… zuvor / ging sie zur Arbeit

Ach, Liebe. Und nun: Hab ich wieder einen ganz anderen Tag. Laufen bei Tagesanbruch, und als ich zurückkam, da waren die benutzten Tassen und Gläser schon kalt und fremd. Nicht mehr unser Morgen. Ich hätte so gern noch einen ganzen Tag zum Morgen mit Dir. Nicht wieder die Stunden wechseln wie die Schuhe. Nicht wieder Küsse ablegen wie gebrauchte Hemden. Und gemeinsam die Teller waschen, bevor man zusammen das Haus verläßt, auf dem selben Weg.

Post Festum

Solange du hier bist, leben die Dinge durch dich. Wenn du von mir gehst, stirbt, was du daließest, den Tod deiner Ferne. Ein Bausch Haare im Waschbecken, flauschig und kühl, wie ein geplündertes Nest Träume; ein Fleck auf dem Laken, kartierte Küstenlinien einer versunkenen Insel; eine Lippenspur, die das Glas wieder vergessen hat; ein klammes Handtuch, kühl und sandig wie eine Erdscholle. Während ich den verklungenen Schritten lausche, deren Stille immer noch anhält, zerfällt leise das Dunkel des geteilten Morgens im frühen Licht. Ich lösche die Lampe, die Kerze; das Spiegellicht deiner Augen geht in Rauch auf. In meinen Händen ruht die letzte Berührung von dir, warm und schlaff wie ein entschlafener Vogel. Ich nehme den Schlüssel in die Hand, mit dem du gestern hier warst. Was gestern so leicht von Hand zu Hand glitt, fühlt sich heute hart an und schwer, heimatlos wie ein Fundstück von der Straße. Ich nehme deine Zahnbürste in den Mund, ich trinke aus deiner Tasse, ich schlüpfe noch einmal in unser Bett. Ich drücke die Nase ins befleckte Laken, aber da ist nichts mehr zu erspüren von dir und mir. So riecht das Fehlen. Ich sehe mich um: Alles liegt im milden Morgenlicht da wie Spezereien der Minoer in Vitrinen aus dickem Glas. Unerreichbar sind die Dinge in ihrer eigenen Zeit zurückgeblieben. Schriftstücke, die sich selbst falsch zitieren. Bis ich das Haus verlasse, ist selbst die Stille nach deinen Schritten verklungen, der letzte Rest Dunkelheit vom Tag heimgesucht. Klaglos erbleichen die Wände, schließt sich der Raum zu einem imaginären Reich, wo unsere Küsse nur zu Gast waren.

Keine Dohlen

Aber erst als du weg warst, fing ich an zu frieren. Und dann wurde es auch noch dunkel. Die Uhr vom Kirchturm schlug halb. Es war zwischen irgendwelchen zwei Stunden, und der Zug sollte gleich kommen. Die Uhr schlug, du warst schon weg, und ich dachte daran, wie du einmal, vor einer Ewigkeit, hier in St. Gereonshausen noch nicht da warst, und wie da Turmdohlen um die Kirche flogen und sich auf den schweren Zeigern der Uhr niederließen, als wollten sie die Zeit vorantreiben. Oder vielleicht wollten sie die Zeit auch aufhalten. Gestern gab es keine Dohlen. Es gab nur Zeit, die wieder zwischen uns angewachsen war. Und es gab die gemeinsame, eben vergangene Zeit, die nun wieder reichen mußte, auf Vorrat, wie der schwere Atemzug eines Wals. Keine Dohlen. Nur einen Jugendlichen im Kapuzenpulli, der auf seinem Smartphone rumfingerte. Geisterhaftes Leuchten im fremden Gesicht. Keine zwei Häuserecken entfernt räumte wohl gerade eine Bedienung unser Kuchengedeck ab. Unsere Krümel auf der Tischdecke. Zwei Gabeln mit Schokoladenresten. Die Fähre tuckerte ohne uns über den Rhein. Am Turm waren die Zeiger im Dunkel versunken. Einen Moment und Wachtraum lang war alles möglich, hatten die Dohlen heimlich die Zeit wiedergebracht, war wieder Morgen und alles am Anfang. Gleich würden wir losgehen. Gleich würden wir wieder aufgeregt wie Kinder an der Reling der Fähre stehen. Gleich läge der Weg wieder vor uns. Das Wasser aus der Feldflasche schmeckte schwarz. Im Bahnwärterhaus waren alle Fenster dunkel. “Da wohnt ja jemand”, hattest du am Morgen gesagt, oder war ich das.

