Frühprotokoll: Einparken

Immer häufiger kommt es vor, daß in unserer Straße einer seinen Wagen laufen läßt. Der Wagen steht, eingeschalteten Lichts, und läuft. Und läuft. Neulich um halb elf nachts, lange Minuten, bis ich dem Krach mittels Ohrstöpseln ein Ende gemacht habe. (Morgens lief er nicht mehr, vielleicht war der Kraftstoff ausgegeangen.) Dann, einen Tag später, im Morgengrauen dasselbe. Minutenlang. In meiner Kindheit war es üblich, im Winter einige Zeit vorm Losfahren den Motor anzuwerfen, um die Fahrgastzelle damit zu heizen, während man noch mit Eiskratzen beschäftigt war. Ich erinnere mich an die dicke blauen Wolken vor gelblichem Scheinwerferlicht in der Dämmerung eisiger Dezembermorgen. Später hieß es, diese Praxis sei verboten worden. Ich habe den Verdacht, daß dieses Verbot, falls es das je gegeben hat, kürzlich wieder aufgehoben worden ist. Gewandelt hat sich jedenfalls allem Anscheine nach die Vorliebe für bestimmte Motortypen. Früher waren das in der Mehrzahl Benziner; heute höre ich zumeist das entsetzlich nervtötende Baßgerassel von Dieselmotoren – auch bei Kleinwagen. Da ich selbst nicht Auto fahre und auch nie eines besessen habe, stehe ich dem Phänomen des Motorlaufenlassens mit bassem Unverständnis gegenüber. Kraftstoff kostet anscheinend doch nicht so viel, wie alle immer behaupten. Noch schlimmer sind allerdings solche Geräusche, die – An- und Abschwellen der Drehzahl, Knirschen im Stand einschlagender Reifen, das abwechselnde Klacken beim Wechsel vom Vorwärts- zum Rückwärtsgang – beim Einparken (oder dem Versuche desselben) entstehen. Auch hierfür habe ich nicht das geringste Verständnis. Wenn ihr’s nicht könnt, so laßt es halt bleiben. Ich laß es ja auch bleiben. Wenn ihr aber unbedingt eine Karre haben müßt, dann seht eben zu, wie und wo ihr sie abstellt, und zwar geräuschlos. Euer Problem. Aber behelligt mich nicht mit Lärm und Abgasen, weil ihr kurzsichtig seid oder kein räumliches Vorstellungsvermögen habt. Ich habe auch keins – aber ich habe auch kein Auto, bitteschön.

Straße, nachts

Die Nacht ist alterslos und hell ohne hell zu sein. eine Stille herrscht, die das Drinnen mit dem Draußen verbindet, als gäbe es keine Mauer, kein Fenster, als wäre das Zimmer eingebildet. Ein Traum, eingeschachtelt in einen weiteren Traum, eingeschachtelt in Nacht, zurückgeschachtelt in den imaginären Raum des Zimmers. Alles ist ausgekleidet mit klebriger Wärme, Laken, Matraze, die Luft über der Haut, die Innenwände des Atmens.
Ich komme von der Toilette zurück, da höre ich einen Knall, kurz und trocken wie ein Pistolenschuß, und mir scheint, es hat auf der Straße etwas geblitzt. Nur diesen einen Knall, dann herrscht wieder Stille, eine Stille, die sofort in das präzise Loch zurückströmt, das der Schall gerissen hat. Ich lausche. Der Knall setzt sich ins Ohr hinein fort, als energetisches Negativ wird die Stille punktförmig tiefer als sie selbst. Es ist kein Traum, aber es hat alle Qualitäten eines Traums: Jemand ist da draußen. Jemand schleicht da herum, hat vielleicht das Ohr an die Außenwand gelegt. Jemand, der Knallgeräusche macht, und der jetzt mucksmäuschenstill ist, als lauere er darauf, daß jemand reagiert. Ich trete ans Fenster, aber da ist nichts, nicht einmal ein Mond, nicht einmal Himmel. Die Straße ist wie ein weiteres Innen, aus dem kein Entkommen ist, sie wartet auf Schritte, darauf, daß jemand schreit, vielleicht.

Via Novaesiana

Samstag morgen, kurz vor sechs: Ein Schwerlaster hält vor dem Haus und lädt mit Getöse Baukies ab. Ich nehme an, es gibt keinen besseren Tag dafür.

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Ich stehe seufzend auf, und stelle, da der Tag ja nunmal begonnen hat, rote Beete aufs Feuer. Jetzt wärmt der irdene Dunst meine Höhle.

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Wo Baukies abgeladen wird, ist die Betonmischmaschine nicht weit. Als Kind war ich fasziniert von diesem Gerät, ich weiß nicht, ob von der Maschine selbst oder vom herrlichen Klang ihrer Bezeichnung. Die Wände wackeln. Heute sind die Assoziationen andere.

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Die Weide am Gesims von Nachbars Garage hat alle Blätter verloren. Standhaft krallt sie sich am Gemäuer fest und lebt von Luft und Stein. Ich mache die Heizung an und wünsche allen Bäumchen einen friedlichen Winter.

Sirene

Jedes Jahr einmal, immer an einem Mittwoch vormittag, kamen die Bomber.
Sie kreisten über den Dächern der Kleinstadt, drehten wieder ab, kehrten ein paarmal zurück, ohne die tödliche Fracht loszuwerden, bis sie endlich am Horizont verschwanden, und eine letzte Entwarnung verkündete, daß man wieder einmal für ein Jahr davongekommen war.
Falls in der Zwischenzeit nicht der Ernstfall einträte.
Man nannte das „Probealarm“, und es war einer der größeren Schrecken meiner Kinderzeit.
Auf einem der Gebäude meiner Schule, auf der anderen Seite des Hofs, genau gegenüber von meinem Klassenzimmer, erhob sich, groß, gräßlich, weithin sichtbar, eine Sirene. Dieses Ding auf dem Dach schien mir in seiner Eigenschaft, einen fürchterlichen Lärm zu produzieren, an sich schon gefährlich Bereits dieser Lärm war die Gefahr, war Schmerz, Krampf und heillose Konfusion. Schon ihre unheilvolle Silhouette, die an genau jenen anderen Pilz zu erinnern schien, vor dem jede Warnung ja doch vergeben gewesen wäre, verbreitete in meinen Augen Angst und Schrecken, weniger vor der oder als Sinnbild für die erwartete Katastrophe als vor der Angst selbst – der Angst vor der Angst.
Vor dem Erschrecken.
Schon als Säugling war ich, so versichern es die Eltern, geräuschempfindlich bis zur Nahrungsverweigerung. Wenn irgendwo was knisterte, zischte, prasselte, stellte ich das Trinken ein, und war ich auch noch so hungrig. Alle Arten von plötzlich einsetzendem Tuten, Schlagen, Heulen waren (und sind mir bis auf den heutigen Tag) ein Greuel. „Wird es laut?“ war meine erste Frage, wenn meine Eltern mich auf irgendeine Unternehmung mitnehmen wollten. Auf ein Ausflugsschiff übern Vierwaldstättersee rannte ich mit den Händen auf den Ohren über die Gangway, panisch, das Schiffshorn könne lostuten, bevor ich das gedämpfte Innere erreicht hätte. Ich wußte, daß ich mich lächerlich machte, aber die Furcht vor dem Krach war ärger als die Scham. Die Schilderung eines Schulkameraden, der schon einmal eine Flugreise gemacht hatte, so ein Jet sei lauter als die Sirene (dabei zeigte er auf die dräuende Silhouette überm Schulhaus), flößte mir Mitleid mit dem armen Jungen ein. Eine Hafenrundfahrt wurde zum Martyrium, weil ich jederzeit erwartete, die Erfahrung vom Vierwaldstättersee könne sich wiederholen. Und auf dem Sportfest lief ich eine schrecklich schlechte Zeit über die hundert Meter, weil ich vom zuerst erwarteten, dann tatsächlich empfundenen Schrecken des Startschusses (aus einer echten Pistole) weiche Knie hatte. Und in der Eisenbahn hatte ich beim Übergang von einem Waggon in den nächsten nicht etwa Angst, die Verbindung könne mir unter den Füßen wegbrechen; nur der entsetzliche, ungedämpfte Krach von Gleis, Wind, Fahrwerk schreckte mich. Tröten, Knallen, Tuten, Jaulen. Überall lauerte er, der Krach. Im Zirkus, auf dem Feuerwehrfest, bei der Flugschau, beim Karnevalszug.
Und in der Schule. Wo auf dem Nachbardach die Sirene hockte, schlimmer als jede imaginierte oder wirkliche, leicht zu verdrängende Bombengefahr. Eine stets latente Angst war, wir könnten vielleicht umziehen, und in einem Haus mit Sirene auf dem Dach mit dem allezeit drohenden Schrecken überm eigenen Kopf leben müssen. Kaum besser war die Vorstellung, ich könnte vielleicht eines Probealarmmittwochs ausgerechnet in jenem Gebäude Unterricht haben, das die Sirene trug. Und als ich später umgeschult wurde, spähte ich überall umher, ob auf dem Dach der neuen Schule nicht etwa eine Sirene installiert sei. Zu meiner übergroßen Erleichterung waren alle Dächer des Komplexes sirenenfrei.
Noch heute ist mir dieses Grauen, dieser durchaus panische Schrecken gegenwärtig, rieselt es mir eiskalt durch die Glieder, wenn ich irgendwo eine Feuerwehrsirene höre. Egal, wie weit weg ich bin, egal, wie niedrig der Schallpegel tatsächlich ist, die Art des Geräuschs, dieses unerbittliche Warnen, dieses Geheul, das geradewegs aus der Hölle selbst emporzufahren scheint, seelenlos, kalt, mörderisch, flößt mir immer noch Angst ein. Und genau das soll es ja auch.
Meine Eltern versprachen mir, sie würden mir beim nächsten Probealarm, dessen Datum in der Zeitung angekündigt werde, bescheid sagen, dann wüßte ich, was mich erwarte. Die Folge war, daß ich einen halben Vormittag im Angstschweiß badete, während ringsum die Mitschüler sich ihres Lebens freuten. Natürlich erschraken sie dann genau wie ich, wer würde nicht erschrecken, wenn keine fünfzig Meter entfernt eine Sirene losgeht? Aber im Unterschied zu mir machte es ihnen eben nichts aus.
(Eins der Dinge, die ich an Musik schätze, ist, vermute ich, daß sie den Lärm bändigt, indem sie ihn in eine Form zwingt, verwandelt und nutzbar macht. Natürlich ist Musik mehr als nur domestizierter Lärm, aber sie ist es auch, ein bißchen. Vielleicht deswegen mag ich es auch nicht leiden, wenn undomestiziertes Geräusch durch die Hintertür wieder hereingelassen werden. Schlagwerk mag ich, wenn überhaupt, nur in feinster Dosierung, und niemals nur darum, wie etwa in der populären Musik allegegenwärtig exemplifiziert, weil man es halt so macht. Beethovens Gewitter in der sechsten Symphonie mochte ich immer schon, an die entsprechende Klangmalerei bei Strauss, der eine Windmaschine benötigt, mußte ich mich erst, sie lange rigoros ablehnend, gewöhnen.
Ein bißchen klingt sie nämlich wie eine Sirene.)

