Rodestraße (Noch ein Morgen)

Am Tisch, des Morgens. Die Schattenspiele betrachten. Den Rücken zum Licht und zur Frühe. Mit halbem Ohr auf die Vögel achten. Der blankgewischte Tisch. Die erloschene Kerze vom Abend. Die verblühte Akelei. Die Schlafende im Nebenzimmer. Ein Wind weht durch die Schatten, kräuselt den Schimmer auf der Tapete. Die Küche schrumpft zu einem Ensemble stumpfer Flächen. Die Uhr nimmt ihr Ticken wieder auf, die Zeit schreitet fort und von etwas weg, das du wieder nicht erfaßt hast. Die Flächen stellen sich dicht an dicht. Die Reflexe auf den Gläsern sind starr, die Blütenblätter liegen in derselben Ordnung um die Vase, nur im Schließen des Augenblicks, in seinem Vorbeisein, merkst du es und hast es schon wieder verloren. Wie dieser Schimmer vielleicht in den Strom der Zeit hineinfiel, ein Wehen vorbeistrich, ein Wort beinahe hörbar wurde. Die Fläche des Glases, die mehr trennt als Drinnen und Draußen. Das Licht schwindet, kommt wieder, erlischt endgültig, die Vögel verstummen einer nach dem anderen, als gäben sie ihn schon auf, diesen Morgen, diesen kaum begonnenen Tag.
Sich zusammenreißen, noch einen Absatz schreiben; Kaffee machen, ins Nebenzimmer und wecken gehen und los, und weitermachen, als wäre das schon alles, als wäre wieder nichts geschehen.

Meßdorf

Es war Nacht geworden, und das Meßdorfer Feld glitzerte unter einem Saum ferner Lichter. Ich ging und erreichte die Straße, Verkehr lief kreuz und quer, und die Fensterbilder beim Gemeindezentrum lachten in die Dunkelheit hinaus.

Wie sich da etwas verschob, auseinandergeriet, abermals zur Deckung kam: Als wäre plötzlich ganz leicht zu erreichen, was „jetzt“ heißt. ein für allemal. Wasser gluckerte, ein Vogel schlug klatschend die Schwingen. Stille strömte zurück. Ging dort nicht jemand? Unter den Pappeln, am Bach?

Von der Durchgangsstraße dröhnte der Feierabendverkehr, aber es war, als habe sich plötzlich ein Raum geöffnet, den das Brausen der Fahrzeuge nicht mehr erreichte. Fast drang das Licht aus den Fenstern des Gemeindezentrums bis hierher. Eine Kreuzung verschlammter Feldwege, Krümel von Abend, lotrechter Rauch. Überm Meßdorfer Feld hing ein Film transparenten Leuchtens, dessen Hall bis zu den Pappeln, dem Wegekreuz und dem Brückchen reichte und reihum auf Metall und Stein, auf Pfützen und Grasbüscheln liegenblieb. In der sinkenden Nacht geriet Nahes und Fernes in Verwirrung. Ein silbriger Steg in der Ferne des Dorfrands entpuppte sich als Wasserstreif vor den eigenen Füßen. Eine Fahrradlampe schwebte lange Minuten in nächster Nähe, ehe der Raum es sich plötzlich anderst überlegte und das Licht in einer angestauten Ferne verschwinden ließ.

Und dann, als alles still geworden und die Wege in Verwirrung gerieten, ging jemand dort unter den Pappeln. Ein Schleier hob sich, zwischen Büschen schimmerte ein Pfad, ein Schritt fiel, ein Kiesel sprang weg. Aus der Dämmerung glitt das schimmernde Geländer einer Brücke.

Plötzlich konzentriert sich der Abend auf diese Bewegung an seinem Rand, an seinen Augenwinkeln; wird sich des Haarschopfs bewußt, achtet auf die Rundung der Schultern, blickt auf die Silhouette, die da unter dem Firnis der aufziehenden Nacht erschienen ist, um sogleich wieder in den Wirrnissen der Uferböschung, zwischen den Pappeln, den Sträuchern, der Faltung des Wegs, zu verschwinden.

Aber noch nicht, nicht sofort: Noch könnte sie stehenbleiben, sich nach einem Hund umdrehen, im Erstarren der Bewegung mit den Spiegelungen des Bachs verschmelzen, mit dem Rest vom Restlicht, das auf den Pappelblättern liegt. Noch könnte sie diesem Abend einen geheimnisvollen Sinn verleihen.

Ich war schon vorüber, als mir das wieder einfiel. Der Abend war kalt bis in die Fingerspitzen. Die Kreuzung der Wege, die Säulen der Pappeln, die Brücke, das alles lag in einem ruhenden Zentrum von Bewegung, die nur knapp außerhalb der transparenten Begrenzungen dieses Raums stattfand. Lichter flackerten. Motoren brummten und verklangen. Reifenrauschen flutete an und ab. Hörbare Dinge; und doch reichte nichts davon in den Raum jenes Augenblicks, in dem ich einen Schritt machte oder viele, in der die Amsel zeterte (deren andere Lebendigkeit mit dem Leben auf der Kreuzung nicht in Berührung kam, niemals in Berührung würde kommen können), jenes Augenblicks, da drüben jemand ging und den Weg zum Bach einschlug; sich anschickte (während von der Kreuzung vor dem Gemeindehaus ein Wagen am Zebrastreifen bremste; vier Mobiltelephone ihre Nachricht versandten; eine Kirchturmglocke einmal schlug; eine Straßenbahn bremste), im dunklen Kanal zwischen Sträuchern und Pappeln zu verschwinden; nicht anhielt, nicht langsamer wurde, sondern selbstvergessen und ruhig, seiner selbst gewiß wie eine Figur, die seit Jahrhunderten sich auf einem Ölgemälde am rechten Platz weiß, die Schritte bachaufwärts lenkte, einmal hinter den Sträuchern flackerte, verschwand, wie sie es seit Jahrunderten zu tun pflegt.

