Mitnotiert, 22. Januar 2018

Wach mit Bach. Nein, so wollte ich diesen Tag und diese Notate eigentlich nicht beginnen. Ich bin erstaunt, was für ein fleißiger Wiederverwerter der Großmeister des Barock gewesen ist. Nach ein paar Takten des Stücks, Solo-Orgel, deren ununterbrochene 16tel-Kette von gelegentlichen Trompeten- und Streichereinwürfen unterstützt wird, und die Verfremdung ist so groß, daß ich bis weit über die Hälfte der Spielzeit brauche, um herauszufinden, woher ich das Stück kenne. Da gibt es nämlich eine Sonate für Violine solo (Partita E-Dur, BWV 1006), die ich aber zuerst in einer Bearbeitung für Laute (BWV 1006a), vorgetragen auf einer Gitarre (von Sharon Isbin, 2002), kennengelernt habe; und was die Orgel hier vorträgt, klingt ganz verdächtig nach genau diesem Stück, von dem sich später herausstellt, daß es die einleitende Sinfonia zur Kantate Wir danken dir, Gott, wir danken dir (BWV 29) ist.

In jenem Sommer warb ich mit halbem Herzen um eine Frau, die mir T. C. Boyles Wassermusik zur Lektüre empfahl, und mit dem anderen halben Herzen fuhr ich nach der südlichen Stadt B. und besuchte dort meine Freundin. Ein in seiner seltsamen Teilung ganz und gar heiler Sommer. Es war gut, aussichtslos um jene Frau zu werben, und es war gut, halbherzig meine Freundin zu besuchen. Aus dem einen wurde nichts, das andere löste sich auf; was blieb, war die wunderschöne Musik und die bittersüße Erinnerung, die sie mir in der Version für Laute bis heute vermittelt. Es ist nicht immer schlimm, aussichtslos zu werben. Manchmal tut man es um des Werbens willen. Es ist auch nicht schlimm, wenn Dinge aufhören, die ihre schöne Zeit gehabt haben. Man kann nichts zwingen. Etwas zu wollen ist aber manchmal schon das schönste, was man haben kann. Eine Zuwendung und Richtung, die dem Dasein einen Sinn verleiht, und sei es auch nur ein vorübergehender. Es ist manchmal gut, ja zu sagen, auch wenn man keine Antwort bekommt. Wenn ich die Musik höre, denke ich unwillkürlich an eine hochgewachsene Pappel in einem Schwimmbad, an das meeresartige Rauschen der Blätter und das Steigen und Fallen des silbrigen Windes in der Krone. Fast grolle ich dem Meister, daß er das Stück etwas effekthascherisch in seiner Kantate verwurstet hat, denn so, mit den Trompeten und den Streichern, die wie anfeuernde Rufe dazwischenfunken, hat das Stück einen ganz anderen Charakter, ist die ganze strenge Melancholie verflogen.

Zeiten und Zeitpunkte. Momente und der richtige Moment. Es gibt für alles den rechten Moment, aber nicht nicht den rechten Moment für alles. Diese richtigen Momente können einer den andern ausschließen oder einander bedingen. Eine Kette von Ereignissen und Entscheidungen führt auf meiner Seite der Geschichte in jenen Sommer hinauf; eine andere Kette auf der Seite von O., in die ich damals mit halbem Herzen verliebt war, bis zu jenem Moment, da wir uns einmal im Treppenhaus eines Unigebäudes begegneten und eine Stunde blieben und Kaffee tranken. Ich, auf der Treppe sitzend, Sie, auf der Fensterbank hockend, rauchend, ich sehe ihre Silhouette immer noch vor mir. Sie sagte mir, daß sie nicht gerne reise. Ihr Haar, Strähnen hatten sich aus dem Knoten gelöst, leuchtete wuschelig im Gegenlicht um ihren verschatteten Kopf. Ich behauptete, daß ich schon immer gern unterwegs gewesen sei; was nicht stimmte, nur wußte ich es da noch nicht. Sie war verpartnert, ich war verpartnert, beide in Fernbeziehungen, ideal eigentlich, aber in dieser Geschichte war es nicht hilfreich. Und wer weiß. Wahrscheinlich hätte ich nicht den Mut für eine Affäre gehabt, damals noch nicht. O. strahlte eine Matter-of-Fact-Leidenschaft aus. Ich nehme mir, was ich will, aber es gibt klare Grenzen für das, was ich will. Das meiste will ich nämlich nicht. Man konnte nicht von Reserviertheit sprechen, nur von Entschiedenheit, eine Entschiedenheit, die indes nicht mit Begriffen von Moral faßbar war. Ebenso wie sie nicht gern reiste, lehnte sie Tschaikowski vehement ab und jubelte Mozart ebenso vehement zu. Wenn ihr etwas nicht gefiel. gefiel es ihr absolut nicht, wobei sie eine begeisterte Schimpferin war. Einmal hatte jemand für unseren Literaturkreis den Vorschlag gemacht, Saramagos Stadt der Blinden zu lesen. O. fing das Buch an, es genügten ihr ein paar Seiten, um es in Bausch und Bogen zurückzuweisen. So etwas lese sie nicht, das sei ekelhaft. Wenn wir beschlössen, uns dieses Buch vorzunehmen, steige sie aus. — Wir lasen dann was anderes. O. war ganz oder gar nicht, aber nicht, weil das ihre Devise gewesen wäre, sondern weil sie eben so war. Ich dagegen habe damals wie heute Devisen gebraucht, um überhaupt etwas oder jemand zu sein.

Wach bin ich unterdessen auch mit Bach nicht geworden, und jemand zu sein fällt an einem so trüben Tag besonders schwer. Am liebsten wäre man einfach niemand. Man wäre der Nieselregen, unterschiede sich nicht von den Wolken, wäre die traurige Amsel selbst und der Anblick der Amsel zugleich. Man hätte Hände aus Wind und Zehen aus Regenpfützen und eine Stirn aus weichen, kühlen Ackerschollen.

Acht Uhr und noch immer nicht richtig hell. Mit Mühe löse ich den Blick von den stattlichen Pappeln, in deren silbrigem Springbrunnensäulen er sich zuletzt verloren hat, und kehre aus dem Sommer längst vergangener Tage in dieses heutige Winterzimmer zurück, wo man wohl oder übel seinen Tag beginnen muß, und wo im Radio der Moderator gerade das nächste Stück ansagt, etwas Heiteres, Beschwingtes und durch und durch Zuversichtliches, einen Sinfoniesatz von Mozart.

Erzähl er nicht weiter, Herr Urian!

Früher war es das Reisen.
Eine gebotene Narrheit, ein Traum, hatte das Reisen zur Hauptperson jemanden, der ich nicht war, der ich aber gerne gewesen wäre. Das Reisen erforderte Eigenschaften, die ich im höchsten Maß nicht besaß, aber besitzen wollte, Coolness, Anpassungsfähigkeit, Angstfreiheit, Extrovertiertheit, Neugier, Unerschrockenheit, Schläue, Abenteuerlust, und gerade deshalb war ich so oft auf Reisen, so mit verbissener Leidenschaft, Hartnäckigkeit, ja Trotz unterwegs, als könnte ich auf diese Weise die mangelnde Coolness erwerben oder einüben, bis sie saß. Je öfter gereist, je schwieriger die Umstände, desto cooler, auf Dauer. Dachte ich.
Großgeworden im Zeitalter des aufstrebenden Rucksacktourismus (Stichwort „Land und Leute kennenlernen“), neuentdeckter Authentizität von Balsamico-Essig und Single-Malt-Whisky, in einer Generation, die plötzlich genau zu wissen glaubte, wie das Originalrezept für Tiramisù gehe, und denen „Insalata caprese“ leichter über die Lippen kam als „Grünkohl mit Pinkel“, unter Menschen, die größere Vertrautheit mit dem Didgeridoo als mit der Zupfgeige bewiesen – in dieser plötzlich ganz dem Außen zugewandten, Weltoffenheit und -läufigkeit demonstrativ zur Schau stellenden Umwelt galt für mich nicht minder, was für alle Altersgenossen galt. Wer jung war, mußte reisen. Wer es nicht tat, galt als vorzeitig vergreister Toast-Hawaii-Esser. Das wollte ich natürlich nicht sein. Niemand wollte das, auch wenn der Toast Hawaii heimliche Lieblingsspeise blieb. Man war nicht ehrlich, man verschwieg das, und bildete sich ein, die „original italienische Salami“ vom Discounter sei besser. Wenn ich ehrlich zu mir gewesen wäre: Dann hätte ich lieber Ostfriesenmischung als Assam FTGFOP getrunken. Und wenn ich noch ehrlicher gewesen wäre: Dann wäre ich zu Hause geblieben.


