Life-Photoalbum

Es ist merkwürdig, sich einem Ort zu nähern, den man, früher oft und gern frequentiert, seit ein paar Jahren nicht mehr betreten hat. Es ist, als habest du den Ort vergessen. Aber der Ort erinnert sich besser an dich als du dich an den Ort. Du fühlst dich wiedererkannt. Das heißt nicht, daß du schon willkommen bist, und wer bist du denn eigentlich und stiefelst hier herum, als gehörtest du dazu? Du wirst taxiert. Du bist fremd geworden, du bist hier ganz allein, allein mit deinem Packen Zeit, das du mit dir rumschleppst, und mit dem du dir so lächerlich vorkommst, als trügest du die Mode eines vergangenen Zeitalters: Mache ich auch alles richtig? Man möchte das irgendwie loswerden, diesen Ballast. Und hier wie zum ersten Mal erscheinen, am kurzen Mittagsschatten einer Erzählung, die jetzt erst anfängt. Aber hier ist ja alles herbstlich. Wie ein abgelassenes Schwimmbecken, an dessen regenfeuchtem Grund Laub liegt, die Umkleidetüren sind abgeschlossen, die Duschen abgedreht, der Eiswagen dichtgemacht, auf den Tischtennisplatten liegen Ahornsamen und Vogeldreck. Der Ort liegt verlassen und seines Zwecks verlustig da, wie ein Freibad im Winter.

Es ist ein Freibad! Aber es ist Sommer, abermals Sommer, doch nicht mehr dein Sommer, nicht mehr einer jener Sommer, du weißt schon. Als die Zukunft vibrierend überall bereit lag, man mußte nur zugreifen. Als es noch nicht schnell genug gehen konnte mit ihr. Als sie noch unendlich war und in dieser Unendlichkeit sich für jedes Unglück ein Trost, für jede Niederlage ein Sieg, für jeden Verlust ein anderer Reichtum finden ließ. Es würde alles, alles gut werden, lachte diese Zukunft, nach jedem schwierigen Stück Wegs ist immer noch genug von mir da für ein leichtes, für jede triste Zeit hab ich immer noch genug in mir für eine heitere, du kannst auf mich und zu jeder Zeit immer noch einen Tag hinzuzählen, der alles wieder wettmacht, aufhellt, überwindet, was dir an Argem zustoßen wird. Einmal hat dich ein Mädchen auf der Liegewiese angelächelt, und dann warst du zu schüchtern. Das beschäftigte dich eine Weile, aber dann machte es nichts. Es gab ja die Zukunft, und wofür du heute zu gehemmt warst, morgen würde es sicher klappen, wie überhaupt genug Zeit für alles war, um einmal einzutreffen und sich zu zeigen. Schüchtern sein, sich nicht trauen, es war nur die andere Seite der Stärke, die andere Seite von Mut, der Anfang vom Werden und Wachsen, über dich hinaus, so weit, bis du ein ganz anderer Mensch geworden sein würdest, der Mensch, der du immer sein wolltest, der Mensch, der du hättest werden sollen, der Mensch, der du ja eigentlich immer schon warst – in der Zukunft würdet ihr beide endlich eins werden, du und dieser Mensch. Wenn nicht morgen, dann nächstes Jahr, und dann würdest du, denn die Zukunft hielt so viele Wiederholungen bereit, wie du brauchtest, wieder hier liegen, das Mädchen würde dir zulächeln, und wie im Film deines eigenen Lebens würdest du dann aufstehen, zu dem Mädchen hingehen und ganz genau wissen, was du zusagen hättest, das Zauberwort.

Das warst du. Das war hier. Hier. Zwar war es auch andernorts, doch hier, hier hat es der Ort wie nirgendwo sonst aufgehoben. Und der Ort spiegelt es dir wieder zurück: als einen Betrug, dem du damals aufgesessen bist. Du kommst zurück in dieses alte Schwimmbad, in dein Lieblingsbad, das erste, das du, noch ganz neu in der Stadt, ausprobiertest, in das Bad, in dem du so oft verliebt warst oder vor Sehnsucht nach dem anderen, nach dem gänzlich fremden Glück schmachtetest, wo du im Hochgefühl des eigenen jungen Körpers, geschmeidig gemacht und aufgeladen durch Wasser, Bewegung und Sonnenhitze, einen ebenso glühenden, dir aber als etwas gänzlich Fremdes, als warmes, lebensechtes Anderssein begegnenden Leib imaginiertest (wie du und doch nur fast wie du), entwarfst und schmerzlich vermißtest (du mußtest immer wieder mit dem eigenen, vertrauten Leib vorlieb nehmen) – hierher also kommst du zurück, kehrst du wieder, als könntest du nochmal etwas von der damals prachtvollen Zukunft zurückhaben, jener Zukunft, die an die Stelle jeder Sehnsucht eine Erfüllung zu setzen versprach. Aber natürlich ist da nichts. Die jungen Frauen, diese fast unglaubhaft jungen Körper sind unerreichbar, und im Gegensatz zu damals werden sie es auch bleiben. Keine Zukunft wird daran mehr was ändern, keine Zeit verspricht dir noch was, und hier, hier ist die Zukunft, deine Zukunft, einmal verlorengegangen. Die jungen Männer am Dreimeterturm stehen wie Blinde gegen deren eigene Zukunft; nur schwer erkennst du dein damaliges Selbst in ihnen wieder, es ist, als wärst du auch in deinen Erinnerung plötzlich kurzsichtig geworden.

Damals, denkst du, während du dich ins Wasser läßt (sie haben das Becken erneuert, der Wasserspiegel ist jetzt ebenerdig, vormals ragte der Rand einen Kopf über den Schwimmern empor, eine Überlaufrinne säumte den Innenrand, man brauchte eine Leiter, um auszusteigen, das ist nach heutiger Sicht wohl zu gefährlich), damals, als alles Verheißung war, als ständig etwas in der Luft lag, als du dir sicher warst, bald, noch eher der Sommer vorbei wäre, würde etwas passiert sein, eine neue, frische Liebe, die Rothaarige aus dem Yukatekischseminar oder die Dunkle aus Theorien und Modelle, oder wieder eine andere, unbekannte, irgendeine, es wäre auf jeden Fall die richtige. Und dann passierte es tatsächlich. Die Versprechen der Zukunft gingen alle so sicher in Erfüllung, daß du dich nicht zu wundern brauchtest. Du erinnerst dich so genau, du weißt sogar noch, auf welcher Bahn du damals in welche Richtung schwammst, als dich dieses Gefühl größter Zuversicht und Ruhe durchströmte, zugleich dieses Gefühl, daß das Glück einfach sei und niemals ausbliebe, und daß dir nur geschehen würde, was dein rechtmäßiger Anteil sei, was dir billig zustehe.

