Frühprotokoll: alte Heimat

Durch den Wald laufen wie durch einen schweißfeuchten Pelz. Dem Ilex in den blutigen Rachen geschaut. Fieberheiße Stirn Horizont. Am Grund wirres Frösteln von Ameisen. In Worten suche ich die Rehe, aber sie schauen nicht her.

Die Sonne brennt die Schatten von den Uhren. Es ist früh, und doch so hell, der Himmel so gleißend und so müde, als hätte der Tag gestern durchgemacht. Man sucht umsonst nach Spuren, nur Steine, Äste, Kies, zu anorganischen Rillen geformt, laufen über den Asphalt. Der Hochsitz ist im Stehen eingeschlafen.

Ein Hase nippt an einer Pfütze, sieht mich, flieht ins Feld. Als ich die Stelle erreiche, sehe ich, die vermeintliche Pfütze ist nur ein Loch voller Schlick.

Später die Karte des Laufreviers, so viele Heimaten, daß es für viele Kindheiten reichen würde. Zwar war es nur eine, doch im Nachforschen unerschöpflich. Namen, Weiler, Ortschaften, Kleinstgewässer, alles weist über sich hinaus und an mir vorbei, als bedeute es mir einen dritten Ort, den ich erst noch finden muß. Ich muß mich beeilen, bevor er endgültig verschwindet und alle Zeiger ins Nichts deuten. So befinde ich mich im Gespräch mit der Karte und ihren Namen, meiner Erinnerung und der Vorstellung des nächsten Laufs durch das abgebildete Territorium.

Schon damals wollte ich nicht in die Zukunft. Schon als Kind war ich der Archivar meines eigenen, kleinen Lebens. Nun sind die Zeitschriften aus dieser Zeit fortgeworfen. Man hat mich nicht gefragt, als man Platz schaffen wollte im Regal.

112 Meilen (8)

Ist der Grund erst einmal gänzlich fremd, hört das Heimweh auf. Wir gehen durch Landstriche, die mir nicht mehr vertraut sind. Zwar bin ich hier schon einmal gewesen, aber auch da nur als Fremder, als einer, der nicht blieb.
Mir ist in den letzten Tagen klar geworden, wie groß meine erweiterte Heimat ist. Aber ist sie das wirklich? Es ist nicht alles Heimat, was dieser Radius umfaßt; es gibt Inseln darin, die mir so vertraut sind wie der eigene Garten; das meiste aber ist mir völlig fremd. Oder kenne ich wirklich die Straßen von, sagen wir, Morenhofen? Von Meckenheim? Oder das Waldstück zwischen Adendorf, Merl und der Aachener Straße? Setzte man mich dort aus, ich könnte nicht sagen, wo ich bin. Und doch liegt es umgeben von Wegen, die ich seit Jahrzehnten abschreite wie ein Territorium. Tatsächlich aber weiß ich nicht viel mehr davon als eben das: die Wege. Was dazwischen liegt, Buchenbestände, Gestrüppe, Gräben, Hügel, Tümpel, Lichtungen, ist mir völlig unbekannte Erde, Quadratmeile um Quadratmeile fremdes Land, von dem ich immer nur die Grenzen berühre.
Es gibt stationäre Heimaten wie den Straßenzug, das Viertel, in dem man lebt; es gibt Transitheimaten: den Lieblingsweg nach Hause oder die Lieblingsrunde im Wald. Was heimatlich ist, folgt dabei dem Weg und was man von ihm aus sehen kann. Aber schon ein Nebenpfad führte ins Fremde, Unbekannte, ja, Gefährliche, wo die Rabenschreie nach mehr Tier klingen, die Schatten tiefer gründen, menschliche Stimmen in der Ferne ausgeblendet sind.
Manchmal ist Heimat ein Blick aus dem Zugfenster, mehr nicht. Man kennt nicht, was man sieht; man kennt nur den Anblick, und man kennt ihn so gut, daß eine frisch gestrichene Hauswand, daß ein gefällter Baum sofort auffiele. Es gibt auf Strecken, auf denen ich oft unterwegs bin, stets ein, zwei Abschnitte, wo ich das Buch sinkenlasse, um hinauszuschauen und mich ganz dem Anblick zu überlassen. Wie das Licht durch Baumstämme flattert; die Herbst oder Frühlingsfarben in einer Gartensiedlung; wegtauchende Wege in einem Forst, oder der träge Schwung einer Straße in einem regennassen Feld, ich denke, hier müßtest du mal aussteigen und umherlaufen, das müßtest du dir mal aus der Nähe. Aber ich tue es nie. Es ist nicht diese Art Heimat, die mich diesen Orten verbindet, ich fahre nur gerne hindurch und bleibe lieber hinter der Scheibe, es ist eine Fernbeziehung, deren Ferne ich nicht aufgeben will, und zu der immer auch die Nähe einer Buchwelt gehört, die sie zum Angeschautwerden unterbricht.

