L’après-midi d’un fièvre

Die Stimmen sind fern und
die Straßen. Im Fenster der Himmel,
ein Winkel von Wolken
und Dächern.

An der Wand steht still eine Säule
von Licht, verziert mit den Schatten
von Laub.

Fernes Räderrollen;
Vor einer halben Stunde
ist in der Nähe
der Rotschwanz verstummt.

Die Kirchturmuhr vergißt
zu schlagen. Wo der Bleistift lag,
ist das Papier noch ganz weiß.

Leises Schimmern auf Holz.
Die Bilder blicken gen Abend.

Das Licht läßt sich aufsaugen
von der Wand, bis es
erlischt. Lautlos
tanzt ein Stuhlbein.

Noch einmal pfeift der Vogel, du hast

mir geschrieben, jetzt ist
alles fern, die Tage, die

Nächte, das Fieber, selbst diese
kleinen Tränen weint still
ein Fremder.

Zum Abend

Wieder und wieder die Traurigkeit des Abends, wie die Stimmen sich verlieren, die Farben zerbrechen und absterben, wie die Blüten an sich selbst krank werden, die Straßen an die Häuser branden, in Unfrieden auseinandergehen. Da ist wieder der Drang, vor dir selbst wegzulaufen. Ein umgekehrter Horizont, ein nach außen gerichteter Sog, zentripetal aus der Mitte weg. Wohin? Weg. Nichts, was du schauen könntest, könntest du schauen ohne einer zu sein, der schaut. Wer immer das wäre, du würdest ich zu ihm sagen. Du kannst dir nicht entkommen, lauf, wie du willst. Es gibt kein Meer für dich, keine Insel, keinen Strom. Es wird nur immer und immer wieder einen Abend geben, der dich enthält und doch nein zu dir sagt.

Kein Nostos

Jedes Jahr aufs neue haben wir uns selbst verloren. Die Heimkehr war eine Heimkehr an einen unbekannten Ort und eine Vertreibung unserer selbst aus uns. Das Ende der Urlaubsfahrt bedeutete nicht allein, daß uns die Fremde nicht mehr besaß, sondern daß wir die Heimat, die wir selbst in uns fanden, wieder verloren hatten. So kam uns denn gar nicht wie Heimat vor, was uns an diesem sogenannten Daheim erwartete, die wir braungebrannt heim- und doch nicht heimkehrten: sondern wie Fremde an einen fremden Ort. Einen Ort der Verbannung.

Noch ein paar Tage schulfrei, noch ein paar heiße Sommernachmittage, ein Eis am Baggersee: Es taugt alles nichts. Denn es gibt nichts zu erwarten, alles es ist schon gewesen; der Duft von Sonnenöl ist keine Verheißung sondern eine Erinnerung. Die Tage, wie warm sie auch noch seien, sind nur noch ein Rest, der früh dunkelt. Morgens, beim Erwachen, heulen die Schwerlaster über die kilometerweit entfernte Autobahn, die in Fernen führt, die dich nicht mehr enthalten. Die Wände hallen, der Lichtschalter klingt hohl. Die Vögel haben sich versteckt, statt Aprikosen gibt es wieder Äpfel, und die Monate enden auf -r. Das Meer ist ein Jahr weit entfernt. Gräßlich.

Mit den Eltern im Wohnanhänger vier Wochen durch Süd- und Westeuropa gegondelt, die Alpen, das Mittelmeer, unendliche Sonnenblumenfelder, die leuchtenden Reihen laufen alle auf eine finstere Burg zu. Sonne, Wasser, Steine, Flechten, Gewürze, alte Mauern, die das Brennen der Sonne abhielten und gluckernde Kühlung schufen. Berge, echte Berge, eiskalt und so hoch, daß sie Schatten warfen. Von allem die Essenz, das Konzentrat der Empfindungen, bis ich mich selbst darin beheimatet und daraus schöpfend als Konzentrat meines Jungseins fühlen durfte.

Doch dann kam man wieder nach Hause und nicht nur in einen anderen Raum, sondern auch in eine andere Zeit, in eine fremde, nach allen Richtungen unpassende Jahreszeit, die weder Sommer war noch schon Herbst, eine Jahreszeit der Öde, wo die Berge runde Kuppen hatten, die Bäche kanalisiert waren, und alles in unendlicher Verdünnung bestand, bis man selbst sich daran erschöpfte und alle Essenz des Lebens zum Teufel war. Selbst die Nummernschilder der Autos, dieses blöde Weiß, die Farben der vertrauten Geldwährung, die Ortseingangsschilder, dieses dümmliche, gewöhnliche Gelb, wie trist war das. Nicht zu reden von der Sprache! Reichte es nicht, daß es kein Französisch mehr war, mußte es auch noch dieser zähneziehende Dialekt sein?

Mit Erstaunen haben wir damals immer festgestellt, daß es auch hier, in der fremden Heimat, so etwas wie Wetter gegeben hatte; daß die Zeit nicht stehengeblieben war, daß jemand Post ausgetragen, den Rasen gemäht, einen Baum gefällt hatte. Aber die hier geblieben waren, wußten nichts von der Sonne und den Alpengipfeln: Mit denen war zu reden. Selbst wenn sie Hochdeutsch gesprochen hätten. Fremd waren sie. Verständnislos glotzten sie über den Gartenzaun. Fremd war selbst noch die Luft, weil sie so schal schmeckte, und komische Fransen hingen am Himmel, strähnig und wie von Fett glänzend. Wir Heimkehrer und Asylanten, die wir ganz andere Himmel erprobt hatten, waren uns einig: die Farbe Blau hatte einen solchen Himmel nicht verdient.