Sonntagsausflug

Farben, Licht, das bunte Durcheinander, alles scheint plötzlich wie schlecht abgemalt. Der Hafen, die Mole, der Wein am andern Ufer, die Gesichter, der Sonntagsstaat der Flaneure, die billigen Regenjacken vom Discounter, der Eiswagen, die Infotafeln, alles nur eine Kulisse, hinter der nicht einmal ein Grauen lauert, nur eine schreckliche, unauflösbare, allherrschende Ödnis. Keine Schönheit gibt es, die hier irgendeine Form von Echtheit noch bewirken könnte, bevor es für immer für alles zu spät ist, zu spät auch für eine Flucht. Wohin denn entkommen? Und da ist das alles schon alles, das bunte Treiben, der Wind, die Tauben, die sich vor sich selbst ekeln, ist dies das Echte und Eigentliche des ganzen Lebens, diese entsetzliche, trostlose Traurigkeit dieser billigen, nicht einmal häßlichen Melodien, die sich ins Herz schleichen wie süß schmeckendes Gift. Ich wehre mich, balle die Hände zur Faust. Aber eine Unkraft befällt mich, die Schritte werden müde, das Pflaster ist plötzlich so hart, Llorando se fue, und der Weg so weit, wäre es nicht besser, sich hier auf die Bank zu setzen und der Greis zu werden, der man bereits ist seit der Geburt? Ich sehe die Kinder eine Münze gegen ein Eis tauschen, Faria, faria ho! Wie gespannt sie sind. Wie fraglos überzeugt von allem. Ich bin allein, ich bin ganz und gar allein, faria ho! Niemand deutet mir das, die Blicke sind leer, das Lachen wie aus dem Schlund von Automaten. Ich sitze auf der Bank, das Wasser kräuselt sich schwarz unter den Füßen, nicht einmal der Strom ist noch echt, ich gehe in einer kolorierten Kitschpostkarte herum, und es gibt nichts Schönes mehr auf der Welt, die Welt geht im Kreis wie die Melodie, wie der Arm des Leierkastenmannes, ach, du lieber Augustin, alles ist hin.
Wer erklärt mir diese Traurigkeit? Eine wimmernde Folge nicht einmal trauriger Akkorde, und da ist plötzlich diese Vergeblichkeit in allem und allem. Die Farben erbleichen, die Schatten sperren das Maul auf, die Fahnen drohen, es ist, als fröstele es die Zeit selbst unter einer kalten Brise. Wind treibt die Klänge eines Akkordeons oder Leierkastens über den Platz heran. Dazu wandeln fröhliche Menschen allenthalben, Reiterstandbilder starren vor Stolz, Kinder scharen sich um einen Eiswagen, die eifrige Münze in der warmen Hand. Niemand bemerkt es. Alle sind hohl. Puppen. Marionetten an unsichtbaren Fäden. Oder wie ist es sonst zu erklären, daß niemand das Schreckliche dieser Weisen bemerkt? , Quetschkommode, Leierkasten, Schifferklavier: Wäre die Melodie, die diesem Kasten entströmt, häßlich, verstimmt, falsch, ich würde lachen. Aber die Melodien sind nicht häßlich, das Schlimme ist, sie sind nicht einmal das. Ohne selbst traurig sein zu wollen, verströmen sie unter der Absicht einer billigen guten Laune eine Traurigkeit, für die es keinen Trost gibt. Selbst nicht schön, negieren sie auch alles Schöne, negieren sie alles, was Musik sein kann, daß selbst die Erinnerung an alles, was nur je schön und echt und wahr gewesen ist, im Herzen getötet wird.
Eine Münze klimpert, der Leierkastenmann macht eine Verbeugung, mechanisch auch sie, mechanisch wie der zur Maschine gewordene Kurbelarm, der Münzwerfer bleibt einen Moment stehen, in künstlerischem Entzücken, aus schierer Langeweile, aus Mitleid oder weil er ja schließlich bezahlt hat, er bleibt stehen, hält den Kopf ein wenig schief, nicht den Leierkasten schaut er an, sondern auf das Kind, den kleinen Jungen an seiner Seite. Der steht halb abgewandt, in einer Haltung starrer Abwehr, die Ärmchen erhoben, die Hände so kräftig, so entschieden auf die Ohren gepreßt, daß man die Knöchel weiß hervorschimmern sieht. Eine steile Falte der Mißbilligung und Ungeduld steht ihm auf der Stirne. Der Vater zeigt auf den Leierkasten, spricht, deutet, hält dem Kind eine Münze hin, wirbt und schmeichelt, zeigt wieder auf den Leierkastenmann, schnippst dem Jungen noch den Takt vor. Der aber preßt die Hände noch stärker auf die Ohren und schüttelt energisch den Kopf, ignoriert die Münze, will weg, hat genug, leidet mit jeder Faser seines Körpers.
Hör doch mal hin, ruft da der Vater aus. Mit einer herrischen Geste reißt er dem Jungen beide Hände vom Kopf; und für einen Moment, in dem der ganze Platz zusammenzuzucken scheint, in dem der Kaiser sich mit einem Ruck auf dem Gaul aufrecht setzt, die Tauben aufflattern und die Silberköpfe der Seniorengruppe sich umwenden nach so viel echtem Geräusch; für diesen Moment übertönt der Klagelaut des Knaben selbst noch die Diskantpfeifen des Leierkastens, zerschlägt sein Gebrüll all die Trostlosigkeit entzwei. Erschrocken läßt der Vater das Kind los, wirft schnell noch die Münze in den Hut, bevor er dem Sohn nachläuft und beide im Menschengewimmel verschwinden. Das Wasser gurgelt, die Tauben lassen sich auf dem Haupt des Kaisers nieder, der Arm des Leierkastenmannes kurbelt, hollahi, hollaho, die Melodie ist nicht aus dem Takt.