Denn wohl habe ich mich nie gefühlt auf Reisen. Ich habe es immer schon gemütlich, vorhersagbar und bequem haben wollen. Zwar wäre ich gern ein Abenteurer gewesen, nur Abenteuer erleben, das war nun doch etwas viel. Ich wollte mutig sein, aber nicht in Situationen geraten, die Mut erfoderten. Sein, nicht machen: Ich wollte jemand sein, für den es keine Gefahren, sondern nur Herausforderungen gab, kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung (und schlechte Laune), einer, dem es gelingt, die ganze Welt zu seinem Wohnzimmer zu machen. Dabei haßte ich schon den unbedeutendsten Zwischenfall, einen verspäteten oder verpaßten Zug etwa, oder wenn ich mich in einer Altstadt verlief, mir die Landessprache trotz Intensivkurs verschlossen blieb oder eine Hoteladresse nicht zu finden war. Schmutzige Betten, kaltes Duschwasser, unlesbare Fahrpläne, überlaufene Sehenswürdigkeiten konnten mich ebenso ärgern wie nervtötende Eigenschaften Einheimischer, etwa, immer freundlich „ja“ zu sagen, wenn sie „nein“ meinten (Bolivien), mir das Blaue vom Himmel herunterzulügen über das hübsche Hotel des Schwagers (Griechenland), bei Regenwetter mit Sonnenbrille herumzulaufen (auch Griechenland), oder aus zehn Kilometern zehn Meter zu machen (überall auf der Welt).

Ich arbeitete hart an mir. Irgendwann mußte es mir doch gelingen, die albernen Sonnenbrillen exotisch zu finden und das Ramschgeschäft mit dem heruntergekommenen Hotel des Schwagers für unverfälschte autochthone Gastfreundlichkeit zu halten. Das machten die andern doch schließlich auch! Laß es einfach auf dich zukommen, sprach ich zu mir selbst mit zusammengebissenen Zähnen, alles ist Erfahrung, urteile nicht so viel, entspann dich einfach. Ich entspannte mich – und verpaßte den Bus, weil ich den Fahrplan nicht zu entziffern vermochte.

Wenn ich reiste, war ich nicht so sehr irgendwoher irgendwohin unterwegs; besuchte ich nicht andere Länder oder Gegenden; war ich nicht auf der Suche nach etwas, sondern nach meiner Rolle dabei. Spaß machte das nicht. Meistens nicht. Natürlich gab es Momente seltsamer Intensität, an die ich heute noch gerne zurückdenke. Die Fahrt um Mitternacht Ortszeit vom Flughafen El Alto hinunter in den Canyon, an dessen Hängen das Lichtermeer von La Paz, tief, tief unten, emporbrandete; ein fetter Vollmond, geschwollen wie eine leuchtende Made über Piräus, beim Auslaufen der Fähre hinüber nach Kreta; ein Tagesanbruch in einem Park in Hieraklio, griechische Erde und Sonne, das Blitzblanke eleganter Frauen beim Morgenspaziergang mit ihrem Hund. Aber diese Erinnerungen, eingebettet in den größeren Kontext der Widerwärtigkeiten, die solchen Momenten vorausgingen (Streit mit Taxifahrern) und folgten (stressige Hotelsuche im Zustand völlier Übernächtigung), sind heute stets begleitet von der Erleichterung, daß es vorbei ist – und dem Bedauern darüber, daß das Reisen insgesamt nicht schön gewesen ist, und ich an der Stelle meines Scheiterns an Widerständen, meiner Unfähigkeit, auch diese Widrigkeiten als positive Erfahrung abzuspeichern, gern eine andere Erinnerung über dieselben Ereignisse und Begegnungen besäße, eine angenehmere, anders gefärbte ebenso wie eine versöhnlichere, stolzere von mir selbst.

Das Reisen war insofern eine Probe, in der ich mich selbst zu spielen versuchte – und scheiterte. Ich mochte nicht das Reisen, ich mochte die Vorstellung vom Reisen, ebenso wie es mir mehr Freude und Erkenntnis bringt, bei einer Tasse Kaffee einen Ausstellungskatalog zu studieren, als selbst ins Museum zu gehen. Ich mochte über fremde Länder lesen; sie selbst zu bereisen, dazu fehlte mir jedes Talent, jedenfalls, wenn ich dabei einen Genuß haben wollte.
Nicht nur Mut, Anpassungsfähigkeit, Coolness fehlten. Es fehlten auch die Hartnäckigkeit und die Neugier des Entdeckers. Nicht, daß ich nichts hätte entdecken wollen. Nur wollte ich es um des Entdeckens, nicht des Entdeckten Willen. Ich wäre gern der erste gewesen, ein erfolgreicher Jäger von Kuriosem, Grandiosem, bis dato unentdeckt Spektakulärem, wäre gern auf das gestoßen, was man heute so paradox als Geheimtip weitergibt. Auch hier ging es nicht ums Reisen, auch nicht darum, etwas Aufregendes zu erleben oder etwas Neues zu sehen. Es ging einzig darum, später einem staunenden Publikum davon berichten zu können. Natürlich entdeckte ich auf diese Weise nichts, weil mir ja, was es vielleicht zu entdecken gegeben hätte, im Grunde egal war.

Einmal, auf Klassenfahrt in London, ging ich allein ins British Museum. Wir hatten einen Nachmittag zu unserer freien Gestaltung, und meine Wahl fiel auf das BM. Sicher wird mich das Museum interessiert haben, es gibt dort derart viel zu sehen, daß für jeden etwas dabei ist. Aber das war es nicht. Mir gefiel die Vorstellung von mir, wie ich ganz allein in London ins British Museum ginge. Wie ich einer wäre, dem eine solche Unternehmung Spaß machte und – gelänge. Ich ging also hin und sah – nichts. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung von den schier unermeßlichen Dimensionen dieser Institution, ich hatte mich nicht informiert, ich zog keine Pläne zu Rate, ich fragte nicht nach einer Führung. Ich sah mich in der allerersten Halle ein wenig um, wo es irgend etwas Altägyptisches zu sehen gab, versuchte vergeblich, etwas von dem griechischen Text auf dem Rosetta Stone zu entziffern, nickte dennoch fachmännisch mit dem Kopf (sieh da, Griechisch) – und ging wieder. Nach einer halben Stunde. Weil ich dachte, das sei alles. Ich war weder enttäuscht noch verwundert, weil ich nicht wußte, was ich hätte erwarten sollen. Ich war auch eigentlich nicht besonders neugierig. Ich war dagewesen, damit war es gut. Erst später ging mir auf, daß ich vielleicht ein Promill des Museums gesehen hatte, das erste Wort im ersten langen Satz eines tausendseitigen Romans. Es war so, wie stolz darauf zu sein, die erste Seite von Schuld und Sühne aufgeschlagen zu haben. Ein bißchen schämte ich mich später dafür, aber in dem Moment, wo ich das British Museum an jenem Nachmittag wieder verließ, im Glauben, es gesehen zu haben, zählte nur eins: Ich war ganz allein in London ins British Museum gegangen. Und außerdem war mir langweilig. Jahrzehnte später las ich Neil McGregors Geschichte der Menschheit in hundert Objekten, eine kulturhistorische Schwarte, die an hundert ausgewählten Exponaten des BM entlangerzählt ist; ich fand es großartig, zum Durchlesen, zum Stöbern, zum Immer-wieder-Nachblättern und Staunen. Damals, in London, hätte ich auch besser einen Katalog oder eine Geschichte der Pharaonen zur Hand genommen, als durch die sommerheiße, schmachtende City of London zu latschen, um sowohl einer Rolle zu entsprechen, wie auf der Suche nach etwas, von dem ich erzählen könnte.

Und so war es eben oft. Doch mochte ich mir nie eingestehen, daß ich die Landkarte spannender fand als die Landschaft, deren Abstraktion sie war, eine Landschaft, deren tatsächliche, sicht- und anstaunbare Merkmale, egal wie großartig diese auch sein mochten, immer hinter der Unendlichkeit der imaginierten Räume zurückbleiben mußte, die das bedruckte Papier in seiner abstrakten Repräsentation anbot. Ich mochte mir nicht eingestehen, daß Reiseberichte weit vergnüglicher waren, als sich selbst auf den Weg zu machen. Denn mein Wunschbild von mir selbst war nicht das eines gelehrten Stubenhockers, da hätte ich niemals hineinschlüpfen können; sondern das eines Unerschrockenen, der sich selbst ein Bild von der Welt macht. Ich mochte mir nicht eingestehen, daß ich, selbst wo ich versuchte, die Rolle dieses Draufgängers möglichst echt zu spielen (wozu immer auch gehörte, daß ich mich so zu fühlen bemühte, wie ich meinte, daß sich ein Draufgänger fühlen müsse), doch nichts weniger als ein Draufgänger war. Ich hoffte, meinem Rollen-Ich immer ähnlicher zu werden, bis wir zwei, der Schauspieler und seine Rollenfigur, dereinst ununterscheidbar geworden wären.

Was ich nicht begriff, oder jedenfalls erst viel später, war, daß das Reisen, weit entfernt davon, den Reisenden in eine mutigere Version seiner selbst zu verwandeln, im Gegenteil sein wahres feiges Selbst überhaupt erst richtig zum Vorschein brachte, quasi freipräpariert vom Skalpell der Fremdheit, die es umgibt. So wurde ich auf Reisen nicht der, der ich sein wollte, sondern unvermeidlich der, den ich in mir selbst am meisten verachtete.

