112 Meilen (9)

Wie sich Bilder wiederholen, zu Landmarken werden, zu Zeichen, zu Verweisen. Eine Feder, die mit dem Kiel im Grund steckt; am nächsten Tag noch eine. Und noch eine. Es ist schier unmöglich, nicht an eine Spur zu denken. Wir folgen ihr zufällig oder vielleicht auch nicht. Am nächsten Tag keine Feder, und schon taumeln wir unter den Fichten einher, als hätten wir die Richtung verloren. Eine von den vielen, mindestens.

Schon einmal gesehen: Fichtenorgeln, Emporen grauer Stämme, wie Pfeifen aus Zinn. Die Schraffur eines aufgerissenen Forstes, wie der Schnitt durch eine Zellstruktur, Blick in die sonst verborgenen senkrechten Mechanismen des Waldes, undeutbar, stumm, fremd. Die Lücken zwischen den Pfeilern von Dunkelheit versiegelt. Vor Jahr und Tag, hundert Meilen von hier: ein Loch im Wald, hoch oben auf einem Hügelkamm, daß man durch den Berg hindurchsehen kann auf eine ganz andere Art zweiten Himmels. Es ist derselbe Tunnel wie damals, und er führt an denselben unerreichbaren Ort, kein Zweifel.

Der lange Rostnagel im Holzpfosten: Als hielte nur er noch das Holz in der Luft.

Später der gleiche Nagel, nur gelb lackiert, in einem in die Wegböschung eingeschachteten Aufschluß. Da steckt er, ragt gelb und lang und fremd aus dem Erdreich, voller Absichten, wie ein Meßfühler. Weiter unten hängt eine blaßrote Schleife aus der Wand. Der aufschluß selbst schwach stratifiziert, hellere Lehmbänder weiter unten, oben dunkelrote Verwitterungsprodukte von Sandstein. Pilze wachsen daraus hervor, als habe der Nagel sie angestiftet.

Nagel, Feder, Fichte. Steine, die in ihrer Formung aufeinander Antwort geben. Eine Lichtung, die aussieht, als fehlte etwas; als sei hier in letzter Minute etwas entfernt worden. Spuren einer Greueltat ohne Täter. Oder etwas, das zu köstlich war, als daß wir es hätten sehen dürfen.

Eine Schwinge, die sich aus dem Augenwinkel entfernt, und dann, in der Drehung, hängt nur der Himmel machtvoll vor Leere, überm Waldsaum. Wolkenbilder, die aus Pfützen quellen. Vernähte Schatten. Wesen. Weiser. Stummes Wollen.

Post Festum

Solange du hier bist, leben die Dinge durch dich. Wenn du von mir gehst, stirbt, was du daließest, den Tod deiner Ferne. Ein Bausch Haare im Waschbecken, flauschig und kühl, wie ein geplündertes Nest Träume; ein Fleck auf dem Laken, kartierte Küstenlinien einer versunkenen Insel; eine Lippenspur, die das Glas wieder vergessen hat; ein klammes Handtuch, kühl und sandig wie eine Erdscholle. Während ich den verklungenen Schritten lausche, deren Stille immer noch anhält, zerfällt leise das Dunkel des geteilten Morgens im frühen Licht. Ich lösche die Lampe, die Kerze; das Spiegellicht deiner Augen geht in Rauch auf. In meinen Händen ruht die letzte Berührung von dir, warm und schlaff wie ein entschlafener Vogel. Ich nehme den Schlüssel in die Hand, mit dem du gestern hier warst. Was gestern so leicht von Hand zu Hand glitt, fühlt sich heute hart an und schwer, heimatlos wie ein Fundstück von der Straße. Ich nehme deine Zahnbürste in den Mund, ich trinke aus deiner Tasse, ich schlüpfe noch einmal in unser Bett. Ich drücke die Nase ins befleckte Laken, aber da ist nichts mehr zu erspüren von dir und mir. So riecht das Fehlen. Ich sehe mich um: Alles liegt im milden Morgenlicht da wie Spezereien der Minoer in Vitrinen aus dickem Glas. Unerreichbar sind die Dinge in ihrer eigenen Zeit zurückgeblieben. Schriftstücke, die sich selbst falsch zitieren. Bis ich das Haus verlasse, ist selbst die Stille nach deinen Schritten verklungen, der letzte Rest Dunkelheit vom Tag heimgesucht. Klaglos erbleichen die Wände, schließt sich der Raum zu einem imaginären Reich, wo unsere Küsse nur zu Gast waren.

