuität verbunden, die sie niemals dem Ort entfremdet hat, nicht so ist, für die ist das alles hier primär, einzigartig, das unvergleichliche Original des Lebens, das einzige, was zählt, alles, was es gibt und, aus ihrer Sicht noch, überhaupt je geben wird. Noch keine Erinnerung gibt sich her für einen Vergleich. Und diese Wehmut, die dich von diesen Kacheln, den Hecken, den Rasenflächen, dem Vogelgezwitscher und dem Lichtgespiegel, den Brüsten der Mädchen und braunen Schultern der Jungs, dem Gejohle und dem Plonk! der Arschbomben, von diesem prallen, fröhlichen Leben her anspringt, die ist ganz deine, und nur deine, diese Unfähigkeit, in diesem Ort etwas anderes zu sehen als eine Kulisse vergangenen Lebens, einen Raum für deine Erinnerungen. Man kann ja den Erinnerungen nicht entkommen, ihrer schieren Menge und Anhäufung. Ein Spiegel, ganz wörtlich. In der Umkleidekabine schaut dir einer entgegen, den du kaum als dich selbst erkennen magst. Die Muskeln, die Schultern, der Mund scheinen dieselben zu sein, und doch, und doch. Da ist dieser stärkere Bart, da sind die Fältchen, da ist die kahle Stirn, vor allem aber dieser Schatten von gelebter Zeit in den Augen, die etwas kummervoll blicken und sich gleichzeitig der Lächerlichkeit eben dieses Blicks, seines kindischen Jammers, nur zu bewußt sind; aber für ironische Brechung, gar Sarkasmus, fehlt ihnen – der Mut? Die Kraft. Ja, die Kraft. Die Sicherheit, gewonnen zu haben, Sieger geblieben zu sein, bei allem, trotz allem, die fehlt ganz entschieden. Auf dem Gelände die Bäume, alter, dunkler Ahorn und schöne, schlanke Pappeln, stehen noch immer. Sie haben es leichter.

Du kannst diesen Ort so wenig erneuern wie diesen Leib, wie dieser trägt jener die Spuren von Leben und Erinnerung. Du kannst nicht so tun, als ließe sich hier oder mit diesem alternden Bündel aus Muskeln, Knochen, Organen und Blutgefäßen noch einmal ein neues Leben, etwas Frisches beginnen, etwas, das nicht schon vom eigenen Scheitern und Vergehen spricht, noch ehe es begonnen hat, nein: Es ist vorbei. Du kannst auch mit dieser Erinnerung nicht weiter kommen als nur zu noch einer weiteren Erinnerung, die über die erste hinwegsieht, und jede nächste Erinnerung wird von ihren Vorläuferinnen gesättigter sein. Schon das Erinnern ist ja ein anderes. Die Erfahrung färbt die Wahrnehmung, diese wird wiederum Erfahrung, eine Rekursion bis zur allerallerletzten Wahrnehmung, derjenigen, die keine Erinnerung mehr werden wird. Was jetzt aber noch kommt, ist mit dem Brot der Wehmut aufgebrockt, geschieht und vollzieht sich im Gefühl eines Rests, ist wie ein Besuch in eben diesem Freibad, ein Blick auf die ewig anders jungen Mädchenkörper. Die tausend Meter in kaltem Wasser sind anstrengend gewesen, sind fast zuviel gewesen, jetzt zitterst du am ganzen Körper, in den Ohren klingelt es. Das wäre dir früher nichts als Ansporn gewesen. Heute mußt du dich fragen, ob diese an Übelkeit grenzende Erschöpfung nicht schon ein Zeichen des Alters und des Abbaus ist. Und so geht es mit allem. Nicht: Wohin jetzt? Sondern: Wie lange noch. Der Ort sagt: Früher, als du noch oft hierher kamst, hattest du gar keinen Ehrgeiz. Den brauchtest du ja auch gar nicht zu haben. Heute, sagt der Ort, bist du in einem Alter, wo du dir etwas beweisen mußt. Also finde dich ab, daß du schwindest – oder beweise halt.

Beides aber, das weißt du, ist gleich schlimm. Das Wenigerwerden wegen des Wenigerwerdens; und das Beweisen, weil es lächerlich ist, und weil du so einer nie hast sein wollen. So einer. Einer von denen. Einer von den Mittvierzigern, die plötzlich die Krise kriegen und mit dem Bungeespringen anfangen oder mit dem Marathonlauf. Die „es noch einmal wissen wollen“. Warum haben manche Jugendliche eine Todessehnsucht in sich? Weil sie „so einer“ nie werden, weil sie genau an diesen Punkt niemals kommen wollen (im Gegensatz zu dir ist es ihnen aber tödlich ernst damit), an den Punkt, wo sie ihr altes Freibad nach Jahren ephemeren Lebens noch einmal aufsuchen und sich an den tausend Metern abkämpfen in der Illusion, den jungen Leuten vielleicht noch was vormachen zu können. Noch, noch, noch. Und irgendwann nicht mehr. Die innere Sicherheit, nur wollen zu müssen, dann ließe sich alles erreichen, jederzeit: vorbei, längst vorbei. Die Pappeln rauschen, Füße klatschen über Beton und Gras, die Jungen stoßen einander ins Wasser, Gekreisch und Gejohle. Sie werden es auch in zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren noch tun, immer dieselben jungen Körper. Was du aber jetzt noch erreichen kannst, ist weniger ein Ergebnis deines Wollens, als vielmehr ein gänzlich zufälliges Zustandekommen, ein Geschenk, das schwindende, jederzeit aufkündbare Almosen der Zeit.

Mitnotiert

Sechs Uhr früh, noch dunkel jetzt. Nach Westen die Bäume, still unter den Laternen, darüber der Vorgebirgshang, der schieferblaue Himmel. Alles ist Schiefer zu dieser Stunde. Der Tau auf den Mülltonnen, die dunklen Fensterscheiben, der Straßenasphalt, selbst der Gingko hat Blätter aus Schiefer.