Nach vier Wochen im Campingwagen befiel uns in Erwartung der hallenden Riesenzimmer der Wohnung eine agoraphobe Beklemmung. Wir verspürten das starke Bedürfnis nach Aufschub und Flucht: noch eine Nacht im Wohnwagen schlafen, auf dem Parkplatz in unserer Straße, und die Fremde noch ein letztes Mal, und seis als Illusion, in den vier so vertraut gewordenen Kunststoffwänden des mobilen Heims festhalten, ein Stück konservierter, hingehaltener, noch ein letztes Mal auszukostender Fremd- und Freiheit. Die Eltern, längst schlauer und desillusioniert, winkten ab.

Und wie wir uns dann in den Tagen, die der Nicht-Heimkehr folgten, zu trösten versuchten, mit guten Vorsätzen, die darauf abzielten, etwas von den erfahrenen Reichtümern der Ferientage in die Welt der Alltage hinüberzuretten und sich der neu gewonnenen Erkenntnis stets aufs Neue zu vergewissern, daß das Leben so perfekt sein kann wie ein Eis auf der Hafenmole von Menton oder der Biß des Gletscherwassers an den wundgewanderten Füßen; verzweifelte Versuche, es nicht auf sich beruhen zu lassen, und nach Möglichkeit der Umstände, so gut es eben ging, ein solches Leben wie das eben gekostete nicht nur als Pause zu führen, sondern als Alltag. Und so faßten wir dann unsere erbärmlichen Vorsätze, mehr rausgehen, öfter wandern, ausschöpfen, was das bißchen Natur im Rhein-Neckar-Kreis zu bieten hatte.

Schnell aber ermüdeten wir. Und es stellte sich heraus Der Baggersee war schon in Ordnung, Aber er war halt nicht die Côte d‘Azur, sein Wasser war schlammig, man konnte den Grund nicht sehen, es roch nicht nach Meer, und wenn mans genau nahm, roch es nicht nur nicht nach Meer, sondern brackig. Abgestanden. Und so abgestanden begannen wir uns dann auch selbst zu fühlen. Abgestanden wie der Hausflur, die Winterklamotten und der ortsübliche Dialekt. Bis es schien, daß aus unseren Poren dieselbe Brackigkeit, dieser unfrische, laue Hauch des Alltags herausquoll. Mehr rausgehen, das hieß vor allem: Straßen. Und das Gefährlichste an den Flanken des Eichelbergs waren die Bremsen und die Pferdeäpfel.

Und so setzte denn auch, über die Wochen, während aus der falschen Jahreszeit endlich Herbst geworden war, der Verdünnungsprozeß nicht nur den Vorsätzen, sondern unserem Ekelgefühlt selbst zu, bis wir, selbst Verdünnte, unseren Mangel nicht mehr bemerkten und es eines neuen Sommers bedurfte, um uns uns selber wiederzuerfinden.

Aufstehen mit dem Gefühl, daß dieser Morgen absolut keine Verwendung für mich hat.
Fragt sich, ob ich eine habe für ihn.
Der Tag und ich, wir haben uns auseinandergelebt. Wir wissen nichts mehr miteinander anzufangen. Wir leugnen einander. Und ringen dabei. Zu spät, zu früh, jedenfalls: verkehrt. Irrtum und Säumnis. Nachholen, mit Worten, was mit den Händen nicht gelang. Nach der Zeit werfen mit Phrasen. Den Rücken zur Zukunft, und auch darin noch scheitern.

Briefe in die Vergangenheit

Daß Du mir nicht mehr schreibst, zu den Anlässen nicht, dazwischen sowieso nicht: Das schlimme daran ist nicht, daß ich das schlimm finde, sondern daß ich es nicht schlimm finde. Denn:
Was verbindet uns noch, außer der bloßen archäologischen Tatsache, daß wir mal ein Paar waren? Was Dich mit mir verbindet, kann ich nicht sagen. Was mich betrifft, so verbindet mich mit Dir eine Erinnerung, eine Vergangenheit, mit der ich nicht abschließen kann, und diese Vergangenheit ist in gewisser Hinsicht lebendiger als die Gegenwart (ich bin versucht zu sagen: lebendiger als Du jetzt für mich bist). So weiß ich gar nicht mehr, an wen ich eigentlich schreibe, wenn ich mich zu einem Brief an Dich hinsetze. Der Schreibtisch ist so leer, als hätte nie jemand dort einen Brief geschrieben. Es scheint mir, ich schicke Briefe an einen Menschen aus der Vergangenheit, Briefe, die, wie ich fürchte, mehr an meine eigenen Erinnerungen als an eine echte Person gerichtet sind. Und zurück sind zuletzt immer Briefe gekommen aus einer Gegenwart, über die ich rätsele und mir den Kopf zerbreche, ich verstehe sie nicht. Es scheint diese Gegenwart nicht meine Gegenwart zu sein, auf jeden Fall ist es keine, die uns beide gleichzeitig enthalten könnte. Ich kann diese erratischen Hinweise (Job; Kinder; Haus) und Informationsschnipsel zu keinem Bild eines Lebens zusammensetzen, und sagen: Das ist also Deins, so lebst du also, das bist Du. Es bleibt das alles ein Job, Kinder, ein Haus. Beliebig. Fremd. Isoliert. Nichts, woran Deine urpersönliche Sicht auf die Welt, Deine ureigene Bemühung, Dich darin zurechtzufinden, kenntlich würde. Nichts, worin sich sich ein Dein Du zeigen würde.
Und jetzt kommen gar keine Briefe mehr, keine aus der Gegenwart, weder verständliche noch unverständliche. Ich nehme es zur Kenntnis. Es berührt mich nicht. Ich habe lange vergebens auf einen Brief aus der Vergangenheit gewartet, aus unserer Vergangenheit, von einem Menschen, der noch dieselbe Zeit mit mir teilt. Von dort habe ich nie wieder etwas gehört. Deshalb kann ich nicht sagen, daß mir irgendetwas fehlt. Wir könnten uns nur immer wieder unsere eigene Geschichte erzählen. Vielleicht ist es besser, es zu lassen, weil es sinnlos ist und nicht guttut, und weil das Ende häßlich war, und unseren Briefwechsel einzustellen. Vielleicht hast Du diesen Entschluß bereits gefaßt, denke ich, vor einem Jahr und länger, vielleicht hast Du eines Tages, schon am Schreibtisch, lange nachgedacht und nichts gefunden, und den Federhalter sinken lassen, aus dem Fenster gesehen, in bewegtes Laub oder Sonne oder Schindeln anderer Häuser, hast geseufzt und den Kopf geschüttelt und Papier, Feder und Umschlag wieder weggeräumt, bist aufgestanden und hinausgegangen, und vielleicht warst das gar nicht Du sondern ich war das. Ich stelle mir eine leere, spiegelnde Schreibtischfläche vor und eine Tür, die ins Schloß fällt, rufende Stimmen, die dahinter verhallen, ein unbehaustes Zimmer. Wann haben wir das letzte Mal wirklich miteinander gesprochen?, frage ich mich, und dann finde ich es doch noch schlimm.