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Nicht mehr in der Heimat zu sein, bedeutet auch, den Alltag endlich abzustreifen. Endlich wird es wieder unbegreiflich, all das Normale. Straßenbahnen, Büros, Computertastaturen, Zahlen, Zahlen, Zahlen. Fast ist es seltsam, einen Supermarkt zu betreten, es hat etwas von Exposition, als stünde man plötzlich auf einer Bühne. Und doch ist alles wie immer, als wir am Montagmorgen in Gerolstein einkaufen. Man denkt, nachdem man vier Tagesmärsche hinter sich hat, dies müßte ein verlorener Außenposten sein, ein bißchen heruntergekommen, die Waren übers Verfallsdatum, viele Konserven und Bedarf für Jäger und Fallensteller. Aber so ist es natürlich nicht. Es gibt Nutella und Zentis wie überall, und das Brot beim Bäcker heißt Fitneßkruste oder Proteinbaguette so wie andernorts auch, und man sieht den Verkäuferinnen an, daß alles ganz normal ist.
Und das ist das Seltsame. Daß auch hier Alltag ist, vier Tagesmärsche von zu Hause entfernt, inmitten von Wäldern und so weiten Feldern, daß ihr Ende sich am Fuß ferner blauer Berge auflöst. Daß man glauben möchte, die ganze Welt sei eine kleinräumige, von Wäldern durchbrochene, von hecken geordnete Kulturlandschaft. Wohin gehen die Leute hier abends nach Hause, denkt man sich. Und wie mag das sein, Feierabend nach Ladenschluß, Kasse machen, Ladengitter abschließen oder Schreibtisch aufräumen, und dann nach einer Fahrt an feuchten Wiesenrändern und im Schatten von Fichtenkämmen über einsame Landsträßchen nach Hause fahren? Wie ist das, in dieser halbwilden Welt zu Hause zu sein – dort, wo wir unsere Schritte wie durch eine weltgewordene Ausnahme lenken? Sieht man, wenn man hier wohnt, Alltag hat, sich über ausfallende Busse ärgert, immer zu spät zur KiTa kommt, über den Feierabendstau stöhnt, sieht man dann noch, was uns hier in Entzücken versetzt? Die dämmrigen Wälder, die wie schlanke Schiffe an Wiesen vertäut ruhen? Die staubigen Felder, aus denen die Lerchen aufsteigen? Die Schattensegel von Wolken, die über ein leuchtendes Stoppelfeld treiben? Eine neongrünstrahlende Wiese, auf der Rinder wie blinde Flecke schwimmen? Riecht man noch den Duft frisch gemähter Wiesen, den knisternden Geruch der Herbstwälder, das Bittere von nassem Stein, von Moos, die Süße von warmem Brombeerkraut? Kann man das vielleicht eines Tages nicht mehr ausstehen in seiner Beharrlichkeit und seinem Schweigen, seiner Zudringlichkeit und Unabweisbarkeit?
Ich kann es mir nicht vorstellen, wie sehr ich auch darüber grüble. Würde man sich eines Tages nach dem lärmenden Puls einer Metropole sehnen? Können Autoabgase, Motorengeheul, Fußgängerampeln, Wochenendfeierkotzflecken an Bushaltestellen, können blinkende Lichterwerbung, Gleisanlagen, Backstein und Beton nautische Punkte einer Navigation der Sehnsucht sein? Kristallisationskeime für den Geschmack des anderen, Wilden, Auch-Möglichen?