Dieser Ort also, jetzt. Als bewegte man sich durch ein Photoalbum. Nur daß es das für die andern, die hier entweder jung sind oder mit diesem Schwimmbad durch eine Kontinuität verbunden, die sie niemals dem Ort entfremdet hat, nicht so ist, für die ist das alles hier primär, einzigartig, das unvergleichliche Original des Lebens, das einzige, was zählt, alles, was es gibt und, aus ihrer Sicht noch, überhaupt je geben wird. Noch keine Erinnerung gibt sich her für einen Vergleich. Und diese Wehmut, die dich von diesen Kacheln, den Hecken, den Rasenflächen, dem Vogelgezwitscher und dem Lichtgespiegel, den Brüsten der Mädchen und braunen Schultern der Jungs, dem Gejohle und dem Plonk! der Arschbomben, von diesem prallen, fröhlichen Leben her anspringt, die ist ganz deine, und nur deine, diese Unfähigkeit, in diesem Ort etwas anderes zu sehen als eine Kulisse vergangenen Lebens, einen Raum für deine Erinnerungen. Man kann ja den Erinnerungen nicht entkommen, ihrer schieren Menge und Anhäufung. Ein Spiegel, ganz wörtlich. In der Umkleidekabine schaut dir einer entgegen, den du kaum als dich selbst erkennen magst. Die Muskeln, die Schultern, der Mund scheinen dieselben zu sein, und doch, und doch. Da ist dieser stärkere Bart, da sind die Fältchen, da ist die kahle Stirn, vor allem aber dieser Schatten von gelebter Zeit in den Augen, die etwas kummervoll blicken und sich gleichzeitig der Lächerlichkeit eben dieses Blicks, seines kindischen Jammers, nur zu bewußt sind; aber für ironische Brechung, gar Sarkasmus, fehlt ihnen – der Mut? Die Kraft. Ja, die Kraft. Die Sicherheit, gewonnen zu haben, Sieger geblieben zu sein, bei allem, trotz allem, die fehlt ganz entschieden. Auf dem Gelände die Bäume, alter, dunkler Ahorn und schöne, schlanke Pappeln, stehen noch immer. Sie haben es leichter.

Du kannst diesen Ort so wenig erneuern wie diesen Leib, wie dieser trägt jener die Spuren von Leben und Erinnerung. Du kannst nicht so tun, als ließe sich hier oder mit diesem alternden Bündel aus Muskeln, Knochen, Organen und Blutgefäßen noch einmal ein neues Leben, etwas Frisches beginnen, etwas, das nicht schon vom eigenen Scheitern und Vergehen spricht, noch ehe es begonnen hat, nein: Es ist vorbei. Du kannst auch mit dieser Erinnerung nicht weiter kommen als nur zu noch einer weiteren Erinnerung, die über die erste hinwegsieht, und jede nächste Erinnerung wird von ihren Vorläuferinnen gesättigter sein. Schon das Erinnern ist ja ein anderes. Die Erfahrung färbt die Wahrnehmung, diese wird wiederum Erfahrung, eine Rekursion bis zur allerallerletzten Wahrnehmung, derjenigen, die keine Erinnerung mehr werden wird. Was jetzt aber noch kommt, ist mit dem Brot der Wehmut aufgebrockt, geschieht und vollzieht sich im Gefühl eines Rests, ist wie ein Besuch in eben diesem Freibad, ein Blick auf die ewig anders jungen Mädchenkörper. Die tausend Meter in kaltem Wasser sind anstrengend gewesen, sind fast zuviel gewesen, jetzt zitterst du am ganzen Körper, in den Ohren klingelt es. Das wäre dir früher nichts als Ansporn gewesen. Heute mußt du dich fragen, ob diese an Übelkeit grenzende Erschöpfung nicht schon ein Zeichen des Alters und des Abbaus ist. Und so geht es mit allem. Nicht: Wohin jetzt? Sondern: Wie lange noch. Der Ort sagt: Früher, als du noch oft hierher kamst, hattest du gar keinen Ehrgeiz. Den brauchtest du ja auch gar nicht zu haben. Heute, sagt der Ort, bist du in einem Alter, wo du dir etwas beweisen mußt. Also finde dich ab, daß du schwindest – oder beweise halt.

Beides aber, das weißt du, ist gleich schlimm. Das Wenigerwerden wegen des Wenigerwerdens; und das Beweisen, weil es lächerlich ist, und weil du so einer nie hast sein wollen. So einer. Einer von denen. Einer von den Mittvierzigern, die plötzlich die Krise kriegen und mit dem Bungeespringen anfangen oder mit dem Marathonlauf. Die „es noch einmal wissen wollen“. Warum haben manche Jugendliche eine Todessehnsucht in sich? Weil sie „so einer“ nie werden, weil sie genau an diesen Punkt niemals kommen wollen (im Gegensatz zu dir ist es ihnen aber tödlich ernst damit), an den Punkt, wo sie ihr altes Freibad nach Jahren ephemeren Lebens noch einmal aufsuchen und sich an den tausend Metern abkämpfen in der Illusion, den jungen Leuten vielleicht noch was vormachen zu können. Noch, noch, noch. Und irgendwann nicht mehr. Die innere Sicherheit, nur wollen zu müssen, dann ließe sich alles erreichen, jederzeit: vorbei, längst vorbei. Die Pappeln rauschen, Füße klatschen über Beton und Gras, die Jungen stoßen einander ins Wasser, Gekreisch und Gejohle. Sie werden es auch in zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren noch tun, immer dieselben jungen Körper. Was du aber jetzt noch erreichen kannst, ist weniger ein Ergebnis deines Wollens, als vielmehr ein gänzlich zufälliges Zustandekommen, ein Geschenk, das schwindende, jederzeit aufkündbare Almosen der Zeit.

Mitnotiert

Sechs Uhr früh, noch dunkel jetzt. Nach Westen die Bäume, still unter den Laternen, darüber der Vorgebirgshang, der schieferblaue Himmel. Alles ist Schiefer zu dieser Stunde. Der Tau auf den Mülltonnen, die dunklen Fensterscheiben, der Straßenasphalt, selbst der Gingko hat Blätter aus Schiefer.

Im Osten über der Bahnlinie ein rostiger Balken Helligkeit, der sich später, beim Ersteigen des Hangs, zu einem rosaroten Wulst ausweitet, der bläulichen Dunst darunter von bläulichem Dunst darüber abtrennt. Der Sommer tauscht Amseln gegen Fledermäuse. Wie alte Damen im Theater haben sich die Bäume am Wegesrand niedergelassen. Fächer schwingen, Seide raschelt, Blüten erlöschen wie Lampen. Man läuft wie eine Sinnestäuschung an den Zäunen entlang. Die Sonne wird noch eine Stunde brauchen.

Ich denke über Sinn und Sinnlosigkeit nach, besonders über letztere. Warum quäle ich mich hier den Berg hoch, was fange ich mit meiner Fitneß, die ohnehin höchst relativ ist, an, dient sie mir zu etwas, wenn ja, zu was, zu Stolz? Zum Wohlfühlen in diesem Körper? Es ist sowieso alles nur Aufschub, der Stolz wird sich bald nur noch auf die Vergangenheit richten, und das Wohlfühlen wird seine Grenze in der Grenze nachlassender Leistungsfähigkeit noch kennenlernen. Es fühlt sich nicht falsch an, was ich hier tue, noch nicht, aber sinnlos. Es zielt nirgendwo hin, es hat nur präventiven Charakter. Aber was will ich verhüten? Das Alter? Kann man nicht. Muß ich mir Ziele suchen, um die Illusion aufrechtzuerhalten, es gehe vorwärts? Den 50-km-Lauf etwa? Oder den Two-Oceans-Run, oder ein Jahr lang jeden Sonntag Marathon? Tatsache ist, daß weder die Prävention mir zu Sinn und Motivation taugt, noch der überschießende Ehrgeiz der Mittlebenskrise für mich als Rollenmodell taugt. Dieses letzte Aufgebot, daß so viele Männer meines Alters praktizieren, habe ich schon immer lächerlich gefunden. Zwar verstehe ich jetzt, wie man darauf verfallen kann, aber es wird in meinen Augen dadurch nicht weniger lächerlich. Es ist so albern, daß ich mich fast schäme, wenn ich die Laufschuhe anziehe. Man könnte das mißverstehen, wie man mir schon vor Jahren mitteilte. Es gebe viele Männer, gerade meines Alters, die plötzlich anfingen, das Extreme zu suchen. Verdammt, ich selbst könnte das mißverstehen, wenn ich meine Laufschuhe schnüre. In solchen Momenten ekelt mich beinahe vor mir selbst.