Straße, Strömung, Rauschen, Reifen

Dieses Kreuz und Quer von Straßen, als erforsche die Welt da draußen den innersten Traum, als käme der steigende, wachsende, in alle Welt ausknospende Tag dem Schlaf auf die Spur, tastend, auskeimend, während jener sich nach Art von Frühstunden einkapselt, zurückzieht in die zunehmend belasteten Innenräume des eigenen Schweigens, fliehend, blind, ohne dem ameisenhaften Nachdrängen der Stunden, die alles besser wissen oder besser zu wissen behaupten, entkommen zu können, um endlich noch aufgefunden zu werden, in sich selbst nachgezeichnet, ein Traumlauf, abgerollt, daran der Tag sich entlanghangelt und Namen zu sich selbst finden, und damit jeder Stille noch eine Bedeutung zu geben, eine alles durchbrechende Struktur, die der Tag sich selbst einritzt, eine Gravur von Straße, Strömung, Rauschen, Reifen, und mit dieser Eindeutigkeit der Zeichen die multiplen, einander gewährenden Richtungen der Träume negiert, aufhebt, ausrichtet und alle Ziele und Wege zugunsten des einen Vorwärts beseitigt.

guideline daily amount

Es gibt Tage, da ist die täglich maximal erlaubte Anzahl fremder Menschen in meinem Gesichts- und Gehörkreis schon um zehn Uhr morgens erreicht. Wenn dann der Tag lang ist, und die zu überbrückenden Räume nicht anders als mittels ÖPNV überbrückbar sind, dann wird es schwierig.

Manchmal wünsche ich mir ein Schneckenhaus. Ein kleines feines, stabiles praktisches, leicht zu reinigendes, schnirkelig-gemütliches Überalldabeiheim. Innen größer als außen. Gerne faltbar. Zum Überwintern und Überlärmen. Tritt-, Stoß- und Rempelfest. Blick- und Fremdhautabweisend. Schalldicht. Das wär ganz toll.

Gute nacht

Wahnsinnige Gereiztheit, über alles und jeden, über die Art- und Zeitgenossen, ihre stumpfe Passivität und ihr Treibenlassen, ihren blöden Lärm (als würden sie dadurch irgend wichtiger, daß sie laute Geräusche machen); Wut über ihre Belanglosigkeit – aber auch Wut über mich selbst, und wäre ich eine Flasche, ich würde mich so gern selbst gegen die Wand schleudern; Enttäuschung über soviel Kleinmütigkeit in mir, Angst, Bequemlichkeit: Hätte ich nicht doch lieber mit dem Zelt losstapfen sollen? Zu spät! Falsch entschieden! Ich möchte am liebsten eine Flasche Schnaps in einem Zug austrinken, mir damit auf grandiose Weise selbst zu schaden – um mich hernach trefflich im Katzenjammer selber bemitleiden zu können.
Draußen rummst und kracht es, und es fühlt sich an, als wär’s erst gestern gewesen, als es zuletzt soweit war. Diese Vorhersagbarkeit: Sobald die ersten Böller im Laden sind, wird gerummst, jedes Jahr dasselbe, man könnte aus dem mählichen, dann raschen Anstieg der Explosionshäufigkeit bis Mitternacht eine Exponentialfunktion malen. Es kommt mir alles so ermüdend unabänderlich, in seiner voraussagbaren Wiederholung so abtötend schal vor.
Ich kleistere mir jetzt die Ohren zu und gehe schlafen. Gute Nacht. Nächstes Jahr wird alles anders. So wie all die Jahre zuvor auch schon.

Wir brauchen mehr Verbote

In der Ausgabe 36, 2011 der Wochenzeitung <i>Die Zeit</i> ging es im zweiten Leitartikel über die Zunahme von Verboten im öffentlichen Raum. Der Ruf nach Verboten wie dem Rauchverbot oder dem jüngst diskutierten Alkoholverbot im ÖPNV und in Stadtgärten komme, so der Autor Jens Jessen von Leuten, die anderen nicht gönnen, was sie sich selbst verbieten.

Eine solche Ansicht ist nicht viel besser als der sture Zynismus, mit dem Raucher verkünden, es störe sie ja auch nicht, wenn andere Leute nicht rauchen. Sie ist verwandt mit dem Selbstbewußtsein von Leuten, die erst Lärm machen und einen dann auch auffordern, woanders hinzugehen, wenn man seinem Unmut über den Lärm Ausdruck verleiht.

Worum geht es nämlich? Um nichts anderes als den Primat der Störung. Wer den um Ruhe bittenden mit dem Hinweis entläßt, er könne ja woanders hingehen, dreht das Verursacherprinzip um: Nicht derjenige ist jetzt für die Störung verantwortlich, der die Welt verändert (durch Rauch, durch Schall, durch Kotze), sondern der, der sich davon gestört und beeinträchtigt fühlt. Selbst schuld. Braucht sich ja keiner Gestört fühlen.

Als ob man sich dazu entschlösse! Wenn Jessen allen Ernstes behauptet, Nichtraucher mißgönnten Rauchern die Freiheit, die sie sich selbst nicht nehmen, so ist das ein Schlag ins Gesicht all derer, die freiwillig und ohne von einem Verbot gegängelt zu werden, Rücksicht nehmen und Zurückhaltung in ihren Lebensäußerungen üben. Diesen friedlichen und angenehmen Zeitgenossen zu unterstellen, sie treibe doch bloß der Neid der Gehemmten um, wenn sie nach Verboten riefen, ist eine Frechheit. Wer so schreibt, übersieht, daß es eine Not ist, die Verbote fordert, wo Rücksicht nicht mehr walten will. Man fragt sich, ob Herr Jessen jemals unter einem Geräusch oder einem unangenehmen Geruch gelitten hat. Vielleicht fährt er Auto und geht nie in ein Restaurant, man weiß es nicht. Der öffentliche Raum ist für alle da, eben darum, weil er öffentlich ist. Da ihn alle sich teilen müssen und ein Mensch dem anderen ohnehin schon eine Zumutung ist, ist es wichtig, daß man einander so wenig Reibeflächen wie möglich zukehrt und für ein Minimum an Exposition bietet. Dazu gehört nun einmal auch, niemandem Gerüche und Klänge aufzuzwingen, und also, nicht zu rauchen, regelmäßig Körperpflege zu betreiben und die Musik zu Hause zu hören. Das ständige Geklingel aus den ungezählten Kopfhörern, das mittlerweile schon zur normalen Klanglandschaft im ÖPNV gehört, ist für empfindliche Menschen so schwer zu ertragen wie für andere eine quietschende Tafelkreide. Der Verzicht auf eine halbe Stunde Musik ist dagegen schadlos und darf gefordert werden.

Einen Lebensstil zu leben ist in Ordnung. Andere, die den selben öffentlichen Raum mit einem teilen, zu unfreiwilligen Zeugen dieses Stils zu machen, ist rücksichtslos, unverschämt und dreist.

Wir brauchen nicht weniger Verbote, im Gegenteil. Wir brauchen noch viel mehr davon, im Maße nämlich die freiwillige Rücksichtnahme für altmodisch erachtet wird und ihre Rolle bei der Gestaltung eines friedlichen Miteinanders nicht mehr wahrnehmen kann.

Bauradio

Hammerschläge, Kiesgeprassel, Motorengeräusche, in Ordnung, ich sehe ein, es geht nicht anders, wenn man ein Haus bauen will (und sei es auch nur Wohncontainer). Aber bei der Musik hört es auf, Radio muß nicht sein, Eins Live ist vermeidbarer Lärm. Man kann auch ohne zusätzliche Radiobeschallung hämmern und sägen. Schlimm genug, daß das Bauen nicht geräuschlos geht — aber muß man es mit Vorsatz noch schlimmer machen? Ich meine, die Baufritzen machen es ja sogar an, damit man was hört! Dabei vergessen sie, daß sie nicht die einzigen sind, die es hören: Lärm ist auf eine ziemlich fiese Art demokratisch.

Was ich nicht begreife ist dann folgendes. Ich habe jetzt, um das Geplärre nicht hören zu müssen, mich selbst mit Musik versorgt. Es ist eine Auswahl meiner Lieblingsstücke, und doch, wie soll ich sagen, hab ich es nach zwei Stunden satt. Nicht, weil es immer dieselben Stücke sind, bis jetzt hat sich noch gar nichts wiederholt, nein, ich bin einfach müde, ja, erschöpft, die Töne fallen mir zur Last, ich bin ganz einfach voll, habe mich sattgehört. Nicht noch was Süßes? Nein! Und jetzt frage ich mich: Die Bauarbeiter da draußen, wie halten die das Gedudel acht Stunden aus? Irgendwann muß doch auch mal Schluß sein. Oder lernt man das auf dem Bau? So wie man lernt, sich nicht auf den Daumen zu hauen? Aber wenn man das erst lernen muß – wär’s nicht besser, einfach kein Radio zu hören?
“Ach, wir hören da gar nicht mehr hin.”
“Warum machen Sie’s dann nicht aus?”