Life-Photoalbum

Es ist merkwürdig, sich einem Ort zu nähern, den man, früher oft und gern frequentiert, seit ein paar Jahren nicht mehr betreten hat. Es ist, als habest du den Ort vergessen. Aber der Ort erinnert sich besser an dich als du dich an den Ort. Du fühlst dich wiedererkannt. Das heißt nicht, daß du schon willkommen bist, und wer bist du denn eigentlich und stiefelst hier herum, als gehörtest du dazu? Du wirst taxiert. Du bist fremd geworden, du bist hier ganz allein, allein mit deinem Packen Zeit, das du mit dir rumschleppst, und mit dem du dir so lächerlich vorkommst, als trügest du die Mode eines vergangenen Zeitalters: Mache ich auch alles richtig? Man möchte das irgendwie loswerden, diesen Ballast. Und hier wie zum ersten Mal erscheinen, am kurzen Mittagsschatten einer Erzählung, die jetzt erst anfängt. Aber hier ist ja alles herbstlich. Wie ein abgelassenes Schwimmbecken, an dessen regenfeuchtem Grund Laub liegt, die Umkleidetüren sind abgeschlossen, die Duschen abgedreht, der Eiswagen dichtgemacht, auf den Tischtennisplatten liegen Ahornsamen und Vogeldreck. Der Ort liegt verlassen und seines Zwecks verlustig da, wie ein Freibad im Winter.

Es ist ein Freibad! Aber es ist Sommer, abermals Sommer, doch nicht mehr dein Sommer, nicht mehr einer jener Sommer, du weißt schon. Als die Zukunft vibrierend überall bereit lag, man mußte nur zugreifen. Als es noch nicht schnell genug gehen konnte mit ihr. Als sie noch unendlich war und in dieser Unendlichkeit sich für jedes Unglück ein Trost, für jede Niederlage ein Sieg, für jeden Verlust ein anderer Reichtum finden ließ. Es würde alles, alles gut werden, lachte diese Zukunft, nach jedem schwierigen Stück Wegs ist immer noch genug von mir da für ein leichtes, für jede triste Zeit hab ich immer noch genug in mir für eine heitere, du kannst auf mich und zu jeder Zeit immer noch einen Tag hinzuzählen, der alles wieder wettmacht, aufhellt, überwindet, was dir an Argem zustoßen wird. Einmal hat dich ein Mädchen auf der Liegewiese angelächelt, und dann warst du zu schüchtern. Das beschäftigte dich eine Weile, aber dann machte es nichts. Es gab ja die Zukunft, und wofür du heute zu gehemmt warst, morgen würde es sicher klappen, wie überhaupt genug Zeit für alles war, um einmal einzutreffen und sich zu zeigen. Schüchtern sein, sich nicht trauen, es war nur die andere Seite der Stärke, die andere Seite von Mut, der Anfang vom Werden und Wachsen, über dich hinaus, so weit, bis du ein ganz anderer Mensch geworden sein würdest, der Mensch, der du immer sein wolltest, der Mensch, der du hättest werden sollen, der Mensch, der du ja eigentlich immer schon warst – in der Zukunft würdet ihr beide endlich eins werden, du und dieser Mensch. Wenn nicht morgen, dann nächstes Jahr, und dann würdest du, denn die Zukunft hielt so viele Wiederholungen bereit, wie du brauchtest, wieder hier liegen, das Mädchen würde dir zulächeln, und wie im Film deines eigenen Lebens würdest du dann aufstehen, zu dem Mädchen hingehen und ganz genau wissen, was du zusagen hättest, das Zauberwort.

Das warst du. Das war hier. Hier. Zwar war es auch andernorts, doch hier, hier hat es der Ort wie nirgendwo sonst aufgehoben. Und der Ort spiegelt es dir wieder zurück: als einen Betrug, dem du damals aufgesessen bist. Du kommst zurück in dieses alte Schwimmbad, in dein Lieblingsbad, das erste, das du, noch ganz neu in der Stadt, ausprobiertest, in das Bad, in dem du so oft verliebt warst oder vor Sehnsucht nach dem anderen, nach dem gänzlich fremden Glück schmachtetest, wo du im Hochgefühl des eigenen jungen Körpers, geschmeidig gemacht und aufgeladen durch Wasser, Bewegung und Sonnenhitze, einen ebenso glühenden, dir aber als etwas gänzlich Fremdes, als warmes, lebensechtes Anderssein begegnenden Leib imaginiertest (wie du und doch nur fast wie du), entwarfst und schmerzlich vermißtest (du mußtest immer wieder mit dem eigenen, vertrauten Leib vorlieb nehmen) – hierher also kommst du zurück, kehrst du wieder, als könntest du nochmal etwas von der damals prachtvollen Zukunft zurückhaben, jener Zukunft, die an die Stelle jeder Sehnsucht eine Erfüllung zu setzen versprach. Aber natürlich ist da nichts. Die jungen Frauen, diese fast unglaubhaft jungen Körper sind unerreichbar, und im Gegensatz zu damals werden sie es auch bleiben. Keine Zukunft wird daran mehr was ändern, keine Zeit verspricht dir noch was, und hier, hier ist die Zukunft, deine Zukunft, einmal verlorengegangen. Die jungen Männer am Dreimeterturm stehen wie Blinde gegen deren eigene Zukunft; nur schwer erkennst du dein damaliges Selbst in ihnen wieder, es ist, als wärst du auch in deinen Erinnerung plötzlich kurzsichtig geworden.

Damals, denkst du, während du dich ins Wasser läßt (sie haben das Becken erneuert, der Wasserspiegel ist jetzt ebenerdig, vormals ragte der Rand einen Kopf über den Schwimmern empor, eine Überlaufrinne säumte den Innenrand, man brauchte eine Leiter, um auszusteigen, das ist nach heutiger Sicht wohl zu gefährlich), damals, als alles Verheißung war, als ständig etwas in der Luft lag, als du dir sicher warst, bald, noch eher der Sommer vorbei wäre, würde etwas passiert sein, eine neue, frische Liebe, die Rothaarige aus dem Yukatekischseminar oder die Dunkle aus Theorien und Modelle, oder wieder eine andere, unbekannte, irgendeine, es wäre auf jeden Fall die richtige. Und dann passierte es tatsächlich. Die Versprechen der Zukunft gingen alle so sicher in Erfüllung, daß du dich nicht zu wundern brauchtest. Du erinnerst dich so genau, du weißt sogar noch, auf welcher Bahn du damals in welche Richtung schwammst, als dich dieses Gefühl größter Zuversicht und Ruhe durchströmte, zugleich dieses Gefühl, daß das Glück einfach sei und niemals ausbliebe, und daß dir nur geschehen würde, was dein rechtmäßiger Anteil sei, was dir billig zustehe.

Dieser Ort also, jetzt. Als bewegte man sich durch ein Photoalbum. Nur daß es das für die andern, die hier entweder jung sind oder mit diesem Schwimmbad durch eine Kontinuität verbunden, die sie niemals dem Ort entfremdet hat, nicht so ist, für die ist das alles hier primär, einzigartig, das unvergleichliche Original des Lebens, das einzige, was zählt, alles, was es gibt und, aus ihrer Sicht noch, überhaupt je geben wird. Noch keine Erinnerung gibt sich her für einen Vergleich. Und diese Wehmut, die dich von diesen Kacheln, den Hecken, den Rasenflächen, dem Vogelgezwitscher und dem Lichtgespiegel, den Brüsten der Mädchen und braunen Schultern der Jungs, dem Gejohle und dem Plonk! der Arschbomben, von diesem prallen, fröhlichen Leben her anspringt, die ist ganz deine, und nur deine, diese Unfähigkeit, in diesem Ort etwas anderes zu sehen als eine Kulisse vergangenen Lebens, einen Raum für deine Erinnerungen. Man kann ja den Erinnerungen nicht entkommen, ihrer schieren Menge und Anhäufung. Ein Spiegel, ganz wörtlich. In der Umkleidekabine schaut dir einer entgegen, den du kaum als dich selbst erkennen magst. Die Muskeln, die Schultern, der Mund scheinen dieselben zu sein, und doch, und doch. Da ist dieser stärkere Bart, da sind die Fältchen, da ist die kahle Stirn, vor allem aber dieser Schatten von gelebter Zeit in den Augen, die etwas kummervoll blicken und sich gleichzeitig der Lächerlichkeit eben dieses Blicks, seines kindischen Jammers, nur zu bewußt sind; aber für ironische Brechung, gar Sarkasmus, fehlt ihnen – der Mut? Die Kraft. Ja, die Kraft. Die Sicherheit, gewonnen zu haben, Sieger geblieben zu sein, bei allem, trotz allem, die fehlt ganz entschieden. Auf dem Gelände die Bäume, alter, dunkler Ahorn und schöne, schlanke Pappeln, stehen noch immer. Sie haben es leichter.

Du kannst diesen Ort so wenig erneuern wie diesen Leib, wie dieser trägt jener die Spuren von Leben und Erinnerung. Du kannst nicht so tun, als ließe sich hier oder mit diesem alternden Bündel aus Muskeln, Knochen, Organen und Blutgefäßen noch einmal ein neues Leben, etwas Frisches beginnen, etwas, das nicht schon vom eigenen Scheitern und Vergehen spricht, noch ehe es begonnen hat, nein: Es ist vorbei. Du kannst auch mit dieser Erinnerung nicht weiter kommen als nur zu noch einer weiteren Erinnerung, die über die erste hinwegsieht, und jede nächste Erinnerung wird von ihren Vorläuferinnen gesättigter sein. Schon das Erinnern ist ja ein anderes. Die Erfahrung färbt die Wahrnehmung, diese wird wiederum Erfahrung, eine Rekursion bis zur allerallerletzten Wahrnehmung, derjenigen, die keine Erinnerung mehr werden wird. Was jetzt aber noch kommt, ist mit dem Brot der Wehmut aufgebrockt, geschieht und vollzieht sich im Gefühl eines Rests, ist wie ein Besuch in eben diesem Freibad, ein Blick auf die ewig anders jungen Mädchenkörper. Die tausend Meter in kaltem Wasser sind anstrengend gewesen, sind fast zuviel gewesen, jetzt zitterst du am ganzen Körper, in den Ohren klingelt es. Das wäre dir früher nichts als Ansporn gewesen. Heute mußt du dich fragen, ob diese an Übelkeit grenzende Erschöpfung nicht schon ein Zeichen des Alters und des Abbaus ist. Und so geht es mit allem. Nicht: Wohin jetzt? Sondern: Wie lange noch. Der Ort sagt: Früher, als du noch oft hierher kamst, hattest du gar keinen Ehrgeiz. Den brauchtest du ja auch gar nicht zu haben. Heute, sagt der Ort, bist du in einem Alter, wo du dir etwas beweisen mußt. Also finde dich ab, daß du schwindest – oder beweise halt.