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Strukturschwache Gegenden. Wenig Verkehr, wenig Straßen, keine Industrie, keine Arbeitsplätze. Eine Magerwiese voller Schönheit. Es sind nicht die fruchtbaren, nicht die gewinnbringenden, nicht die erfolgreichen Landschaften, es sind nicht die Gegenden mit, um ein gräßliches Wort zu gebrauchen, Entwicklungspotential, die Auge und Herz erfreuen. Ja, es sind vielleicht gerade die kargen Gegenden, in denen der Mensch zu Hause sein mag, in denen seine Seele, seine Blicke, sein Atmen in Weite und Schönheit ruhen mag.
Oder vielleicht nicht. Ich habe einmal eine Diskussion verfolgt, in der es um den Fluch der Motoradfahrerwalze ging, die Frühjahr um Frühjahr manche Ecke der Eifel in einen dröhnenden, jaulenden, brüllenden Motodrom verwandelt. Einer der Diskussionsteilnehmer bekannte sich als Tankstellenbesitzer und verkündete, er brauche die Motorradfahrer, da er ohne sie nicht leben könne, und strukturschwache Gegenden benötigten eben Tourismus, da dieser die einzige Einkommensquelle darstelle. An diesem Punkt schaltete ich mich in die Diskussion ein und gab zu bedenken, der Reiz einer Gegend wie der Eifel sei eben ihre Strukturschwäche, und die Gäste kämen eben der Einsamkeit und der Stille fehlender Infrastruktur wegen, nicht, um sich Motorengewinsel anzuhören. Ich fügte den Wunsch hinzu, die Eifel möge noch lange strukturschwach bleiben. Volltreffer! Der Tankstellenbesitzer kochte vor Wut.
Welche Widerwärtigkeiten des Landlebens aber bleiben uns, die wir hier durchwandern dürfen, mit unseren kurzsichtigen fremden Augen unsichtbar? Wir haben den Luxus, denke ich, während wir Gerolstein verlassen, dem von der Abendsonne angehobenen Gerippe eines Doldenblütlers am Rand einer Schnellstraße ebensoviel Aufmerksamkeit zu widmen wie dem Windpark, der heruntergekommenen Bushaltestelle, der Bauruine. Wir sind Schwelger des Schauens, weil wir hier Fremde sind, Kinder, die eine Welt zu entdecken haben, deren Gegenstände wir nicht bewerten müssen, weil wir sie nicht brauchen.

112 Meilen (7)

Den asphaltierten, in Behaglichkeit ansteigenden Weg zu einer Grillhütte hinaufsteigen, eine fein gesponnene, sanft ausgeleuchtete Ferne im Rücken, in der Baumgruppen, Häuser, Straßenläufe schwimmen wie Bojen, angehoben von einem leise alles unterlaufenden Licht. Auf dem Weg, dessen Struktur körnig ist und hart, ins Nahe geworfen und wie darin auskristallisiert, liegt jedes Herbstblatt um einen Farbrest gekrümmt. Das Licht gleitet wie Schleppen übern Weg, leise auf dem Bitumen hakelnd. Der Rain mit den Obstbäumen, den Grasbüscheln, ist gepflegt, als ginge man durch ein Wohnzimmer der Natur. Man glaubt, ein Dröhnen zu vernehmen, sanft, meerartig, und so fern, als sei irgendwo ein Fenster zu einem noch viel größeren Draußen geöffnet.

Man spürt es am Schwung der Straße, hier fahren oft fröhliche Menschen, zum Feiern, zur Geselligkeit, zum Trinken. Sie fahren vor einer solchen Kulisse aus Strecken und Feldern und Tiefen und Abendlicht, wie wir sie in diesem Moment anstaunen, während wir dem Weg bedächtig folgen, unsere langen Abendschatten vor uns her hinanschiebend. Was denken diese Menschen, was fühlen sie, wenn sie hier durch ihre Heimat, durch tagtäglich Vertrautes fahren? Fühlen sie überhaupt etwas? Oder sind sie in etwa so mit ihren Gedanken woanders, wie wenn ich an einem Samstagvormittag die Zülpicher Straße entlanghaste, um den Zug noch zu kriegen?

Sind sie vielleicht – so wie ich in jenem Moment vielleicht an ein Eifeldorf mit wunderschöner Aussicht denke – in ihren Gedanken eben hier, in der dröhnenden Innenstadt, wohin sie sich wünschen angesichts wieder eines langweiligen Abends mit den Jungs und lauwarmem Bier?

Eine Abendglocke schlägt im nahen Ort, und wie immer falle ich ins Grübeln über das Beieinander von Waldeinsamkeit und Menschentreiben; fasziniert mich diese Nachbarschaft von kühlem, strengem Abseits und Außen und dem, was, egal, wo man steht, immer eine Art Innen ist: Häuser mit erleuchteten Fenstern, Geschäfte, Waren, Straßennamen, Abendbrottische. Wie der Glockenklang noch hinters dichteste Brombeergesträuch dringt und von unfaßbar Nahem läutet, das gleichwohl unerreichbar scheint. Oder umgekehrt: Als wäre der Waldrand mit seinen grausigen Schatten, den kühlen Sternen, dem Blätterhauch nur eine Illusion, der man sich erschauernd hingeben mag, solange man nur will, weil es reicht, um eine Ecke zu linsen, um sich zu vergewissern, daß die Schwelle warm erleuchtet ist, zu der man später hereintreten kann.