Warum machen sie’s überhaupt an?

Nostos kai algos

Wäre man erst gar nicht weggefahren, hätte man es nicht bemerkt, nicht in solch gräßlicher Schärfe. So aber kommt dem aus der Stille der abgelegenen Insel Heimgekehrten angesichts der brausenden Fahrzeugströme, der überfüllten Pendlerzüge, des polyglotten Elends allenthalben überscharf zu Bewußtsein, in was für einer mühseligen, stampfenden, lärmenden und banalen Tretmühle er sein tagtägliches Dasein fristet.

Fern von hier kann man, wenn man den Kopf dem Sand nähert, so daß das Meeresrauschen hinter die Dünen zum Gemurmel zurückfällt, die Sandkörner hören, wie sie sich an den Halmen des Strandhafers reiben. Am morgen war das. Da hatte man noch Schlick an den Füßen und die Sonne im Haar, und nichts stand dem Auge im Weg. Es gibt wenige Dinge, die so elementar sind, so unprätentiös machtvoll, wie die See. Und es gibt weniges, was so trivial ist wie eine Millionenstadt.

Langeoog

Ich habe mir einmal geschworen, es nie so zu machen wie meine Eltern. Vergebens, ich stecke schon mittendrin im Mist.

Besser, man fährt erst gar nicht weg. Wenn der einzige Effekt einer Urlaubsreise der ist, einem die Trübsal des Alltags durch Gegensätze zu Bewußtsein zu bringen, bleibt man besser zu Hause. Dann bleibt einem auch der Schmerz des Heimkehrens, die Nostalgie in ihrer Schattenbedeutung erspart.

Greinstraße, Baustelle

Nur noch ein paar Tage, dann ist es aus mit dem Blick auf die Baumkronen. Schon verstellt ein Gerüst diesen grünwogenden Ernst, trampeln Arbeiter in den Laubhöhlen herum, wächst vor meinem Fenster der Plan zur Übermalung des Himmels: Ein Containergebäude, so hat es die Verwaltung beschlossen, soll dort entstehen und den Mitarbeitern eines anderen Insituts während einer Baumaßnahme als Notunterbringung dienen.
Jahre haben aber die Kronen ihren Schatten auf das Rasenstück geworfen, mir an Winternachmittagen den Himmel in Nester und Parzellen geteilt, Frühling für Frühling die unscheinbaren Schönheiten ihrer vor dem Blattaustrieb schwellenden Blütenknospen wie schlagende Glöckchen an den Himmel gesteckt, und im Herbst konnte man zusehen, wie die Winde langsam, jeden Tag größere Lücken reißend, das mürbe Laub aus den Kronen blies.
Selbst die Fußgänger, die dann, die Hand am Hut gegen den Sturm, zu den Parkülätzen streben, verfallen in solchen Schatten, überdacht von den ausladenden Zweigen des Silberahorns, in einen anderen, in einen besonnenen Schritt, obwohl die Bewegung, mit der sie sich eins der brennendroten Blätter vom Mantel wischten, gedankenlos und mürrisch ist. Der Raum unter einem Baum ist immer ein friedvollerer Raum. Die Übermacht des Himmelsgewölbes, dessen Vollkommenheit manchmal wie die Drohung eines jederzeit fälligen Schlags überm Scheitel hängt, ist zerstreut und im sorgsamen Walten des Laubs aufgehoben. Darunter und darin läßt es sich wohnen. Seine Wurzeln aber drücken selbst Betonflächen empor und lassen den Sand zwischen Pflastersteinen davonrieseln. Es ist nicht alles machbar. Auch die frischweiße Fläche, die jetzt als Fundament für die erwarteten Container sich dort erstreckt, wo vor ein paar Wochen noch eine Wiese lag, könnte sehr leicht diesen Druck aus dem feuchten Inneren der Erde an sich zu spüren bekommen.
Schon zwängt sich der Raum zwischen den Scheiben und der noch imaginären Wand unruhig in seinem zukünftigen Spalt. Gerüstrohre heulen wie Orgelpfeifen. Die Männer zeigen und messen und zeigen noch mehr. Vom künstlichen Stein kräuselt sich eine Staubfahne empor. Der Silberahorn wedelt mit Laub und Licht, bereits in einen Bilderrahmen aus Gerüsten gespannt. Bald wird nichts weiter zu sehen sein, als die Wand, an der jeder müde hinausgependelte Blick abprallen wird. Der Horizont läßt Wolkenvögel losfliegen: Auch sie wird man bald nicht mehr sehen, mit etwas Glück noch ihren Schatten, wie er zu den anderen Schatten im Spalt zwischen Mauer und Fenster hereingleitet. Das Licht auf dem beton ist stumpf geworden wie Kreide. Über den Arbeiterschultern spannen sich die Hemden. Im vorauseilenden Licht der Leuchstoffröhren sitzt man jetzt schon wie beengt.

Ein Bach hinterm Haus

Vor ein paar Tagen ein verwirrendes Geräusch. Gegen Abend, beim Essen: Durch das gekippte Fenster anhaltendes Wassergluckern, verspieltes Geplätscher, als ströme hinterm Haus ein echter Bach. Da füllt jemand eine Gieskanne, dachte ich. Es würde gleich aufhören. Aber es hörte nicht auf. Ich schloß das Fenster, beendete das Mal, öffnete das Fenster wieder: Der Bach floß immer noch munter dahin. Ich schloß das Fenster, machte den Abwasch, öffnete wieder: Geplätscher, nach wie vor.

Wie bei allen Geräuschen, muß ich dem auf den Grund gehen, ruhe nicht, bevor ich die Geräuschquelle gefunden habe und werde leicht wahnsinnig, wenn mir das nicht gelingt. Ich gehöre zu den Menschen, die dem geheimnisvollen Fiepen so lange durch die Wohnung folgen, bis sie die undichte Thermoskanne als Ursache identifiziert haben. Oder alles auf den Kopf stellen, bis sie das feine Blubbern unter der in einem Wasserfilm stehenden heißen Tasse geortet haben. Ohnehin schon geräuschempfindlich bis zur Psychose, bedeutet für mich die unbekannte Herkunft eines neuartigen Schallefekkts eine dramatische Steigerung der bei Geräuschexposition auftretenden Symptome: Herzrasen, Atembeschwerden, Sehstörungen, Bluthochdruck, Halluzinationen. Geräusche sind schrecklich. Aber Geräusche, deren Ursprung man nicht bestimmen kann, sind das reine Grauen.

Das Paranoide dabei (man könnte denken, das sei schon paranoid genug, aber weit gefehlt), das wirklich Paranoide dabei ist, daß mir Geräusche, die ich eigentlich mag, sofort ein Dorn im Ohr sind, wenn sie von Menschen verursacht und mir ungebeten zugemutet, aufgezwungen werden: Ein echter Bach hat keine Absichten und Wünsche, er kann mir sein Plätschern nicht aufzwingen. Der Buchfink vorm Fenster, er tut nur, was er tun muß, und um diese Jahreszeit kann er nicht anders als zu trällern. Bach wie Buchfink empfinde ich nicht nur nicht als störend, sondern im Gegenteil als wohltuende Bereicherungen des Klangkosmos um mich herum. Aber ein Plätschergeräusch, das der Nachbar aus Absicht oder einfach nur aus Unachtsamkeit oder als Nebeneffekt einer anderen Intention erzeugt, geht mir sofort auf die Nerven; und ein Buchfinkengeträller von einer Vogelstimmen-CD, das derselbe Nachbar stundenlang laufen ließe, würde Mordgedanken in mir reifen lassen. Wohlgemerkt, das Geräusch kann ununterscheidbar „echt“ sein. Ob es mich stört oder nicht, darüber entscheidet nur das Bewußtsein, ob es auf Menschenwitz und Menschenlist zurückzuführen, oder die absichtslose Natur selbst am Werk ist.
Es ist ein bißchen so wie mit der Fälschung in der Kunst. Eben noch hat uns das siebte Brandenburgische Konzert in Verzückung versetzt, da erreicht uns die Nachricht, es sei eine moderne Fälschung aus dem 20. Jahrhundert – und mögen es fortan nicht mehr hören. Nur das Bewußtsein, daß nicht der Meister selbst es geschaffen hat, verleidet uns den Genuß von Klängen, die auch nach der Erkenntnis dieselben bleiben.

Genauso stört mich ein Geräusch oft erst dann, wenn ich weiß, woher es kommt. Dem verleideten Genuß entspricht dann der Zorn auf den Urheber. Ein rhythmisches Klappern und Scheppern in einem Zug wird ab dem Moment unerträglich, wo ich begreife, daß es nicht den Fahrtgegebenheiten, dem Gegenwind oder den Gleisen verschuldet ist, sondern aus den Ohrstöpseln des Nachbarn herausschallt.