Im Osten über der Bahnlinie ein rostiger Balken Helligkeit, der sich später, beim Ersteigen des Hangs, zu einem rosaroten Wulst ausweitet, der bläulichen Dunst darunter von bläulichem Dunst darüber abtrennt. Der Sommer tauscht Amseln gegen Fledermäuse. Wie alte Damen im Theater haben sich die Bäume am Wegesrand niedergelassen. Fächer schwingen, Seide raschelt, Blüten erlöschen wie Lampen. Man läuft wie eine Sinnestäuschung an den Zäunen entlang. Die Sonne wird noch eine Stunde brauchen.

Ich denke über Sinn und Sinnlosigkeit nach, besonders über letztere. Warum quäle ich mich hier den Berg hoch, was fange ich mit meiner Fitneß, die ohnehin höchst relativ ist, an, dient sie mir zu etwas, wenn ja, zu was, zu Stolz? Zum Wohlfühlen in diesem Körper? Es ist sowieso alles nur Aufschub, der Stolz wird sich bald nur noch auf die Vergangenheit richten, und das Wohlfühlen wird seine Grenze in der Grenze nachlassender Leistungsfähigkeit noch kennenlernen. Es fühlt sich nicht falsch an, was ich hier tue, noch nicht, aber sinnlos. Es zielt nirgendwo hin, es hat nur präventiven Charakter. Aber was will ich verhüten? Das Alter? Kann man nicht. Muß ich mir Ziele suchen, um die Illusion aufrechtzuerhalten, es gehe vorwärts? Den 50-km-Lauf etwa? Oder den Two-Oceans-Run, oder ein Jahr lang jeden Sonntag Marathon? Tatsache ist, daß weder die Prävention mir zu Sinn und Motivation taugt, noch der überschießende Ehrgeiz der Mittlebenskrise für mich als Rollenmodell taugt. Dieses letzte Aufgebot, daß so viele Männer meines Alters praktizieren, habe ich schon immer lächerlich gefunden. Zwar verstehe ich jetzt, wie man darauf verfallen kann, aber es wird in meinen Augen dadurch nicht weniger lächerlich. Es ist so albern, daß ich mich fast schäme, wenn ich die Laufschuhe anziehe. Man könnte das mißverstehen, wie man mir schon vor Jahren mitteilte. Es gebe viele Männer, gerade meines Alters, die plötzlich anfingen, das Extreme zu suchen. Verdammt, ich selbst könnte das mißverstehen, wenn ich meine Laufschuhe schnüre. In solchen Momenten ekelt mich beinahe vor mir selbst.

Warum empfindet ein junger Mensch diese Sinnlosigkeit nicht? Auch er wird alt und klapprig werden, auch seine 100-Meter-in-9-Sekunden werden absolut nichts mehr wert sein, wenn es in die Grube geht. Und in die geht es mit ihm wie mit mir. Warum kommen ihm seine Strampeleien dann nicht auch schon sinnlos vor? Was sind ein paar Jahrzehnte mehr, bitteschön? Ist es die vermeintliche Offenheit seiner Zukunft? Während die meine sich zu schließen beginnt: aber das ist eine Illusion. Geschlossen ist die Zukunft für jeden Menschen, vom Moment seiner Zeugung an. Allein das Wort Lebenserwartung legt das nahe. Trotzdem leben wir fröhlich drauflos, mit unserer Erwartung, wenn wir sechzehn oder zwanzig sind, als wären 85 Jahre die Unendlichkeit.

Ich muß an Oscar Wildes Bonmot denken, daß es höchst ungerecht von der Natur sei, daß sie die Jugend an Kinder verschwende. Recht so! Wieviel mehr als die Jugendlichen von heute wüßte ich mit der Jugend anzufangen! Anders als Oscar Wilde meine ich das völlig ernst. Die Jugend sollte man sich erst mal verdienen müssen. Dieses Leben ist ungerecht, von Anfang bis Ende. Besonders am Ende.

Später die Sonne, scharf abgezeichnet, ein Auge ohne innere Struktur, böses Leuchten, unentrinnbarer Blick, wie die Ankündigung einer nahenden Katastrophe schwebt sie über der ahnungslos-geschäftigen Ebene.