Solstitium (21.6.2014)

Mußt du nicht gehen? Noch einmal bietest du dar mir die Lippen.
    Kommst oder gehst du? Ineins fallen die Zeiten im Kuß.
Nicht kann die Schildkröte je der schnelle Achilles erreichen,
    Ewig müht sich der Pfeil ab an der Länge des Wegs.
Eh er die Hälfte erreicht, muß die Hälfte er davon erst schaffen,
    Undsoweiter: Er steht, ewig gehalten im Jetzt.
Wolltest du daher den Zug noch erreichen, so hättest du müssen
    Schon vor unendlicher Zeit lösen dich aus unsrem Kuß.
So viel Zeit war nie: Laß Hälften von Hälften nur fahren,
    Unmöglich ist’s wie du siehst. Küß mich noch einmal. Und bleib.

Nach der kurzen Nacht

Wenn du nach unseren kurzen Nächten morgens von mir gehst, gehst du zweimal. Zweimal kehre ich in ein verwandeltes Zimmer zurück. Zweimal ein Loslassen in Wehmut, der Raum entläßt dich einmal, und einmal die Erinnerung des Raums, zweimal der Schmerz dieses Entsagens, zweimal die Bewegung, ehe sich alles, der erste wie der zweite Augenblick, ins Unwandelbare der Zeit hinein ablegt.
Dieser allererste Moment, wenn du aus dem Blickfeld der Glastür verschwunden bist (der letzte Anblick von dir: dein Blick schon ins Voraus gerichtet, deinem Tag, deinen Wegen zugewandt), und ich aus der Schwebe des ansatzweisen Nacheilens zurückfalle, den Blick meinerseits abziehe und in mein eigenes Hier zurückwende, dieser Moment, da ich die Tür zuziehe und ins Schloß drücke, was immer etwas Endgültiges hat, als schlösse ich nun meinerseits dich aus aus dem Rest des Tages; dieser Augenblick, da ich wieder, wie auf der anderen, der verwüsteten Seite eines Spiegels, einer Symmetrie angekommen bin, die in allem, wirklich allem der nunmehr verwunschenen Welt gleicht, in der wir hier uns noch geküßt und abergeküßt haben und nicht voneinander lassen mochten, und nur darin sich unterscheidet, daß ich hier im Flur alleine bin; dieser Augenblick des Betretens jener anderen Seite hat immer etwas zutiefst Erschütterndes und Erschreckendes, als sei die Wirklichkeit, die ganz banale Wirklichkeit, ganz und gar nicht begreifbar, und es ist jedesmal der gleiche Schmerz, zu fühlen, wie das Jetzt hinter dem Spiegel und das Jetzt vor dem Spiegel sich unaufhaltsam von dieser Grenze, die dein Weggang ist, in entgegengesetzte Richtung auseinanderstreben. Wie von der Türschwelle, aus der Du, von der ich, in entgegengesetzte Richtungen fortstrebten; an der unsere Zweisamkeit in je eine Einsamkeit zerfallen ist und immer wieder neu zerfällt.
Komme ich später am Tag wieder zurück vom langen oder kürzeren Tagesgeschäft, langen oder kürzeren Wegen, fällst du dem Raum noch einmal ein, und noch einmal muß er dich lassen. Es ist die Erinnerung an die Erinnerung an unseren Morgen: Kam mir das Zimmer leer vor, als du gerade gegangen warst, so ist es nun noch einmal entleert: Der Tag ist vorangeschritten, die Winkel des Lichts sind verschoben, die Geräusche von draußen erinnern an den Gleichstrom der Zeit, und zu diesem Ebenmaß hat sich nun alles, was für kurze Zeit in Aufruhr war, wieder gefügt. Fremd ist mir mein Zimmer, wenn du gehst; als Fremder betrete ich diese ihrerseits entfremdete Fremde ein paar Stunden später noch einmal. Da ist alles schon museal geworden. Die Luft kann deinen Atem nicht bewahren. Der Morgen läßt deine Erinnerung los. Während wir vergaßen, daß einmal Morgen werden würde, vergißt uns nun der Tag.