Beides aber, das weißt du, ist gleich schlimm. Das Wenigerwerden wegen des Wenigerwerdens; und das Beweisen, weil es lächerlich ist, und weil du so einer nie hast sein wollen. So einer. Einer von denen. Einer von den Mittvierzigern, die plötzlich die Krise kriegen und mit dem Bungeespringen anfangen oder mit dem Marathonlauf. Die „es noch einmal wissen wollen“. Warum haben manche Jugendliche eine Todessehnsucht in sich? Weil sie „so einer“ nie werden, weil sie genau an diesen Punkt niemals kommen wollen (im Gegensatz zu dir ist es ihnen aber tödlich ernst damit), an den Punkt, wo sie ihr altes Freibad nach Jahren ephemeren Lebens noch einmal aufsuchen und sich an den tausend Metern abkämpfen in der Illusion, den jungen Leuten vielleicht noch was vormachen zu können. Noch, noch, noch. Und irgendwann nicht mehr. Die innere Sicherheit, nur wollen zu müssen, dann ließe sich alles erreichen, jederzeit: vorbei, längst vorbei. Die Pappeln rauschen, Füße klatschen über Beton und Gras, die Jungen stoßen einander ins Wasser, Gekreisch und Gejohle. Sie werden es auch in zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren noch tun, immer dieselben jungen Körper. Was du aber jetzt noch erreichen kannst, ist weniger ein Ergebnis deines Wollens, als vielmehr ein gänzlich zufälliges Zustandekommen, ein Geschenk, das schwindende, jederzeit aufkündbare Almosen der Zeit.

Frühprotokoll: alte Heimat

Durch den Wald laufen wie durch einen schweißfeuchten Pelz. Dem Ilex in den blutigen Rachen geschaut. Fieberheiße Stirn Horizont. Am Grund wirres Frösteln von Ameisen. In Worten suche ich die Rehe, aber sie schauen nicht her.

Die Sonne brennt die Schatten von den Uhren. Es ist früh, und doch so hell, der Himmel so gleißend und so müde, als hätte der Tag gestern durchgemacht. Man sucht umsonst nach Spuren, nur Steine, Äste, Kies, zu anorganischen Rillen geformt, laufen über den Asphalt. Der Hochsitz ist im Stehen eingeschlafen.

Ein Hase nippt an einer Pfütze, sieht mich, flieht ins Feld. Als ich die Stelle erreiche, sehe ich, die vermeintliche Pfütze ist nur ein Loch voller Schlick.

Später die Karte des Laufreviers, so viele Heimaten, daß es für viele Kindheiten reichen würde. Zwar war es nur eine, doch im Nachforschen unerschöpflich. Namen, Weiler, Ortschaften, Kleinstgewässer, alles weist über sich hinaus und an mir vorbei, als bedeute es mir einen dritten Ort, den ich erst noch finden muß. Ich muß mich beeilen, bevor er endgültig verschwindet und alle Zeiger ins Nichts deuten. So befinde ich mich im Gespräch mit der Karte und ihren Namen, meiner Erinnerung und der Vorstellung des nächsten Laufs durch das abgebildete Territorium.

Schon damals wollte ich nicht in die Zukunft. Schon als Kind war ich der Archivar meines eigenen, kleinen Lebens. Nun sind die Zeitschriften aus dieser Zeit fortgeworfen. Man hat mich nicht gefragt, als man Platz schaffen wollte im Regal.

Einverleibungen

 
[…]
Die Räume waren offen, die Zukunft war eine Bibliothek. Man würde nicht alle Bücher lesen können, aber man hatte unendlich Auswahl. Und alle Bücher, die hier versammelt waren, wären der Lektüre wert. Nichts, was man begönne, wäre je vergebens. Es gab keine Zeit zu verlieren. Es gab aber auch keine zu vergeuden. Man konnte nur gewinnen.
So war damals die Zukunft.

Frühprotokoll: Satie

Bei Eric Satie muß ich an ein Kölner Zimmer denken, in dem ich, täglicher, nächtlicher Gast, für eine Weile fast zu Hause war, und nie ganz. Die Unordnung in dem asymmetrisch, unneunziggradwinklig geschnittenen, hellen Raum spiegelte mit ihrer Farbigkeit aus Büchern, Heften, Ordnern und bunt bekritzelten Zetteln, Papierstapeln, Kopien und Hand-outs, benutzten Kaffeetassen, Löffeln und Schüsseln meine eigene Unordnung wieder, die ich überall verbreite, wo ich mich länger als eine Nacht niederlasse. Es gab ein altes, gemütliches Klavier aus dunklem, spiegelnden Holz, und zwischen Klavier und der nächsten Wand einen Futon für zwei Schläfer, an dessen Fußende ein Bücherregal, so daß man zwischen Klavier und Büchern ruhte. An der dem Bett zugewandten Seite des Klaviers hingen Familienphotos ohne Rahmen, die sich im Sommer, wenn die Luft feucht war, aufwärts bogen und im Winter wieder glätteten. Gegenüber eine Fensterfront, draußen ein Fußbreit Balkon. Links davon ein gläserner Schreibtisch, von Papieren und Büchern bis auf den Raum, den die Tastatur des Rechners einnahm, bedeckt. Abends schräg einfallende Sonne. Zwei Stockwerke tiefer ein weiter, verkehrsfreier, mit rotem Backstein gepflasterter Platz, den Verwaltungs- und Gerichtsgebäude aus triefendem Beton und schwarzem Glas umstellten; in der Mitte ein winziges Ahornbäumchen, ein Laubengang mit Blauregen. Der Himmel hatte es schwer über den Dächern der Hochhäuser, auf denen sich abends Tauben niederließen. Nachts wehte das Qietschen und Rumpeln von Zügen vom nahen Rangierbahnhof durch die Dunkelheit heran.
In diesem Zimmer spielte E., die das Quietschen gemütlich fand, Satie. Ich lag auf dem Bett und lauschte dem melancholisch-meditativen, bald verträumten, bald kindlich-ernsten Voranschreiten der simplen Akkorde, schaute an die Decke oder studierte die Buchtitel im Regal und war zufrieden, in diesem Zimmer zu Gast zu sein. E. hatte eine Art, mitten im Spiel abzubrechen, sich mit Schwung auf dem Hocker nach mir umzudrehen, die Lippen zu schürzen und mir eine Frage zu stellen. Manchmal lachte sie beim Spiel leise oder sang mit. Sie war vernarrt in die Gymnopédies, und wenn sie nicht gerade Satie spielte, summte sie die einfachen Motive vor sich hin oder sang sie auf einen Text aus Phantasiesilben, es klang wie schmöö-dem-schmöö. Unvermittelt konnte sie in einer Gesprächspause den Mund öffnen, die Lippen vorstülpen und eine kurze Melodie aufsingen, als wollte sie ihren Gesprächspartner an etwas erinnern, das immer auch noch berücksichtigt werden müsse. Oder an etwas, das schon jetzt, während es geschah, lange her war: Weißt du noch? Einmal saßen wir nachts von Freunden heimkehrend im Zug, wir hatten geschwiegen, waren müde, es war der heißeste Sommer aller Zeiten, da läßt E. den Kopf auf dem Sitzpolster zu mir herfallen, als wolle sie mich küssen, öffnet den Mund, wölbt die Lippen: schmöö-dem-schmööö. So ist das nämlich. Denk dran!
Satie klingt seither immer so, als wolle er mir immer wieder etwas ins Gedächtnis holen, das ich sonst wohl schon lange vergessen hätte.

Selbstermächtigung

Merkwürdige Assoziation, die sich an die Erinnerung an einen Schatten knüpft, der mittags über ein Schulpult wandert: Es muß dasselbe Klassenzimmer gewesen sein, in dem in einer Religionsstunde in der zehnten Klasse der damalige Lehrer eine ablehnende Bemerkung zur Selbstbefriedigung machte, nachdem er einen Mitschüler aus dem Religionsbuch einen entsprechenden Passus hatte ablesen lassen. Natürlich weiß ich nicht mehr, was für ein Buch das war, aber vielleicht weiß das Netz etwas. Ein Forum, über dessen sonstige Ausrichtung ich mir kein Urteil erlaube, führt mich in diesem Zusammenhang zu folgendem Auszug aus dem «Jugendkatechismus der Katholischen Kirche, Youcat» (Was es alles gibt!):

Die Kirche verteufelt Selbstbefriedigung nicht, aber sie warnt davor, sie zu verharmlosen. Tatsächlich sind viele Jugendliche und Erwachsene davon gefährdet, im Konsum von geilen Bilder, Filmen und Internetangeboten zu vereinsamen, statt in einer persönlichen Beziehung Liebe zu finden. Die Einsamkeit kann in eine Sackgasse führen, wo Selbstbefriedigung zur Sucht wird. Nach dem Motto «Für Sex brauche ich niemanden; den mache ich mir selbst, wie und wann ich ihn brauche» wird aber niemand glücklich.