Und plötzlich wimmelte es in diesem Abend von anderen Dingen. In den Pfützen war eben der Kirchturm zitternd zur Ruhe gekommen. Die Kiesel zogen eine Richtung aus dem Weg. Lichter waren, fern, punktförmig, als seien sie sich eben selbst wieder eingefallen. Kaum zu hören, hinter Schleiern und Schleiern aus Frost: der Bach. Der Bach und ein Schritt. Eine zeternde Amsel, die Stille, der Bach. Und dann dieser eine, leichte, fallende Schritt, dieser Irrtum von Schritt, eine Schuhspitze, die einen Kiesel wegstößt, eine Handvoll Erde, die nachgibt, ein Blatt. Die Erinnerung an ein Geräusch. Sonst nichts.

Es war Nacht geworden, und das Meßdorfer Feld glitzerte unter einem Saum ferner Lichter. Ich ging und erreichte die Straße, Verkehr lief kreuz und quer, und die Fensterbilder beim Gemeindezentrum lachten in die Dunkelheit hinaus. Aber gerade hatte hinter mir eine Amsel gezetert; eine Glocke geschlagen; hatten sich zwei oder drei Zeiten gekreuzt und waren wieder auseinandergegangen, lautlos. Und einer dieser Stränge strahlte aus und wurde Zeit und Vergangenheit, und floß als Geschichte zurück in jenen Moment, da die Amsel gezetert hatte und dort am Bach jemand gegangen und als weicher Schatten unter den Pappeln verschwunden war.

Am Fenster

Es wimmelt von kleinen Toden im Garten.
Schillern von Insektenflügeln. Blindheit von Kröten. Spalten im Kalk, darin Schicht um Jahresschicht von Schatten. Auf dem Mäuerchen über den geöffneten Klingen einer Gartenschere ein gelbes Blatt. Kirsche oder Pflaume. Seine Adern in der Sonne leuchtend. Drüben die Terrasse, ein Menschenalter entfernt. Eine Jugend wurde woanders zu Stein. Wolken betrachten sich in den Fensterscheiben. Das Tal fällt vom Garten hinab zu den Straßen, den Kreuzungen, den flackernden Ampeln.
Auf der Fensterbank reifen Bläschen im Brunnenwasser. Das nach unten aufgeschlagene Buch nickt, als sei es seiner eigenen Geschichte müde.
Im Fenster ein Baum, die kahlen Äste hinausgestreckt in eine stets anwachsende Helligkeit, deren Diesseits, fühlt man, plötzlich nichts als papierener Schatten ist. Der Baum weiß, wie hell der Raum ist, in dem seine Zweige verschwinden, hinter der Mauer. Hinter dem Rahmen, der Uhr, dem allerneuesten, allerbuntesten Kalender.
Als wäre die Zeit genau das. Je neuer, desto bunter.
Jenseits der kleinen Tode, im Garten, auf der Mauer, erhebt sich auf leisen Sohlen das Licht. Eine kaum merkliche Regung und Richtung. Im Gras ein Paar Handschuhe mit Halmen zwischen den Fingern, eine weggeworfene Harke, ein Gummistiefel, aufrecht, im Schritt verlorengegangen. Zeichen eines lang verschwundenen Nachmittags, als hier jemand ging und den Stiefel stehenließ. Die Sonne wendet sich ab, zittrig, von blassen Vögeln durcheilt. Ein Strauch hält eine Jacke in den Wind.
Im Garten bleiben die Rosen zurück, der Stein, eine Sichel, die Schere, der Maulwurfshügel. In den Regentonnen hat sich vor Jahren einmal ein Herbst gespiegelt. Nun sind sie stumpf. Dunkelheit steigt daraus empor. Ein Falter findet den Tod in einer Pfütze voller Wolken. Plötzlich kann man das Raspeln hören, mit dem die Ränderchen des Kirschblatts ins Licht sägen. Die Farben schlagen die Augen auf. Am Fenster der Blick, lichtauf, zur Mauer, woher alles strömt, lichtauf, und noch, und noch. Was wäre das für ein Blick, der dieser Richtung folgen könnte, hinauf und weiter bis zum Ende des Leuchtens.
Einen Ast noch hoch, gerichtetes Strahlen, und weiter, und heller. Die Mauer zerfällt, durch die Jacke bläst der Wind, der Gummistiefel füllt sich mit Wasser. Das Licht aber steigt darüber hinweg, schwebt, stößt sich ab von der leeren, leichten, federnden Krone des Ahorns. Wo das, was sich im Tag versammelt, zum Greifen fern ist. Hinter der Wand, jenseits des Kalenders. Die Tapete stürzt ins Dunkel, während draußen der Hasel leuchtet. Ein Wasserhahn tropft. Eine Diele knarrt. Der Raum pflanzt sich fort und zeigt auf sein eigenes Jetzt. Irgendwo zwischen Wand und Baum und Ast, losgelöst von Schere, Kirschblatt, Harke. Losgelöst von Stein, Mauer, Schatten, aufwärts. Weiter. Ein unerreichbar nahes Anderssein im Licht. Die Wolken sind schon immer von hier. Und der Wind. Dahinter aber schweigt alles. Vögel kommen nicht von dort. Keine Stimmen. Kein Ton.