Sonntagsausflug

Farben, Licht, das bunte Durcheinander, alles scheint plötzlich wie schlecht abgemalt. Der Hafen, die Mole, der Wein am andern Ufer, die Gesichter, der Sonntagsstaat der Flaneure, die billigen Regenjacken vom Discounter, der Eiswagen, die Infotafeln, alles nur eine Kulisse, hinter der nicht einmal ein Grauen lauert, nur eine schreckliche, unauflösbare, allherrschende Ödnis. Keine Schönheit gibt es, die hier irgendeine Form von Echtheit noch bewirken könnte, bevor es für immer für alles zu spät ist, zu spät auch für eine Flucht. Wohin denn entkommen? Und da ist das alles schon alles, das bunte Treiben, der Wind, die Tauben, die sich vor sich selbst ekeln, ist dies das Echte und Eigentliche des ganzen Lebens, diese entsetzliche, trostlose Traurigkeit dieser billigen, nicht einmal häßlichen Melodien, die sich ins Herz schleichen wie süß schmeckendes Gift. Ich wehre mich, balle die Hände zur Faust. Aber eine Unkraft befällt mich, die Schritte werden müde, das Pflaster ist plötzlich so hart, Llorando se fue, und der Weg so weit, wäre es nicht besser, sich hier auf die Bank zu setzen und der Greis zu werden, der man bereits ist seit der Geburt? Ich sehe die Kinder eine Münze gegen ein Eis tauschen, Faria, faria ho! Wie gespannt sie sind. Wie fraglos überzeugt von allem. Ich bin allein, ich bin ganz und gar allein, faria ho! Niemand deutet mir das, die Blicke sind leer, das Lachen wie aus dem Schlund von Automaten. Ich sitze auf der Bank, das Wasser kräuselt sich schwarz unter den Füßen, nicht einmal der Strom ist noch echt, ich gehe in einer kolorierten Kitschpostkarte herum, und es gibt nichts Schönes mehr auf der Welt, die Welt geht im Kreis wie die Melodie, wie der Arm des Leierkastenmannes, ach, du lieber Augustin, alles ist hin.
Wer erklärt mir diese Traurigkeit? Eine wimmernde Folge nicht einmal trauriger Akkorde, und da ist plötzlich diese Vergeblichkeit in allem und allem. Die Farben erbleichen, die Schatten sperren das Maul auf, die Fahnen drohen, es ist, als fröstele es die Zeit selbst unter einer kalten Brise. Wind treibt die Klänge eines Akkordeons oder Leierkastens über den Platz heran. Dazu wandeln fröhliche Menschen allenthalben, Reiterstandbilder starren vor Stolz, Kinder scharen sich um einen Eiswagen, die eifrige Münze in der warmen Hand. Niemand bemerkt es. Alle sind hohl. Puppen. Marionetten an unsichtbaren Fäden. Oder wie ist es sonst zu erklären, daß niemand das Schreckliche dieser Weisen bemerkt? , Quetschkommode, Leierkasten, Schifferklavier: Wäre die Melodie, die diesem Kasten entströmt, häßlich, verstimmt, falsch, ich würde lachen. Aber die Melodien sind nicht häßlich, das Schlimme ist, sie sind nicht einmal das. Ohne selbst traurig sein zu wollen, verströmen sie unter der Absicht einer billigen guten Laune eine Traurigkeit, für die es keinen Trost gibt. Selbst nicht schön, negieren sie auch alles Schöne, negieren sie alles, was Musik sein kann, daß selbst die Erinnerung an alles, was nur je schön und echt und wahr gewesen ist, im Herzen getötet wird.
Eine Münze klimpert, der Leierkastenmann macht eine Verbeugung, mechanisch auch sie, mechanisch wie der zur Maschine gewordene Kurbelarm, der Münzwerfer bleibt einen Moment stehen, in künstlerischem Entzücken, aus schierer Langeweile, aus Mitleid oder weil er ja schließlich bezahlt hat, er bleibt stehen, hält den Kopf ein wenig schief, nicht den Leierkasten schaut er an, sondern auf das Kind, den kleinen Jungen an seiner Seite. Der steht halb abgewandt, in einer Haltung starrer Abwehr, die Ärmchen erhoben, die Hände so kräftig, so entschieden auf die Ohren gepreßt, daß man die Knöchel weiß hervorschimmern sieht. Eine steile Falte der Mißbilligung und Ungeduld steht ihm auf der Stirne. Der Vater zeigt auf den Leierkasten, spricht, deutet, hält dem Kind eine Münze hin, wirbt und schmeichelt, zeigt wieder auf den Leierkastenmann, schnippst dem Jungen noch den Takt vor. Der aber preßt die Hände noch stärker auf die Ohren und schüttelt energisch den Kopf, ignoriert die Münze, will weg, hat genug, leidet mit jeder Faser seines Körpers.
Hör doch mal hin, ruft da der Vater aus. Mit einer herrischen Geste reißt er dem Jungen beide Hände vom Kopf; und für einen Moment, in dem der ganze Platz zusammenzuzucken scheint, in dem der Kaiser sich mit einem Ruck auf dem Gaul aufrecht setzt, die Tauben aufflattern und die Silberköpfe der Seniorengruppe sich umwenden nach so viel echtem Geräusch; für diesen Moment übertönt der Klagelaut des Knaben selbst noch die Diskantpfeifen des Leierkastens, zerschlägt sein Gebrüll all die Trostlosigkeit entzwei. Erschrocken läßt der Vater das Kind los, wirft schnell noch die Münze in den Hut, bevor er dem Sohn nachläuft und beide im Menschengewimmel verschwinden. Das Wasser gurgelt, die Tauben lassen sich auf dem Haupt des Kaisers nieder, der Arm des Leierkastenmannes kurbelt, hollahi, hollaho, die Melodie ist nicht aus dem Takt.

Zeppelinstraße

Es ist Sonntag, es ist Trödel, und es ist zu heiß. Der Stadtpark riecht nach Hundekot, die Zeppelinstraße nach Würstchen und gebrannten Mandeln. In der drückenden Hitze flaniert alles schweigend und in äußerster Konzentration an den Ständen hinauf und hinunter, nur keine Bewegung zuviel. Während in den Seitenstraßen Sonntag herrscht und die Sonne schweigende Schatten wirft, schiebt man sich diesseits der Woche im Gedränge vorwärts. Neben tatsächlichen Flohmarktgütern, alten Kinderbüchern, ausrangierten Schuhen, mehr oder weniger gepflegt, Spielzeug, Porzellan, Plunder aller Art, gibt es auch professionelle Anbieter, die billige und billigste Mode, hundert Arten Batterien, Wecker, Wischblätter feilhalten. In einem Karton stapeln sich Videokassetten, in einem anderen Was-ist-Was-Bände mit Titeln in drolligen Typen. Abenteuerbücher vergessener Autoren, verblassende Umschlagbilder, ein Kaleidoskop des Vergessenen und Vergeblichen, das Stand um Stand die ausrangierten Telephone, Flachbildschirme und Laptops fortsetzen, zu alt um noch einen Zweck zu haben, zu jung, zu häßlich, zu lieblos gefertigt, um das Kostbare des Vergangenen zu besitzen, man möchte es so schnell wie möglich vergessen wie eigene Jugendsünden. Zeitlos, weil ausgereift seit Jahrzehnten: Wasserhähne, Schraubgewinde, Werkzeuge. Eine alte Waage mit Gewichten, alt genug, um schön zu sein; beliebige Vasen, Tassen, Modellbauteile, die vielleicht noch einen Sammler interessieren, und kurz bevor ich sie erblicke, die ich dann doch nicht kaufe, eine alte Olympia-Reiseschreibmaschine, wahrscheinlich das einzige Stück, das den Besuch gelohnt hätte, spüre ich etwas Feuchtkühles an der Hand. Ich drehe mich um und sehe geradewegs in das Flehende eines hechelnden Hundegesichts, kurz bevor die Leine das Tier wegreißt.