Melancolia veris

In einer Art umgekehrter Entsprechung zum Wetter hält mich die Traurigkeit. Je bunter das Draußen, will mir scheinen, und dieser April ist ein teuflischer Ausbund an Buntheit, desto grauer das Innen. Nachts erwacht, die Decken sommerwarm, aufgestanden, Wasser laufen lassen und nicht mehr ein- noch ausgewußt vor Traurigkeit. Trau-grau-grauslich: Es sind diese schlimmen Stunden, irgendwann zwischen drei und vier Uhr, vor dem ersten Vogelton, der indes auch nicht tröstlich wäre, draußen die Nacht, die Welt, auswegslos, verschlossen, riesig, eine Steilwand aus Zeit und Raum ohne Betriebsanleitung, kein Vogel, die Nacht schläft, ich bin wach, und innen alle Bastionen und Wehre zerbrochen. Strom und Stau von ungebetenen Gedanken, derer ich nicht Herr werde. Gäste mit grimmigen Gesichtern hocken sie auf der Türschwelle, sitzen am Tisch, ziehen Bücher aus dem Regal, schütten das Blumenwasser weg.
Ein Zur-Unzeit-Sommer ist das aber auch! Grillgeruch am Abend. Autos mit offenen Scheiben, Wummern von Beat & Bass. Morgens bereits Sonnenschirme auf den Balkonen. Bunter April, heitere Menschen, tödlicher Pollen. Rätsel, Sphingen, Bögen mit aufgedruckten Losungen. Auf der Terrasse der Nachbarn holt man sich Nachtisch. Stimmen. Es sind viele Stimmen in der Luft dieser Zeit, ziellos und ungebeten, wie Ungeziefer aus Licht. Man sitzt und räkelt sich, ein Ellenbogen liegt sonnengecremt auf einer Sesselarmstütze, Buschwerk verhüllt die Gesichter, die Luft, warme, vogelstimmensatte Luft, ist voller Verbindungen, macht die Stimmen flugfähig, falter- und flatterfähig.
Was sind das für Leben, denke ich angesichts dieser Zurschaustellung fremden Mit-in-der-Welt-Seins, was sind das für Wege, Lebens- und Todeswege, was für Gesichter, Träume hinter der Stirn? Was für Opfer haben sie gebracht, um da jetzt zu sein, in diesem Haus, Nachtisch löffelnd, auf der Terrasse, ahnungslos und zufrieden mit dem Bunten um sie herum, was für Opfer, die ich nicht zu bringen bereit war?

Greinstraße

Wie sanfte Akkorde ragen die Bäume auf und strecken die Äste in den Himmel, als träumten sie dem Beginn einer mächtigen Symphonie entgegen. Der Tag dauert und läßt sich Zeit beim dauern. Am späten Nachmittag die Sonne, selbst der Dunst beginnt jetzt zu leuchtet, das Astwerk verraucht in die Stille im Schatten des Uni-Centers.

Schläge von Baustellen erschüttern den Raum, klirren gedämpft durch die Scheiben. Zieht ein Bautrupp ab, trifft morgen ein neuer ein. Immer wird irgendwo Erde aufgebrochen, Leitungen versenkt, Absperrbänder entrollt. Gelbe Helme verschwinden in der Erde, von meinem Beobachtungspunkt aus betrachtet schweben und schwanken sie auf Augenhöhe. Es ist unklar, was da soviel gegraben wird. Aber sie graben. Überall. Mit Ameisenfleiß.

In der Dämmerung Leuchtspuren von Autos. In die Netzhaut gezeichnet, wo sie lange liegenbleiben. Ich denke mir, daß dies einmal die Zukunft war. Ich habe stapelweise alte Briefe durchgesehen, gestaunt über die fremde Hand, die einmal meine gewesen ist. Meine gewesen sein soll. Läßt es sich abstreifen, wie eine müdgewordene Haut. Sie ist müde geworden, diese Haut. Es ist einfach zuviel passiert. Zuviel, um noch einmal naiv zu sein. Zuviel gelebt, um in den Tag zu leben. Zuviel, um noch einmal lieben zu können.

Die Arbeiter graben und graben. Mittags leuchtet Butterbrotpapier in ihren schwarzen Händen. Ein Flachmann wird aufgeschraubt, macht die Runde. Der letzte schüttelt sich den übriggebliebenen Tropfen in den Mund. Jetzt graben sie wieder, die Helme auf Augenhöhe, ihre Schläge zerhacken den Abend. Ein Erdhaufen wächst daneben. Steine, verklumptes Erdreich, Stücke von Rohr, Blechsplitter, zerbrochenes Geschirr. Das Absperrband flattert rotweiß, wie ein Reigen spielender Tierkinder.