Noch einmal Rehe

Ein „Rudel“ Rehe heißt Sprung und besteht im Winter aus bis zu zwanzig Tieren. Charakterisiert wird der Sprung, ein eher loser Verband nicht zwangsläufig miteinander verwandter Tiere, durch die gemeinsame Fluchtrichtung und den räumlichen Abstand der Einzeltiere zueinander, der fünfzig Meter selten überschreitet. Geführt wird ein Sprung von einer Ricke.
     Einem solchen Sprung bin ich heute morgen beim Laufen in der Dunkelheit begegnet. Aufmerksam wurde ich durch ein seltsames Geräusch, das ich noch nie gehört hatte, das aber sofort als Tierlaut erkennbar war. Kein Ast würde so im Wind knarren, keine Eichel beim Herunterfallen so rasseln, es klang wie Knörk, knörk.
     Rehe knörken aber nicht. Was Rehe machen, heißt bellen, und sie tun es, um dem Freßfeind klarzumachen, daß man ihn entdeckt habe, eine weitere Fortsetzung der Jagd mithin sinnlos sei.
     Bellende Rehe also, vor Schreck oder Empörung, daß ich trotz der Warnung weiter heranpirschte, wieder verstummt, mindestens ein Dutzend, kleine und größere, deren Augen, als ich die Stirnlampe ins Gebüsch richtete, auf unterschiedlicher Höhe zu mir hersahen, eine ganze Galerie Augenpaare, blink, blink, wie in einem Zeichentrickfilm. Die Körper wurden erst sichtbar, als ich die Leistung der Stirnlampe hochsetzte: fahle, graue Körper, die eigentlich gar keine Körper waren, eher Geister, schattenhaft, Gewölk von Leibern, deren Umrisse miteinander verschmolzen. So wie neulich schon blieben sie stehen, starr, gebannt, während in ihren Köpfen Unbegreifliches ablief, oder vielleicht auch gar nichts, weil sie vermittels des Lichts in einen Zustand völliger Leere eingetreten waren. Ich besah mir das eine Weile, dann machte ich die Lampe aus.
     Wie eine Glocke stürzte die Dunkelheit über mir zusammen. Kaum war der Himmel vom Blattwerk der Kronen zu unterscheiden. Ich stand ganz still und lauschte. Nichts war zu hören außer dem Rascheln meiner Windjacke und meinem eigenen Atmen. Irgendwo da drüben standen die Rehe in der undurchdringlichen Finsternis und regten sich ihrerseits nicht. Wie ich so atmete und raschelte, kam ich mir sehr laut vor. Andererseits trugen die Rehe ja auch keine Windjacke. Außerdem hatten sie ja zuerst gebellt. Ich ging ein paar Schritte, dann, als immer noch keine Fluchtgeräusche zu hören waren, schaltete ich die Lampe wieder ein. Blink, blink, blink, gingen drüben die Lichter an, als hätten die Tiere nur darauf gewartet. Dann aber schien ihnen etwas anderes in den Sinn gekommen zu sein, vielleicht hatten sie’s satt, vielleicht nervte ich sie mit dem Licht. Wer kann es wissen? Vielleicht gefiel ihnen meine Windjacke nicht. Jedenfalls setzten sie sich langsam, durchaus nicht in Flucht, eher gleichgültig in Bewegung, wandten sich, eins nach dem andern, von mir ab, wie Blätter, die der Wind umdreht. Die Körper schoben sich vor die Augen, die Leuchtpünktchen erloschen. Die Vorstellung war beendet, und ich schob mich und die seltsame Glocke aus Tag um mich her weiter durch den stillen Wald.

Keiner da

Liebe, ich habe dich zur Bahn gebracht. Jetzt bin ich zurück in meinem, unserem, wieder meinem Zimmer. Eben habe ich einen Augenblick gezögert, den Schlüssel ins Schloß zu stecken; ich wollte nicht, daß die Tür aufginge; ich wollte nicht zurück in das Zimmer, das mir doch nur dein Fehlen zur Schau stellen würde, alle Arten davon: Wie du nicht am Tisch sitzt; wie du nicht mitten im Raum stehst und mir zulächelst; wie du nicht im Bett liegst; wie du auch nicht im Bad wärst, wenn ich die Tür dorthin öffnen würde. Alle möglichen Arten deines Fehlens, eine einfallsreicher als die andere: lächelnde, ernste, verträumte, nachdenkliche, lachende Weisen zu fehlen. Noch viel mehr Möglichkeiten für dich, nicht da zu sein, als es Möglichkeiten gäbe, da zu sein, weil du ja nur einmal da sein kannst, aber viele, viele Male gleichzeitig fehlen. Auf dem Stuhl. Im Bett. Unter der Dusche. Am Herd. Mit Buch, ohne Buch. Wach oder schlafend. Du schaffst es sogar, gleichzeitig angezogen und nackt nicht hier zu sein, und auch auf alle erfindungsreichen Arten zwischen dem einen und dem andern zu fehlen. Lauter Beispiele für wie du nicht da bist. Lauter Beispiele, für wie sich kein Kuß von dir anfühlt. Sehr anschaulich, wie du mich nicht umarmst. Ich wollte sie gar nicht sehen und noch weniger fühlen, diese gleichzeitigen, übereinander gelagerten Abwesenheiten von dir, eine trauriger als die andere.
Am liebsten wäre ich gleich wieder fortgegangen, um erst mit dir in vierzehn Tagen wieder hierher zurückzukommen.
Zurückkommen, mit dir. Wie das klingt. Wie fremd und schön. Nach Hause, mit dir, zu uns. Zu uns.
Einen Moment schoß mir das so durch den Kopf, und ich fühlte den Impuls, einfach wieder wegzugehen von der Tür, hinter der du nicht warst. Dann aber habe ich den Schlüssel ins Schloß gesteckt und geöffnet und bin hineingegangen, nicht zu uns, sondern wieder nur zu mir.