Rauchschwaden vom türkischen Grill, Lammfleisch und Knoblauch, auf der anderen Seite selbstgebackener Kuchen. Die Gerüche lassen sich ertragen, es könnte schlimmer sein. Schlimm ist nicht, wie es riecht, schlimm ist, wie es klingt: Links ein echter Indianer mit falschem Federschmuck, aus einer Lautsprecherbox quillt süßlicher Panflötendunst; rings um eine Art von Bühne eine Art von Galerie mit so etwas wie Bildern, Paradiesvögel, Heilige, Gebirgslandschaften in Bonbonfarben, ein Condor, natürlich, selbst dem Indianer ist es unter dem Federschmuck zu heiß in der Zeppelinstraße, er setzt sich, Erschöpfung in den Zügen, später wird er wahrscheinlich singen müssen oder wenigstens Panflöten pfeifen.

Zuerst singt aber jemand anders. Eine Bühne, Lifemusik, die Sängerin hat den Kniff mit dem knarrenden Stimmeinsatz schon ganz gut raus, ein Liebeslied, das vom Glück irgendwo, irgendwie, irgendwann handelt, tröstlich in der Unbestimmtheit, mach dir nichts draus, kommt alles noch, auch du, auch wir werden es schaffen. Dreiklänge rauf und runter, ein trauriges Dur, klebrig, gelb, süß, ekelhaft. Ich wehre mich gegen dieses Gefühl in Flaschen, gegen den rauhen Stimmeinsatz, gegen das Akkordgewaber, gegen die Herzenszumutung. Ich verziehe das Gesicht gegen diesen aspartamsauren, geschmacksverstärkten Seim, gehe schneller und wische mir den Schauer von den Armen. Ich will das nicht, dieses Gefühlsimitat, es ist aufdringlich und anbiedernd, irgendwo, irgendwann, irgendwie falsch, nein, nicht falsch, nicht einmal das.

Später der Marktplatz. Rathaus links, Einkaufszentrum rechts, die meterhohe Löwenstatue auf ihrem rechteckigen Sockel, ein gigantischer Petzispender mittig auf dem Platz, ringsum ziemlich viel Raum für sengende Sonne auf Pflastersteinen, menschenleer, alle Schaufenster dunkel, nicht einmal Tauben trauen sich, die Schaufensterpuppen starren hinter Sonnenbrillen über die blankgewischte Fläche, einzig echt ist das Gold auf der Rathauskuppel; es sieht aus, als sei es bei der letzten Plünderung übersehen worden.
Der süße Seim, das billige Gefühl, man entkommt ihm nicht. Hier ist es eine Saxophonmelodie, die aus der einzigen geöffneten Kneipe über den Platz schallt. Zwei Tische im Schatten der Arkade, halbvolle Weizenbiergläser und davor, halb in der Sonne, halb unter einer Markise, ein Paar, das sich umschlungen hält und tanzt, nach Art älterer Menschen, die das Tanzen seit vielen Jahren verlernt haben, ein Sich-Wiegen und Schunkeln, unbeholfen, Hüfte an Hüfte, je ein rechter und linker Arm mehr in der Absicht als in der Verwirklichung eines Tanzes verschränkt und ausgestreckt, sie schwanken, als hielten sie sich gegenseitig fest und hinderten so einander am Umfallen. Das Saxophon hallt von den erhitzten Fassaden wieder, die Schlagermelodie wabert in mehrfachen Schichten über den Platz und dringt bis in die Gänge des verödeten Einkaufszentrums vor, runtergelassene Läden, erloschene Beleuchtung, man glaubt, das Schlüsselklappern eines Wachmanns zu hören, die Tür vielleicht nur aus Versehen nicht abgeschlossen. Aus Versehen, wie das alles hier nur ein Versehen ist, das Saxophon, das tanzende Paar, die Tränen, halt mich fest, wer, du, ich bin auch nur hier, weil es kein anderswo gibt. Kein irgendwann, irgendwie, irgendwo.

Laß uns gehen. Bitte. Wohin? Irgendwohin. Die Cafés haben geschlossen, kein Eis, keine Erfrischung, kein Platz zum Sitzen. Wir gehen und schauen, aber zu sehen gibt es nichts. Doch noch zurück und die Schreibmaschine kaufen? Es kommt mir sinnlos vor, ein elendes Aufbegehren gegen die Zeit, morgen wird alles anders. Größer, schöner, jedenfalls besser. Die Fußgängerzone von Sonne und Sonntag verwüstet, an einer Leuchtreklame fehlt ein Buchstabe, Alles für einen Euro, das läßt sich nur noch mit Geschäftsaufgabe unterbieten, und daran, an mit Pappkarton zugeklebten Fassaden, an ausgebleichten Zu-Vermieten-Schildern, herrscht kein Mangel. Drüben, in weiter Ferne über der Stadt, schwebt unerreichbar ein Waldsaum, es wäre schön, wenn die Wolken darüber ein Gewitter bedeuteten. Wir gehen, das Pflaster brennt, die Füße schmerzen. Der Brunnen plätschert im Todeskampf.

Ein älterer Mann mit grauem Schnauzer und schlohweißem Haar, am Stock, sehr gepflegt angezogen, Lederschuhe, dunkle Hose, hellblaues Hemd, kommt uns die Fußgängerzone herauf entgegen, schwankend, aber so gut zu Fuß wie alte Männer manchmal gut zu Fuß sind, beharrlich, ausdauernd, nicht aus der Ruhe und dem Tritt zu bringen. Auf unserer Höhe zwinkert er, bleibt stehen, stützt sich auf seinen Stock, wendet sich halb nach uns um. Er öffnet den Mund, vielleicht nur, um Atem zu schöpfen, ich weiß nicht, ob er uns ansprechen wollte, ob wir zu unaufmerksam waren oder zu hastig für seine Ruhe. Vielleicht hat er uns nach dem Weg fragen wollen und es sich im letzten Moment noch anders überlegt, als er unsere Gesichter sah. Vielleicht haben wir ihn erschreckt, womöglich sehen wir bereits genauso hoffnungslos aus wie die ganze Stadt um uns herum, nicht irgendwann, sondern jetzt.