Hunde schlendern vorbei und lächeln voller Ernst mit ihren langen leuchtenden Zungen. Es gab sie schon immer. Sie waren da, als ich hier meinen ersten Tag hatte. Sie waren schon vorher da. Sie haben mich gleich erkannt, von früher. Viel früher. Vielleicht haben sie auf mich gewartet. Ich habe ihren schlanken Nacken damals bewundert mit dem schimmernden Fell, das seitwärts Schlenkernde ihres Schritts. Die Unbekümmertheit in ihrem Schnauben. Ich bewundere sie wieder. Ich hatte sie längst vergessen. Es ist unglaublich: Ich bin hier. Und wo soll ich auch sonst sein. Aber es ist unglaublich.

Dann kommt die Dämmerung. Die Nacht saugt das Gebäude leer. Oft habe ich an Fenstern leerer Gebäude gestanden wie ein Nachtwächer. Stimmen auf der Straße, die sich entfernten, nach Alaska, nach Boston, nach Hannover, nach sonstwo. Timbuktu, ich habe sie aufbewahrt, die Stimmen, die herrenlosen Worte, Bemerkungen, Rufe, Gekicher, ihr brauchtet sie ja nicht mehr.

Dies ist sie also, die erwartete, die herbeigeträumte, manchmal gefürchtete. Die spätere Zeit. So fühlt es sich also an, in einem Ausblick eingetroffen zu sein.

Bei solcher Witterung. 8:58

Bei solcher Witterung haben selbst die Blicke der Menschen im Zug etwas Nebliges, ja, Nebulöses an sich, versponnen, labyrinthfarben, nach innen gerichtet und doch die Umgebung im Blick, traumgefärbt vielleicht, als gäbe es da etwas, das uns, jene Frau und mich, die ich schon seit langem im Zug beobachte aus sicherer Distanz und der versteckten Warte beiläufiger Taxierung, das uns also schon von je verbindet, nur ich weiß es nicht, abgelenkt und verloren wie ich war an eine andere Erzählung, an ein anderes Licht. Die Felder eisgrau, ohne das Gewicht von Farben. Raben, die auf einen Acker niederfallen. Strommasten huschen lautlos vorbei. Der Blick sagt, hast du’s immer noch nicht verstanden? Und ein pastellenes Glänzen liegt da wie eine eingenistete Trauer in ihren Augen, ein Sog.
Sie verläßt vor mir den Zug, wobei sie mich mit diesem ballistischen Blick auffängt und gleich wieder fallenläßt, mit diesem knappen, zwischen Beachtung und beiläufigem Desinteresse schwankenden Streiflicht und Hast-du’s-noch-nicht, das Kinn ein wenig auf die Brust gesenkt, die Aufmerksamkeit jetzt auf die Lücke gerichtet zwischen Trittstufe und Bahnsteig, es ist eine Aufmerksamkeit, die ebenso beiläufig ist wie vorhin der Blick, und sich noch weitere Aufmerksam- und Beiläufigkeiten vorbehält. Ihre hohen Stiefel machen kleine Geräusche jetzt schon auf dem Bahnsteig, auf den angefeuchteten Steinen, Geräusch wie von solchen Schritten, die sich eine nächtliche Straße hinunter einsam entfernen, manchmal ein Holpern, wenn die Fußspitze beim Vorwärtsschwung noch einmal den Boden berührt, tänzerisch klingt das und elegant, klack klack kliklack, ihr violetter Mantel beginnt sich schon aufzulösen, das Haar glänzt wie von Kondenstropfen. Die Schultern spannen sich leicht, als wüßte sie mich vertrauensvoll hinter sich, wüßte meinen Blick auf ihr ruhen, der ihr auch wirklich folgt, wie sie, womöglich mit dem Bewußtsein, das ich sie nicht aus den Augen lasse, klack klack kliklack dem Treppenabsatz zur Dasselstraße zustrebt. Sie senkt den Fuß auf die erste Stufe, neigt ein bißchen den Kopf vor, vorichtig, hat ein Taschentuch hervorgezogen, schneuzt sich die Nase, schnieft, der Nebel, die Kälte, das Herbstzittern, ihre Gestalt schon eingetrübt, senken sich die Schultern auf der Treppe, bereits die einer Fremden in einer Menge weiterer Fremder, eine auf und ab wogende Isokephalie unter dem Stahlbogen, wo jetzt das feuchte Gleiten einer Taube den Stahlschatten des Bahnübergangs entkommt. Die Treppe saugt die Menge an sich, unten erklingt das sanfte Gekreisch einer bremsenden Straßenbahn, der Zug schickt zwei rote Rücklichter aus der Kurve zurück. Das Bahnhofsgelände hat sich geleert; eine Zigarettenkippe qualmt in der Nässe, ein Papiertaschentuch leuchtet weiß auf dem Perron, die Taube entfernt sich flügelklatschend und verschwindet in der Silhouette der Platanen, und als ich wieder zur Treppe sehe, wird sich die Fremde kein zweites Mal nach mir umgedreht haben.