Eine Begegnung

Die grünen Punkte schwebten einen Moment in nicht bestimmbarer Größe, Höhe und Entfernung links von mir in der Dunkelheit des Waldsaums. Zweimal zwei horizontal angeordnete, schimmernde Pünktchen, deren Farbe zwischen gelb und grün irisierte, Glühwürmchen nicht unähnlich, nur um vieles heller. Dem ersten Anschein nach bewegten sie sich; dann aber sah ich, daß sie stillstanden und warteten, während ich mich ihnen näherte. Als ich auf ihrer Höhe des Wegs angekommen war, richtete ich den Strahl der Lampe geradewegs auf die Erscheinung. Und blieb verblüfft stehen.
Längst erschrecke ich nicht mehr, wenn mir in frühmorgendlicher Dunkelheit jene scharfen Paare von Glühpünktchen ins Streulicht der Stirnlampe geraten, die, ohne daß der Körper selbst sichtbar würde, die Anwesenheit eines Tiers verraten. Als aber an jenem Morgen diese beiden Körper sich im Lampenstrahl hinter niedrigem Buschwerk aus der Dunkelheit schälten, zuckte ich doch zusammen. Zwar kannte ich schon, was sich da darbot, aber aus so großer Nähe hatte ich noch nie welche gesehen, schon gar nicht im Dunkeln. Ich staunte nicht schlecht. Katzen bin ich schon oft beim Laufen in der Dunkelheit begegnet, Pferde, Rinder sieht man oft, wenn man an Weiden vorbeiläuft, manchmal sind um diese Zeit sogar schon Hundehalter mit ihren Tieren unterwegs. Das hier aber, das war neu.
Da schau her, oder, na, wen haben wir denn da, oder sieh mal einer an, muß ich gemurmelt haben, teils um meinen eigenen Schreck zu besänftigen, teils aber auch, weil ich das Gefühl hatte, wie ein Entdecker eines fremden Erdteils, der unverhofft auf Eingeborene stößt, irgend etwas sagen, eine Geste machen zu sollen der Gutwilligkeit, Harmlosigkeit, des Respekts. Oder einfach: um sich zu erkennen zu geben: Schaut her, ich bin auch da. Es verblüfft mich, wie sehr wir Menschen Sprachwesen sind. Kaum sind wir nicht mehr allein, plappern wir los, und seien es auch nur zwei Rehe, die unversehens den gleichen Raum mit uns teilen.
Erstaunlich kleine Körper, kniehoch und schmal, sehr schmal, wie hungrige Kinder standen sie regungslos vor mir, keine drei Meter entfernt, und in den fast flachen, von einer schimmernden Linie eingefaßten Köpfen leuchteten die grünen Augen, die ich als erstes gesehen hatte, schwebten weiterhin im Raum, als glühe durch sie dieselbe Energie, von der auch das Fell wie von elektrischer Entladung schimmerte. Stocksteif standen sie da, die Lauscher auf mich gerichtet. Bäume traten dahinter in den Lichtkreis und bildeten mit ihren silberhellen Stämme eine Grenze, eine Bühne, dahinter der weite Raum des Waldes in vollkommene Schwärze zurückfiel.
Trotz ihrer folienhaften Transparenz, trotz dem Geisterhaften der Erscheinung waren die Tiere von einer geradezu erschreckenden Körperhaftigkeit. Vielleicht, weil sie so überraschend klein waren, weil ihr Körperbau Anmut und zugleich grazile Zerbrechlichkeit ausdrückte, aber auch, weil ich sie noch nie aus so großer, wenn auch durch die Dunkelheit deutlich von mir abgeschirmter Nähe betrachtet habe, erschienen sie mir umso stärker lebendig, begegneten sie mir als etwas mir zwar Fremdes aber im Fremdsein doch auch Gleichartiges, jedenfalls als etwas, das sich von dem pflanzlichen und mineralischen Reich ringsum ebenso scharf unterschied wie ich selbst; und darin, in dieser Form wacher und blutwarmer Lebendigkeit, waren wir Bewohner desselben Bezirks. Nicht mehr allein.
Klein waren sie, aber sie hätten auch riesig sein können, der Eindruck wäre derselbe gewesen: ein Eindruck vollkommener Realität, ein plötzliches In-die-Welt treten, das jede Vorstellung, die ich mir von ihnen jemals gemacht hatte oder hätte nur machen können, nach allen Richtungen überstieg; eine Wirklichkeit, die sich selbst verstärkte, indem sie überhaupt eine schätzbare Größe zeigte; indem sie stillhielt und sich betrachten ließ, länger als nur einen Augenblick; indem sie stillhielt, sich anschauen ließ, und – zurückschaute, mich als etwas Gleichartig-Verschiedenes ins Auge faßte über den Abgrund aus Andersartigkeit hinweg. Geworfen in denselben Wald, ich als Besucher, sie in ihrem Zuhause, starrten wir uns an und versuchten, einander zu verstehen, einen Sinn in dieser Begegnung zu finden; und in der völligen Andersartigkeit des Gleichen etwas auszumachen, das zur Entspannung führen, die Situation auflösen und uns einander zu erkennen geben könnte, sei es als Freund, dem man sich nähern, sei es als Feind, vor dem man fliehen müsse.
Was empfanden sie wohl in diesem Moment? Furcht? Aber hätten sie dann nicht die Flucht ergreifen müssen, was ihnen jeder andere Schrecken zweifellos empfohlen hätte? Neugier? Oder war das, was sie fühlten, eine Empfindung querab von Neugier und Angst – eine Art Bann, ein Faszinosum, eine exstatische Erfahrung, weder gut noch schlecht, nur … anders? War es möglich, daß diese zwei Tiere, die zu jeder anderen Tageszeit sofort Deckung gesucht hätten, ja, es zu einer so nahen Begegnung gar nicht hätten kommen lassen, jetzt mit Hilfe des Lichts irgendeinen inneren Mechanismus überwunden und Zugang zu einem Gefühls- und Erlebensraum jenseits des Schreckens und der Angst gefunden hatten? Daß sie eine Art von mystischem Entzücken empfanden?
Ich weiß nicht, was passiert wäre oder wie lange wir in diesem gegenseitigen Anstarren wohl noch verblieben wären, wenn ich nicht den Lampenstrahl wieder auf den Weg gerichtet hätte. Mich fröstelte, ich wollte weiter. Kaum war die Dunkelheit über die Stelle gefallen, da hörte ich es auch schon rascheln und knacken. Der Bann, oder was immer es war, das uns einen Moment verbunden hatte, war gebrochen, wir hatten uns aus der Begegnung gelöst, ohne daß wir einander Freund oder Feind geworden wären. Als ich die Lampe nach ein paar Schritten noch einmal dorthin richtete, hatten sich alle Augen wieder abgewandt. Ich sah nichts als ein leuchtendes Gewirr fahler Blätter vor der Schwärze des Waldes. Kurze Zeit später drehte der Wind, und es fing an zu regnen.

Lange Zeit sind die Wörter nach mir schlafengegangen

Die Stimmen waren also verstummt, oder der Knabe schlief darüber ein, wie sie sich entfernten. Jedenfalls muß er geschlafen haben, denn irgendwann war wieder Morgen und das Haus hell. Der Wind kam vom Meer und brauste in den Föhrenwipfeln. In den Wald konnte man weit hineinlaufen und noch weiter hineinsehen. Nadeln brachen unter den Schritten. Moos leuchtete an Schattenrändern, und süße Heidelbeeren. Es gab Pfade und Wildnisse. Von überall war das Haus sichtbar, oder die See, oder der Himmel. Der Wald hatte Sandkrusten, Grenzen, Ränder. Die Stimmen waren verstummt. Der Wind, der in den Wipfeln brauste, er wußte nichts von ihnen. Zur Nacht hatte er gefehlt.