Warum empfindet ein junger Mensch diese Sinnlosigkeit nicht? Auch er wird alt und klapprig werden, auch seine 100-Meter-in-9-Sekunden werden absolut nichts mehr wert sein, wenn es in die Grube geht. Und in die geht es mit ihm wie mit mir. Warum kommen ihm seine Strampeleien dann nicht auch schon sinnlos vor? Was sind ein paar Jahrzehnte mehr, bitteschön? Ist es die vermeintliche Offenheit seiner Zukunft? Während die meine sich zu schließen beginnt: aber das ist eine Illusion. Geschlossen ist die Zukunft für jeden Menschen, vom Moment seiner Zeugung an. Allein das Wort Lebenserwartung legt das nahe. Trotzdem leben wir fröhlich drauflos, mit unserer Erwartung, wenn wir sechzehn oder zwanzig sind, als wären 85 Jahre die Unendlichkeit.

Ich muß an Oscar Wildes Bonmot denken, daß es höchst ungerecht von der Natur sei, daß sie die Jugend an Kinder verschwende. Recht so! Wieviel mehr als die Jugendlichen von heute wüßte ich mit der Jugend anzufangen! Anders als Oscar Wilde meine ich das völlig ernst. Die Jugend sollte man sich erst mal verdienen müssen. Dieses Leben ist ungerecht, von Anfang bis Ende. Besonders am Ende.

Später die Sonne, scharf abgezeichnet, ein Auge ohne innere Struktur, böses Leuchten, unentrinnbarer Blick, wie die Ankündigung einer nahenden Katastrophe schwebt sie über der ahnungslos-geschäftigen Ebene.

Kein Entkommen

Und wieder die Traurigkeit, ich finde sie in der Heimatlosigkeit von Heimen, in der Uferlosigkeit von Ufern, in der Pflichtgemäßheit des Sommergrüns, im feuchten Gewicht der Erde, in der Zutraulichkeit von Hunden, in der Dienstfertigkeit bedruckten Papiers. Ich wache auf mit der Traurigkeit von Fliegen, die über die Fensterscheiben krabbeln, und ich bin traurig, wenn abends eine Motte gegen die Straßenlaterne stäubt. Es ist, als strengte sich die belebte wie die unbelebte Natur zu sehr an. Ich habe Mitleid mit ihr, mit dem Licht vorm Gewitter, dem springenden Springkraut, dem Schlamm unterm Schlamm, den einsamen Spinnen unter der Zimmerdecke. Ich habe Mitleid mit dem Schrank, der so viel Dunkelheit und Staub enthält und immer nur zuhören muß, wenn Leute im Zimmer reden. Die Türen scheinen aufzuatmen, wenn endlich alle gegangen sind. Ich möchte den Dingen zurufen, laßt gut sein. Aber die Dinge machen einfach immer weiter. Sie schuften an ihrer Existenz und erschöpfen sich.

Mitleid mit Menschen, die sich selbst nicht kennen, die stumm leiden wie Tiere, die nicht wissen, warum sie leiden. Mitleid mit der naiven Freude dieses Menschen, ihrem kindlichen Entzücken über eine Kleinigkeit. Es sind die Kleinigkeiten, die so leicht zu zerstören, zu zertrampeln sind, die so leicht vergessen werden, liegenbleiben. Und man täuscht sich so leicht in ihnen. Vor Jahren einmal erlebt, wie eine, die ich gut kannte, ganz närrisch war über ein froschgrünes, pummeliges Telephon, das sie sich gekauft hatte. Ich sah sie strahlen und dachte, es ist doch nur ein Telephon, und dieser Gedanke war wie flüchtiges Pech in der Brust, eine verstörende Traurigkeit, wie wenn ein Kind sich in das häßlichste Stofftier der Sammlung verliebt. Aber vielleicht wäre ich noch trauriger, verliebte es sich in das schönste: Es gibt vor der Traurigkeit kein Entkommen.

Ich muß mir Widerstände suchen, um die Traurigkeit eine Weile in Schach zu halten. Der Aufbruch ist schwer, manchmal glaube ich, er gelingt nur kraft der Routine. Ich gehe laufen, weil man das halt so macht, weil ich das seit Jahrzehnten so mache, weil ich nicht mehr weiß, wie Nichtlaufen geht. Und weil ich vor dem weißen Papier fliehe, natürlich, vor dem Beweis meiner Mittelmäßigkeit. Manchmal wünsche ich mir den Abend herbei, noch bevor ich aufgestanden bin, sehne mich nach diesem wunderbaren Gefühl, morgen sehen wir weiter, morgen wird alles gut. Aber immer ist es schon morgen, und alles ist so wie sonst und nicht gut.

Ich liege in einem fremden Haus, mit dem Kopf auf Höhe des Regens, der auf die Dachpappe rauscht, der Fensterrahmen ist seltsam, als zweifle er über sich selbst, der Mond, wenn er schiene, wäre fremd, der Winkel falsch, wie in einem Fiebertraum, ich höre die, für die ich Mitleid habe, ohne daß sie oder ich wüßten, warum, atmen. Ihre schlafenden, ruhigen Atemzüge, es ist das einzige, was hier nicht fremd ist, es ist mir so vertraut wie die Traurigkeit, es ist selber traurig. Es regnet und regnet, und ich bin so lange schlaflos, bis mich der eigene Herzschlag wundert und endlich auch die eigenen Atemzüge mir fremd werden, wie etwas, das eigentlich ganz anders sein sollte als es ist.

Turris eburnea

Ich rege mich nicht mehr auf, nehme ich mir vor, ehe ich loslaufe, und dann rege ich mich doch wieder auf. Diskussionen mit imaginären Gegnern, auf deren Einwände ich antworte, bis mir der Atem wegbleibt. Es kommt vor, daß ich dabei mit den Armen fuchtele; manchmal spreche ich laut aus, was ich in Gedanken formuliere. Wer mich so sähe, vor mich hin murmelnd, mit den Armen wedelnd, in Laufklamotten, glaubte, einen Wahnsinnigen vor sich zu haben, und vielleicht läge er mit dieser Vermutung gar nicht so falsch.

Anlässe für solche inneren Kämpfe gibt es viele. Der Grund aber ist eine innere Verteidigungsbereitschaft, die sich dem ständigen Gefühl einer Bedrohung verdankt. Meine Lebenswelt ist in Gefahr, so empfinde ich es seit Jahren, oder es wird bereits an ihrer Vernichtung gearbeitet, was mir teuer, ja, heilig ist, wird beschmutzt, der Lächerlichkeit preisgegeben, gering geschätzt, und droht, alsbald vielleicht ganz zu verschwinden. Das Wort Elfenbeinturm wird im allgemeinen nicht positiv verwendet. Mir aber ist der Elfenbeinturm heilig. Von der kulturellen Überformung des Gefühls der Angst in den Epen Homers über die Fermatsche Vermutung und das Modussystem des Lateinischen zur nichtlinearen Phonologie und über formale Semantik, Maya-Epigraphik und Modallogik wieder zurück: Diesen Dingen habe ich entweder mein Leben dargebracht oder würde es wieder tun, wenn ich nochmal die Wahl hätte. Mein ganzes Leben! Und dann kommt jemand, der von dieser Faszination so wenig begreift wie eine Ameise von doppelter Buchhaltung, und zückt den Rotstift. Ich könnte manchmal einfach ausrasten. Das fühlt sich an, als würde man selber ausradiert.

Als ich vor Jahren einmal mit Freunden am Mittagstisch über die Abwicklung des sprachwissenschaftlichen Instituts einer benachbarten Universität sprach – Bücher landeten der Einfachheit halber auf dem Müll –, schaute mich einer an, der mich gut kennt und schlug vor, wir sollten über was anderes reden, „Für dich ist das richtig schlimm, was?“

Hilflosigkeit, bis zu Tränen. Welcher Mächtige vertritt meine Sache? Wer streitet für den Geist und wider die tödliche Logik der Verwertbarkeit? Nützlichkeit ist banal und geistlos. Nützlich kann jeder. Wer aber verteidigt die Elfenbeintürme, die wilden Gärten, die dicken, schwierigen, unhandlichen Bücher, die selten gebrauchten Wörter, die selten gedachten Gedanken? Wem ist das Gute, Wahre, Schöne mehr als nur ein billig zu habendes Zitat? Und wer holt diesen Wert wieder in den Alltag zurück, ins Zentrum der Gesellschaft, einer Gesellschaft, die so reich ist, daß sie Geld kotzt, und sich allemal mehr leisten könnte als einen Flachbildschirm und die neueste Flatrate.