Paul-Schallück-Straße

Es gibt nämlich keine Paul-Schallück-Straße mehr. Klar, der Stadtplan. Der kann viel erzählen. Stadtpläne wissen aber nichts von den Orten, die sie abbilden. Stadtpläne sind blind. Du betrachtest sie, folgst vielleicht mit dem Finger (das hat etwas Hingebungsvolles, das gefällt mir, ja, aber), mit dem Finger folgst du vielleicht dem Geschlängel eines Weges, wobei du dir vornimmst, den gehe ich demnächst, bald oder nächstes Jahr, oder wenn wieder Herbst ist, so wie früher, denkst du, und dabei stellst du dir Landschaften vor, die du aus den ins Abstrakte projizierten Angaben der Karte wieder in die Wirklichkeit zurückformst; aber so ein Herbst kommt ja doch nicht, auch kein ähnlicher, und auch der Weg, den du meinst, den die Karte aber nur abbildet, ist verschwunden; oder du pochst auf eine Stelle, eine Kreuzung vielleicht oder einen Abzweig, den du mal verpaßt hast, oder etwas, das ganz unscheinbar ist, und das dir nur dadurch wichtig wird, daß da mal jemand stand und lächelte, an einer öden Häuserecke, oder dir entgegenkam, auf dich gewartet hatte, oder einfach nur in deinen Gedanken war und dort mit dir und hineingespiegelt in die Wirrnis eines Unortes, auf den du jetzt, mühelos wiedergefunden, deinen Finger legst: Wie auf etwas, das sich orten und festhalten ließe. Als wäre dieser Ort nicht vielmehr in dir selbst als auf irgendeiner Karte zu finden. Du trägst ihn mit dir herum. Die Karte weiß nichts, sagt Paul-Schallück-Straße, sagt Hier, aber sie hat keine Ahnung.
Wer Paul Schallück war, das haben wir auch nie herausgefunden, nicht einmal versucht haben wir’s, jetzt ist es egal, denn die nach ihm benannte Straße, auch so ein Ort, gibt es ja nicht mehr, Stadtplan hin oder her, leg nur deinen Finger drauf, hier das Justizgebäude, dort der Supermarkt, dort die Eisenbahnlinie (das Quietschen nachts, wenn die Güterwagen herumgeschoben wurden, wir mochten das beide, diese nahe Ferne, die Stimmen hin und her, Geräusche wie Reise und Unterwegssein, wir lauschten dem, brauchten nichts zu reden, schmiegten uns aneinander, draußen rumpelte es manchmal, dann herrschte die Stille der weiten Welt, Bahnhöfe, Häfen, die Laternen des Aufbruchs, der immer gemeinsamer Aufbruch war, sein sollte, gewesen wäre), leg nur den Finger drauf, versuchs nur, es ist dort nichts, nur der Name ist geblieben, von Bahnhöfen und Häfen und Schalterhallen, das bedruckte Papier. Wir waren kaum je gemeinsam unterwegs. Hättest du ihn schon gefunden, nur weil da der Name steht? Später bist du noch oft dort entlanggegangen, hattest dummerweise was vergessen, mußtest in den Supermarkt, hieltest den Kopf gesenkt, um ihr nicht zu begegnen, fragtest dich jedesmal, ist sie zuhause, in unserem ehemaligen Heim, da drüben, das Fenster fast sichtbar durchs Ahornlaub, steht sie jetzt hinter diesen Spiegelungen, die ein Stück Himmel mit Wolken darin, mit Wind darin, heruntersaugen, unsichtbar ihr dunkles Haar, spielt sie Klavier, die Töne beinahe bis hierher hörbar, wäre der Wind nicht, die Schritte der Leute nicht; oder tritt sie am Ende noch gerade jetzt heraus, um dir zu begegnen und wieder nichts zu sagen zu haben, nur ohne Quietschen diesmal, ohne Schmiegen. Einmal hin, wieder zurück, diesmal ihre vermeintlichen Blicke, ihr Zögern und Ausweichen im Rücken. Ging sie vielleicht einmal hinter dir, langsam, damit eure Wege sich nicht kreuzen müßten, du sie nicht bemerken würdest, wenn du dich umdrehtest?
Und wußtest nicht, sooft du dort vorbeigingst, daß es diesen Ort ja schon längst nicht mehr gab. Glaubtest sie dort oben, dabei war sie schon längst ausgezogen. Fürchtetest und ersehntest ganz umsonst ihre Begegnung.
Du drehtest dich nicht um, nie. Sie auch nicht, das war nicht ihre Art. Auch Abschiede nicht, waren nicht ihre Art. Ebensowenig wie ein großes Wort, ein Wort, das den Mut hätte, Großes zu sagen, nein. Wegdrehen, weggehen. Jetzt ist dieser Ort verschwunden, der Ort, der uns noch kannte, und wer Paul Schallück war, ist abermals unbedeutend, hier ist nichts nach ihm benannt, wie schnell Karten veralten können, nicht? Da zeigt das Blatt noch diesen Straßennamen, dabei … Da gibt es doch nichts. Man kommt dort nirgendwo aus, man verläuft sich, macht noch ein paar Schritte, hat einen Gedanken, verheddert sich, hascht nach einer Erinnerung, die dir plötzlich, aber sie ist schon weg, und im nächsten Augenblick bist du im Kreis gelaufen und wieder dort, wo du seit einiger Zeit schon dich aufhältst. Zuhause bist du nicht, hier nicht und dort nicht, und die Paul-Schallück-Straße gibt es nicht mehr. Am Ende, beim letzten Blick aus dem Fenster dieses Ortes, den es nicht mehr gibt, waren die Blätter des Bäumchens auch gelb. Vielleicht hast du noch das Laub dieses Ahornbäumchens wehen sehen, auf einem deiner vielen Gänge in dieses Abseits jedes möglichen Raums, hinter der Häuserecke hervor, Blätter, die aus einer imaginären Richtung herausfallen, in den irrealen Vektor des Lichts geraten, wo sie aufblitzen, Blätter, deren Wirbel vom Schatten verschluckt werden, über den Boden rascheln, still sind. Immer mehr Blätter, die vor deinen Füßen liegenbleiben.
Dieser Ort ist mehr als er selbst, und darum so unzugänglich, daß es ihn nicht gibt, unaufholbar. Gleich einer Karte zeigt er Namen und Bilder, eine Täuschung, steht er an der Kreuzung potentieller Vielfacher von ihm selbst. Unsortierbar und unzerlegbar die Folien, die über ihm und über einander liegen, aus deren höherdimensionaler Interferenz etwas entsteht und immer weiter wirkt, das für immer einen Raum im Außerhalb von allem einnimmt. Indem er über sich selbst hinausweist, bleibt der Ort unerschöpflich. Eine Ahnung zieht dich immer wieder hier hin, als könntest du dich in diese Dimensionen auffächern und darin herumgehen, aber selbst wenn … Was würdest du sehen, was doch immer nur im Sehen verhaftet bliebe?
Heute warst du wieder im Park mit den Photonegativen. Wie dunkel ihre Stirn leuchtete. Wie hell die Augen, als könnten sie, solche Augen, als einzige sehen, den Ort, wie und wo er wirklich ist oder war oder sein wird.