Im Knaben klangen sie noch nach, aber nur mehr als ein Echo. Das ließ sich nicht nachsingen. Das kam falsch heraus, wenn mans versuchte. Das war wie mit „Ein Männlein steht im Walde“, das seine Schnüß nicht so richtig konnte. Und weil das so traurig war und alles, was sich nachmachen und nachholen ließ, auch gar nichts mehr zu tun haben wollte mit jenen anderen Stimmen, ihren Zauber nicht wiederbringen sondern nur weiter entrücken konnte, daß der Verlust noch schmerzhafter fühlbar wurde, versuchte es der Knabe nicht mehr, hoffte nur, die Eltern, die doch alles wußten, hätten es auch gehört, seien ihrerseits am Fenster gestanden und könnten es ihm jetzt erklären, es ihm nachsingen mit ihrer Schnüß, ihn dort hinführen, wo das hergekommen war, es ihm wiederbringen und in seine Hände geben, in seinen Besitz. Doch die Eltern konnten zwar singen wußten aber von nichts. Und der Knabe verstand da zum erstenmal das Versprechen und den Trug, die Machtlosigkeit und die Macht der Sprache; wie schlau sie war, und wie sie den Dingen der Welt nicht entsprechen wollte. Daß es etwas anderes auf sich hatte mit ihr; daß sie nur sich selbst entsprach und aus sich heraus Welten machen konnte, soviele sich nur denken ließen, Welten, in denen Frauen in strahlenden Gewändern und einem Licht in den Händen nachts singend durch einen Wald tanzten, während ein Knabe sich die Nase am Fensterglas nach ihnen plattdrückte: Das sollte er erst viel später lernen, als die Erinnerung an jene Nacht längst selbst nur mehr aus den Worten zu leben begonnen hatte, die er dafür finden würde.

Locus amoenus

Einen Ort im Wald suchen, der dich aufnehmen wird, der dich durch die Nacht tragen wird, der dich am Leben läßt. Einen Platz für Zelt und Kocherflämmchen, und wo die Bäume nachts stehenbleiben und nicht zusammenrücken, um Tuch, Gestänge und Knochen zu zermalmen, ein Ort, wo du als Fremder fremd bleiben darfst und an dieser Fremdheit nicht zugrunde gehen mußt. Ein Ort, der in der Nacht zu Hause ist, wo das Flämmchen nicht ausgeht. Du mußt ihn alleine bestehen können, den Ort. Es muß ein Ort sein, der das Alleinsein nicht gegen dich richtet, es dir nicht widerspiegelt und zurückwirft, bis du dich selbst nicht mehr kennst. So ein Ort ist auf den Karten nicht verzeichnet.
Es gibt eine Einsamkeit, die mehr ist als die bloße Abwesenheit von Artgenossen, eine Verlassenheit, tiefer und leerer als das bloße Fehlen von Anzeichen, die zumindest auf vorübergehend hausendes Leben weisen. Ein Ort kann so einsam sein, so öde, daß dieses Leere durch nichts zu füllen ist, nicht durch Töne, nicht durch Farben, nicht durch den Duft von Suppe und Wein. Es gibt Winkel im Wald, da erstirbt jedes bis dahin noch lebhafte Gespräch, und aus Flöte oder Fiedel bekommt man keinen Ton mehr heraus. Im Radio nicht einmal Rauschen. Das Mobiltelephon geht quietschend aus. Selbst das Fingrschnippen hört sich kraftlos an. Eine solche Ödnis saugt das Leben aus jeder Anwesenheit. Es höhlt dich aus, und läßt alle Kräfte, jeden Widerstand, jeden der Einsamkeit entgegengestemmten Willen ins Leere laufen und ermüden, bis Trübsal und Vergeblichkeit in jeden Gedanken kriechen und den Geist vergiften und du nichts mehr vermagst als hinzusinken und dich deiner schieren Verzweiflung zu überlassen.
Oder ein Ort, wo andere schon wohnen. Das findest du dann zu spät heraus. Eine Lichtklinge, ein Gurgeln plötzlich aufschießenden Wassers, schwingendes Schilf, Laubwirbel, und der Knall harter Hufe dringt in dein wegflatterndes Bewußtsein nur noch als der Lärm einer windumtosten Ferne vor, ehe alles erlischt und der Mond allein im Wasser kreiselt. Das Bittere einer fremden Erinnerung. Sie wird deine eigene, dein Gedächtnis, deine eigene Bitternis, ekelhaft wie ein faules Blatt, das sich dir an den Gaumen schmiegt. Gift, das ein Sonnenstrahl aufzeigt, der auf den Purpur einer Beere fällt, und wie das Bittere Klang wird in den Schnäbeln der Amseln.
Schicht um Schicht zerfällt der Umriß dessen, was bei Einbruch der Dämmerung Vegetation war, und löst sich, Ilexgestammel, das Gewürz welker Anemonen, Krüppelungen toten Holzes, die Bögen verstümmelter Buchen, löst sich voneinander und gerät in eine wimmelnde, exstatische Bewegung, die langsam, wie eiskalte Flammen, in denen das Dunkel selbst in Brand steht, Nahrung im Fernen und bald auch im Nahen findet, bis auch der Grund vor deinen müden Schuhen davon erfaßt wird und das Laub, zunächst wie von Wind und Strömung, bald von Rücken und Flossen und Tastern erfaßt, zu kochen beginnt.
Manche Orte laden dich ein, aber sie sind selten, weit verstreut liegen sie im Wald, unzugänglich, umstellt von Widerstand, man stolpert dran vorbei, man findet sie schwer. Der Blick gleitet vexiert dran ab. Ein Ort zum Bleiben darf nicht zu viele Erinnerungen besitzen. Orte mit einem großen Gedächtnis dulden kein zweites lange bei sich. Eine Nacht an einem solchen Ort, und du wirst wahnsinnig von seinen Einflüsterungen, als hättest du all das selbst erlebt, bis du nicht mehr weißt, wer du bist. Dann ist es nur ein kleiner Weg, bis du nicht mehr bist, was du warst, und an die Stelle deines Verstandes etwas ganz Neues treten muß, nur ein Rucken des Kopfes entfernt, ein Rauschen über den Wipfeln, einen Flügelstoß weit; ein unbedachtes Augenauftun steht zwischen Verlust und Verwandlung, nur ein angstvoller Herzschlag ist es dann von dir zum Baum, von dir zum Häher, von dir zum Salamander, der du wirst, der du schon bist im Augenblick, da ein Tropfen Tau deinen schutzlosen Nacken netzt.