Wieviele Lehrstühle für Indogermanistik oder Altgriechische Philologie hätte man mit den Geldern finanzieren können, die zur Rettung notleidender Banken lockergemacht wurden? Stattdessen: die Indologie in Köln. Abgewickelt. Der einzige Lehrstuhl für dieses Fach weit und breit. Niemand hat je von notleidenden Indologen gesprochen.

Oder daß niemand sieht, daß wir uns selbst abschaffen, wenn wir nicht jetzt Halt! rufen. Macht euch doch nichts vor, fuchtele ich auf dem Feldweg, daß die Pferde zusammenzucken, ihr braucht ein Schicksal, ihr braucht das Scheitern, ihr braucht Widerstände, Sorgen und Nöte, sonst seid ihr keine Menschen mehr. Was wollt ihr denn den ganzen Tag beginnen, wenn es nichts gibt, wofür ihr unentbehrlich seid? Wenn der Mensch nicht mehr unentbehrlich ist, was ist er dann? Ganz genau. Aber die Liebe! ruft jemand. Die Kunst! Nee, Leute. Schon jetzt gibt es Algorithmen, die Bach-Choräle schreiben, vierstimmiger Satz, die ununterscheidbar von echten Chorälen sind. Über 5000 am Tag. Bald könnten Rechner unsere Romane schreiben. Bald könnten Maschinen und Avatare auch das Liebesbedürfnis besser (und harmonischer) befriedigen als jeder von einer Frau geborene Mensch. Fühlt sich gut an? Dann weiter so. Dann nur immer weiter. Vorwärts Marsch.

Und dann faselt schon wieder jemand was vom rapiden Wandel, an den man sich anzupassen habe. Fehlt noch, daß das Haßwort von der schnellebigen Welt (ja, das schreibt man mit nur zwei l) in den Mund genommen wird. Als bräche der Wandel über uns herein wie weiland der Asteroid über die Dinosaurier! Als wäre der Wandel nicht gewollt! Aber das sagt man nie dazu, nie. Denn wenn sich das mal in die Köpfen eindränge, dann stünde man ja plötzlich vor der Wahl, ob man den überhaupt will, den Wandel. Hilfe! Und dann? – Der Wandel, das waren für mich immer andere. Ich wollte den nicht. Ich wollte das Netz nicht. Ich wollte nicht einmal Computer. Ich war immer zufrieden mit dem, was vorhanden war. Nicht, daß nichts gefehlt hätte; aber was ich noch gern gehabt hätte, hätte kein technischer Fortschritt, hätte kein Computer, hätte kein Wandel mir zu verschaffen gewußt.

Auf der Wiese bei Sonnenaufgang die Rinder. Dreißig, vierzig Tiere, wie von einem Kind zerworfene Schachfiguren über die Weide verstreut. Blitzsaubere Tiere, kauend und blinzelnd, aufmerksame, doch lässig in sich ruhende Geschöpfe, das eigene Dasein so intensiv für selbstverständlich haltend wie den Sonnenaufgang, das Glänzen auf den Halmen, den Geschmack des Grases, den seltsamen Jogger, der fuchtelnd und rufend vorbeiläuft. Denen muß ich nichts erklären, die nehmen mich hin. Ich hätte mich gerne einfach dazugelegt, den Kopf auf der warmen Flanke einer Kuh abgelegt, ihren Kräuterduft in der Nase, stumm und wortlos, hätte mir die salzige Hand lecken lassen und keinen einzigen Gedanken gehabt, der größer wäre, als diese Wiese reicht.

Lauf ohne Gelehrten

Später am Tag ein Lauf im Zickzack den Villehang hinauf und hinunter. Drei Tropfen besprenkeln mich aus der einen Seite, aus der anderen schlägt mir die Sonne ins Gesicht. Ein merkwürdiges Licht, denke ich, bis ich begreife, es ist nicht das Wetter, als hätte jemand den Himmel zu stark geschüttelt und dann entkorkt, es ist die Tageszeit, wann bin ich denn schon am Nachmittag unterwegs, im Sommer zumal? Zeit kurzer Schatten, flinker Vögel, lauten Verkehrs.

So ein Wetter gibt es meines Wissens nur hier, wo von Luv schweres Gewölk unter Zäunen durchkriecht und in Lee die Sonne den Kopf in einen Viehtrog steckt. Raben wie Ascheflocken, dampfende Pferdeäppel, die Erde unter den Brombeeren knochentrocken.

Das Denken nicht abstellen können, niemals. Beinahe immer, wenn es um das Erleben geht, flüstert mir wieder der Zeitdämon den Schädel voll. Seltener jetzt, wie der Gedanke an einen frischen Toten mit der Zeit größere und größere Pausen macht, aber bei bestimmten Anlässen, zack! ist er wieder da. Alleine und aufs Erleben selbst zurückgeworfen, stellt er sich zuverlässig ein, ein fester Bestandteil des Metaerlebens, keine Innenschau mehr ohne den Gedanken, daß es nur einen einzigen Zeitpfeil gibt, und daß Erleben eigentlich nicht möglich ist. Sind schon Leute verrückt geworden über so etwas.

Ich brauche zum Laufen immer zwei Hemden, egal wie heiß es ist. Ein enges, das sich ohne zu reiben an die Haut schmiegt und den Schweiß aufsaugt; und ein weiteres, das gegen Zugluft schützt. Ich gehöre zu den Läufern mit empfindlichen Brustwarzen, wenn ich die im Sommer nicht schütze, tun sie mir nach dem Laufen zwölf Stunden weh.

Natürlich wieder Fahrzeuge, ein Kampfpanzer, für den der Feldweg eigentlich zu schmal ist. Ich brauche nur ein Fünftel des Raums, aber wer ausweicht, das bin wieder ich. Später noch eine Mofafahrerin, zieht eine Schleppe aus Abgas und Parfum hinter sich her. Keine Mountainbiker, immerhin, und die verhaßten E-Biker sind wahrscheinlich alle am Rhein unten.

Der Gedanke dieser Tage, daß ich vielleicht nirgends mehr ankommen muß. Vielleicht bin ich längst da? Dann bliebe nur noch, zu leben.

Das Bedauern, allenfalls, daß ich kein Gelehrter geworden bin.