Und siehe da! Genau das war die damals vertretene Auffassung. Wie der weiteren Lektüre in der Diskussion zu entnehmen ist, gibt es tatsächlich Menschen, die so etwas immer noch glauben:

Und kann da nur zustimmen! Es gibt Menschen, die werden durch Pornokonsum beziehungsunfähig und denken beim «realen» Sex nur mehr an ihre «heimlichen» Fantasien. Man braucht ja nur in irgendein Erotikforum zu schauen und bekommt alle Möglichen Fantasien geboten.

Beziehungsunfähigkeit durch Pornokonsum? Steht so ein Quark eigentlich heute immer noch in den Religionsbüchern? (Ich würde mein Kind sofort abmelden.) (Nicht daß mich das damals beeindruckt hätte. Aber verunsicherten Jugendlichen kann man leicht was vom Pferd erzählen.)
Du bist zu dick, du bist zu schlaff, mach mal Sport, du bist zu käsig, ernähr dich gesünder, geh früher zu Bett, iß mehr Obst und Gemüse, wasch dir die Haare, geh mal an die frische Luft, drück nicht an den Pickeln rum, halt dich gerade, popel nicht, nimm die Hand aus der Hose!
Als hätten Eltern, Lehrer, Geistliche, sonstiges Erziehungspersonal iregndein Anrecht auf den Körper von Jugendlichen. Irgendein Mitbestimmungsrecht. Eine Verfügung. Als hätten die heranwachsenden Söhne und Töchter ihren Körper nur von den Eltern geborgt. Als müßten sich jene bei diesen für jedes Vergnügen dieses Körpers noch eine Extraerlaubnis wegen Zweckentfremdung einholen.
Insofern könnte man die Selbstbefriedigung auch als einen Akt der emanzipatorischen Selbstbehauptung ansehen, der Ermächtigung über den eigenen Leib. Dazu müßte man Jugendliche eigentlich nur ermuntern, wenn darin nicht über den Akt des Gewährens wieder eine subtile Ermächtigung läge.

Traum und Wachen

Traum und Wachen: Beides sind geschlossene Welten. Beide sind vollständig und gelten absolut. Im Traum wie im Wachbewußtsein ist das Erlebte jeweils ohne Nebenerleben oder Alternative. Es ist alles, was es gibt. Man kann die jeweilige Welt nicht anders verlassen als zu jener anderen Vollständigkeit. Traum, Wachen, Traum. Es gibt nicht noch weitere Alternativen. Der Traum läßt sich nicht anders als mit dem Wachen, das Wachen nicht anders als mit dem Traum ersetzen; und für die Dauer der Ersetzung bin ich nur dort, wo ich bin. Alles, was es gibt.
Dennoch besteht eine bedauernswerte Asymmetrie: Im Wachen erinnere ich mich vielleicht an Träume; aber in den Träumen nicht an die Wachwelt. Jedenfalls nicht als eine bloße, der anderen Bilderwelt im Sinne einer wahreren, ursprünglichen, bildgebenden entgegengesetzte Ausgangswelt. Der Traum, könnte man sagen, verschlingt die Wachwelt, ohne daß es jener in ähnlicher Weise gelingen könnte, auch die Traumwelt zu verschlingen und ihre Gegebenheiten in sich einzugliedern.

Aequinoctium


Wo wir einst gingen, weben die Spinnen das Ufer, der Spiegel
    Schenkt uns, verwandelt ins Jahr, freundlich die Tage zurück.
Küsse schmecken die Zeit, unter Blättern schlummern die Tage;
    tief in der Tasche die Nuß träumt vom vergangenen Jahr.
Wo wir einst gingen, bevor wir uns kannten, vor Jahren und Tagen:
    Dort, im ewigen Herbst, wandeln die Flüsse im Schlaf.

Sommersemester 1992

Es war Sommer, und das Semester, mein erstes, neigte sich seinem Ende. Prüfungen hatten wir keine, noch keine ernsteren jedenfalls, und der Stundenplan wies viele weiße Blöcke auf. Die Sonne schien, der Hofgarten lockte, die Welt war wiesentauglich, wir hatten Zeit und eine Thermoskanne Kaffee, den ich von zu Hause mitgebracht hatte. Was uns fehlte, waren Tassen. Also sind wir in ein billiges Kaufhaus in der Innenstatdt gegangen (damals könnte man noch preiswert in der Innenstadt einkaufen), und haben je eine schlichte, Tasse für zwei Mark gekauft, eine solche Tasse, die der Engländer Mug nennt, wofür es auf Deutsch kein eigenes Wort gibt. Zylindrisch, mit Henkel, dickwandig, etwa einen Viertelliter fassend, aus weinrot glasierter Keramik. Wir hatten ein äußerst schmales Budget damals und ich schätze, es wird die billigste Tasse gewesen sein, die es in diesem billigen Kaufhaus gab. Ich habe sie sehr oft gebraucht, und vom vielen Einschenken heißer Flüssigkeit hat die Farbe der Glasur auf der Innenseite ein Netzmuster feiner dunkler Risse bekommen. Sie wuchs mir ans Herz, diese Tasse, dieser Mug. In der WG bewahrte ich sie in meinem Zimmer auf, ich mochte es nicht, wenn jemand anderes daraus trank, oder, schlimmer, wenn sie für Tage (oder Wochen) in einem andern Zimmer verschwand. Jahrelang habe ich aus keiner anderen Tasse getrunken.
Mit den frischgekauften Tassen bewaffnet sind R. und ich dann in den Hofgarten gezogen, haben uns mitten auf die fröhliche Wiese gesetzt, recht allein an einem Werktag vormittag, und Kaffee getrunken. Ich war verliebt, die Wiese lag leuchtend wie eine geöffnete Schale in der Morgensonne, der Himmel streckte sich behaglich, in den Platanen schnurrte wie geölt das Licht. Alles Hasten war fern von uns. Nicht nur das Studium, mein Leben hatte begonnen. Ich war berauscht von Licht und Kaffee und Zukunft. In den Tassen schwankte die Sonne auf der schwarzen Haut des Kaffees. Nebenan spielte ein Paar Frisbee. Die Sonne wurde warm, wir wurden träge. Ich küßte R. in die feuchten Armbeugen, und sie murmelte, wie schön das sei. Eine Ameise krabbelte ihr über die Schulter, sie ließ sie krabbeln. Sie sagte, sie möge das Gefühl, wenn etwas Kleines auf ihr herumkrabbele. Über den Vormittag füllte sich die Wiese. Schulkinder spielten Fußball. Studenten ließen sich mit Skripten vor der Nase auf den Bänken nieder. Die Schatten wurden kürzer, glitten von uns weg, bis wir in der Sonne saßen. Am Hauptgebäude der Universität schlug ein Glöckchen.
Plötzlich wurde ich traurig. Ich küßte R. noch einmal, und dann noch einmal. Das Semester neigte sich seinem Ende, der Sommer knisterte schon trocken, im Rhein stockte dick von Hitze das Wasser. Noch eine Woche Uni, dann vorlesungsfreie Zeit. R.-freie Zeit. Und obwohl ich anderes hoffte, ahnte ich bereits, daß unsere Geschichte diesen Sommer nicht überdauern, daß sie in diesen Tagen enden würde. Mitten in der Zukunft hatte die Vergangenheit begonnen. Ich weiß nicht mehr, was ich R. in diesem Moment gefragt habe, nur, daß ihre Antwort nicht das war, was ich hören wollte. Irgendwann war die Thermoskanne leer, und die Zwillingstassen lagen wie ermattet nach ihrem ersten Gebrauch neben uns im Gras. Es war Zeit, aufzubrechen. Wir küßten uns ein letztes Mal, schüttelten die Tropfen aus den Tassen und packten sie in unsere Rucksäcke. Dann gingen wir in unseren Sommer hinaus.
Diese Tasse steht immer noch auf meinem Regal. Ganz hinten, hinter allen anderen Tassen steht sie verborgen an der Wand. Der Henkel ist schon vor Jahren abgebrochen, ich habe ihn in die Tasse hineingelegt, um ihn nicht zu verlieren. Beide Tassen, meine und ihr Gegenstück bei R., veränderten über die Semester und später über die Jahre ihre Farbe, bekamen jeweils ihre Risse und Netzmuster. R.s Tasse dunkelte nach, meine wurde heller, bis sie fast rosa geworden ist.
Wenn ich heute manchmal bei R. zum Kaffeetrinken bin, kann es passieren, daß sie mir ihren Tassenzwilling hinstellt.
Und, was machen die Kinder? frage ich sie und lächle ihr über den weinroten Rand hinweg zu.

Über einem Roggenfeld

Du hast es gesagt, das Wort, hinter dem ich vermutlich die ganze Zeit her war, du hast es gesagt, es ausgesprochen, und es ist gut. Ich durfte es ja damals nicht sagen, in Ahrensburg oder wo immer es gewesen ist, daß wir auf unseren Fahrer warteten, du wolltest nicht, daß ich es sagte, und ich habe geschwiegen, obwohl nie ein Wort wahrer gewesen wäre als dieses, in jenem Augenblick. Du konntest ja nicht ahnen, ebenso wenig wie ich, obwohl alles meine Schuld war, es geahnt hätte damals, wie wenige Gelegenheiten wir noch haben würden, dieses große kleine Wort einander zu sagen. Nie wieder so wahr: Seitdem habe ich es oft gesagt, zu anderen, aber immer hat es sich dabei ein bißchen wie eine Lüge angefühlt.