Zülpicher Börde

Wie der Hase in die blitzblanke Ebene hineinläuft, Halt sucht, wo kein Halten ist in der Leere, die als ein weißes Nichts allseits auf ihn zuschwimmt, wie er da hineinstürzt ins Kristallvielfache, panisch, kopflos, und stetig hineingesogen wird in eine kreiselnde Stille, wo kein Baum kein Strauch, nur weiß und weiß, und wie der Hase Haken schlagend dieser Masse an schierem Raum zu entkommen sucht, wie er vor der Wucht des Freiseins davonprescht, und wie er, während ihn die Ausdehnung erst langsam einkreist, ihm stets, wohin er sich auch wendet, zuvorkommt; sich dann um ihn legt, schon da ist, ihn niederzwingt; wie er da nach einem Ende sucht und sich aufbäumend vergebens in Raserei gerät, weil die Fläche für jede eingeschlagene Richtung unzählige weitere bereithält, während die Ferne, die langsam (denn sie hat Zeit) ihm entgegenstrebt, seine Flucht hemmt und mit ihm spielt, ihn hierhin und dorthin treibt, bis er ermattet einhält, wie er sich verzweifelt auf die Hinterläufe stellt, nichts zu sehen bekommt als weiße und aberweiße Strecken, so daß er, geschlagen fast, noch ein bißchen gegen den Strom weiterhumpelt, bis das Glitzern schließlich die letzte Bewegung des Tiers, nur mehr ein schwarzes Splitterchen, dessen punktförmiges Springen kaum noch auszumachen ist gegen die Helligkeit (ein Licht, das aus allen Richtungen zugleich kommt und jeden Schatten fortbrennt), wie das Glitzern das einfriert, und wie dann endlich weit draußen, im Davonstreben aller Linien, wo Wolken und Grund einswerden, das Feld einmal kurz blinzelt und den Splitter in sich verschwinden läßt –

Köln

Verwirrung, kaum daß man die Grünanlagen zwischen Südbahnhof und den Chemischen Instituten betritt, etwas stimmt nicht, da ist so ein Fremdes, Beunruhigendes, da ist so ein … ein Geruch: Woher kennt man das, diese fahle Ausdünstung, die ebenso leicht und schwebend zwischen den Büschen hängt, wie sie sich hartnäckig in der Nase festsetzt, als wolle sie sich einschleichen und Teil des Körpers werden, ein olfaktorischer Parasit. Oder ein Pesthauch? Nein, nicht an Krankheit, aber an Verfall läßt jeder Atemzug denken, den man voller Neugier tut, wonach ist das, was soll das, wo kommt das … und zugleich sträubt sich nicht nur die Nasenschleimhaut dagegen, sondern alle anderen Sinne erfahren eine Trübung, als hätte sich wirklich ein gelblichfeines Gas überall ausgebreitet, das man sehen und schmecken und fühlen kann, das sich zäh über die Haut spannt, auf den Brauen klebt, die Fingerspitzen taub macht und die Füße schlurfen läßt, man weiß es nicht. Vielleicht die Büsche, diese mit Unrat gespickten Laubhaufen, deren verfaulende Schichten Arten ganz anderer Fäulnis gnädig bedecken, vielleicht, weil hier Stadtgärtner zugange sind, die aufwühlen, was besser liegen bliebe, und dabei Stoffe freisetzen, die für gewöhnlich schnell wieder zerfallen, jetzt aber, zur Unzeit losgelassen, diesen dumpfen Kothauch über die Wege breiten. Motorsensen sind unbeirrt am heulen, aber wer weiß, wohinein die Drahtmesser fahren, was sie hochpeitschen und emporschleudern, einen modrigen Morast aus Hundekot, Samstagnachterbrochenem, Bananenschleim, und die grünseifigen Körper toter Amseln und Ratten, die zu Gummi aufgeweichten Hüllen von Heuschrecken, Käfern, Fliegen und Schaben sind vielleicht das Erwartungsgemäße, aber noch nicht das Schlimmste. Wer weiß es, wer sähe denn freiwillig nach, was sich sonst noch so ansammelt unter Büschen, die Jahrelang nicht geschnitten werden. Oder kommt dieser Pesthauch gar nicht daher, sondern von den Rändern der Stadt, Augenblicke lang riecht es, als habe man Berge um Berge Jauche und Mist rings um den Grüngürtel aufgehäuft, ein Protest wer weiß welcher Bauern, ein Attentat, ein Spaß, eine Demonstration, oder etwas völlig Sinnloses, eins von den Dingen, die sich einfach ereignen, ohne gefragt worden zu sein … oder bläst einfach nur ein seltener Wind aus seltener Richtung, der diesen süßen Ekel heranträgt, aber woher mag das kommen, denkt man mit Schaudern, aus welchem Höllenwinkel, dieser klebrige Fäulnishauch, dem man heute morgen, wohin man sich auch wendet, nicht entkommt, und womöglich ist es ja der eigene Leib, riecht man selber so.

Kein Abend mehr

Die Stimmen damals waren wie von der Nacht eingefärbt. Dunkel. Weich von Samt oder von Wein. Gurgelnd von Geschichten, bei denen man die Stimme senken muß.
Ich erinnere mich an die Stimmen auf dem Balkon oder vor dem Wohnwagen. An Gespräche, die man nur mit diesen Stimmen führen konnte. An die selbstauferlegte Zurückhaltung. An die Töne, die sich wie feiner Rauch aus den Nüstern und Mündern der Sprechenden lösten.
Ich erinnere mich an die Sommernächte. Auf dem Balkon sitzen, ein Abendessen in der Dämmerung, noch ein Glas Limonade, bevor man ins Bett geschickt wurde, und die Stimmen, die kleiner wurden, kleiner und schmeichelnder im Maße die Nacht zunahm. Die Stille sog an diesen Stimmen, schliff und polierte sie, bis sie eine murmelnde Weichheit bekamen. Kerzenlaternen flackerten, Falter verbrannten knisternd, die Straßen waren groß und leer, leer und von Nacht angefüllt, und niemandem wäre es eingefallen, dagegen mit Lärm und Stimmgeschärf vorzugehen. Wenn meinen Bruder und mich die Lust ankam, die Nacht auf die Probe zu stellen mit Lautstärke und Tagesstimme, wurden wir unverzüglich zurechtgewiesen, psssssssst. Schschsche, machten die Eltern und fuhren fort, ihre nächtlich belegten Kehlkopfe rollen zu lassen. Kam man nochmal raus aus dem Bett, weil etwas drückte oder man Bauchschmerzen hatte oder Durst, so flackerten die Stimmen, wenn man das Wohnzimmer betrat, von draußen herein wie der Kerzenschimmer, ließen sich von diesem Schimmer tragen und von den Vorhängen verwehen, waren fast ein Flüstern, so leise, daß die Angst plötzlich kam: Sind die Eltern überhaupt noch da? Oder reden Geisterchen? Im Urlaub, wenn man beisammensaß, Eltern und Kinder, in früh hereingebrochener Südnacht, und alles so leise sprach, daß die Stimmen nie den Lichtrand der Lampe berührten, nie hinausdrangen in Wald und Schatten.