Ich bin neulich dann aber doch über meinen Schatten gesprungen und habe beim Einschlafen mich bemüht, das Wassergeräusch als solches zu nehmen wie es ist: Eine im Grunde angenehme Anwesenheit, ein willkommenes, beruhigendes Geplätscher, das unbedingt an eine sylvestrische Idylle erinnert. Ich versuchte, mir einen echten Bach dazu vorzustellen. Ich dachte noch an Forellen, die mit sanft ondulierenden Bewegungen im Strom stehen, dann schlief ich ein.

Ich hoffe, der Buchfink ist echt.

Mal wieder ÖPNV

Ich mache das jetzt seit 18 Jahren.
Man könnte meinen, man würde sich daran gewöhnen. Wenn die Zustände unverändert blieben, schwer zu ertragen, wie sie sind, wäre das vielleicht so. Aber sie bleiben nicht unverändert. Sie waren unerträglich genug. Und sie werden schlimmer. Die Rede ist vom öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).

Als ich begann, ihn in dieser Gegend zu nutzen, gab es jede Stunde zwischen Bonn und Köln genau zwei (mit Verbundfahrkarten nutzbare) Nahverkehrszüge. Das waren quietschende, schaffnerpflichtige, mit allerlei Treppen und anderen Hindernissen („Barrieren“) bewehrte, von einer schnaufenden und ächzenden Lok mühsam gezogene Dinger, die nach Bremsgummi rochen, „Silberlinge“ hießen und aussahen wie aus Gußeisen gefertigt. Darin gab es eine Menge Sitzplätze, in die man sich hineinfallen lassen konnte wie in Großmutters Lieblingssessel, man konnte die Fenster öffnen, wenn es heiß war, und die Toiletten waren zwar nicht behindertengerecht, dafür aber nie außer Betrieb. Zwischen den Wagons mußte man über eine Brücke aus zwei aufeinander liegenden Stahlplatten steigen. In den Ritzen an der Seite flitzten Striche von Landschaft und Gleisschotter vorbei. Der Lärm war enorm. Man darf sagen, in der Hauptverkehrszeit waren diese Züge ziemlich ausgelastet, aber ich kann mich an keinen menschenmasseninduzierten Streß damals erinnern. Es ging halt. Stehen mußte ich fast nie, und wenn, dann war auch das Stehen noch bequem. Man konnte gelassen bleiben.

Seitdem sind viele Jahre ins Land gegangen. Mittlerweile gibt es überall moderne Niederflurbahnen mit „automatischer Türabfertigung“, die nicht nur den ehrwürdigen Arbeitsplatz eines Schaffners überflüssig machen, sondern außerdem behindertengerechte Toiletten haben, die nie funktionieren. Die automatische Abfertigung bedeutet, daß die Türen zu sind, wenn sie mal zu sind. Tritt ein ernsterer Schaden auf, müssen sie, statt wie früher den betroffenen Wagon, gleich einen halben Wagen abhängen, was häufig vorkommt und des Teufels ist. Dafür kann man jetzt mit dem Rollstuhl/Kinderwagen/Rollator direkt vom Gleis stufenfrei in den Wagen rollen, vorausgesetzt, man erwischt eine Tür, deren Elektronik nicht gerade wieder defekt ist. Statt Schaffner gibt es jetzt übrigens so eine Art Berggorillas1 in Uniform, die auf Provisionsbasis Schwarzfahrer abkassieren sollen, und deren Wortschatz aus drei Wörtern besteht: „Fahrkarte!“, „Ausweis dazu!“ und „Vierzsch Euro!“. Ich übertreibe natürlich. Die Uniform fehlt meistens.

Als die Dinger (die Niederflurzüge, nicht die Berggorillas) zuerst aufkamen, sahen sie so geräumig und gemütlich aus, daß man sich wunderte, warum plötzlich viel weniger Menschen Platz hatten als in den alten Zügen. Denn es war voll. Ein weiterer Zug pro Stunde wurde eingeführt. Und es wurde noch voller. Und noch voller. So voll, daß man nicht einmal mehr bequem stehen konnte. Man mußte froh sein, überhaupt ins Innere gelangt zu sein, aber richtig froh wurde man dann trotzdem nicht.
In der Zwischenzeit hatte ich meine Arbeitszeiten um eine Stunde nach hinten verschoben, um der rush hour auszuweichen. Das ging eine Weile gut. Der 9:01-Zug von Bonn Hauptbahnhof war so wenig besetzt, daß man immer einen Sitzplatz bekam, und zwar einen guten Sitzplatz, also einen ohne störende Nachbarn, ohne Zeitungsgeraschel, Laptop-Rumgeklapper oder Kopfhörerblech.

Doch nach ein paar Monaten war es damit vorbei. Sei es, daß die Arbeitszeiten flexibler wurden, sei es, daß die Bahn idiotischerweise ein besonders günstiges Ticket für die Zeit nach 9 Uhr wiedereingeführt hatte (so einen Unsinn gab es tatsächlich mal), oder vielleicht hatte das Schulministerium NRW eine Ausflugspflicht für Schulen beschlossen: Der Zug wurde jedenfalls voller und voller, bis das Niveau des 7:01- und des 8:01-Zuges erreicht war und seine Benutzung nicht mehr empfehlenswert schien. Wie die Verhältnisse inzwischen bei letztgenannten Zügen aussehen, wage ich mir nicht auszumalen.
Also wieder ausweichen, diesmal auf den 8:53er. Der hält an jeder Pißkanne und braucht 7 Minuten länger, aber lieber 7 Minuten länger fahren als 7 Minuten schneller viehtransportiert werden. Das ging bis vor einem halben Jahr gut, als plötzlich, eines schönen Frühherbsttages des Jahres ’10 die Fahrgastzahlen über Nacht in die Höhe gingen. Ich glaubte an etwas Vorübergehendes, eine jener unsäglichen, als „Messe“ bezeichneten, vom epidemieartigen Auftreten namensschildbewehrter Asiaten in Nadelstreifenanzügen begleiteten Massenveranstaltungen in Deutz, ein gastierendes Ensemble in der Köln-Arena, Monsterwochen® im Phantasialand (besonders für Schulklassen geeignet!) oder so etwas. Ich knirschte mit den Zähnen, übte mich in Geduld und hoffte, daß die Zahlen wieder zurückgingen. Aber die Zahlen gingen nicht zurück. Sie stiegen. Auch waren weit und breit keine Grüppchen schwarzgekleideter Asiaten mit Namensschildchen zu sehen (Schulklassen schon, gehäuft in den letzten drei Monaten vor den Sommerferien). Messe kam als – vorübergehende – Ursache also nicht in Betracht. Irgendwann war es mit dem Zähneknirschen so schlimm, daß mich eine Mitreisende anherrschte, was ich denn „für’n Problem hätte“. „Sie“, hätte ich zurückfauchen sollen, „Sie sind mein Problem. Daß Sie hier rumstehen und den Raum mit mir teilen wollen. Ihre Nähe. Ihre bloße Anwesenheit. Ihre Visage. Daß Sie den Bannkreis meines Territoriums berührt haben. Was haben Sie iegentlich vor 15 Jahren gemacht, als das Bahnfahren noch kein Massenphänomen war?“ Aber ich schwieg, knirschte mit dem, was an Zahnstümpfen noch übrig war und stieg bei der nächsten Station aus, um auf den Folgezug zu warten. (Der genauso voll war.)
Da die Lage mit den Wochen immer angespannter und schließlich unhaltbar geworden war, mußte eine andere Lösung her. Also wieder ausweichen, diesmal auf die Stadtbahnlinie 18. Die braucht zwar doppelt so lange wie der Zug, aber lieber, und so weiter.
Das ging jetzt zwei Monate gut.
Also: Entweder ich ziehe diese Dinge teleprotreptisch an, oder ich entdecke neue Verkehrswege immer just in dem Augenblick, in dem sie von allen anderen auch entdeckt werden. So wir der Fahrradständer vor dem Edeka, aber das ist eine andere Geschichte.
Weitere Ausweichmöglichkeiten sehe ich keine. Ein Auto kommt aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt ökologischen, nicht in Frage. Bleibt nur noch das Fahrrad. Dann bräuchte ich zwar bei gutem Wetter und Rückenwind doppelt solange wie mit der Stadtbahn und viermal so lange wie mit dem Zug, aber ich wäre an der frischen Luft, ich säße bequem und teilen müßte ich meinen Fahrradsattel auch mit keinem.