Manchmal vom Zugfenster aus ein Roggenfeld, fast reif die graugrünen Halme, überall so ein silbriges Geflimmer, Wogen, die hin und her über die Ähren fahren, und dann, in einem seltenen Augenblick, läßt der Wind eine Welle einmal quer übers Feld laufen, ohne abzusetzen oder die Richtung zu ändern, von einer Ecke zur anderen, fernen; konzentriertes beharrliches Voranschreiten, und dann denke ich, Einmal, und ich denke: Einmal war es doch gut, einmal, in einem einzigen Augenblick, war alles, war wirklich alles richtig, und ich denke, Dieser Augenblick bleibt wahr, was immer geschieht, und dann ist die Welle fast ans andere Ende des Feldes gelangt, so ein Wirbel aus nichts als Licht und Luft, ohne abzusetzen, und dann will man, dann könnte man beinahe, glücklich sein.

Die Lieben, die wir schreiben

Den Stunden nachfühlen, ihrem schleppenden Gang. Eselsohren in den Minuten, daß man sie leichter wiederfindet. Die Gleichnisse zerbröckeln, den bedruckten Rest vergestern. Am Fluß, wo du ein Paar warst und ich nicht. In der Bahn, wo der Mut nicht reichte zum Knaben und der Ägypterin, und der Sommer zu groß war für die Zeitungen, die Zukunft zu groß für uns. Schleppender Zunge in den Tag hineingehechelt. So getan, als wäre alles Alles. Dabei war’s schon fast aufgebraucht. Was sollte auch danach noch kommen. Nachschriften. Kommentare zu dem Tag, in dem wir einmal zu Hause waren. Ein verhaltenes Lächeln über einen Tisch, das war schon an der Grenze zu einem ganz anderen Tag. Der nichts mehr davon enthielt. Den wir zu vergestern vergaßen. Erst später, nachdem Jahre geseufzt hatten, erinnerte sich eine Notiz an jenes Gesicht, und es war, als spräche ein verlorengegangenes Ich zu mir selbst. Ach, die Amseln am Abend. Die nie genug bekommen konnten. Die alles hatten.
Neue Namen, alte Wünsche. Spitzen wir die Bleistifte, ziehen wir die Uhren auf, lassen wir die Dämmerung ins Haus. Kehren wir noch einmal zurück zur Zukunft, die uns aus den Augen verlor. Am schönsten sind die Lieben, die wir selbst schreiben.

Ein Tag wie ein…

Ein Tag wie ein zerknülltes, dann wieder glattgestrichenes Papier: Nur allzu sichtbar die feinen Bruchlinien, die Verwerfungen, die rissig unterbrochenen Tintenverläufe. Ausgelesen, weggeworfen, sich wiedererinnert. Da war noch etwas. Eine Tür, die zu früh ins Schloß fiel und so den Schlaf beendete. Ein Band, das sich aus einem Haarschopf löste. Eine Tasse mit einem Kaffeerest, nicht mehr warm, nicht mehr lau, nicht mehr irgendeinem Menschen und seinen Absichten verschuldet, so wenig, wie das Telephon etwas aufhebt von dem, dessen Zeuge und Vermittler es war. Oder die Spiegel, natürlich die Spiegel. Brüche auch hier, im Glas, überall, der Kristall vergilbt von zuviel Sonne, die sich ins Wohnzimmer stahl. Man kennt es und holt es noch einmal hervor, streicht es glatt, fügt die Wundränder einer zerrissenen Photographie wieder zusammen. Zieht das gesprungene Glas aus dem Müll, hält es so, daß im Rahmen nichts spiegelt und das Gesicht, verhärmt von Staub und Kratzern, dahinter schwach aufleuchten kann.

Wege durchs Laub: Hier auch. Hier warst du auch. Fast vergessen, liegt auf den Abmessungen der Wiese eine Patina des unerwartet Wiederentdeckten, das Wehen einer vor Jahren so, genau so schon einmal aus den Dingen sprechenden Glücksverheißung. Dieser Weg, mit dem Laub, mit dem krümeligen Licht, das sich an den Blatträndern bricht, dieser Weg, der so schön an seiner eigenen Tiefe ermüdet: Du weißt, du bist das schon einmal abgeschritten, damals schon in Gedanken versunken. Es hat das alles diesen Film aus Zeit und Ermattung, das Fundstücken in der Tiefe leergeräumter Schubladen anhaftet. Den Rest eines ehemals starken Dufts aus einem eingetrockneten Flacon. Etwas von diesen Zeugnissen vergessener Notizen, halbentzifferbarer Weisungen und Gedächtnishilfen, Gefaltetes und Zerknülltes, das es irgendwie, vergessen von dem Braus der Jahre, in einer Schublade, der Ecke eines Schränkchens, einem unentdeckten Winkel geschafft hat, zu bleiben. Und so spricht es nun ins Leere, zu uns und doch nicht zu uns, eine blinde Schrift: Triff mich heute im Park. Dein M. Bitte noch besorgen: Brot, Butter und eine Abendzeitung. Deine S. Und das Verrückte ist doch, daß es damals auch schon eine Zukunft gab. Und daß du jetzt, in diesem ehemals leeren Raum, in dem jemand auf Brot, Butter, die Abendzeitung und die große Liebe wartete, daß du da jetzt herumspazierst, in diesem Raum, der noch voller Hoffnungen, Erwartungen, Ängste war, da trampelst du jetzt über alte Wege und hast die große Liebe gefunden und wieder verloren, für jene nicht sagbar, nicht einmal denkbar: Und das wirst dann wohl du gewesen sein.

Briefe in die Vergangenheit

Daß Du mir nicht mehr schreibst, zu den Anlässen nicht, dazwischen sowieso nicht: Das schlimme daran ist nicht, daß ich das schlimm finde, sondern daß ich es nicht schlimm finde. Denn:
Was verbindet uns noch, außer der bloßen archäologischen Tatsache, daß wir mal ein Paar waren? Was Dich mit mir verbindet, kann ich nicht sagen. Was mich betrifft, so verbindet mich mit Dir eine Erinnerung, eine Vergangenheit, mit der ich nicht abschließen kann, und diese Vergangenheit ist in gewisser Hinsicht lebendiger als die Gegenwart (ich bin versucht zu sagen: lebendiger als Du jetzt für mich bist). So weiß ich gar nicht mehr, an wen ich eigentlich schreibe, wenn ich mich zu einem Brief an Dich hinsetze. Der Schreibtisch ist so leer, als hätte nie jemand dort einen Brief geschrieben. Es scheint mir, ich schicke Briefe an einen Menschen aus der Vergangenheit, Briefe, die, wie ich fürchte, mehr an meine eigenen Erinnerungen als an eine echte Person gerichtet sind. Und zurück sind zuletzt immer Briefe gekommen aus einer Gegenwart, über die ich rätsele und mir den Kopf zerbreche, ich verstehe sie nicht. Es scheint diese Gegenwart nicht meine Gegenwart zu sein, auf jeden Fall ist es keine, die uns beide gleichzeitig enthalten könnte. Ich kann diese erratischen Hinweise (Job; Kinder; Haus) und Informationsschnipsel zu keinem Bild eines Lebens zusammensetzen, und sagen: Das ist also Deins, so lebst du also, das bist Du. Es bleibt das alles ein Job, Kinder, ein Haus. Beliebig. Fremd. Isoliert. Nichts, woran Deine urpersönliche Sicht auf die Welt, Deine ureigene Bemühung, Dich darin zurechtzufinden, kenntlich würde. Nichts, worin sich sich ein Dein Du zeigen würde.
Und jetzt kommen gar keine Briefe mehr, keine aus der Gegenwart, weder verständliche noch unverständliche. Ich nehme es zur Kenntnis. Es berührt mich nicht. Ich habe lange vergebens auf einen Brief aus der Vergangenheit gewartet, aus unserer Vergangenheit, von einem Menschen, der noch dieselbe Zeit mit mir teilt. Von dort habe ich nie wieder etwas gehört. Deshalb kann ich nicht sagen, daß mir irgendetwas fehlt. Wir könnten uns nur immer wieder unsere eigene Geschichte erzählen. Vielleicht ist es besser, es zu lassen, weil es sinnlos ist und nicht guttut, und weil das Ende häßlich war, und unseren Briefwechsel einzustellen. Vielleicht hast Du diesen Entschluß bereits gefaßt, denke ich, vor einem Jahr und länger, vielleicht hast Du eines Tages, schon am Schreibtisch, lange nachgedacht und nichts gefunden, und den Federhalter sinken lassen, aus dem Fenster gesehen, in bewegtes Laub oder Sonne oder Schindeln anderer Häuser, hast geseufzt und den Kopf geschüttelt und Papier, Feder und Umschlag wieder weggeräumt, bist aufgestanden und hinausgegangen, und vielleicht warst das gar nicht Du sondern ich war das. Ich stelle mir eine leere, spiegelnde Schreibtischfläche vor und eine Tür, die ins Schloß fällt, rufende Stimmen, die dahinter verhallen, ein unbehaustes Zimmer. Wann haben wir das letzte Mal wirklich miteinander gesprochen?, frage ich mich, und dann finde ich es doch noch schlimm.