Heute gibt es keinen Abend mehr, keine Mittagsruhe, keine Nachtsamtigkeit, überhaupt Tageszeiten nicht. Die Stimmen sind überall und allzeit, abneds, nachts, egal, es wird geschrien als füchte man, daß einem die Stimme bald ausgeht. Als hätte man zuviel zu sagen für die eigene Lebenszeit, als müsse das alles noch, Nacht oder Tag, hinaus. Irgendwo übriggeblieben und wie Geister nirgends zu Hause, kennen diese Stimmen nur noch sich selbst und hören sich immer so an, als müßten sie sich selbst beweisen, daß sie noch da sind. In diese Stimmen prägt sich nichts ein, sie lassen sich nicht inspirieren, nicht dämpfen, nicht leiser drehen, da kann die Nacht noch so mild und schön sein, es kommt ihnen gar nicht der Gedanke, daß da noch etwas anderes ist, so etwas wie Welt, wie Schönheit, wie Uraltes, wie Ewiges. Eingesponnen in ihre eigene plärrende Banalität verstärken sie sich nur selbst, genügen sich selbst und klingen auch noch um Mitternacht so wie das Geschrei auf dem Viehmarkt, anmaßend, laut, selbstverliebt, ignorant.

Amseln

Sie sind früher als alles, was ist.
Sie waren schon immer vorher, ganz gleich, was als erstes kam. Sie waren.
Leuchtspuren in einem Sinnenraum, der weder dem Auge noch dem Ohr, noch irgendeinem Organ, das aus der schlafenden Mitte ins Dunkel hinauswächst, gehören. Sie waren vor allen Organen, vor jedem Blut. Tönernes Leuchten. Leuchtende Töne. Ertastbare Stimmen. Klang wie eine Zeichnung in Sand, Gesänge in Braille-Schrift.
Sie gehören zu einer anderen Zeit, die jedem Beginn vorausläuft. Langsam dem Anfang überlagert, werden sie irgendwann eins mit dem Hier, dem Jetzt, jedem denkbaren Später, wenn es erst denkbar ist. Unterm Fokus werden zwei Wege einer, ein Traum fällt in sich zusammen, ein Tuch zerreißt im Spiegel, und indem sich die Zeit entscheidet und in Vorher und Nachher zerfällt, erinnerst du dich, und die Stimmen nehmen sich selbst einen Namen.
Sie sind vor jedem Denken. Sie sind Erinnerung, die im Früheren von Späterem handelt, ihre eigene Zukunft. Wenn du sie hörst, zum erstenmal hörst, hast du sie schön gehört. Du hast sie gehört, bevor du sie hörtest. Wie lange? Seit du denken kannst.
Ein Klangbaum. Wie eine Eigenschaft des Dunkels selbst, Faltungen im Raum, ein knisternder Schleier, den eine Brise zu immer neuen, doch einander ähnlichen Klangkaskaden verreibt, bis jäher Augenaufschlag das Dunkel dem Dunkel zuschlägt und den Klang dem Klang, und die Stimmen sich aus der Weite der Straße heranschwingen müssen, nun fern und an ihrem Platz, wie alles.
Liegenbleiben, denkst du, liegenbleiben, bis der Eifer des Tages sie an sich nimmt und sie in den Bäumen verstummen.

Sæby (4)

Daß man allein sein konnte: Es war die Entdeckung der Stimmen. Sie sagten es ihm nicht. Aber er wußte es durch ihren singenden Mund. Das Licht dort draußen, wie es sich von Stamm zu dunklem Stamm fortpflanzte, es zog eine Grenze, kühler und härter als die Scheibe aus Glas, an der er seine Nase plattdrückte. Die Welt fiel in Dort und in Hier auseinander, der Raum wurde Zwilling, wurde Flügel, ein Doppeltgleiches, das etwas (ein Schreiten; Stimmen; Lichter, die sich von Baum zu Baum fortpflanzten) enthalten und zugleich aussperren konnte.

Novembermorgen

Beim Laufen an manchen Samstagvormittagen, in der bewegten Stille des Lichts, im Wald: Ein solcher Geruch, es ist, als hätte es ihn seit fernsten Kindertagen nicht mehr gegeben. Eingekapselt in den Duft von Sonnenwärme in der Kiefernborke ist da plötzlich etwas wie Schwingende Drähte. Warmer Sandstein. Sonne wie Staub vor den Fichten wirbelnd. Trocken leuchtende Fäden der Spinnen. Die Luft, deren Kühle bis ins eigene Blut vordringt. Wassergurgeln in Gräben. Es ist ein Anhauch, der intensiv nach Wiedergefundenem riecht, und jenes seltsame Erschrecken auslöst, das jedem unerwarteten Wiedererkennen immer um einen Herzschlag voran geht. So nah ist plötzlich alles, so greifbar, so transparent alle Geheimnisse, keine zwei Gedanken mehr entfernt, daß man schon jubelt, jetzt nur aufpassen, jetzt nur nichts versäumen, hellwach jetzt! Man bräuchte nur die Hand ausstrecken. Nur noch einen Schritt tun, einmal Luft holen, den Gedanken zu Ende denken.
Doch dann, noch ehe man richtig mitbekommen hat, was geschieht, schreit ein Häher; das Laub knistert, die Wasserflächen ziehen sich kräuselnd zusammen, und schon haben sich alle Zeichen des inaussichtgestellten Glücks schon wieder aufgelöst und sind so unwiderruflich verschwunden, daß nicht einmal die Inaussichtstellung selbst, sondern nur das Gefühl eines nunmehr endgültigen Verlustes zurückbleibt.