1 Ich entschuldige mich bei allen Berggorillas für den Vergleich.

Den Becher zum Grund

Daß der Becher immer bis zur Neige geleert werden muß, ich halte das für eins der größeren Hemnisse eines besseren Lebens. Der Verlust an Spielräumen umfaßt weit mehr als nur die Plünderung von endlichen Ressourcen, hat nicht allein ökologische Relevanz. Es ist ein Verhaltensmuster, das überall begegnet und neben materiellen Ausbeutungsverlusten auch einen inneren Verlust bedeutet: Den Verlust der Gelassenheit.

Jede neue Technologie stößt einen Handlungsraum auf, der stets bis in den letzten Winkel besetzt werden muß. Es genügt nicht, das Mobiltelephon bei Panne, Unfall und Gefahr zu benutzen, sondern die Möglichkeiten der allverfügbaren Kommunikation werden sämtlich geprüft und realisiert, von der Last-Minute-Verabredung bis zum Bussi vom Gipfel des Everest.

Wenn es doch schonmal da ist.

Und genau darum geht es. Es ist die ausbeuterische, versäumnispanische Mentalität des Wenn-es-doch-schonmal-da-Ist, die Spielräume, Reserven, Freistunden vernichtet und damit genau das unmöglich macht, was uns doch scheinbar so sehr am Herzen liegt: Das selbstbestimmte Handeln.

Oder ist es ein Zeichen von Eigenverfaßtheit, wenn ich ausnahmslos jede Möglichkeit einer Technologie nutze? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich, statt alles einmal ruhen zu lassen, immer an die Grenzen gehe und mir selbst keine anderen auferlege, als die Technik sie mir zieht? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich die Technik die Grenzen meiner Möglichkeiten bestimmen lasse? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich auf einer Wanderung im schottischen Hochland nachts im Zelt liegend mobil nach Hause telephoniere? Oder unterwerfe ich mich da einem Zwang zum Tellerleeressen, zum Ausschöpfen aller Möglichkeiten?

Es mag harmlos sein, aber man darf vermuten, daß die Folgen solchen Ausschöpfens weiter reichen, als die Stille des schottischen Hochlands zu stören. Es gibt beispielsweise keine Straßen mehr, die ein lediglich latenten Bedürfnis, zwei Orte miteinander zu verbinden, befriedigt: Wo heute eine Straße ist, wird auch gefahren, und zwar ständig, als gäbe es den Zwang, dieses Streifchen Asphalt schon allein deshalb zu benutzen, weil es da ist. Das bedeutet nicht nur unmittelbar Lärm, Gestank und Aufmerksamkeitsforderung (durch die Gefahr, die von jedem rollenden Fahrzeug ausgeht); es bedeutet auch, daß die Straße als Lebensraum und Öffentlichkeit nicht mehr genutzt werden kann, weil ständig Verkehr herrscht. Es bedeutet, daß keine Kinder auf der Straße spielen. Und weil die Benutzung von Straßen den Bau weiterer Straßen nach sich zieht, bedeutet es eine allmähliche Verstraßung von Landschaft mit allen nervtötenden Folgen. Der Zwang zum Ausschöpfen beginnt im Kleinen und setzt sich im Großen fort. Gewinne zu machen ist schön. Aber es reicht nicht. Es muß nicht nur gewonnen werden, es muß so viel wie möglich gewonnen werden. Man nennt das Gewinnmaximierung. Die ihr zugrunde liegende Mentalität beginnt mit der Ruftaste des Mobiltelephons. Eine ausgefallene Verabredung muß sofort durch etwas anderes ersetzt werden. Und da das Mobiltelephon schnmal da ist, da könnte man doch …

Der Säufer muß den letzten Schluck aus der Flasche nehmen, auch wenn’s längst nicht mehr schmeckt. Und so ist es mit allem. Das Mobiltelephon ist immer mit dabei, es könnte ja was dazwischenkommen. Mit dem Auto erreicht man nicht schneller und bequemer zu Fuß erreichbarer Ziele, sondern der Radius des Erreichbaren wächst. Mit dem Auto kommt man schneller an Ziele, an die man vorher gar nicht gedacht hätte. Das Vorhandene wird nicht vereinfacht, sondern es nimmt zu, bis die Grenzen abermals erreicht sind. Brauchte ich eine Stunde mit dem Fahrrad, brauche ich jetzt immer noch eine Stunde, das Ziel ist aber dreimal so weit weg.

Immer an den Grenzen des Machbaren, ob es wünschenswert ist oder nicht: Wenn die Verfertigung eines Geschäftsbriefes statt früher eine halbe Stunde heute dank EDV-Anlage nur noch fünf Minuten benötigt, dann würde ein wahrer Zugewinn für Leben und Wohlbefinden darin liegen, die eingesparten fünfundzwanzig Minuten für die Lektüre eines guten Buches zu verwenden, oder sie bei einem gemütlichen Kaffee ganz gelassen zu verschwenden. Nicht zur Erhaltung der Arbeitskraft, nicht zum chillen oder networken, sondern einfach nur, um einen Kaffee zu trinken und sich zu freuen, daß das Leben schön ist. Das ist überhaupt etwas, das wir verlernt haben: Zeit zu verschwenden. Stattdessen schreiben wir in den gesparten fünfundzwanzig Minuten lieber sechs Briefe, haben nichts gespart und glauben auch noch, wir hätten einen gewaltigen Fortschritt gemacht. Umgekehrt bedeutet das zwanghafte Ausschöpfen des Möglichen eine Vervielfachung von Arbeitszeit. Weil es die Möglichkeiten gibt, müssen sie auch genutzt werden: Da ist es dann nicht mehr genug, einfach einen Brief zu schreiben, wie man ihn früher mit der Maschine geschrieben hat. Neue Technologie will eben ausgeschöpft sein, also müssen Fragen wie Schriftgröße, Schriftschnitt, Zeilenabstand, Einrückungen und weiß der Setzer nicht alles berücksichtigt werden, ehe man den ersten Buchstaben schreibt. Wer heute einen Geschäftsbrief schreiben will, braucht eine halbe Typographenausbildung. Nicht weil es komplizierter geworden wäre, einen Brief zu schreiben, das gerade nicht: Es ist einfacher geworden. Aber man man es sich nicht so einfach, wie es geworden ist. Sondern so kompliziert, wie es ein Ausreizen aller Möglichkeiten erfordert. Die Flasche will gelehrt sein, auch wenn’s nicht schmeckt.

Die besten Energiesparkonzepte bringen leider gar nichts, wenn man den Verbrauch anschließend so weit erhöht, wie er vor Einführung der Sparmaßnahme lag. Man läßt die Lampe länger brennen, weil man es sich leisten zu können glaubt. Es ist ja schließlich eine Energiesparlampe. Man fährt mehr und schneller Auto seit man einen geregelten Drei-Wege-Kat im 3-Liter-Wagen hat. Und dank Wärmedämmung hat man es jetzt bei 23 Grad Raumtemeperatur viel behaglicher als bei den gewohnten 20 Grad im unsanierten Altbau. Der Kühlschrank ist ein Energiespargerät, da drehe ich ihn doch gleich mal höher. Und mit der modernen Waschmaschine leiste ich mir vier Wäschen pro Woche, statt zu warten, bis die Trommel voll ist. Dummerweise funktioniert Energiesparen so nicht.

Ein Auto oder einen Computer für viel Geld erstanden zu haben, scheint für manche Leute absurde Folgen zu haben. Zur Mentalität des Wenn-es-schonmal-da-Ist kommt noch eine Logik hinzu, nach der ein teures Gerät möglichst oft benutzt werden muß, damit sich seine Anschaffung auch gelohnt habe. In einer schrecklichen Verdrehung von Ursache und Wirkung schafft so der Gegenstand seine eigenen Bedürfnisse, statt daß die Bedürfnisse zuvor nach dem Gegenstand verlangt hätten. Man geht täglich ins Schwimmbad, nicht, weil man es möchte, sondern damit sich die Jahreskarte lohne. Nicht, ob sich das Auto bei den bestehenden Bedürfnissen und Gewohnheiten lohnt, fragt man sich, sondern man schafft es an und fährt danach herum, als gelte es das Leben.

Was wäre selbstbestimmt? Das Auto stehenlassen, einmal schweigen statt reden, Zeit verschwenden, zu Fuß gehen, einen Termin versäumen. Kaffee trinken, ein Schwätzchen halten und sich freuen, daß man auf einem Planeten lebt, auf dem es Schokolade gibt. Verzichten; und dabei gewinnen. Gewinnen an Ruhe, an Gelassenheit, an Selbstbestimmung. Selbstbestimmt die Technik nutzen, das wäre: Mindestens die Prüfung der eigenen Bedürfnisse. Dann, das Erworbene in den Dienst dieser Bedürfnisse zu stellen. Und alles weitere gelassen zu ignorieren.