Rodestraße (Noch ein Morgen)

Am Tisch, des Morgens. Die Schattenspiele betrachten. Den Rücken zum Licht und zur Frühe. Mit halbem Ohr auf die Vögel achten. Der blankgewischte Tisch. Die erloschene Kerze vom Abend. Die verblühte Akelei. Die Schlafende im Nebenzimmer. Ein Wind weht durch die Schatten, kräuselt den Schimmer auf der Tapete. Die Küche schrumpft zu einem Ensemble stumpfer Flächen. Die Uhr nimmt ihr Ticken wieder auf, die Zeit schreitet fort und von etwas weg, das du wieder nicht erfaßt hast. Die Flächen stellen sich dicht an dicht. Die Reflexe auf den Gläsern sind starr, die Blütenblätter liegen in derselben Ordnung um die Vase, nur im Schließen des Augenblicks, in seinem Vorbeisein, merkst du es und hast es schon wieder verloren. Wie dieser Schimmer vielleicht in den Strom der Zeit hineinfiel, ein Wehen vorbeistrich, ein Wort beinahe hörbar wurde. Die Fläche des Glases, die mehr trennt als Drinnen und Draußen. Das Licht schwindet, kommt wieder, erlischt endgültig, die Vögel verstummen einer nach dem anderen, als gäben sie ihn schon auf, diesen Morgen, diesen kaum begonnenen Tag.
Sich zusammenreißen, noch einen Absatz schreiben; Kaffee machen, ins Nebenzimmer und wecken gehen und los, und weitermachen, als wäre das schon alles, als wäre wieder nichts geschehen.

Nie wach genug

Und ich habe ihn schon gefürchtet, diesen Moment, als wir vorgestern noch am Planen und am Freuen waren. Den Moment, da alles wieder vorbei und Erzählung sein würde. Die mühsamen Stunden danach. Ganz gleich, wie sehr ich mich konzentriere („jetzt bist du da, jetzt und jetzt und jetzt; du hältst meine Hand, deine Stirn leuchtet, ich küsse deine Stirn, du lächelst, ich sage etwas, du küßt mich“), ganz gleich, wie sehr ich mich vollzusaugen bemühe mit deiner Gegenwart, der Tatsache, daß du da bist, ich dich sehe, rieche, küsse, auf die Spur zu kommen mich anstrenge; ganz gleich, wie genau ich versuche, mir alles ganz, ganz genau einzuprägen („schau dir die Fingerkuppen an, diese Brauen, merk dir, wie sich das anfühlt, wenn unsere Hände sich verschränken, präg dir ein wie es ist, wenn ich diese Hände an meiner Brust halte, wie feingliedrig sie sind, wie kühl, wie fühlend, wie sehr ihre Finger. Sei wach!“), ganz gleich, wieviel ich von dir mitzunehmen mich anstrenge, mit Augen, Nase, Geist, mit allem, was Wachheit ist – wenn unsere Hände sich endgültig voneinander gelöst haben; wenn du einsteigst; wenn du nur noch ein Schemen hinter Glas bist, schon einen ganz anderen Raum bewohnst als ich: Dann bricht ein Sinn nach dem anderen von dir weg und verwandelt sich im selben Augenblick in Erinnerung; der Druck deiner Hand ist schon Erinnerung, wenn du dich in die Schlange stellst; dein Duft ist schon Erinnerung, während du einsteigst, deine Stimme, dein Lachen ist schon Erinnerung, während ich beobachte, wo du dich hinsetzt; dann ist nur noch dein Lächeln mit meiner eigenen Spiegelung darüber bei mir, und wie du die Hand an die Scheibe legst; wie du lächelst, während der Zug sich und dich darin in Bewegung setzt; weniger und weniger von dir, und zuletzt nur noch deine winkende Hand, und da weiß ich schon nicht mehr, siehst du mich noch, kannst du mich noch erkennen, meine winkende, erhobene, verzweifelte Hand. Ich winke und winke, ich winke, vielleicht siehst du mich noch; ich bin bereits alleine, ich winke immer noch, bis der Zug aus dem Bahnhof geglitten ist, aber schon Momente zuvor, als ich noch deine Hand verschwinden sah hinter der Spiegelung des Himmels im Glas, in die hinein sich dein Winken auflöste, um schließlich als letztes Erinnerung zu werden, wußte ich schon, daß ich wieder einmal nicht wach genug war für dich.

18.5.13

An den Rändern des Morgens blüht Lärm auf. Unerreichbar für die Schärfen des Außen, singt die Stille im Innern. Es ist ein Schweigen, das in sich selbst eingesunken ist. Dann: Einen Morgen lang schlugen die Glocken. Ich aber wünschte mir Laternen, die Dunkelheit verbreiten. Alle Wege führen zurück zum Ich. Daß ich ich bin und nicht du, das scheint mir die Quelle allen Schmerzes. Ich will mein Ich wegschreiben, bis es mir nicht mehr im Weg ist, bis es mich nicht mehr hindert zum Du. Die Ströme tragen Silber und Laub. Kein Weg führt je ganz zu dir. Wir gehen im Wir niemals auf.

5.5.13

Mauersegler ritzen ihre Stimmen ins Blaue des Schlafs, wickeln Träume aus Wasserpapier, rufen nach steinigem Licht. Später begibt sich der Buchfink an die Arbeit. Die Stunden tanzen nach seinen Strophen. Der Morgen ist für niemanden prachtvoll außer für sich selbst, ist für niemanden da, enthält sich selbst. Die Straßen: entleert. Die Häuser: in blindem Schlaf. In den Bäumen hocken Geheimnisse der Nacht. Die Welt ist bei sich. Darin erheben die Vögel ihre Stimmen. Sie kennen den Sinn von allem. Aber sie verraten ihn niemandem, singen ihn nur einander zu.

*****

Ich wünsche mir, daß es eine Seele gibt.

*****

Die schlechten Gedanken auslösen mit den guten. Nicht: sie verdrängen. Sondern, was du allzuoft gedacht und durchdrungen hast, bis es dir so weh tat, daß du dir selbst fremd wurdest, eintauschen und einlösen gegen die, in denen du dich wiederfinden und wohnen kannst. Nicht du bist der Gefangene deiner Gedanken; die Gedanken sind deine Gefangenen. Du hast lange genug unter ihnen gelitten; mach die Tür auf, schick sie fort, laß sie frei.