Nach Hause

Das Nachhausekommen gelingt nicht mehr. Du steigst aus dem Zug, gehst die stillen Straßen hinunter, schließt die Tür auf. Zuhause bist du nicht, lange nicht, lange nicht mehr gewesen. Trauer, wieder Trauer. Worüber? Über einen unnennbaren Verlust. Ohne Wortweiser. Die Gedichte rühren zu Tränen, aber du betrachtest sie von einer anderen Welt aus, von deiner Warte des Verlorenseins, und drüben, die Worte, die von je du kennst, sie haben sich aus dem Wirklichen gelöst, in das du auch eingebettet sein durftest, einmal, jetzt aber nicht mehr. Jahre und Jahre und Licht, den Duft der Tannen in der Nase, die Krähen, die Felder, an deren Stoppeln sich das Licht bricht, in die Ferne hinein, die dich immer auch enthielt, ein Stück weit, deine Ferne war, aber erst jetzt, wo du das kennst, bedeutet es etwas. Und auch dieses hast du verloren, wie die Heimat der Gedichte, an irgend einer Wegkreuzung hast du dich aufgemacht, aber wann das war, das bekommst du einfach nicht mehr zusammen, oder wo, fassungslos blätterst du die Tagebücher auf, da steht sie, die Jahreszahl, das Datum, aber wann das war? Nicht einmal deine eigene Schrift ist das doch noch, so krakelig, so steil und stolz, das sollst du geschrieben haben? Woher denn dieser Stolz? Nein. Das ist weg. Weg wie die Pfade, wie die Abenddämmerung, die Heimkehr, ja, die Heimkehr, dieser langsame Schritt in ein warmes Licht von Stube und Sorglosigkeit, Duft und Lernendürfen und Ruhe, dieses Nachhausekommen, das dir, egal, wo du wohnst, gleich wie die Laternen, die Fenster, die Eulen oder die Bahnen der Fledermäuse beschaffen sind, gleichwie, nicht mehr gelingen will, einfach nicht mehr gelingt.

C.

nach den stürmen der letzten wochen endlich wieder so ein licht, das einen an den haaren packt, einem das kreuz geradestreckt und den kopf in den nacken zieht. der himmel ist so groß wie er sonst war und bietet wieder platz für vögel, baumkronen und weidende schwäne.
in einen tropfen gekrümmt findet sich alles, bis in die allerersten tage hinab. vielleicht wären wir glücklich gewesen in jenem raum, auf den alles deutet, ohne ihn benennen zu können. eine farbe gaukelt es vor, rindenstücke, mulch, warmgeäderter granit. man dreht sich um, aber es waren nur die eigenen schritte. vielleicht hätte wir gemeinsam erste um erste stunden aus der zeit gehoben, zahlreich und mächtig genug, uns mit geschichten zu nähren und in die zukunft zu tragen; hätten uns angesehen, und erstaunt übereinander gelacht und weiter fleißig neue zukünfte füreinander erfunden. oder auch nicht: mag sein, wir hätten aus der ersten stunde solange gezehrt, bis alle unsere zeit zerschlissen, dünn und endlich so durchsichtig geworden wäre, daß wir uns selbst nicht mehr darunter erkannt hätten. vielleicht wäre alles nur noch ein nachhall gewesen und unser auseinandergehen die einzige form, das schöne zu bewahren für immer. ich weiß es nicht. niemand weiß es.
der tropfen schmilzt in der morgensonne. der himmel packt mich am kragen. über den gräserdunst schweben die pferde. alles ist nachhall.
den kopf aus dem himmelsschauer nehmen, mit dem daumen die kastanien in der pfütze umrühren, eine unreife nuß zerdrücken. blinzeln, und wieder über die unerbittlichkeit der zukunft staunen.

0:33

Ich bin wohl einer von denen, die selbst einer verlorenen Sache immer noch die Treue halten, und sei es auch aus reiner Halsstarrigkeit, sogar dann, wenn ich selbst es war, der das zu Fall gebracht hat, dem ich jetzt, halsstarrig und überflüssigerweise, die Treue halte. Wen kümmert’s und was hoffen wir davon zu haben, jetzt oder dereinst? Liegt es in unserer Natur? Können wir nicht anders? Erst zerschlagen wir alles, dann bauen wir einen Tempel den Scherben, der Asche, den Briefen, die wir selber geschrieben haben, und die wir jetzt lesen, wieder und wieder, solange, bis das Papier so dünn geworden ist, daß die Buchstaben spinnwebfein in der Luft hängen und zu wackeln beginnen, wenn man keine ruhige Hand hat.

unerreichbar

im frühjahr falle ich stets aufs neue aus den büchern und den geschichten. vielleicht sind es die gemeißelten helligkeiten, vielleicht der klang. in dieser wie angestoßen, glockendröhnenden welt (eine welt des beginns) sind die möglichkeiten derart wirklich, daß ihr gegenstand völlig unmöglich wird. wovon man vor einer stunde noch zu träumen imstande war, jetzt ist es so unausweichlich da, daß die entfernung, der lebensabgrund von den eigenen fingerspitzen dorthin, unüberbrückbar geworden ist
die janusköpfigkeit der schönheit – aller schönheit – die zugleich hier ist und im augenblick des schauens und schauerns bereits nicht mehr – nie – erreicht werden kann, ein beständig sich erneuerndes hoffen-getäuscht-werden. selbst wenn ich das erreichte, wovon ich glaube, daß es der gegenstand des sehnens ist – so wäre es in diesem augenblick schon nicht mehr das ersehnte, bei allem gewährten glück nicht.