Im Zug

„Setzen Sie sich doch woandershin, wenn Sie mein Telephonieren stört.“
Schon in der bloßen Tatsache seines Geäußertwerdens Entrüstung hervorrufend, ist dieser Satz erst recht dann eine Unverschämtheit, wenn man vermuten muß, daß der, der ihn äußert, in totaler Verkennung sowohl der Regeln gepflegten Miteinanders als auch der Bedürfnisse und Empfindlichkeiten der Mitmenschen ihn tatsächlich auch so meint – und sich darüber im Recht wähnt, einem absonderlichen Recht, stören zu dürfen, wen und wann immer man will.
„Setzen Sie sich doch woanders hin.“ Das dreht alles auf den Kopf, was man über das subtile Arrangement, das Menschen miteinander treffen, um die aufgezwungene Nähe zueinander im öffentlichen Raum einigermaßen erträglich zu halten, aufzuzählen nur imstande wäre: Nämlich jenes Arrangement, das man Rücksichtnahme nennt, und zu dessen Grundsätzen eben auch zählt, was man als das Verursacherprinzip bezeichnen könnte: Nicht, wer sich gestört fühlt, trägt die Verantwortung für die Spannung einer Situation, sondern derjenige, der bereit ist, andere zu stören, und sei es auch nur unwissentlich.
„Setzen Sie sich doch woanders hin“ bedeutet: Es ist mir egal, daß Sie sich gestört fühlen. Sehen Sie zu, wie Sie damit fertig werden, daß ich Sie störe. Wenn es Sie stört, dann deshalb, weil Sie sich gestört fühlen. Folglich ist das Ihr Problem, nicht meines.
Möglicherweise fällt dann auch noch der im Zuge der Nichtraucherdebatte bekannt gewordene zynische Satz: „Es stört mich ja auch nicht, wenn Sie schweigen“. Und das ist dann die endgültige Absage an jede Form zivilisierten Umgangs. Es ist zynisch, falsch und unverschämt und mißachtet wissentlich und in vollem Bewußtsein der eigenen Frechheit, daß eine Ursache und das Fehlen einer Ursache keinesfalls äquivalent sind. Man kann sich nicht von einem Nichtsein gestört fühlen. Es sind viel mehr Dinge nicht, als daß Dinge sind. Darunter müßte es, der frechen Logik der unbeirrten Störer zufolge, ja unzählige Dinge geben, die durch ihre Abwesenheit stören. Welche mögen dies sein? Wer so auftritt, so in völliger Überzeugung der eigenen Unangreifbarkeit, hat jede Einsicht in Argument und Arrangement abgelegt. Schlimm genug, wenn einer in solcher Situation sich noch auf irgend ein Recht glaubt berufen zu können (als ginge es hier um Recht! Oder als bedürfe auch noch der letzte zwischenmenschliche Umgang einer behördlichen oder richterlichen Regelung) und sogleich lautstark anfängt zu krähen, er dürfe aber hier stören. Wer solcherart kräht, der verkennt, daß nicht alles, was man darf, auch jederzeit eine gute Idee ist. Auch der, der gestört wird, kann sich ja auf kein Recht berufen. Wenn er überhaupt wagt, den Mund aufzumachen, dann nur in Form eines Appells: Nämlich an die rücksichtnehmende Einsicht seiner Zeitgenossen, die ihrerseits vielleicht auch einmal auf ein solches Gewähren und Nachgeben angewiesen sein werden.
Nun läßt sich natürlich die Situation auch von der Warte des Telephonierers deuten und sein Beharren als Appell auffassen, nämlich an die wohlmeindende Rücksicht der anderen Fahrgäste, die ihrerseits vielleicht auch einmal in die Lage geraten werden, ein Gespräch führen (und damit andere stören) zu müssen oder zu wollen. Es ist wie beim Autofahren: Lärm, Gestank, Behinderung, Gefahr, Zupflasterung und Zerschneidung der Landschaft – alles das wird stillschweigend toleriert, weil (aber nur solange!) eine große Mehrheit der Menschen selbst Auto fahren will, und damit die Nachteile, weil sie sie selbst mit verursacht, in Kauf zu nehmen bereit ist. Schwierig wird es nur für diejenigen, die den Vorteil (Autofahren, Telephonieren) nicht nutzen – denn ihnen wird trotzdem ihr voller Anteil an den Nachteilen (Lärm, Gestank, die Unruhe fremder Gespräche) zugemutet.
Dies war nun schon das zweite Mal innerhalb von vierzehn Tagen, daß mir dieses Erwiderungsmuster („Gehen Sie doch woanders hin!“) begegnet. Wer dann woanders hingegangen ist, war weder die Telephoniererin noch die Beschwerdeführerin, sondern ich. Auseinandersetzungen dieser Art ertrage ich nicht einmal als Zeuge.

Um kurz vor fünf wachgeworden

Um kurz vor fünf aufgewacht. sofort gehört, daß die toilettenlüftung der nachbarn wieder lief … fünf minuten …. zehn minuten … dieses unerträgliche geräusch, das einem jede nervenfaserwegfrißt, bis alles in einem drin aus quälendem geheul besteht. eine viertel- oder eine gefühlte halbe stunde, ich weiß nicht wie lange, jedenfalls lang genug, daß ich vor wut und hilflosigkeit vollends wach wurde, jegliche schläfrigkeit verschwand und ich dann bis weit nach fünf uhr nicht mehr einschlafen konnte. So wurde dann auch aus dem beabsichtigten frühaufstehen nichts und geschafft habe ich in folge dessen auch nicht allzu viel.

Was mich dabei am meisten ärgert: ich habe das problem vor ein paar wochen endlich angesprochen und dabei auch besonders betont, wie störend das geheul gerade nachts für mich ist. Das heißt, sie wissen, wie es mir damit geht – und scheuen sich in vollem bewußtsein dessen nicht im geringsten, nachts das licht anzumachen. Es ist ihnen grad egal. Sowenig ist es ihnen wert, einen zufriedenen nachbarn zu haben, es wäre ja eine ganz kleine sache, ein leicht zu behebendes ding, einfach nachts (wenigstens nachts) das an die lüftung gekoppelte licht nicht anzumachen. Ich an ihrer stelle würde ja schon allein deswegen eine alternative lichtquelle benutzen, weil mir die vorstellung, nebenan liegt einer wach, ist wütend und lauscht, höchst unangenehm wäre. Aber manche menschen haben eben die dickfelligkeit eines bisons und sind auch ungefähr ebenso rücksichtsvoll.

Ich bin versucht, gleich mal wieder nach immobilien zu suchen und schonmal kartons einzusammeln. Ich verlange nicht viel, weißgott nicht. Ich wäre sogar bereit, auf noch mehr zu verzichten. Aber ich will es endlich so behaglich haben, wie ich es brauche und wie es meinen vorstellungen entspricht. Und das heißt in erster linie: stille. Und nicht nur nachts.