Kein Nostos

Jedes Jahr aufs neue haben wir uns selbst verloren. Die Heimkehr war eine Heimkehr an einen unbekannten Ort und eine Vertreibung unserer selbst aus uns. Das Ende der Urlaubsfahrt bedeutete nicht allein, daß uns die Fremde nicht mehr besaß, sondern daß wir die Heimat, die wir selbst in uns fanden, wieder verloren hatten. So kam uns denn gar nicht wie Heimat vor, was uns an diesem sogenannten Daheim erwartete, die wir braungebrannt heim- und doch nicht heimkehrten: sondern wie Fremde an einen fremden Ort. Einen Ort der Verbannung.

Noch ein paar Tage schulfrei, noch ein paar heiße Sommernachmittage, ein Eis am Baggersee: Es taugt alles nichts. Denn es gibt nichts zu erwarten, alles es ist schon gewesen; der Duft von Sonnenöl ist keine Verheißung sondern eine Erinnerung. Die Tage, wie warm sie auch noch seien, sind nur noch ein Rest, der früh dunkelt. Morgens, beim Erwachen, heulen die Schwerlaster über die kilometerweit entfernte Autobahn, die in Fernen führt, die dich nicht mehr enthalten. Die Wände hallen, der Lichtschalter klingt hohl. Die Vögel haben sich versteckt, statt Aprikosen gibt es wieder Äpfel, und die Monate enden auf -r. Das Meer ist ein Jahr weit entfernt. Gräßlich.

Mit den Eltern im Wohnanhänger vier Wochen durch Süd- und Westeuropa gegondelt, die Alpen, das Mittelmeer, unendliche Sonnenblumenfelder, die leuchtenden Reihen laufen alle auf eine finstere Burg zu. Sonne, Wasser, Steine, Flechten, Gewürze, alte Mauern, die das Brennen der Sonne abhielten und gluckernde Kühlung schufen. Berge, echte Berge, eiskalt und so hoch, daß sie Schatten warfen. Von allem die Essenz, das Konzentrat der Empfindungen, bis ich mich selbst darin beheimatet und daraus schöpfend als Konzentrat meines Jungseins fühlen durfte.

Doch dann kam man wieder nach Hause und nicht nur in einen anderen Raum, sondern auch in eine andere Zeit, in eine fremde, nach allen Richtungen unpassende Jahreszeit, die weder Sommer war noch schon Herbst, eine Jahreszeit der Öde, wo die Berge runde Kuppen hatten, die Bäche kanalisiert waren, und alles in unendlicher Verdünnung bestand, bis man selbst sich daran erschöpfte und alle Essenz des Lebens zum Teufel war. Selbst die Nummernschilder der Autos, dieses blöde Weiß, die Farben der vertrauten Geldwährung, die Ortseingangsschilder, dieses dümmliche, gewöhnliche Gelb, wie trist war das. Nicht zu reden von der Sprache! Reichte es nicht, daß es kein Französisch mehr war, mußte es auch noch dieser zähneziehende Dialekt sein?

Mit Erstaunen haben wir damals immer festgestellt, daß es auch hier, in der fremden Heimat, so etwas wie Wetter gegeben hatte; daß die Zeit nicht stehengeblieben war, daß jemand Post ausgetragen, den Rasen gemäht, einen Baum gefällt hatte. Aber die hier geblieben waren, wußten nichts von der Sonne und den Alpengipfeln: Mit denen war zu reden. Selbst wenn sie Hochdeutsch gesprochen hätten. Fremd waren sie. Verständnislos glotzten sie über den Gartenzaun. Fremd war selbst noch die Luft, weil sie so schal schmeckte, und komische Fransen hingen am Himmel, strähnig und wie von Fett glänzend. Wir Heimkehrer und Asylanten, die wir ganz andere Himmel erprobt hatten, waren uns einig: die Farbe Blau hatte einen solchen Himmel nicht verdient.

Nach vier Wochen im Campingwagen befiel uns in Erwartung der hallenden Riesenzimmer der Wohnung eine agoraphobe Beklemmung. Wir verspürten das starke Bedürfnis nach Aufschub und Flucht: noch eine Nacht im Wohnwagen schlafen, auf dem Parkplatz in unserer Straße, und die Fremde noch ein letztes Mal, und seis als Illusion, in den vier so vertraut gewordenen Kunststoffwänden des mobilen Heims festhalten, ein Stück konservierter, hingehaltener, noch ein letztes Mal auszukostender Fremd- und Freiheit. Die Eltern, längst schlauer und desillusioniert, winkten ab.

Und wie wir uns dann in den Tagen, die der Nicht-Heimkehr folgten, zu trösten versuchten, mit guten Vorsätzen, die darauf abzielten, etwas von den erfahrenen Reichtümern der Ferientage in die Welt der Alltage hinüberzuretten und sich der neu gewonnenen Erkenntnis stets aufs Neue zu vergewissern, daß das Leben so perfekt sein kann wie ein Eis auf der Hafenmole von Menton oder der Biß des Gletscherwassers an den wundgewanderten Füßen; verzweifelte Versuche, es nicht auf sich beruhen zu lassen, und nach Möglichkeit der Umstände, so gut es eben ging, ein solches Leben wie das eben gekostete nicht nur als Pause zu führen, sondern als Alltag. Und so faßten wir dann unsere erbärmlichen Vorsätze, mehr rausgehen, öfter wandern, ausschöpfen, was das bißchen Natur im Rhein-Neckar-Kreis zu bieten hatte.