Rheinbrücke

Und ich will aber, daß du auf mich aufpaßt, trotzdem, hat sie einmal geschrieben.
Die Möwen auf dem Geländer der Rheinbrücke sind alle in der gleichen Richtung gesessen, die Schnabelblicke wie die Zuschauer in einem Theater auf den vorbeifließenden Verkehr gerichtet, in einer langen Reihe, dichtandicht, die Schnäbel zur Straße, weg vom Wasser. Es war Winter, als sie so dasaßen, in einer Reihe. Flügel an Flügel. Manchmal bauschte sich Gefieder, wenn eine Bö hineingriff, ansonsten saßen sie alle still da, einvernehmlich nebeneinander und ganz still. Amüsiert die der Stau, habe ich mich gefragt, die Verkeilung von Bus, Straßenbahn und PKW, das fröstelnde Flitzen der Radfahrer?
Das müßte ich ihr schreiben, habe ich gedacht, das müßte ich E. erzählen, das würde ihr gefallen. Wie sie da sitzen, aufgereiht auf dem Geländer, alle die Schnäbel in eine Richtung, du hättest gelacht, nicht?
Ich krallte die Hände in die Lehne des Sitzes, gab das Fokussieren auf, und während ich in die Glitzersterne überm Wasser flog, habe ich gedacht, wie traurig Flüsse sich anfühlen können.

Abermals Traum von E.

Beim Erwachen der Regen, aus den Tiefen der Zeit aufrauschend, die Tücher der Helligkeit, die traurigen Tücher.

Ein Traum von E. Zuerst bei ihr in einer merkwürdigen Kellerwohnung. Wir sind uns wieder näher gekommen, trotzdem bleibt sie (Sinnbild unserer ganzen tatsächlich stattgehabten Beziehung) fremd, geheimnisvoll, unergründlich-unzugänglich oder sprunghaft unvorhersehbar, beginnt plötzlich Vorwärtsschwünge an einer niedrigen Reckstange zu üben (ihr schwarzes Haar fällt ihr vornüber). Später bin ich allein in der Wohnung, nackt im Bett, da kommt jemand herein, und ich habe panische Angst, es könne ihr Freund M. sein. Ich bedecke meine Köpermitte hastig mit der Decke und hersche den anderen an, er solle bitte gehen. Er ist einer von E.s Studenten, der etwas mit ihr besprechen will und durchaus keine Anstalten macht, zu gehen. Dann kommt noch jemand, wieder die Angst vor M., aber wieder ein anderer.

Es geht immer wieder darum, ob wir oder nicht, aber was genau? Miteinander schlafen? Uns wieder zusammentun?, Eine Daueraffäre habe? Alles zusammen. Ich umarme sie. Ich beruhige sie. Ich bin fern von ihr, sehe sie auf einem Poster, sie hat ganz kurze blonde Haare, ein rosafarbenes weites T-Shirt, eine Halskette. Ich bin fern von ihr, hoffnungsvoll, quälend-hoffnungsvoll fern.

Schließlich will sie mich spontan in den Mund nehmen, aber bevor sie sich noch richtig über mich gebeugt hat, glänzt schon ein Samentropfen auf ihrem Kinn, und dann werden es immer mehr, obwohl ich noch gar nicht gekommen bin, Schlieren, die ihr auch störend die Augen verkleben, und die ich, immer besorgt, es könne ihr gleich zuviel des guten sein, mit einem Taschentuch wegzuwischen versuche, wobei ich sie nur verteile, so daß sie fortfährt, ihre Augen zu reiben.

Beim Erwachen der Regen. Die traurigen Tücher. Das träge, aus den Tiefen der Zeit aufsteigende und in dieselben Tiefen zurückfallende Prasseln, Pladdern, Tropfen. Das Tropfen.

Solstitium (Consecutio temporum)

Das Gewicht der Schmerzlosigkeit, des Gewicht der Leere.

Als wäre die Jahre danach alles, was uns einmal verbunden hatte, nur mehr in Schmerz ausdrückbar gewesen, fühle ich nun die vielleicht schönste Zeit meines Lebens (ganz sicher sind wir nicht; es könnte auch die zweitschönste sein) zu einem Nichts verblaßt. Ohne den Schmerz hat das alles keine Geltung, war nur als Nachleiden noch gültig, nur so lange, nur vorläufig. Zuerst sehnte ich mich nach E., jetzt sehne ich mich nach dem Schmerz. Eine Zeit nach aller Zeit, wo?, nirgends. So verliert man selbst den Verlust noch, die gelebte Zeit. So verschwindet das Leben hinter einem, schließt sich, ist fort, hat es bereits nie gegeben.

Selbst ihr Name nicht, gilt nicht mehr. Wenn ich sie denke, nunmehr unter dem Gewicht des Schmerzmangels, denke ich sie nur noch als Bild, als Haar, als Mund, als Sprache, als Klang, als Flöten, als Tierlaut. So wie ich neulich zusammenzuckte, abends am Südbahnhof; sie in der Tiefe der gelben Laternen zu sehen meinte; ohne Sprache dachte ich sie; das Aufzucken im Innern namenlos, wortlos das Erkennen.

Die Schwierigkeit besteht darin, daß ich ja nicht mehr weiß, wen ich da eigentlich geliebt haben soll, noch viel weniger, wer das ist, die mir nach der Liebe den Schmerz eingab. Ich kann mich ja kaum noch erinnern; was einen ganz neuen Schmerz bedeutet, Schmerz über den Verlust eines Schmerzes, einen Schreck wie beim Sturz, wenn das letzte haschende, panische Zucken nur Luft, Leere, haltlosen Schwung zu greifen bekommt. Kein Tempus ist hier richtig, ich habe E. geliebt und ich liebe E. sind gleichermaßen zu widerlegen und zu bekräftigen. Um diese Geschichte zu formulieren, jenseits jeder Chronologie nachzubuchstabieren, bedürfte es einer völlig neuen Grammatik, einer Sprache, die Erinnerungen besser abbilden, ihre Lebendigkeit und Bedeutung ebenso wie ihr Verblassen, ebenso wie ihren weitausfallenden Schattenwurf besser umreißen könnte.