Nie wach genug

Und ich habe ihn schon gefürchtet, diesen Moment, als wir vorgestern noch am Planen und am Freuen waren. Den Moment, da alles wieder vorbei und Erzählung sein würde. Die mühsamen Stunden danach. Ganz gleich, wie sehr ich mich konzentriere („jetzt bist du da, jetzt und jetzt und jetzt; du hältst meine Hand, deine Stirn leuchtet, ich küsse deine Stirn, du lächelst, ich sage etwas, du küßt mich“), ganz gleich, wie sehr ich mich vollzusaugen bemühe mit deiner Gegenwart, der Tatsache, daß du da bist, ich dich sehe, rieche, küsse, auf die Spur zu kommen mich anstrenge; ganz gleich, wie genau ich versuche, mir alles ganz, ganz genau einzuprägen („schau dir die Fingerkuppen an, diese Brauen, merk dir, wie sich das anfühlt, wenn unsere Hände sich verschränken, präg dir ein wie es ist, wenn ich diese Hände an meiner Brust halte, wie feingliedrig sie sind, wie kühl, wie fühlend, wie sehr ihre Finger. Sei wach!“), ganz gleich, wieviel ich von dir mitzunehmen mich anstrenge, mit Augen, Nase, Geist, mit allem, was Wachheit ist – wenn unsere Hände sich endgültig voneinander gelöst haben; wenn du einsteigst; wenn du nur noch ein Schemen hinter Glas bist, schon einen ganz anderen Raum bewohnst als ich: Dann bricht ein Sinn nach dem anderen von dir weg und verwandelt sich im selben Augenblick in Erinnerung; der Druck deiner Hand ist schon Erinnerung, wenn du dich in die Schlange stellst; dein Duft ist schon Erinnerung, während du einsteigst, deine Stimme, dein Lachen ist schon Erinnerung, während ich beobachte, wo du dich hinsetzt; dann ist nur noch dein Lächeln mit meiner eigenen Spiegelung darüber bei mir, und wie du die Hand an die Scheibe legst; wie du lächelst, während der Zug sich und dich darin in Bewegung setzt; weniger und weniger von dir, und zuletzt nur noch deine winkende Hand, und da weiß ich schon nicht mehr, siehst du mich noch, kannst du mich noch erkennen, meine winkende, erhobene, verzweifelte Hand. Ich winke und winke, ich winke, vielleicht siehst du mich noch; ich bin bereits alleine, ich winke immer noch, bis der Zug aus dem Bahnhof geglitten ist, aber schon Momente zuvor, als ich noch deine Hand verschwinden sah hinter der Spiegelung des Himmels im Glas, in die hinein sich dein Winken auflöste, um schließlich als letztes Erinnerung zu werden, wußte ich schon, daß ich wieder einmal nicht wach genug war für dich.

Sich freuen, aufeinander

Sich freuen, wir haben den ganzen Abend für uns.
Den ganzen Abend für uns haben und sich freuen, du mußt nach dem Essen nicht mehr weg.
Zusammen essen und sich freuen, wir können nachher beieinander einschafen.
Beieinander einschlafen und sich freuen, wir können nebeneinander träumen.
Nebeneinander Träumen und sich freuen, du bist noch da.
Wieder einschlafen und sich freuen, die Nacht ist noch lang und der Morgen weit.
Den Wecker hören und sich freuen, wir haben ja noch einen Kaffee miteinander.
Kaffee trinken und sich freuen, wir können gleich noch zusammen duschen.
Zusammen duschen und sich freuen, wir haben noch eine Viertelstunde, bis wir aus dem Haus müssen.
Aus dem Haus gehen und sich freuen, wir haben noch den gemeinsamen Weg zum Bahnhof.
Am Bahnhof ankommen und sich freuen, wir haben noch fünf Minuten für Küsse.
Einander küssen und sich freuen, wir haben noch ein paar Augenblicke zum Winken.
Winken, winken, winken, bis du nicht mehr zu sehen bist.
Winken, und sich freuen, daß wir uns wieder aufeinander freuen können.

post aestatem

In der Stille aufwachen, in der Nachwelt der Vögel. Ein Name, ein Pfeil. Ein Hunger. Barfuß in Zuckerkrümel treten.

 *****

Bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Kein Raum für Zweideutiges, Anspielungen, Hoffnungsheimligkeiten. Das Abenteuer, in einer Wohnung aufzuwachen, wo man nicht weiß, wo die Kaffeedose steht. Am Bahnhof nicht abgeholt zu werden. Warten können und Zeit haben in der felsenfesten Gewißheit, daß die Schönheit für dich allein bestimmt ist, kommt Zeit kommt Rat. Raufzählen und zunehmen und die Bäume für bare Münze genommen. Man macht den Wecker aus. Man kennt schon fast alle Stücke. Es kommt nichts Neues dazu. Mit jedem neuen Tag wird die Wahrscheinlich größer fürs Déja-vu. Diesen Moment, der war doch schon einmal, der ist doch schon gelebt. Sendungswiederholung.