Die Welt ist nicht so bescheuert

Neulich habe ich angesichts des ZEIT-Artikels über Trans- und Bisexualität gedacht, daß viele Aufreger, die mich eine Menge Nerven kosten, nur scheinbar weit verbreitete Phänomene sind. Weit verbreitet sind sie vor allem an einem Ort: im Netz. Wäre ich nicht ständig dort (oder gar nicht mehr), dann wäre nicht einmal die gendergerechte Sprache mehr als ein diffuses Gerücht von sehr weit her. Die meisten Texte, die mir außerhalb des Netzes begegnen, von der Zeitung übers Radio bis zur Belletristik, sind noch von keiner Moralmode geknechtet und weithin ungegendert. Von anderen Möglichkeiten als entweder Mann oder Weib zu sein, hätte ich zwar gehört, der Streit um gemeinsame Toiletten für Frauen und Männer würde mich aber nicht weiter jucken. Vom Kampfbegriff der kulturellen Aneignung (cultural appropriation – wenn Sie’s nicht kennen, seien Sie froh, Sie haben nichts Wesentliches verpaßt) hätte ich vielleicht einmal kurz im Radio vernommen, dürfte aber ansonsten ohne schlechtes Gewissen (oder schlechte Laune) Jazz hören oder Dvořaks Symphonie aus der neuen Welt. Die neuesten Ernährungsverrücktheiten sieht man zwar leider im Supermarkt – kann sie dort aber einfacher ignorieren, als wenn sie mir der Feedreader auf den Bildschirm bläst. Das Netz tut mir nicht gut, auch in diesem Punkt nicht. Da argumentiert wieder einer für das große Binnen-i? Muß ich lesen! Da fällt wieder einmal jemand der Statistik des Durchschnittseinkommens von Frauen und Männern zum Opfer? Gleich mal anklicken! Da klagt wieder einer sexistische Werbung an? Will ich sehen! Da behauptet einer, wer sich die Replica eines Moai in den Vorgarten stelle, beweise nicht nur schlechten Geschmack, sondern mache sich des Kulturraubs schuldig? Muß ich mehr darüber wissen! Undsoweiter. Der Theorie von der Filterblase zum Trotz gibt es einen Drang im Menschen, der ihn unwiderstehlich zu gerade den Dingen zieht, die ihm befremdlich scheinen und ihm ein Ärger sind, gerade zu den Dingen, über die er sich am meisten aufzuregen geneigt ist. Als gäbe es dabei irgendeinen Genuß. Eine Bestätigung: Die Welt ist wirklich so bescheuert wie ich immer dachte, da habt ihr’s! Im Netz aber ergibt sich ein schiefes Bild. Da alles gleich schnell und gleich leicht verfügbar ist, scheint die Welt von ärgerlichen Erscheinungen nur so zu wimmeln, Erscheinungen, die bei näherem Betrachten, nämlich offline, so marginal sind, daß sie praktisch verschwinden. Ich muß lernen, besser auszuwählen, womit ich mich im Netz befassen will. Warum mußte ich jetzt beispielsweise diesem dämlichen vong auf die Spur gehen? Eine überflüssige Auskunft, nicht einmal amüsant war’s. Was hat das mir jetzt gebracht? Oder daß ich weiß, was lolcats sind? Ich wollte, ich könnte dieses Wissen einfach wieder aus meinem Kopf streichen. Weil es ärgerlich ist und überflüssig, und weil ich schlechte Laune bekomme, wenn ich nur daran denke. Aber der Mensch fühlt sich nicht nur zu Ärgerlichem hingezogen – er merkt es sich leider auch besser.

Eine Anmutung von Fremdheit

Als wäre das Laufen nicht mehr dieselbe Tätigkeit, als hätte sich, was ich als Laufen bezeichnete, wenn ich es tat, klammheimlich aus der Hülle des so Bezeichneten entfernt. Zu sagen, es ist nicht mehr dasselbe, trifft diese Verwandlung nicht, denn ich weiß nicht mehr, wie es vorher war. Es ist, als sei ein Schleier zwischen mein Laufen heute und mein Laufen vor, sagen wir, zehn Jahren getreten.

Es geht mir noch mit anderen Tätigkeiten so. Sie fühlen sich auf unheimliche Weise fremd an, oder ich selbst als Erlebender und Handelnder fühle mich in ihnen fremd an, als sei meiner Aufmerksamkeit ein weiterer Zuschauer gewachsen, unter dessen Augen und im Bewußtsein seines Zuschauens mir das Vertraute zu etwas sanftmütig Fremdem gerät. Selbst Küsse. Selbst das Liebesspiel. Selbst das Vertrauteste bekommt in diesem Argwohn die Anmutung von etwas Fremdartigem. Bin ich sicher, daß ich immer schon so umarmt, so geküßt habe? Ich weiß, was ich tue, ich fühle, was ich vermeintlich immer gefühlt habe. Aber plötzlich schiebt sich der zarte Schleier einer Unsicherheit zwischen mich und das Erleben. Es ist, als probierte ich den Geschmack von Dingen, die ich seit sehr langer Zeit entbehrt habe. Das merkwürdige aber ist, ich habe nichts entbehrt, es gibt ein Kontinuum ohne Brüche. Ich habe nie mit dem Laufen aufgehört, und auch mit der Liebe nicht, zum Glück.

Es ist etwas ungeheuer Plausibles in den Dingen, die wiederkehren. Plausibel und überraschend zugleich. Wenn überhaupt etwas, dann sind es die Gerüche und Geräusche der Jahreszeiten, die Textur eines bestimmten Frühlings- oder Herbstmorgens, die Dichte der Luft, die Transparenz des Raums, der Glocken, die darin schlagen, das geringste Gewicht des Lichts auf einer Anemone, die jenseits jeden Zweifels wahr sind, uralt und unveränderlich jung in ihrem Wiederauftreten. Spürt man, wie man alt wird, an ihrem Jungbleiben? Die Jahreszeiten werden nicht mit uns alt, mit niemandem.

Insofern ist jedes Erlebnis eines Frühlings, diese plötzliche Haupterhebung, daß man in der Frühe aus dem Haus tritt und sich wie gesalbt fühlen darf von der über Nacht geheiligten Luft, der Verweis auf alle Frühlinge, die man zuvor erlebt hat, und dadurch, daß so ein Morgen als etwas Bekanntes, als etwas, das man schon einmal erlebt hat, in Erscheinung tritt, und zwar als ganz genau dieselbe Erscheinung, gibt sie mir das Bewußtsein meines Alterns ein. Ich erinnere mich ja. Der Frühling ist neu und unverändert. Aber indem ich mich erinnere, daß genau der gleiche Frühling schon einmal war, ja, indem er mir überhaupt als etwas Bekanntes begegnen kann, fühle ich meine eigene Bewegung durch die Zeit.

Vielleicht ist es ein verändertes Bewußtsein von den Dingen, für die Dinge, für mein selbst in der Begegnung mit den Dingen. Eine Schärfung, nicht der Wahrnehmung selbst, sondern der Selbstwahrnehmung. Ein Argwohn gegenüber dem allzu Selbstverständlichen. Noch ist mein Laufen selbstverständlich, das Musikhören, das Betrachten einer Waldlandschaft, der Geruch geschlagenen Holzes, Stuhlgang, das Gefühl von feuchter Kiefernborke, Fieber, ein Weinrausch; aber es ist nicht mehr selbstverständlich, daß es selbstverständlich ist; daß es selbstverständlich so ist. Plötzlich könnte es auch anders sein. Plötzlich könnte es früher ganz anders gewesen sein als jetzt. Ich erinnere mich; aber die Erinnerung enthält nur Bilder, die zu allem passen, was ich jetzt erlebe. Die Erinnerung enthält ja nur Dinge, die man nicht mehr erleben kann, man kann nur die Erinnerung erleben. Nie kann ich in einen Lauf von vor fünfzehn Jahren zurückkehren, oder in eine vergangene Liebesnacht. Das Schöne an einem Frühlingsmorgen aber ist vielleicht, daß er selbst keinerlei Erinnerung hat an all die anderen Frühlinge vor ihm, die nur wir in ihm wiederfinden.

Die Dinge behaupten sich

Ich schaue mir schräge Dinge an. Der Drehschalter am Elektroherd, damit fängt es an. Eine Bewegung, eine Haltung, die auf andere Dinge abstrahlt, von ihnen aufgenommen, weitergegeben, variiert wird. Ein paar Küchenhandschuhe, schräg an ihrem Haken, leer wie verschmähte Kollektebeutel. Ein abgeleckter Löffel, schräg neben der Tasse. Eine Möhre auf dem Schneidbrett. Eine sich neigende Hyazinthe, wie ein müdes Kind, die Stirn auf dem Tisch.