In A. oder Bad O. (Sommer 1993)

Was man am Ende behalten haben wird:
Ein Mäuerchen. Der Ortsname: ungewiß. Bürohausfassaden, eine breite Straße, vielleicht eine Kreuzung. Wahrscheinlich viel Verkehr. Verspiegelte Fassaden. Plustriger Sommer, die Zeit schmeckt nach Ewigkeit. Ein Mäuerchen, nicht einmal das ist gewiß. Geruch nach Duschgel und frisch getrocknetem Haar, das erschließe ich mir. Später im Auto Nachrichten aus dem zerfallenden Balkanstaat, die erste, damals, vieler Krisen. Merkwürdig, was man behält. Die Fahrt eine lange Steigung hinunter, während Namen auf -ic und -vic und -cic aus dem Radio drangen. Die Autobahn gibt es ja immer noch. Und auch die Raststätte, wo unser Fahrer dich in einer Pause, beim Kaffee, fragte, wie du es geschafft habest, in Klettenberg eine Wohnung zu bekommen. Du hast vorne gesessen, und ich habe manchmal deinen Scheitel berührt, wie um mich zu vergewissern, daß du noch echt seist.
Auf der Mauer, Stunden vorher. Ich weiß noch, daß da eine Fliege war. Ich habe den Versuch gemacht, auf dem Mäuerchen, das vielleicht gar nicht existiert, dir etwas zu sagen. Ein Anlauf, eine Ankündigung. Ein verhülltes Aussprechen, eine Formulierung, die das Wort, um das es ging, nicht enthielt, so intensiv nicht enthielt, daß du es leicht ergänzen konntest. Es war da, das Wort, unausgesprochen. Ummantelt von anderen Worten, das Wort im Negativ. Aber du: Mahntest: Wie das Gebot einer Göttin, du sollst so etwas Großes nicht leichtfertig aussprechen. Nicht einmal leichtfertig aussparen sollst du es, oder, weh uns! andeuten.
Leichtfertig oder nicht, ich hätte es sagen sollen. Es war groß, aber nicht zu groß. Auf dem Mäuerchen, in dem Ort mit dem Namen mit A oder Bad O, der für uns nur Durchgang war, ein zufälliger Fleck, auf dem man nur darauf wartet, weggefahren zu werden; oder später, so viele Augenblicke.
Du hattest Angst, es könne zu groß sein, nicht standhalten, zu früh sein, und, zur Unzeit ausgesprochen, später bitter werden angesichts der Zeit, der wir nicht gewachsen gewesen wären, möglicherweise.
Nun aber: Wir waren nicht gewachsen, der Zeit nicht, dem Unausgesprochenen nicht, und also keinem Wort nicht. Doch das Wort gesagt zu haben, wäre heute nicht bitter. Bitter ist, es nicht gesagt zu haben.

Greinstraße

Wie sanfte Akkorde ragen die Bäume auf und strecken die Äste in den Himmel, als träumten sie dem Beginn einer mächtigen Symphonie entgegen. Der Tag dauert und läßt sich Zeit beim dauern. Am späten Nachmittag die Sonne, selbst der Dunst beginnt jetzt zu leuchtet, das Astwerk verraucht in die Stille im Schatten des Uni-Centers.

Schläge von Baustellen erschüttern den Raum, klirren gedämpft durch die Scheiben. Zieht ein Bautrupp ab, trifft morgen ein neuer ein. Immer wird irgendwo Erde aufgebrochen, Leitungen versenkt, Absperrbänder entrollt. Gelbe Helme verschwinden in der Erde, von meinem Beobachtungspunkt aus betrachtet schweben und schwanken sie auf Augenhöhe. Es ist unklar, was da soviel gegraben wird. Aber sie graben. Überall. Mit Ameisenfleiß.

In der Dämmerung Leuchtspuren von Autos. In die Netzhaut gezeichnet, wo sie lange liegenbleiben. Ich denke mir, daß dies einmal die Zukunft war. Ich habe stapelweise alte Briefe durchgesehen, gestaunt über die fremde Hand, die einmal meine gewesen ist. Meine gewesen sein soll. Läßt es sich abstreifen, wie eine müdgewordene Haut. Sie ist müde geworden, diese Haut. Es ist einfach zuviel passiert. Zuviel, um noch einmal naiv zu sein. Zuviel gelebt, um in den Tag zu leben. Zuviel, um noch einmal lieben zu können.

Die Arbeiter graben und graben. Mittags leuchtet Butterbrotpapier in ihren schwarzen Händen. Ein Flachmann wird aufgeschraubt, macht die Runde. Der letzte schüttelt sich den übriggebliebenen Tropfen in den Mund. Jetzt graben sie wieder, die Helme auf Augenhöhe, ihre Schläge zerhacken den Abend. Ein Erdhaufen wächst daneben. Steine, verklumptes Erdreich, Stücke von Rohr, Blechsplitter, zerbrochenes Geschirr. Das Absperrband flattert rotweiß, wie ein Reigen spielender Tierkinder.

Hunde schlendern vorbei und lächeln voller Ernst mit ihren langen leuchtenden Zungen. Es gab sie schon immer. Sie waren da, als ich hier meinen ersten Tag hatte. Sie waren schon vorher da. Sie haben mich gleich erkannt, von früher. Viel früher. Vielleicht haben sie auf mich gewartet. Ich habe ihren schlanken Nacken damals bewundert mit dem schimmernden Fell, das seitwärts Schlenkernde ihres Schritts. Die Unbekümmertheit in ihrem Schnauben. Ich bewundere sie wieder. Ich hatte sie längst vergessen. Es ist unglaublich: Ich bin hier. Und wo soll ich auch sonst sein. Aber es ist unglaublich.

Dann kommt die Dämmerung. Die Nacht saugt das Gebäude leer. Oft habe ich an Fenstern leerer Gebäude gestanden wie ein Nachtwächer. Stimmen auf der Straße, die sich entfernten, nach Alaska, nach Boston, nach Hannover, nach sonstwo. Timbuktu, ich habe sie aufbewahrt, die Stimmen, die herrenlosen Worte, Bemerkungen, Rufe, Gekicher, ihr brauchtet sie ja nicht mehr.

Dies ist sie also, die erwartete, die herbeigeträumte, manchmal gefürchtete. Die spätere Zeit. So fühlt es sich also an, in einem Ausblick eingetroffen zu sein.

Kletterbäume

Was wir unseren Kindern an Lieblosigkeit, Zeitmangel, Angst und Druck zumuten, das wird, denke ich, später mal auf uns zurückfallen, das kommt wieder, mittles jener Welt nämlich, die die von uns so Behandelten dann über uns verhängt haben werden, weil sie so geworden sind, wie wir sie in unserem marktrelevanten Denken geformt haben. Und wehe uns, wenn dann die Kriterien der Marktrelevanz auf uns angewendet werden – von denen, denen wir diese Denke eingetrichtern haben, als sie klein waren.

Ich empfinde eine tiefe Trauer darüber, was heutigen Kindern im Vergleich mit unserer eigenen Kindheit fehlt und stattdessen zugemutet wird; eine Trauer darüber, daß eine Kindheit, wie wir sie hatten, heute nicht mehr möglich ist. Was haben heutige Kinder, was uns fehlte? Das Internet, na ja.

Die Trauer über solchen Verlust paart sich mit einer heißen Wut auf jene, die mit allen möglichen Überlegungen, Maßnahmen, Entscheidungen, vorgeblich ganz im Dienst ihrer Kinder, genau diesen Verlust herbeigeführt haben. Entweder wollen diese Leute in Wahrheit gar nicht das Beste für ihre Kinder, oder unsere Vorstellungen darüber, was für Kinder das Beste ist, decken sich nicht ganz, um es vorsichtig zu formulieren. Man meint es vielleicht gut, aber was für eine Haltung zum Leben, welche Auffassung von Erziehung, ja was für eine Art von Beziehung zum eigenen Kind spricht aus einer Phrase wie „Kinder fit für den Markt machen“? So sportlich hat sich allen Ernstes mein Bruder in seiner Diplomarbeit ausgedrückt (und sich von mir einen dicken Rotstriftstrich dafür eingehandelt!). Ich weiß nicht, ob ihm klar war, was er da geschrieben hat. Mir bleibt bei so etwas die Spucke weg. Ich bin ein Idealist. Ich habe ganz bestimmte Vorstellung davon, wie ein gutes Leben aussieht und welche Rahmenbedingungen dafür nötig sind. Ob das realistisch ist oder auch nur von irgend einem anderen Menschen geteilt wird, ob es andere Menschen und ihre Bedürfnisse überhaupt einbezieht, spielt für meine Ansichten gar keine Rolle. Ich halte eine Kindheit, die zum größten Teil draußen stattfindet, im Wald, auf Wiesen, in Gärten, ohne Verkehr, ohne technisches Spielzeug, am besten ohne Fernseher, für das beste. Und werde fürchterlich kiebig, wenn mir jemand mit Realismus kommt. Realismus ist was für Leute, die aufgegeben haben.