*****

Und zwischendrin: Ihren erstaunten Blick wärs doch wert gewesen, sich noch vier Stunden im Zug abzumühen und einen weiteren Tag mit den Kindern – , ihre Freude, daß ich mitkomme, doch noch, nachdem ich schon ausgestiegen war, das wäre es wert gewesen, ja, und ihr kindliches, simples Entzücken. Das ausblieb. Meinetwegen. Und das nicht wieder-holbar ist, nicht dieses, jedenfalls, nicht dasselbe. Nicht so schlimm, aber das Kleine ist ebenso unwiederbringlich vorüber wie das Große. Und wer mag schon genau behaupten, was groß und was klein ist. Ihr Strahlen, vielleicht wär‘s groß gewesen. Für mich, für sie. Für uns. Das sind so Gedanken. Und auch, daß die Tür von Wagen 254 schon geschlossen war, sich mit Gezisch und Geächz vollautomatisch zwischen uns geschoben hatte, meine Schroffheit/ihren traurigen Blick, und lag dann spiegelig hart zwischen den mühsamen Luftküssen. Aber ich hätte wieder einsteigen können, ein Ruck nur, ein Sprung, einzig und allein um ihre Freude zu erleben, dafür hätte ich gut und gern noch ein bißchen Plackerei und das Generve der Kinder – und die Tür zum Wagen 255 noch offen, der Pfiff noch nicht ertönt, das Signal auf Rot. Ich hätte, ich wäre, aber nein. Es ging zu schnell, könnte man sagen, um das alles durchzudenken und wirklich schon vorgreifend diejenige Reue zu spüren, die mich anfiel, anfallen mußte, sobald der Zug davongerollt war, ich nicht mehr sie hinter der verspiegelten Scheibe, sie nur noch mich sehen konnte (oder sich schon, enttäuscht?, abgewandt hatte); es ging zu schnell, um die Reue schon vorauszufühlen, als noch Zeit gewesen wäre, auf so eine Ahnung zu reagieren, aber die Zeit war nicht, und vielleicht ist das auch ganz falsch, vielleicht war Zeit zuviel, zuviel Zeit zum Zögern, zuviel Zeit zum Abwägen und Ausbaldovern und stur bleiben, zuviel Minuten, als daß ich blindlings … vielleicht ging es nicht zu schnell sondern, nicht schnell genug.

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Zuletzt noch die Mauersegler, abends, die ihre Leuchtspuren in den Schlaf hineinfräsen. Späteste Minuten. Wenn der Himmel sich vom Fenster löst, gerät das Zimmer ins Schweben. In der Luft hängen die Stimmen von damals. Einer Zeit, als kein Mangel war an Tag und Traum.

21. An Claudia

Und noch ein Tag Sommer: Riesige Menschenschatten wandeln über die Plätze, das Laub der Bäume ist still, die Flächen des Betons strecken sich. Die Scheiben des Uni-Centers blinzeln in die Sonne. Irgendwo ist noch eine Pfütze vom letzten, schon vergessenen Regenguß liegengeblieben und spiegelt einen Himmel voll Laub wider. Der eigene Schatten fällt überlang aus dem Schatten des Ahorns. Die Insekten sind träge von der Nachtkühle. Mit ihren krummen Bahnen spannen sie Räume unters Gezweig. Es ist überall Licht, teils versteckt, teils offen leuchtend, teils gerade, teils verwinkelt, hier in Stücken und Flecken, dort herrlich über eine Straße hingegossen, Licht, das sich die Schatten zurückerobert, und so eines, das wir gestern abend noch für unmöglich erklärt hätten.

Gestern sind wir hier noch gegangen, Liebe, ja, gestern wars. Wir sprachen. Wir lachten. Du berührtest mich am Arm. Wir gingen. Wir blieben stehen. Du so entspannt und ganz du und voller ausgelassener Gelassenheit und Freude an allem. Ich ganz Aufschub, Hinhalt, Verzögern. Dich noch länger, noch eine weitere Minute, sehen und beimirhaben. Nur noch eine Minute, ehe du dich, schon weiter, schon abgewendet, verabschiedest, schon verabschiedet hast von mir und dich aus mir löst und fort bist für ichweißnichtwielang. Nur noch diesen Augenblick. Und dann noch einen und noch einen.

15. An Claudia

Heute Morgen die Donnerschläge eines Gewitters, die sich polternd in den halbfertigen Schlaf drücken … Beunruhigungen, Sorgen. Es ist auswegslos. Ich komme an dir nicht vorbei, Claudia. Und doch kann ich nicht zu dir kommen, nicht mit dir sein. Es wäre grotesk. Von allen anderen Schwierigkeiten ganz zu schweigen.

Die Schwingen der Bäume hängen vollgesogen von Regen über den Weg. In den Pfützen stehen zitternd die Umrisse der Wagen und Baumstämme, und die Welt fühlt sich an, als sei sie schon viel später als sie wirklich ist. Der Sommer ist schon vorbei. Unsere Berührungspunkte jede Woche sind vergangen, bevor sie vergangen sind. Traurigkeit macht die Bäume schwer, und bald wird alles, was ich seit April oder Mai erlebe, wie ein immer fernerer Spiegel sein, in dem sich alles immer kleiner und kleiner spiegelt.