Alles, was ist, denke ich. Alles, was ist. Reflexe, Schattierungen, Schatten. Tiefen und Flächen, Oberflächen. Dinge, die sich in der Welt behaupten, einfach so, mühelos, so selbstverständlich, daß es mich vor ihnen in Frage stellt. Ich bin kein Ding, ich denke, ich denke zuviel. Ich bin Empfindung, Schmerz, Sorge, Einsamkeit. Ich bin Verschwinden. Weniger als ein Tier.

Wie die Dinge sich neigen, die aufgehängten Löffel, Kartoffelstampfer, Pfannenwender, war da nicht schon ein Rutschen im Gewürzregal, auf dem Tisch, die Teller, Tassen, als kränge das Zimmer wie ein Schiff, nicht nur das Zimmer, das Haus, und alles, als hörte jetzt jede bekannte Ordnung auf, um durch eine völlig neue, aberwitzige, unbegreifliche Unordnung ersetzt zu werden.

Zeit und Maß. Das Ticken der Uhr, das Grollen des Kühlschranks. Autos auf der Straße, An- und Abschwellen von Geräusch. Räume, ausgedehnt hinterm Fenster, so riesig und unabmeßbar, daß man sagen kann, das ist alles, das enthält alles, was es gibt. Nacht, aus der Tag wird, und wieder Nacht, ich bin Verschwinden und Haltlosigkeit, und alles, was gut und sicher wäre, jeder Halt, jeder Trost, ist unerreichbar, in mir nicht zu erreichen und außer mir auch nicht.

Devon

Beim Wandern habe ich einmal am Ackerrand einen merkwürdigen Stein gefunden. Etwa honigmelonengroß, wog er gut seine zehn bis zwölf Pfund und hatte die Form einer riesigen Kartoffel. Er war von schmutzigroter bis graubrauner Farbe, wies keine Bruchkanten auf, war aber auch nicht glattgeschliffen, und zeigte auf der Oberfläche zahlreiche Narben und Grübchen, die sich bei näherm Besehen als Versteinerungen münzgroßer Muscheln und Schnecken herausstellten. Es war Winter, Wind tobte übers Feld, Schneegraupel fanden keinen Halt auf den frisch gebrochenen Schollen. Ich las den Stein mit vor Kälte fühllosen Fingern auf, reinigte ihn von Schneematsch und Erde und legte ihn in meinen Rucksack. Ich trug ihn noch fünfzehn Kilometer nach Hause, wo er seitdem die Badezimmerfliesen ziert.

Was ich noch weiß von dieser Wanderung: Einem nicht mehr gepflegten Weg folgen, an Viehweiden auskommen, unter einem Weidezaun durchkriechen, dabei die Hand auf einen Brennesselschößling stützen, eine Erinnerung, die noch tagelang schmerzt. Neue Wege durch abgelegene Landstriche, ein Landgraben, ein Wacholderschutzgebiet; mit steifen Fingern eine Brotrinde halten, da hat der Wind nachgelassen. Auf einem neuen Weg in eine alte Stadt. Worte, die ich wie einen Mantel über mich werfe. Beim Nachhausekommen das glückhafte Gefühl, etwas Schönem begegnet zu sein, eine Gnade des Landes selbst erfahren zu haben. Wie Wind, der noch im Innern weiterbraust. Der Stein machte ein hohles Geräusch, als ich ihn im Bad auf den Boden legte.

Koniferenzapfen; knospende Zweige; Pilze und Beeren; Häherfedern. Meistens ist aber das, was ich vom Wandern mitnehme, ein Stein. Ein kleines Schieferstückchen vielleicht, schwarz wie Gagat. Oder ein Stück Basalt, den eine Quarzspur durchzieht. Oder einen symmetrischen Kiesel, der mir in der Dämmerung als irgendwie leuchtend in die Augen fällt. Solche Funde trage ich Monate mit mir herum, in jeder Jacke habe ich mindestens einen. Wenn ich nichts zu tun habe, etwa auf eine Straßenbahn warte, spiele ich damit herum. Mit der Zeit werden die Steine ganz abgegriffen und glänzend. Dann sind sie irgendwann mehr als nur ein Stein. Stecke ich die Hand in die Tasche, ist mir der Stein sofort vertraut. Ich weiß immer genau, welchen ich wo gefunden habe.

Ein Gegenstand, der so langsam altert, daß er als Anker im Strom der Zeit dienen kann. Eine Fadenbindung der übereinander fallenden Augenblicke, die Stelle, die alles zusammenhält, über die eigene Existenz hinaus, aus dem Devon übers Erdmittelalter bis zur Erdneuzeit, mein eigenes Daseinsblinken ebenso verklammernd wie die unendliche Zukunft. So langsam, so sehr in sich selbst ruhend, so sehr sich selbst gleichend von Augenblick zu Augenblick, daß die Zeit ihn aus sich fallen läßt.

Ich starre auf ein Mosaik aus Herbstblättern. Gelb an Rot an Braun. Kältesteife Finger halten ein Würstchen, ein Stück Brot. Ich kaue, es schmeckt nicht. Ich müßte die Nase putzen, lasse den Rotz über die Lippe laufen. Und starre aufs Laub. Hier, und jetzt, und hier, und irgendeinmal. Ich saß hier mal mit einem Freund und beschwerte mich über das Geklingel aus fremden Kopfhörern. Es war ein froher Sommertag, und statt Jetztpunkten gab es Erleben. Ströme. Erinnerungen.
Elstern schimpfen in entlaubten Espen. Vom parallelen Pfad jenseits des Baches klingen Stimmen herüber. Die Strukturen des Laubs brennen sich auf der Netzhaut fest. Die Elstern schweigen wieder, sind bereits Vergangenheit, während sie im Kopf noch nachzuhallen scheinen, wie das Nachbild des Laubs, Vergangenheit genauso wie das Gespräch mit dem Freund, wie die Stimmen am Bach, die eben verstummt sind, wie alles, was nicht jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
Ist.
Und nicht mehr ist.

Wenn ich wandere, versuche ich, zurückzukehren, in ein Haus aus Bildern und Luft. Ich sehne mich nach Orten, aber wenn ich dort bin, sind die Orte nicht mehr da. Ort und Zeit scheinen verschränkt, eins so unerreichbar wie das andere. Nur das Jetzt, da müßte man zu Hause sein, heimisch werden im Flug, im freien Fall. Oder in den Erinnerungen.

Als könnte man sich noch und noch in den Bildern der eigenen Geschichte aufhalten. Es gelingt nicht. Ich bin weder hier ganz, noch woanders. Ich fasse den Stein in meiner Jackentasche fester, und bin in einem seltsamen Raum, indem ich mir dabei zusehe, wie ich den Rotz hochziehe und auf ein Mosaik von Herbstblättern starre.

6:39

Das erste, was ich beim Wachwerden denke: Ich habe keine Lust. Nach einer kalten Nacht verspricht der Tag sonnig und warm zu werden. Man könnte wandern, ja, müßte man es nicht geradezu? Spazierengehen, wenigstens, auf einer Bank in der Sonne sitzen, zum Fluß gehen, ein Eis essen, den Fuß auf Kastanien setzen. Ins Gebirge fahren. Lange wegbleiben. Draußen schlafen.

Halb sieben, und dieser ganze riesige Tag ist jetzt schon eine einzige Überforderung an Möglichkeiten. Ich habe keine Lust. Ich habe keine Lust, aufzustehen. Ich habe auch keine Lust, liegenzubleiben. Das einzige, wozu ich Lust habe, ist, alles, worauf ich je Lust gehabt habe, bereits geschafft zu haben. Dann müßte ich ich es nicht mehr tun, weder jetzt noch später.