Schnell aber ermüdeten wir. Und es stellte sich heraus Der Baggersee war schon in Ordnung, Aber er war halt nicht die Côte d‘Azur, sein Wasser war schlammig, man konnte den Grund nicht sehen, es roch nicht nach Meer, und wenn mans genau nahm, roch es nicht nur nicht nach Meer, sondern brackig. Abgestanden. Und so abgestanden begannen wir uns dann auch selbst zu fühlen. Abgestanden wie der Hausflur, die Winterklamotten und der ortsübliche Dialekt. Bis es schien, daß aus unseren Poren dieselbe Brackigkeit, dieser unfrische, laue Hauch des Alltags herausquoll. Mehr rausgehen, das hieß vor allem: Straßen. Und das Gefährlichste an den Flanken des Eichelbergs waren die Bremsen und die Pferdeäpfel.

Und so setzte denn auch, über die Wochen, während aus der falschen Jahreszeit endlich Herbst geworden war, der Verdünnungsprozeß nicht nur den Vorsätzen, sondern unserem Ekelgefühlt selbst zu, bis wir, selbst Verdünnte, unseren Mangel nicht mehr bemerkten und es eines neuen Sommers bedurfte, um uns uns selber wiederzuerfinden.

Im Dunkeln sitzen und Schubert hören und weinen, weinen, weinen, und nicht mehr ein wissen noch aus vor Sehnsucht. Und vor lauter Worten das richtige nicht. Würgen an den Worten. Zuletzt wirr ins Dunkel geflüstert, was ich laut nicht sagen darf, nicht einmal stammeln.

Eine lang vermißte Verzweiflung willkommen heißen und sich am Schmerz lebendig scheuern.

Von Ce Pe geträumt. Ein Zimmer mit Gerümpel, hohe Decke, draußen winterliche Höfe, ein ganz schmales Bett, darin räkelt sich Ce Pe und strahlt mich an, es gehe ihr so gut, beginnt sie, und ich weiß, was sie mir gleich erzählen wird, aber zuerst spricht sie von Erfolgen in Arbeit oder Ausbildung, etwas, das ihr endlich gelinge, eine Erleichterung, doch dann holt sie Luft und macht eine Ankündigung, es gebe da noch etwas anderes. Ich weiß. Ich nicke, klaube verstreute Münzen von dem ganz ganz schmalen Bett, von dieser Pritsche, sammle und stapele die Münzen zu Säulen, ich weiß, was du mir jetzt erzählen wirst, sage ich und sie nickt und erzählt von ihm, den sie vor kurzem kennengelernt hat, mit dem sie glücklich ist, und zu dem sie jetzt fahren wird, während ich noch ein bißchen auf ihrer Pritsche liegen darf, und ich freue mich für sie und spüre zur gleichen Zeit den Stich einer Enttäuschung, die erst später, beim Erwachen, schmerzen wird.

später

und plötzlich erwacht man und alles ist ein danach, ein später.

wohin man geht, ist garten, ist umgrenzung, rand. hof oder schatten, alles verweist selbst noch in der sonne und auf dem hügelkamm auf ein draußen, das hier nicht zu finden ist. aber auch nicht dort oder drüben, nirgends. draußen. damaliges außen. jetzt säuselt noch etwas hallendes, wie aus weiter ferne oder ferner zeit, oder einsam in einem großen, weiten und klingenden raum. und später, die zeit überreif verfärbt wie liegengelassenes obst, läuft von einem punkt weg, auf den sie, früher, davor, eben noch, wann? zugeeilt ist.

da wird der sommer zum abbild seiner selbst, zu einer geste, dahinter die jahreszeit und überhaupt jede zeit, verschwindet.

eingesperrt in den höfen die stille, die sich an einem augenblick im dunstigen mittag zu erkennen gibt. im verborgenen gewirkt, reif geworden, hat sie sich das alter früherer sommer, vergangener, zu eigen gemacht. so spricht sie mit den offenen schnäbeln der vögel, die zu schweigen verstehen. ein flattern im gesträuch, wippende äste. anwesenheiten. geschöpfe (oder geister?) die sich nicht preisgeben wollen. die beeren, ein leuchten von gestern. die amseln: als warteten sie auf ein signal. ein zeichen wofür?
wie aus papier stehen die straßen, ihre sprödigkeiten erzählen sich farben, die schon verblaßt sind. alles ist erzählung dieser tage. erinnerung an erinnerungen. das licht, wie es staubig von den fassaden zurückfällt, ist ein zitat, das glitzern auf dem ententeich ruft sich selbst in erinnerung, alles, was jetzt grün ist, verdankt sich einem vergessen. liegengeblieben das gelb des greiskrauts und des rainfarns an den knisternden wegrändern, die vergessen haben, wohin ging es noch gleich? unsichtbar an den kehren ein rascheln von schritten, das nie näherkommt und sich nicht entfernt. ein augenblick des wegsehens und die violetten tüten des riesenspringkrauts dürfen noch bleiben und bleiben übrig. vermutlich sind sie morgen auch noch da.
zwischen dem anhaltenden sonnenlicht und den gegenständen, die es zurückwerfen, verspinnt sich die erinnerung einer farbe, einer schwierigen farbe, der farbe nicht eines gegenstands, einer zeit selbst nicht, sondern die einer mischung, einer summe: die aller spät- und nachsommer, die schon gewesen sind, und die in jedem weiteren sommernachhall wieder zur sprache kommen müssen.

Novembermorgen

Beim Laufen an manchen Samstagvormittagen, in der bewegten Stille des Lichts, im Wald: Ein solcher Geruch, es ist, als hätte es ihn seit fernsten Kindertagen nicht mehr gegeben. Eingekapselt in den Duft von Sonnenwärme in der Kiefernborke ist da plötzlich etwas wie Schwingende Drähte. Warmer Sandstein. Sonne wie Staub vor den Fichten wirbelnd. Trocken leuchtende Fäden der Spinnen. Die Luft, deren Kühle bis ins eigene Blut vordringt. Wassergurgeln in Gräben. Es ist ein Anhauch, der intensiv nach Wiedergefundenem riecht, und jenes seltsame Erschrecken auslöst, das jedem unerwarteten Wiedererkennen immer um einen Herzschlag voran geht. So nah ist plötzlich alles, so greifbar, so transparent alle Geheimnisse, keine zwei Gedanken mehr entfernt, daß man schon jubelt, jetzt nur aufpassen, jetzt nur nichts versäumen, hellwach jetzt! Man bräuchte nur die Hand ausstrecken. Nur noch einen Schritt tun, einmal Luft holen, den Gedanken zu Ende denken.
Doch dann, noch ehe man richtig mitbekommen hat, was geschieht, schreit ein Häher; das Laub knistert, die Wasserflächen ziehen sich kräuselnd zusammen, und schon haben sich alle Zeichen des inaussichtgestellten Glücks schon wieder aufgelöst und sind so unwiderruflich verschwunden, daß nicht einmal die Inaussichtstellung selbst, sondern nur das Gefühl eines nunmehr endgültigen Verlustes zurückbleibt.