freitag

die platane ballt ihre hundertarmigen fäuste, und der himmel voller rauch, man könnte meinen … man könnte meinen …
jetzt hab ich es vergessen.
stimmengeraune: wie ist es süß. sich da einfach einsinken zu lassen, in ein weiches gewebe, eine matte, ein netz … aus stimmen. die platane steht still, die spinne hebt ein bein. man sagt, die sonne werde scheinen am nachmittag. man sagt, die mitarbeiter seien in streik gegangen, man bedauert, versehentlich sei ein kind getötet worden (ups, ’tschuldigung), undsoweiter, am bahnhof spucken die ausflugsschüler kaugummibrei, später, zu hause, sitzt man ein wenig, nachdem man geplaudert hat mit der süßen mitbewohnerin, man sitzt, und die fenster sinken vor müdigkeit in ihren fassungen zusammen, stellen trübe schleier zur schau und vibrieren anmutig, vom stimmengemurmel wie vom lachen freundlicher gespenster.
irgendwann dann der regen. fühlt sich an wie ein freitag.

geister

es gibt geister, von denen kommt man nicht los. wahrscheinlich nie mehr.

da heißt es tragen tragen tragen, und gehen, und weitertragen. an sich selbst. an sich selbst schwer tragen. sich selbst eine last.

mit dem finger den wein auf der tischplatte malen, einen namen, einen schwanenhals, einen kiesel. dem rätsel so nahe sein wie nie, aber nie mehr so wie damals.

in der winterkälte bogen sich immer die photographien. wie sich etwas einbrennen kann: ich weiß noch genau, wie sich das bett anfühlte, der stuhl, der widerstand der tür beim öffnen und schließen, schränke, spüle, die gegenstände, die geräusche.

aufsehen vom tisch und den schwarzen pferdeschwanz wippen sehen, draußen im licht, draußen. ich bin gefaßt auf das zusammenzucken, und dennoch kommt es jedesmal unerwartet.

geister kündigen sich selten an.

Steinerberghaus

Hier das zelt aufbauen? Am rand der kuppe, unter die birken geschmiegt? Mein blick geht schüchtern vor lauschender einsamkeit wieder zurück zum höchsten punkt, dem ebenen stück erde bei der panoramatafel. noch ein paar schritte unter die wipfel.
Plötzlich ein laut: Geheul wie menschliches gebrüll bricht aus den schatten, ohne ankündigung von schritten oder geraschel, in den abend eingekerbt, es klingt wie hej, houuuu, wie jemand, der nach der ferne ruft, dann wie einer, der einen hund nachahmt, und schließlich wirklich wie ein hund. ein hund? ich bin seit über einer stunde keiner menschenseele begegnet. alle wege waren leer, die feiermusik in Altenahr längst von der krümmung des berges verschattet, die fliegen das lauteste geräusch. einmal ein fuchs, rotes geflitz zwischen den buchen. Wie machen füchse? Sind es schreie wie diese? Die den abend kurz erzittern lassen, ehe sie ganz plötzlich wieder verstummen, von schweigen abgeklemmt, und eine sanft erschrockene, starre stille zurücklassen, in der nicht einmal ein zweigeknacken, ein blätterrascheln übrigbleibt –
Die blicke fliegen. Sanft krümmt sich der hügel aus dem waldkranz. Wächsern und windlos ragen die blätter ins abendlicht. Schatten spreizen hangab ihre hände um stamm und gezweig, die sonne stirbt einen rosahauch auf den weg, am fuß kitzelt das gras. Kühl will es heute nacht nicht werden. Nahebei ragt stumm das dach des Steinergerghauses zwischen zwei fichten auf. Nein, hier nicht, denke ich, nicht mit dem wilden saum blicklosen buschwerks in der nähe, im nacken. den schrei noch im leib wackele ich klopfenden herzens zurück zur ursprünglichen stelle, wo ich zwar weithin sichtbar bin, aber einen ebenso guten rundumblick habe. Savannentier, denke ich, augentier, tagaktiv. Später, im zelt, zucke ich die achseln, werde ich ohnedies nichts mehr merken von dem bunten treiben, das vielleicht, vielleicht nicht, auf der kuppe einzug hält.
Später: Die flasche leert sich mit bedächtigem schaukeln, während der himmel sich anheitert, und der mond die verschatteten dinge berührt, ansaugt, in sich aufnimmt und in gefiederte weichheiten verwandelt zurückgibt. Die lichter sind fern und nah zugleich. Kein geheul mehr. Die kuppe ist völlig ruhig, der himmel rieselt darauf nieder. Mit freudigem schauern bemerke ich den kühlen flug eines leuchtkäfers. Sehr weit weg, schon in einer anderen welt, klettern die signallichter auf der hohen acht am mast auf und nieder. Gegenüber die ortschaft Lind: das licht eines fahrzeugs, das langsam zum ort auffährt. Ich stelle mir den fahrer vor, eingeschlossen in heimatliches blech und gebrumm, der gang wechselt, der motor heult, und die nacht, die stimmen um ihn wie ein meer. links fallen die felder ins dunkel fort.
Da ist mir für kostbare augenblicke alles neu, und das alte, die müden, staubigen tage, liegen abgestreift wie der enggewordene panzer eines kerbtiers unten am wegesrand, an der kreuzung, im fingerhut, in staub und sonne, von wo sich schritte und auge und atmen schon lange weggehoben haben.

(30. Juni 2006)

Sæby (2)

Nie ist das Drinnen so sehr drinnen wie zu jener Stunde, nie das Draußen so sehr draußen. Das Fenster ist eine Grenze; nacht aber ist es auf beiden Seiten. Nacht ist es in aller Welt. Die Welt selbst ist Nacht.