Stillen (1)

Wie ein Gestrüpp fühlt sich an, was sich in all den Jahren, seit mir das Schreiben zur Gewohnheit geworden, an Worten angesammelt hat. Nichts davon verschwindet ja wieder, jedes einzelne Wort, jedes Syntagma, jede Kongruenz, jede flektivische Konstruktion bleibt bewahrt. Und nicht nur bleibt sie bewahrt, bleibt sie als Gedächtnis auf Festplatten, CDs, Flashspeichern oder Servern, auf Briefpapier, in Kladden und unzähligen Notizzetteln: Ich kann den Rechner ausschalten, die Kladden schließen, die Zettel wegsperren, jedes Stück Papier in Schubladen verschwinden lassen: Die Worte bleiben da. Sie bleiben in mir. Schlimmer noch: Sie enthalten immer schon weitere Wörter als projizierte Möglichkeiten, junge Triebe am äußersten Rand des Wurzelfilzes. Warum überhaupt schreiben? Sollte ich nicht lieber etwas anderes tun? Ich habe das Gefühl, zu ersticken an all den Wörtern. Und mit jedem Wort, das ich schreibe, wird alles noch schlimmer. Ich fühle mich überwuchert, umwachsen von Gestrüpp, das mich lähmt, und mit jedem Wort verheddere ich mich noch heilloser. Ich gehe spazieren und formuliere. Ich sitze auf der Kloschüssel und wende Worte. Noch beim Einschlafen kann ich es nicht lassen, gibt es keine Stille, keine Freiheit von Wörtern. Keine Freiheit von Zeichen.
Es wird immer so weitergehen. Noch mehr und noch mehr Wörter. Manchmal verspüre ich den Impuls, das Gestrüpp mit Stumpf und Stiel auszurotten.
Ich sehne mich nach einem weißen Blatt.
Nach einem weichen, schwarzen Bleistift.
Ich sehne mich danach, Blatt und Bleistift zu betrachten: Wie der Schatten der Maisonne vom Stift schräg einen Schatten aufs Papier zieht; wie das Papier im flachen Licht rauh erscheint, wie mit feinem Salz besprenkelt; wie der Schatten um den Stift herumgleitet, während die geschärfte Graphitspitze aufschimmert, wieder erlischt. Die winzigen Holzsplitter. Der leuchtende Lack. Die scharfen Ränder des Papierbogens.
Im Nacken ein Buchfink, der nicht weiß, was er tut, wenn er singt, so daß ich es hören kann.
Ich sehne mich danach, zu schauen und zu hören und keinerlei Worte zu haben für diesen Augenblick.

Und hier die Antwort

Sehr geehrter Herr Solminore,
das von Ihnen bezeichnete Waldgebiet befindet sich weitestgehend im Eigentum privater Waldeigentümer; einige kleinere Areale sind Kommunalwald. Die Waldeigentümer sind berechtigt, ihren Wald zu bewirtschaften und dementsprechend Holz zu ernten. Dies ist in der Tat mit Belästigungen für den Waldbesucher verbunden, die leider nicht zu vermeiden sind. Das Regionalforstamt hat nur zum kleinere Teil Einfluss auf die Holzernte selbst. Diese liegt in der Organisation der privaten Waldeigentümer und der Forstbetriebsgemeinschaften.
Wir achten darauf, dass die forstgesetzlichen Vorschriften eingehalten werden. Rodungen, d. h. Umwandlungen von Wald in andere Nutzungsarten werden nicht durchgeführt. Die flächig genutzten Waldstücke müssen innerhalb von zwei Jahren wieder aufgeforstet werden.
Weiterhin wirken wir durch unsere beratenden Förster darauf hin, Kahlschläge zu vermeiden und die Holzernte möglichst schonend durchzuführen. Leider sind einige Fichtenwälder bereits durch Trockenheit, Sturm und Borkenkäfer soweit geschädigt, das sie in den nächsten Jahren immer weiter verschwinden werden.
Die Durchforstungen sind ansonsten günstig für die Stabilität, Mischung und Wertentwicklung der Wälder.

Der nachwachsende Rohstoff Holz wird von uns allen in Form von Papier, Möbeln, Hausdächern etc. benötigt. Jeder Bundesbürger verbraucht ca. 1,5 m³/Jahr. Wenn dieser benötigte Rohstoff Holz nicht nachhaltig in den heimischen Wäldern produziert wird, dann wird er auf den Weltmärkten eingekauft und zum Teil aus Ländern importiert, in denen eine nachhaltige Waldnutzung nicht garantiert werden kann.

Die Bewirtschaftung des Waldes ist auch hinsichtlich des Klimawandels von Bedeutung. Die Bäume entnehmen bei ihrem Wachstum der Umgebungsluft CO2 und wandeln dieses klimaschädliche Gas im Zuge der Photosynthese in Holz um. Jährlich wachsen in unseren Wäldern Millionen von Festmetern Holz zu (ein Kubikmeter Holz speichert ca. eine Tonne CO2). Ein positiver Effekt lässt sich über eine Kaskadennutzung erzielen. Vom Rohprodukt Holz über eine Verarbeitung zu Bauholz, einem Recycling dieses Bauholzes zu Spanplatten bis hin zu einer energetischen Nutzung können mehrere Jahrzehnte vergehen. Je langlebiger Produkte aus Holz oder Zellstoff sind (z.B. Bauholz, Möbeln oder Papier), desto länger wird der Kohlenstoff der Atmosphäre entzogen. Hinzu kommen Substitutionseffekte, da alternativ zu Beton, Stahl oder fossiler Energieträger der nachwachsende Rohstoff Holz verwendet wird. Das von den Bäumen aufgenommene und im Holz gespeicherte CO2 wird der Atmosphäre und damit dem Kohlenstoffkreislauf über einen längeren Zeitraum entzogen und im Nutzholz fixiert.

Die Waldbewirtschaftung in Deutschland folgt dem Modell der multifunktionalen Waldwirtschaft, d. h. die drei Hauptfunktionen Erholung, Naturschutz und Rohstoffproduktion erfolgen auf der gleichen Fläche. Dies erfordert Kompromisse, die sich in ihrem Fall durch eine zeitlich befristete Belästigung der Waldbesucher auswirken.
Ich bitte um Verständnis für die Maßnahmen. Spätestens mit Laubausbruch werden die Hiebsmaßnahmen in den Laubwäldern für diese Saison beendet sein.

mit freundlichen Grüßen
FD Hugo Schelmenhorst

Anfrage ans Forstamt

Sehr geehrte Damen und Herren,

in diesem Frühjahr beobachte ich mit Besorgnis, daß in deutlich höherem Maß als sonst im nördlichen Vimbelwald zwischen Quellstetten, Lafter und Hemmelshain Holz eingeschlagen wird. Da dies mit beträchtlicher Verschlammung der Wege einhergeht, der Freizeitwert des Waldes auch in anderer Hinsicht durch Lärm, Gestank, hohes Aufkommen von Fahrzeugen, schließlich durch häßliche Rodungen erheblich gemindert wird, möchte ich mich an Sie wenden mit der Frage, wie lange das noch so weitergeht, und in welchem Ausmaß noch mehr Holzarbeiten zu erwarten sind. Betrachten Sie bitte diese Nachricht auch als freundliche Aufforderung, den Einschlag auf ein Mindestmaß zu reduzieren, bzw. günstigenfalls ganz einzustellen. Vielen Dank.