Wir leben paradoxerweise in einer Gesellschaft, die sich zwar ständig Gedanken um ihre Kinder und ihr Wohlergehen macht – dabei aber zutiefst kinderfeindlich ist. Über Kindererziehung gibt es stapelweise Literatur. In Talkshows wird über sie gesprochen. In Zeitungsartikeln wird sie problemastisiert. An Universitäten diskutiert. Eltern belegen darin Kurse. Und im Fernsehen treten Supernannys auf und verbreiten die frohe Botschaft sachkundiger Padagogik. Über Erziehung wird gestritten und debattiert wie über kaum ein andres Thema. An Ideen und Gedanken herrscht kein Mangel. Woran Mangel herrscht: Kletterbäume, Wiesenränder, Bachläufe, Gärten. Worauf es ankäme: ein Iglu bauen, Himmel-und-Hölle-spielen, einen Bach aufstauen, sich auf eine Wiese legen, Tiere sehen. Macht sich eigentlich irgend jemand Gedanken, was Kinder wollen? Nicht, was gut für ihre Zukunft und die Gesellschaft ist, sondern was Kinder sich wünschen? Zum Beispiel Fußball spielen. Nicht in einem Verein, nicht beaufsichtigt von Trainern und Leistungsdiagnostikern und Sportpädagogen, nicht zur Föderung der Motorik und des Teamgeistes, nein. Nein, wild: einfach so, spontan, ungeplant, ausgelassen und auf der Straße.

Man sieht überhaupt keine spielenden Kinder mehr auf der Straße. Als ich jung war, hallte unsere Straße nachmittagelang wieder von Stimmen, Rollschuhen, Hockeyschlägern oder Holzschwertern. Das gibt es nicht mehr. Entweder es ist viel zu gefährlich. Oder die Kinder sind dabei zu laut. Oder es gibt zu viel Verkehr. Oder es gibt zuwenig – andere Kinder … Statt dessen sind Kinder heute in drei Sportvereinen gleichzeitig, nehmen am Malkurs teil und lernen Klavier und Fagott und Buchhaltung und Blindtippen, und müssen schon mit acht Jahren einen kleinen Terminkalender mit sich herumtragen. Oder besser gleich einen PDA. Wenn man mich fragt, gibt es zuviel Literatur über Kindererziehung, zuviel pädagogisch wertvolle Spielplätze und viel zu wenig echte Kletterbäume.

Und oft denke ich: Eine Welt nach den Bedürfnissen und Wünschen von Kindern wäre für uns alle eine bessere Welt. Wir brauchen alle weniger Autos und mehr Kletterbäume.

Paul-Schallück-Straße

Das läuft neben mir her, ein anderer, ein Deuter vielleicht, oder einfach nur ein Reflex, der entsteht, wenn Erinnerungen und Gedanken interferentielle Brechungen erzeugen. Dann wieder bin ich selbst für Augenblicksbruchteile dieser andere. Es ist ein Schweben zwischen Zeit und Identität, oder besser: Zwischen verschiedenen Stufen oder Schichten oder Schnitten derselben Identität, in Überbrückung und Überlagerung ihrer Zeitlichkeit, ihrer verschiedenen Zeitflächen und -brüchen. Ein Auslöser ist das jahreszeitliche Konzentration typischer Eigenschaften von Luft, Wind und Licht, Laub, Nässe oder auch Geräusch, ein Zusammenkommen, das sich ja nie durchhält über eine Jahreszeit, aber, für jeden je auf andere Weise, durch Vorkommnisse, bestimmte Wege oder Handlungen, Gespräche, kurz durch die ihm eigene Historizität eines gegebenen Zeitpunktes definiert ist und aus dieser Konstellation seine Kraft erhält.
Dies geschieht vermittels dieses changierenden Begleiters, der mal ich ist, mal bin ich er. Ich gehe diese Schritte noch einmal und es kann durch diese Vermittlung geschehen, daß ich sogar in alte Gedanken von mir ein zweites mal hineinspähen kann wie in eine alte, liebevoll restaurierte Tonbandaufnahme; die lichtschwache Daguerreotypie der Vorgänge, die unwiderrufbar den Wachzustand des Geistes durcheilen, mal bewußter, mal weniger bewußt.
Es ist ein Weg, den ich nicht so oft gehe, daß es sich abnutzen würde, daß er sich mit neuem vollsaugen und dann als Auslöser für mächtige Erinnerungsklarheiten nicht mehr zur Verfügung stehen könnte. In ebensolcher Weise vermeide ich das allzu häufige An- und Nachhören bestimmter Musik, mitunter habe ich seit Jahrzehnten ganz darauf verzichtet, aus Angst, die Macht der Klänge könnte sich verlieren, ihre Anbindung an einen ganz bestimmten Augenblick oder eine bestimmte Periode meines Lebens könnte sich lockern. Freilich bedeutet das, daß ich auch nicht mehr die bewußte Herbeiführung eines Erinnerungsblitzes praktiziere, mithin die konservierte Musik nie zur Wirkung gelangen kann. Insofern das, was sie auslösen könnte, schmerzlich ist, muß man sich ja fragen, warum auch? Aber alle Erinnerung, die wir auf solche Weise in Geruch oder Klang eingefangen haben und halten wollen, ist schmerzlich, sonst bräuchten wir eine solche Handhabe gar nicht. Was solchermaßen bewahrt wird, handelt immer von einem Verlust.

Esther

In dieser Phantasie beschäftigen mich als erstes ihre Socken. Es sind weiße, flauschige Socken, Frottée, oder Tennissocken, und in dem Moment, wo der Film einsetzt, trägt sie nicht viel mehr als diese. Aber darum, also um ihre unbedeckten Körperstellen, geht es zuerst gar nicht, es geht nur um ihre Füße in den weißen Socken. Diese Socken sind leuchtend weiß, sauber, frisch, aber getragen, nicht gerade angezogen, die ganze Situation ist die des umgekehrten Vorgangs, nicht des Anziehens, oder der Unterbrechung des Anziehens, sondern seines Gegenteils. Das meiste fehlt schon. Ich nehme an, sie trägt noch den Schlüpfer, über dessen Farbe, Material oder Beschaffenheit die Phantasie an diesem Punkt keine Aushünfte erteilt, sie verweilt bei den Socken, die, wie gesagt, sauber und frisch sind und doch etwas Gebrauchtes, etwas In-Anspruch-Genommenes an sich haben, das eine innige Verbindung zu ihrer Trägerin aufzeigt; sie sind kein zufälliger Fremdkörper, den man sich am Morgen überstreift und der zunächst auch fremd bleibt, unzugehörig, gewöhnugsbedürftig, wie auch er, der Gegenstand, die fremde Hülle, sich erst an uns, an die Trägerin, gewöhnen, sich ihr anverwandeln muß: Diese weißen nicht mehr ganz flauschigen Socken haben die Fremdheit überwunden und sich ihrer Trägerin bereits anverwandelt, und so sehen sie aus, so fühlen sie sich an (würden sich anfühlen, wenn man sie berühren würde), man merkt ihnen an, daß Esther sie getragen hat, einen langen Tag, eine lange Reise, daß sie über die Stunden dieses Tages hinweg, auf Bahnhöfen, in Zügen, auf Straßen, in einem Café, ein intimer Teil Esthers geworden sind, indem sie ihr so lange so nahe waren, daß sie Esther begleitet haben, daß Esther sie heute morgen mit einem bestimmten Gedanken (zu dem vielleicht auch ein Bild oder eine Vorahnung, wenn nicht sogar der Wunsch oder das Verlangen nach einer Situation gehört hat, wie die, in der sie sich jetzt mit mir befindet, nämlich, fast entblößt, nach Ablegen einiger Quadratzentimeter Stoff und mit der festen Absicht körperlicher Vereinigung, bald in den Zustand gänzlicher Nacktheit überzuwechseln), daß Esther sie also heute morgen mit solchen Gedanken oder unter anderem auch solchen Gedanken über ihre Füße gerollt hat und daß sie dann die ganze Zeit bei ihr waren, während Esther auf der langen Fahrt Zeit genug hatte, dieses und jenes zu denken, zu ahnen und zu wünschen, und daß sie die ganze Zeit diese weißen Socken trug, so lange, daß der Stoff ein bißchen ihren Geruch angenommen und damit etwas wie ein Fluidum von Esthers Existenz, ihrem Wesen, nicht allein als Körper, sondern auch als wünschendes und hoffendes Wesen, aufgesogen haben. Das beschäftigt mich sehr, wiewohl so etwas ja nur Sekunden dauert in der Realtität, wo wir es meist eilig haben, die Socken von den Füßen zu streifen (ich ihre Socken). Mich beschäftigt, wie Gegenstände, Kleidungsstücke zumal, etwas von der Person in sich aufnehmen, die sie trägt, ich meine nicht allein das offensichtliche, den Geruch, die Wärme, die Ausbeulung von Knöcheln und Gelenken (auch umgekehrt fasziniert mich der Eindruck, den Kleidung auf die Trägerin ausübt, die Rillen, Muster Streifen, Falten und Abdrücke von Strickmaschen auf der leicht geröteten warmen Haut), sondern auch in der Vorstellung, in der ideellen Verbindung, die der Stoff, das Gewebe, das Material mit Haut und Fleisch oder Haar eingegangen ist, einfach nur, indem diese unbelebte Materie der atmenden Haut so nahe war, daß sie fast eins geworden sind, bis zu dem Moment, wo sie sich in einem elektrisierenden Knistern wieder voneinander trennen, so wie jetzt, während ich in meiner Phantasie die Socken langsam von Esthers Füßen schäle.