Ob die Stimmen schon immer da waren? Haben sie ihn geweckt, ihn heraufgelockt aus bewußtlosem Schlaf?
Ja, sie zogen ihn herauf und ans Fenster und waren: draußen und fern. Von jenseits des Schlafes herangeweht. Nicht zu ihm gekommen. Nicht zu ihm. Aus unerkannten Fernen, nach verborgenen Plänen handelnd, waren sie dorthin gekommen, wo auch er sich zufällig aufhielt. Und er war in den Begrenzungen von Zimmer, Haus und Mauer gefangen, auch ins Eigene gesperrt. Sie wußten nichts von ihm. Sie werden auch nie etwas von ihm wissen, oder von irgendeinem andern, der am Fenster steht. Sie brauchen nichts. Sie gehören auch nicht zur Nacht, sie gehören nur: sich selbst. Und sie singen. Sie singen sich selbst zur Freude.
Sie füllen den Wald mit Klang und Wundern, entfernen sich, verlieren sich, verstummen und lösen sich auf in der Stofflichkeit der Nacht, noch einmal klingt es auf unterm den Mondfäden, in der Tiefe der Bäume, dann fallen sie zurück ins Dunkel, aus dem sie getreten waren, und das sie nun wieder hält und birgt. Und das Kind, die Nase am Fenster plattgedrückt, zum ersten Mal ist es allein.

kall–satzvey

der weg führt an zeichen vorbei, er lehnt sich sanft an uralte zeit, hat sich blinden göttern verschrieben, tempeln, die kiesel, erde und wieder baum geworden sind, tiefverwurzelten fundamenten, umgestülbten gewölben, treppen, die in einen acker, in binsen, in weidengestrüpp führen, oder in den leeren himmel. die altäre haben die götter vergessen, stumm und taub luden sie schatten auf schatten ins opferbecken, blinzelten ins licht der sommer jahr um jahr, verdämmerten unter schnee, ließen sich aufreiben vom wind und vergaßen endlich auch sich selbst. laub ruht nun zwischen stein und moos, und mancherorts, versteckt im wald, geduckt in den schoß eines grabens, halten gemauerte bögen dunkelheit im maul, um das sich kalksinter schalt. spräche man, riefe man in die öffnung, es käme nichts wieder, man bliebe mit der eigenen stimme allein. das blitzlicht tritt nur wenige schritte vorwärts, dann kommt es plötzlich zum halt.
anderwegs, eine viertelstunde richtung satzvey, krümmt sich der weg unter an- und abschwellenden lärm. die autobahn, ihr dröhnender schatten liegt wie dünung über dem rain.
artemis-kraut knistert im spröden wind. überm graben, im gesperr der schlehenzweige, wedelt einmal kurz die sonne, dann kommt der schatten zurück und die wolken hängen wieder feuchtnah überm pfad. abgetropft aus nacht und dunkel wuchern blickauf die raben in den baumkronen, lassen ihre schreie los, zerpflügen den frost, streifen den himmel, ein schwung, eine schwinge. gegenlicht: der schimmer bemeißelt ihren schnabel.
eine viertelstunde weiter, im tal, hat eine halbe brücke ihre bögen aus dem hang gespreizt. die mit Eichen bewachsene Steigung führen stufen aus holzbolen hinauf, in jugendliches gelächter, bunte daunenjacken, zerschabte kunstfaserrucksäcke und drei gelangweilte gesichter. plötzlich schweigen sie und starren, mit masken vor der blässe des wintergesichts. der brückenbogen ist mit einem gitter verriegelt. wasser floß hier über wasser einst. ein strom über dem strom. jetzt führt die trasse geradewegs starr hinaus in den himmel. die kinder albern, ihre kicherlaute zirpen wie vögel. vor dem fuß, versunken in laub, erde, abfallpapier aus einer zeit nach allen zeiten, entkneift sich der austritt gerade so eben dem erdreich. so lange floß hier wasser, daß stein wuchs im strom, eine koralle geronnenen äons. zeitungspapier ballt die faust, zehn tage regen und wind, die schrift kaum noch zu lesen. spuren: eine tiefblaue wasserflasche, aufgerissenes kunstoffbriefchen, zigarettenstummel. darüber zeigt, unter moos versteckt, das mauerwerk seine einzelnen steine. zwischen den greisen ziegeln und der zeitung von gestern: ein nichts, ein trockener hauch. wie nah man ihm auch kommt, der stein ist immer ein stück weiter. irgendwo rieselt erde.
die kinder sind fort. aus der ferne schlagen die glocken.

Sæby (1)

(Alouette, gentille Alouette …)

erinnere dich an jene stunde.

erinnere dich an hütte, fenster, wald. an die dunkelheit, die gegen das fensterglas anstieg, an die dunkelheit, die kühl und ein wenig fremd unter deinen fingerspitzen kribbelte. an die andersseitige dunkelheit, den weiten raum, die verhüllten kiefern. an die dunkelheit, die den gesang barg, freigab und dann wieder in sich zurücknahm.
erinnere dich. du warst das. du standest am fenster, du preßtest die nase an die scheiben, du hörtest die stimmen, wie sie jenseits sangen und verklangen, die leuchtenden stimmen.
(Alouette, gentille Alouette …)
da beugtest du dich vor, atmetest einen nebel aus, stießest mit der nase gegen die nacht draußen und wußtest nicht ein noch aus vor schönheit. du hattest noch keine worte, alles stellte sich unmittelbar vor dir auf, wuchs dir
(Alouette, je te plumerai …),
direkt ans herz, und doch … und doch … (je te plumerai la tete …) fühltest du damals schon, daß du nicht ganz warst. daß die schönheit von dir getrennt, dir entfremdet war. wem hättest du es sagen können? im nebenraum, meilen entfernt, schliefen die eltern, denen du es am morgen erzähltest. aber hatten sie denn verstanden? hätten sie es dir deuten, hätten sie es dir auflösenkönnen? du fragtest sie nach dem lied, summtest es ihnen vor, glaubtest, es damit erworben und beherrscht zu haben, wenn du nur einen namenhättest. als könntest du dem schönen näherkommen, indem jemand das lied für dich sänge, wieder und wieder! als könntest du das schöne begreifen, wenn es wiederholbar geworden wäre … doch in demselben augenblick, da du
(Alouette? – Alouette!, Ooooh …),
da du begriffst, daß es schönheit gab, spürtest du schon ihre unerreichbarkeit und den schmerz, und auch, daß du allein sein würdest im angesicht des schönen. und später:

da erfandest du worte: behelf, meßgerät und prothese. aber näher würdest du ihm niemals kommen.