Ich versuche, es zu finden, finde keins: ein Tempus, das irgendwie von jener vergangenen und zugleich unvergänglichen Zeit handeln würde, ein Tempus, das die Kraft hätte, sich auf dieses Niemandsland von erinnertem Leben und verlebter Erinnerung zu beziehen, jenes Erinnerungsraums, in dem ich absurde Römische Dichter lese und morgens die Kaffeetasse mit kaum vernehmbarem Hallen aufs Klavier absetze, hinausblinzele in das Quietschen der Güterzüge, während du noch schläfst, das Gesicht in den Kissen, Strudel von Haar darüber, und dein Name noch E. ist.

Greinstraße (und weiter …)

das himmelsgrau nistet in den baumkronen, vertreibt die vögel, läuft stämme, treppen, schächte hinauf, lärmt, pocht, heult, drückt sich durch die poren des glases, legt sich als finger und flossen über den tisch, wo es das papier zu klebriger hieroglyphenasche zerstäubt. silbern stellen sich die unterseiten der ahornblätter auf, verwandeln sich in finger, klauen, ohrringe, sturmlinien, zähne, deren licht aus dem inneren kommt und als flackern über wand und boden läuft. ein erloschener laternenpfahl neigt sich den ganzen morgen lang gegen den wolkenzug. man erinnert sich, leicht, wie im schwebtraum, irgendwo steht in einem hof ein bäumchen, das jetzt kahl sein müßte, ein naßdunkles, tropfenschüttelndes gerippe, wie es beglänzt von lampen sichtbar ist aus dem fenster oben, aus dem stummen raum heraus, der einmal ein zuhause war, ein raum voller licht und photographien und bücher und zärtlicher unordnungen, allenthalben. ein heller ton klingt auf, wenn der regen gegen das geländerrohr schlägt, ein müdes ostinato, wie von einem gelangweilten kind, das seine finger auf immer dieselbe taste des klaviers drückt, wieder und wieder.

freitag

die platane ballt ihre hundertarmigen fäuste, und der himmel voller rauch, man könnte meinen … man könnte meinen …
jetzt hab ich es vergessen.
stimmengeraune: wie ist es süß. sich da einfach einsinken zu lassen, in ein weiches gewebe, eine matte, ein netz … aus stimmen. die platane steht still, die spinne hebt ein bein. man sagt, die sonne werde scheinen am nachmittag. man sagt, die mitarbeiter seien in streik gegangen, man bedauert, versehentlich sei ein kind getötet worden (ups, ’tschuldigung), undsoweiter, am bahnhof spucken die ausflugsschüler kaugummibrei, später, zu hause, sitzt man ein wenig, nachdem man geplaudert hat mit der süßen mitbewohnerin, man sitzt, und die fenster sinken vor müdigkeit in ihren fassungen zusammen, stellen trübe schleier zur schau und vibrieren anmutig, vom stimmengemurmel wie vom lachen freundlicher gespenster.
irgendwann dann der regen. fühlt sich an wie ein freitag.

ansonsten:

ein labiles gleichgewicht. meine melancholie ist längst so eine mit spinnweben dran. das bestimmt allerdings nur die art, nicht das leuchten, der melancholie
ansonsten: melancholisch, je sommerer desto -ischer. nun ja. alles lange her. ebenso lange her wie die zeit währte, da wir zusammen waren.
und das alles auch noch in den armen einer neuen beziehung, die daran nichts ändern kann. eine imaginäre untreue: ich betrüge meine frau mit einer erinnerung.

kulissen, plakate

es bleiben immer dieselben bilder und sehnsüchte, was man auf der reise sich vorstellte, ein glück, ein warmer raum, wird sich entziehen. du läufst durch den wald und freust dich einen langen tag, aber die heimkehr ist nie so, wie du sie dir vorgestellt hast. du siehst dich selbst, wie man aus dem dunklen frost hineinspäht in den lichtkreis einer lampe, in der menschen sitzen mit ruhigem antlitz, daheim und bei sich: so einer möchtest du werden, da willst du hin. in-remscheid-ende-06-004oder vornübergebeugt über eine kladde, ein heft, eine tastatur, du selbst, in heilige gedanken verheddert, glühend und doch ruhig, ab und zu gelassen und deiner einfälle sicher, nach der kaffeetasse greifend. ein bild bleibt es, und nichts daran ist wesentlich, sowieso nicht. es ist die vorstellung eines selbst, dessen wesen zurücktritt vor einer kulisse, einem plakat. ich sah einen bekannten seine abschlußarbeit schreiben. das sah gemütlich aus, lebensvoll, schwierig, ohne quälend zu sein. das war schön. so müßte es doch gehen, dachte ich. so ähnlich ergeht es einem manchmal, wenn man einen schreibwarenladen betritt. die sauberen kladden, verheißungsvoll in ihrer erwartung, die leeren seiten mögen gefüllt werden, das schreibgerät, so klar und sauber und leicht zu handhaben wie ein endlich geglückter gedanke, den man, bemächtigte man sich nur dieses füllers, zwangsläufig haben wird. es ist derselbe irrtum wie der, den einer begeht, der sich mit dem neuen mantel, dem hemd, den schuhen eine persönlichkeit, ein ich anzuziehen meint.
aber kamst du nicht irgendeinmal so nach hause, wie du jetzt es dir erträumst? feldweg-effekte-009du erinnerst dich: da war es so. da auch. du ziehst den mantel über, schnürst die schuhe, wirfst brot und käse in den rucksack. aber den weg, den du so oft gegangen bist, hast du nur einmal gefunden. die wälder sind eine kulisse, die die erinnerungen ausstellt.
die lampe überm tisch ist es auch.