Mit freundlichen Grüßen,

Solminore

Gute nacht

Wahnsinnige Gereiztheit, über alles und jeden, über die Art- und Zeitgenossen, ihre stumpfe Passivität und ihr Treibenlassen, ihren blöden Lärm (als würden sie dadurch irgend wichtiger, daß sie laute Geräusche machen); Wut über ihre Belanglosigkeit – aber auch Wut über mich selbst, und wäre ich eine Flasche, ich würde mich so gern selbst gegen die Wand schleudern; Enttäuschung über soviel Kleinmütigkeit in mir, Angst, Bequemlichkeit: Hätte ich nicht doch lieber mit dem Zelt losstapfen sollen? Zu spät! Falsch entschieden! Ich möchte am liebsten eine Flasche Schnaps in einem Zug austrinken, mir damit auf grandiose Weise selbst zu schaden – um mich hernach trefflich im Katzenjammer selber bemitleiden zu können.
Draußen rummst und kracht es, und es fühlt sich an, als wär’s erst gestern gewesen, als es zuletzt soweit war. Diese Vorhersagbarkeit: Sobald die ersten Böller im Laden sind, wird gerummst, jedes Jahr dasselbe, man könnte aus dem mählichen, dann raschen Anstieg der Explosionshäufigkeit bis Mitternacht eine Exponentialfunktion malen. Es kommt mir alles so ermüdend unabänderlich, in seiner voraussagbaren Wiederholung so abtötend schal vor.
Ich kleistere mir jetzt die Ohren zu und gehe schlafen. Gute Nacht. Nächstes Jahr wird alles anders. So wie all die Jahre zuvor auch schon.

Ce Pe, eine Begegnung

Und dann ist da wieder diese Stimme, die plötzlich als Du denkbar wird und auch so gedacht werden muß, nicht mehr nur als sie, die ehemalige Kollegin, die Wiederaufgetauchte, sie, die jetzt eben selbstvergessen und mit den Gedanken überall, nur sicher nicht bei mir, die Straßenbahn betritt.
Sie wird fremd bleiben. Die unverhoffte, nun schon zum vierten, fünften Mal wiederholte Begegnung ist eher dazu geeignet, mich mir selbst zu vergewissern, als ihr über das aufblühende Du hinaus näherzukommen. Erst im zweiten Gedankenschritt erkennt sich dieses Selbst, in einem anderen Blick erkannt, erkennend wieder, benamst findet es einen Namen und als Ich dieses Du. Dieses Gefühl: Man möchte was machen. Man möchte gemeinsam sich einem Stück Welt zuwenden und darin die Abdrücke, das Gekräusel, den Schatten des anderen überkreuz und wieder zurückgeführt zum Eigenen betrachten. Die Spuren und die wellenförmigen Spiegelungen, das wäre schön, die Interferenzen. Für eine kleine Weile, bis man wieder zurückgestoßen ins Alleinsein mit einem einzigen Augenpaar zurechtkommen muß, noch einen Zweitblick haben, einen gedoppelten Sinn für die Welt, ein paar Stündchen lang, die ihrerseits gedoppelt wären, da deine Zeit und meine ja zweifach zählte. Von ihrem Gesicht zur Sonne und wieder zurück. Da liefen Hunde im Park. Ein Drache stiege und fiele aufwärts in den Tümpel des Septemberblaus hinein. So viele Menschen, und sie, du, und das eigene Alleinsein, es wäre wunderbar aufgehoben bei ihr. Ich möchte mich selbst bei ihr abgeben. Bitte, nimm du ihn mal einen Nachmittag. Und mich dann dort, bei ihr, bei dir, einfach vergessen und nicht wieder abholen. Ich müßte auf nichts aufpassen, am allerwenigsten auf mich. Ich könnte mich ganz dem Staunen überlassen, daß du nicht ich bist, sondern ein anderer, und mit dieser anderdeinen Stimme zu mir sprichst und mit dieser wunderdeinen Stimme mich meinst.

Griesgram

„Tereeza meinte, du seist manchmal so griesgrämig.“
So, bin ich das, denke ich mit jenem grimmigen Entzücken, das man empfindet, wenn Beobachtungen an der eigenen Person einem über Dritte hinterbracht werden. Zum einen erfährt man, wie es in den Augen der anderen wirklich um einen bestellt ist; zum anderen vermittelt es ein klitzekleines Machtgefühl: Ich weiß, wie du über mich denkst. Selbstredend bin ich überhaupt nicht griesgrämig, jedenfalls nicht nach meinen eigenen Maßstäben, und wenn ich doch mal einen muffeligen Eindruck mache, so hat das immer gute Gründe, die bestimmt nicht in meinem launischen Charakter liegen, sondern im Draußen, das mir nicht wohlgesonnen ist, jedenfalls mir nicht entspricht, kurz: Die anderen sind natürlich schuld. Wahrscheinlich war ich gerade wieder genervt über irgendein Zuviel, als Tereeza mich traf, zuviel Menschen, zuviel Geräusche, zuviel Bewegung, das übliche halt. Oder ich hatte mich, auf dem Weg zur Mensa, wo Tereeza und ich verabredet waren, wieder in eins meiner Streitgespräche mit meinen Lieblingsfeinden verspinstert. Ich erinnere mich, daß ich mich über den niedergetrampelten, zu einer harten, rutschigen Panzerung festgestampften Schnee ärgerte, das heißt, nicht über den Schnee, sondern über das Zuviel an Menschenbeinen, die geglaubt hatten, zahlreich darüber lustwandeln zu müssen, und Tereeza fragte, ja, wo sollen sie denn sonst gehen. Ich verbiß mir die in solchen Fällen einzig richtige Antwort, gar nicht, sie sollen einfach zu Hause bleiben, ich blickte nur finster aus der Wäsche und Tereeza fragte mich, geht’s dir gut? Das meinte sie ernst. Und gestern abend also Krysztof, ob es mir gut gehe, Tereeza habe gesagt …
Insgeheim freue ich mich natürlich über die Aufmerksamkeit, denn nichts anderes will ja meine Verstocktheit, genauer, sie will ebenso sehr in Ruhe gelassen werden wie sie Aufmerksamkeit heischt. Paradox halt. Eine Abwärtsspirale, an einem bestimmten Punkt geht es nicht mehr zurück. Dann bin ich Heathcliff und Rumpelstilzchen in einem. Dann ist alles streitsüchtige Abwehr. Dann möchte ich mich für ein Lächeln hassen.
Ich erinnere mich, wie Tereeza bei anderer Gelegenheit ausrief, wie bist du denn drauf? Es ging um die gemeinsame Bekannte O. O. lebt seit einigen Jahren in Übersee, und obwohl wir vor ihrer Auswanderung befreundet, ich möchte sagen, eng befreundet waren, brach der Kontakt kurze Zeit später ab, was ich nicht allein auf die Auswanderung, sondern auch auf das Kind zurückführe, von dem sie gerade genas, als das Schweigen begann. Keine Zeit, sagte mir später ein anderer Freund, der es verstand, aber das machte es nur noch schlimmer, ich verstehe es nämlich nicht. Jedenfalls erzählte Tereeza, das war auch wieder in der Mensa, freimütig, O. sei im Sommer in Köln gewesen, an der Uni, im Institut, und habe ihr Kind dabeigehabt. Wie man das halt so macht, platzte ich ziemlich unwirsch heraus. Im stillen dachte ich, aha, O. reist nach Europa, nach Deutschland, ja sogar nach Köln, findet tatsächlich Zeit, im Institut vorbeizukommen und ihr Kind zu präsentieren, keine 500 m von meiner Arbeitsstelle entfernt, aber mich davon in Kenntnis zu setzen, nein dazu hat sie keine Zeit. Hauptsache, dachte ich, das Kind wird vorgeführt. Das Kind war mir egal, ich finde, Kinder sind Privatvergnügen, und der Anspruch frisch entbundener Mütter, alle Welt müsse ihren Säugling ebenso aufregend finden wie sie selbst, finde ich gelinde gesagt, unbesonnen. Ich wollte nicht das Kind sehen, aber O., die am anderen Ende der Welt wohnt, mit der ich eng befreundet bin oder war, ja, die hätte ich nach gut zwei Jahren Trennung sehr gerne wiedergesehen. Dachte ich und sagte nur, wie man das halt so macht mit Kindern. Weil mich das wahnsinnig aufregte.
Wie bist du denn drauf? rief Tereeza.
Alles in bester Ordnung, erwiderte ich.