Keine Stille, nirgends

Selbst wenn man sie einmal gefunden hätte, die Oase der Stille: Es wäre nichts gewonnen außer einer tagfürtäglichen Ruhe, einer Ruhe, die nur vorläufig ist, nicht einmal von Tag zu Tag, sondern sogar von Stunde zu Stunde, ja von Augenblick zu Augenblick, eine Ruhe ohne Be-ruhig-ung, denn Sicherheit gibt’s keine. Selbst nach Jahren kann das Geräuschgrauen wieder zuschlagen, nichts bleibt ja in dieser Welt, die sich blindlings allem neuen, und sei es noch so bescheuert, in die Arme wirft, nichts bleibt ja, wie’s einmal gewesen ist, nicht einmal das Treffliche, nicht einmal das, womit man hatte leidlich leben können.
Abgelegene Orte geraten in den Sog der sogenannten Zivilisation, strukturschwache Gegenden wollen leider nichts lieber als strukturstark werden, was im allgemeinen nicht ohne Geräusche abgeht; öde Landstriche werden plötzlich von Ökotouristen entdeckt und von Outdoorsportlern heimgesucht, die meinen, draußen zu Hause zu sein. Findige Billigfluganbieter greifen auf Flughäfen auf der grünen Wiese zurück, weil billiger, was den Fluglärm auf der grünen Wiese nicht unbedingt mindert. Umgehungsstraßen machen ihrem Namen Ehr’ und umgehen, leider nicht die Wildnis, sondern die Ballungsgebiete, die man hinsichtlich von Lärm und Krach sowieso nicht retten kann: Warum also, bitteschön, auch noch die Wildnis beschallen? Da baust du dir dein Haus weitab jeder motorisierter Zumutung, nur um nach zwei paradiesischen Jahren herauszufinden, daß eine neue Autobahn geplant ist, deren Trasse zweihundert Meter hinter deinen Apfelbäumchen verlaufen wird. Stille hört sich anders an.
Oder auch: Ruhige Mieter ziehen aus, weniger ruhige Mieter ziehen nach; nebenan wohnt plötzlich jemand, der Schlagzeug übt, während unter dir die stille Handarbeitslehrerin eines Tages beschließt, sich das Violoncellospiel anzueignen. Selbst für einen Liebhaber des Cellospiels sind die ersten Gehversuche eines Anfängers auf einem Streichinstrument meist kein reiner Hörgenuß.
Und noch weniger zu vermeiden: Die Natur des Lebens selbst. Irgendwann sind aus den liebreizenden Nachbarskindern nicht mehr ganz so liebreizende Teenagergören geworden, die ihrerseits den Liebreiz von Geräuschen entdecken, die du nie im Leben als Musik bezeichnet hättest. „Zimmerlautstärke ist, wenn ich drüben nichts mehr höre“, denkst du dir, fassungslos, daß das andere anders sehen.
Von Wohnung zu Wohnung, von Haus zu Haus: Schlagzeuger gegen Heavy-Metal-Fan eingetauscht. Von der Stadt aufs Dorf, Autoverkehr gegen Schützenvereinrumtata gehandelt. Vom Dorf aufs Land, Traktoren und Kreissägen statt Schützenvereinrumtata. Wohnwagen im Wald: Sonntags die Ausflügler. Nein, es gibt kein Entkommen. Und jeder Raum der Stille ist nur von Augenblick zu Augenblick still. Jederzeit kann der Krach losschlagen, überall. Es gibt keine Anti-Lärm-Lobby. Es gibt Nichtrauchergesetze, aber keine Anti-Lärm-Gesetze. Würde man über die schalldichte Isolierung von Wohnraum genauso intensiv nachdenken wie über Wärmedämmung oder neue Straßen für noch mehr Autos, könnten wir wenigstens auf eine bessere Zukunft hoffen. Aber wo kein Problem ist, da wird auch nicht über Lösungen diskutiert. „Sie stören mich mit Ihrem Schweigen ja auch nicht.“ Und so sind wir, die Lärmkranken, die Geräusch-kann-tödlich-sein-Fraktion, überall heimatlos, Vertriebene, Nomaden auf der Flucht vor dem Lärm der Zeitgenossen wie vor unserem eigenen Gehör.

Fortschrittslärm

Als lärmempfindlicher Mensch, der von modernen Formen der Lärmheimsuchung gequält wird, wie sie in Gestalt von Autoradios, tragbaren Audiogeräten jeder Art, von Telephongeklingel und -gequatsche auftreten, aber auch von nicht mehr so neuartigen Geräuschquellen wie automobilen Fahrzeugen und Fluggeräten aller Art ausgehen, muß man sich früher oder später die Frage stellen: Wie war es früher? War es früher leiser? War die Lärmbelästigung vor der Erfindung des MP3-Spielers und des Automobils geringer – oder sind diese neuartigen Lärmquellen nur an die Stelle früherer, mittlerweile vergessener Geräuschursachen getreten?

Leicht fallen einem da zahlreiche, glücklicherweise verschwundenen Ärgernisse ein. Noch in den frühen achtziger Jahren gehörten junge Männer, die mit einem auf volle Lautstärke gedrehten Tonbandgerät auf der Schulter durch die Einkaufszone stolzierten, zum alltäglichen Bild deutscher Innenstädte. Sie sind ebenso verschwunden wie die Skateboarder, die, wo man nur fahren konnte (und oft auch, wo man es nicht konnte), auf ihren Brettern alle möglichen und unmöglichen Fahrkunststückchen ausprobierten (da man dazu mehr als nur manchmal abspringen muß, macht das, wie jeder jenseits eines bestimmten Alters weiß, ein gewisses Geräusch). Zweimal im Jahr Probealarm, mehrmals wöchentlich militärische Tiefflieger, auch das gibt es gottlob nicht mehr.

Steigt man weiter zurück in die Vergangenheit, verschwinden immer mehr Geräusche – und neue kommen hinzu. Die Pferdekutschen wurden durch Automobile abgelöst, waren aber sicher ebenso laut, wenn nicht lauter. Ältere Automobile machten viel mehr Lärm als moderne, deren Motoren kaum mehr als leise brummen. Dafür gibt es ihrer aber auch hundertmal so viele. Dampfeisenbahnen dürften auch eine höhere Lautstärke erzielt haben als moderne Züge; auch sie fuhren aber seltener. Von dampfbetriebenem ÖPNV im Viertelstundentakt konnte jedenfalls damals keine Rede sein. Dafür war die elektrische Straßenbahn, mehr noch die Untergrundbahn dort, wo sie eingeführt wurde, in Termini der Lärmbelästigung eine enorme Erleichterung. Je nachdem, wo man wohnte, dürften empfindliche Ohren also in früheren Zeiten kaum weniger unter Lärm gelitten haben als heute. Das Lärmbewußtsein war darüber hinaus ein anderes; was noch als zumutbar oder gar als normal galt, dürfte nach heutigem Maßstab vielleicht nicht mehr durchgehen. Regeln wie die Mittagsruhe sind eine moderne Errungenschaft (die de facto leider als wieder abgeschafft gelten muß). Dafür war aber die Qualität des Lärms von heutigen Geräuschen deutlich verschieden. Mag sein, daß Pferdefuhrwerke es auf den gleichen Dezibelwert schaffen wie Autos; dennoch ist das Geräusch natürlicher und, möchte man vermuten, leichter zu ertragen. Wellengebraus oder Wasserfälle, obgleich ziemlich laut, zählen auch nicht zu den Geräuschen, an denen die Menschheit leidet, im Gegenteil. Naturgeräusche, auch durchaus kräftige, werden im Allgemeinen als weniger störend empfunden als technische. Angeblich haben Regengeräusche, Wellenschlagen und Meeresbrandung sogar eine heilsame Wirkung. Dessenungeachtet soll Immanuel Kant, von ständigem Krähen genervt, den Hahn eines Nachbarn kurzerhand in den Suppentopf befördert haben. Und manch einer empfindet es vielleicht als Fortschritt, Autolärm statt das Geschrei spielender Kinder ertragen zu müssen. Die Geschmäcker sind wohl nicht nur bei Musik verschieden. Auch dort gilt ja bekanntlich, daß „sie oft nicht schön empfunden/wenn sie mit Geräusch verbunden.“

Anwesenheiten

Die Wohnung vorzeitig verlassen, geflohen! einen Zug früher genommen, nur um nicht länger: Ich Er. Tra. Ge. dieses Geräusch nicht, ums verrecken nicht. Die Toilettenlüftung der Nachbarn. Da haben sie schon zwei Bäder, eines davon mit Fenster, aber nein, dieses müssen sie benutzen und mir mit der idiotischen Lüftung die Ohren vollheulen. Es gibt Geräusche, die sind einfach im schlimmsten Sinne des Wortes un-: Un. Er. Träg. Lich. Ich mache das Radio an, drehe am Lautstärkeregler herum, konzentriere mich auf die beruhigenden Stimmen. Zwecklos. Das Heulen ist überall, draußen, drinnen, unter dem Sofa, in allen Ecken, in den Ohren, im Schädel, im Knochenmark, eine unausweichliche, quälende Anwesenheit, daß die Nervenfasern nur so knistern. Also raus. Aus der eigenen Wohnung gejagt. Hatten wir das nicht schon einmal?
Auch verwirrend: Seit ein paar Tagen diese merkwürdigen Flecken, fettiges Dunkel mit einer weißen Stippe darin, man sieht das überall jetzt auf dem Boden, auf der Straße, auf dem Bürgersteig, was ist das? Fliegendreck? Vogelschiß? Runtergetropftes Vanilleeis? Und was hat das mit dem Toilettenlüfter …? Ist ja auch egal.
Im Zug jedenfalls wieder sehr voll, das heißt, gar nicht mal so, aber man bemißt solcherlei Ärgernisse ja immer am Erwarteten, und da jetzt Schulferien sind, mithin die Züge sich angenehmst leeren sollten, wie in vergangenen Jahren auch schon, um die sechs angenehmsten Wochen des Jahres einzuleiten – erwarte ich nunmal leere Räume, Stille, ungeatmete Luft. Vergiß es. Der beste Urlaub wäre dann, wenn vier fünftel der hiesigen Bevölkerung einfach im Urlaub verschwänden, verschollen gingen, ausstiegen, auswanderten, was weiß ich, um nie wieder hier unangenehmst, auch sie nämlich eine quälende, nervenmarternde Anwesenheit, aufzufallen.