kulissen, plakate

es bleiben immer dieselben bilder und sehnsüchte, was man auf der reise sich vorstellte, ein glück, ein warmer raum, wird sich entziehen. du läufst durch den wald und freust dich einen langen tag, aber die heimkehr ist nie so, wie du sie dir vorgestellt hast. du siehst dich selbst, wie man aus dem dunklen frost hineinspäht in den lichtkreis einer lampe, in der menschen sitzen mit ruhigem antlitz, daheim und bei sich: so einer möchtest du werden, da willst du hin. in-remscheid-ende-06-004oder vornübergebeugt über eine kladde, ein heft, eine tastatur, du selbst, in heilige gedanken verheddert, glühend und doch ruhig, ab und zu gelassen und deiner einfälle sicher, nach der kaffeetasse greifend. ein bild bleibt es, und nichts daran ist wesentlich, sowieso nicht. es ist die vorstellung eines selbst, dessen wesen zurücktritt vor einer kulisse, einem plakat. ich sah einen bekannten seine abschlußarbeit schreiben. das sah gemütlich aus, lebensvoll, schwierig, ohne quälend zu sein. das war schön. so müßte es doch gehen, dachte ich. so ähnlich ergeht es einem manchmal, wenn man einen schreibwarenladen betritt. die sauberen kladden, verheißungsvoll in ihrer erwartung, die leeren seiten mögen gefüllt werden, das schreibgerät, so klar und sauber und leicht zu handhaben wie ein endlich geglückter gedanke, den man, bemächtigte man sich nur dieses füllers, zwangsläufig haben wird. es ist derselbe irrtum wie der, den einer begeht, der sich mit dem neuen mantel, dem hemd, den schuhen eine persönlichkeit, ein ich anzuziehen meint.
aber kamst du nicht irgendeinmal so nach hause, wie du jetzt es dir erträumst? feldweg-effekte-009du erinnerst dich: da war es so. da auch. du ziehst den mantel über, schnürst die schuhe, wirfst brot und käse in den rucksack. aber den weg, den du so oft gegangen bist, hast du nur einmal gefunden. die wälder sind eine kulisse, die die erinnerungen ausstellt.
die lampe überm tisch ist es auch.

glaskugel

Seit einiger zeit lebe ich in einer geschlossenen welt. In sich selbst zurückgekrümmt, ist sie unendlich begrenzt, und jeder weg in ihr führt unweigerlich dorthin zurück, von wo man aufgebrochen ist. Man geht und geht und geht, und steht schließlich doch wieder vor der eigenen tür mit nichts als staub in der hand und falten im gesicht. Manchmal eine spiegelung: dann sieht es aus, als gäbe es ein draußen, als fiele licht aus einem raum jenseits herein, aus gewaltigen hallen. Aber wenn ich rufe, empfange ich nur immer und immer meine eigene stimme. Das licht flimmert ab und an, als bewegten sich Menschen hinter glas. Gemurmel dringt heran. Ein räuspern, eine stühlerücken, ein scharren von füßen. Eine tür geht. Und plötzlich ist alles still und das licht starr wie ein uhrglas. Wie damals, wenn man fieber hatte, und die stimmen aus einer ferne im eigenen ohr kamen, die schritte der mutter aus der küche.
Wie lange bin ich schon hier? Manchmal kommt es mir vor, ein leben lang. Manchmal denke ich, die auswege und geraden linien waren nur eine illusion, ein jugendlicher irrtum, ein traum. Und wo hätte ich denn schon hinwollen?
Oder habe ich nur solange gebraucht, um zum erstenmal wieder zum anfang zu kommen? Oder: Die strecken von anfang bis anfang werden immer kürzer. Es geht immer schneller: Bald stehe ich vollkommen still.
Manchmal ein traum: Ich spüre eine hand in meiner. Eine kühle, feste hand. Ich erhebe mich. Ein atemzug streift meine wange, ein mantel knistert. Das fenster steht auf. Es ist ganz dunkel. Irgendwo springt ein wagen an, und eine stimme sagt: komm.

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1981

das ist einfach grotesque, widernatürlich, unanständig. ich möchte nicht von sabbern sprechen, aber letzten endes ist es dieses wort, das in den gewölben widerhallt.
es kommt mir wie ein wahnsinn vor. was habe ich da zu suchen, nichts. elf jahre, ein augenblick, ein schicksal. zwei reisende in sich kreuzenden zügen, die einander für die schreckliche dauer eines wimpernschlags ins antlitz schauen und sich dann verpassen auf immer. doch in meinem fall, denke ich mit bitternis im herzen, hat es nicht einmal einen solchen augenblick gegeben; denn wir haben uns schon vor unserer geburt verpaßt; von anfang an konnten wir einander niemals mehr begegnen. (wenn es denn überhaupt beide gewollt hätten, versteht sich.) elf jahre. ein leben. sterblich sind wir von geburt an.
was für ein morgen ist das wieder, denke ich. jetzt mußte ich auch noch davon träumen. ein kuß. ein gemeinsames bad. ein sonnengebräunter rücken mit den hellen blässen des badeanzugs darauf sich kreuzend. ihre hände, die sie nicht schön findet, aber ich. ein traum: und noch im traum plötzlich die unumstößliche gewißheit, daß es nur ein traum war. ja, aber sie hat mich doch geküßt? wehre ich mich gegen mich selbst, aber ich muß es doch einsehen. und dann erwache ich, und es war wirklich nur ein traum, und der briefkasten ist wirklich wieder leer.