Es ist Sonntag, kein Wagen begegnet uns. Ein hölzerner Wegweiser zeigt wie eine Armprothese nach dem Waldrand, die Schrift in der einbrechenden Dämmerung so schlecht lesbar, als drücke sie sich aus Angst vor dem Frost ins Holz. Bis Gerolstein sind wir noch über eine Stunde unterwegs.

Arboricidium

Der Waldsaum jenseits der Pferdeweiden ist noch eine schmale Linie, da ist es schon hörbar, dringt das Jaulen und Heulen daraus hervor wie Warnrufe kampfbereiter Tiere. Eine ganze Herde davon scheint in diesem Waldstück zu kauern.
Das Geflimmer von Warnwesten zwischen den Baumstämmen ist mittlerweile ein ebenso verhaßter Anblick geworden wie die am Waldweg aufgereihten geländegängigen Fahrzeuge mit Anhänger. Überall sieht man sie jetzt, die orange- und gelbbejackten Männer mit den Visieren und den Motorsägen, wie archaische Krieger auf Beutezug stapfen sie durch Untergehölz, die Waffe im Anschlag. Die Verheerungen, die sie anrichten, sind überall sichtbar. Kronenskelette, Stammrümpfe, Aststücke, Kleinholz liegen herum, wo noch ein paar Wochen zuvor lichte Hallen von Buchen standen, von denen im Sommer angenehmer Schatten auf den Weg fiel; der führt jetzt durch eine Wüste; der Grund zwischen den herumliegenden, auf ihre weitere Zergliederung wartenden Baumteilen ist zertreten von den Stiefeln der Sägekrieger; das Unterholz, die Krautschicht sind beseitigt und niedergetrampelt; Striemen von Raupenfahrzeugen haben sich in den Grund zwischen den noch stehenden Stämmen gewälzt, und auch die Wege sind beschädigt von Raupenketten, zermalmt, zerschlammt, unbrauchbar. Zwischen Radfurchen sammelt sich öliges Wasser. Aus den Schlammassen ragen noch grüne, abgerissene Pflanzenteile. Es ist eine Schneise der Verheerung, in der eine lange Reihe von Fahrzeugen, Anhängern, Schleppmaschinen sich aufreiht wie Fliegen über einer schwärenden Wunde. Schleifspuren. Sägemehl. Überall liegt das Rostrot von abgeschürftem Bast und abgeplatzter Borke herum.
Der bittere Geruch von frischem Holz mischt sich mit dem öligen Dunst aus Zweitaktermotoren, Das Geheul der Maschinen pflanzt sich fort in verebbende Räume des Waldes, aus denen immer neues Gekreisch wieder anschwellend zurückflutet. Die Krieger müssen einander zubrüllen, sonst verstehen sie ihr eigenes Wort nicht. Die Sägen hinterlassen klaffende Lichtungen, in die der Blick hineinstürzt wie in eine Grube. Darüber zuckt der Himmel zusammen, als schäme er sich seiner Nacktheit. Die Bäume am Rand der neuen Lichtungen scheinen frierend auf einem Bein zu balancieren, seit Jahren im Bestand stehend, fehlt ihnen das niedere Laub, das den Waldsaum natürlicherweise nach außen abschließt. Alle halbe Stunde prasselt ein Baum nieder. Was stehenbleibt am Rand des Schlachtfelds erledigt der nächste Frühjahrssturm, schon liegen die ersten Fichten quer überm Weg. Wir gut, nehmen wir die auch noch mit. Es hat etwas von Raserei.
Und es beschränkt sich nicht auf den Wald. Am Bahnhof unweit meines Zuhauses hat bis vor kurzem eine Pappel gestanden, dreißig, vierzig Meter Baum, eine Pyramidenpappel, im Sommer ein rauschendes, rieselndes, flimmerndes Fest, im Winter ein faszinierendes, fraktales Gebilde aus scheinbar wirren, eine höhere Ordnung bildenden Ästen. Alles ringsum lag unter ihrem Schatten und im Bannkreis ihres Rauschens wie unter einem gütigen Zelt. Nach jedem Sturm war der Bahnsteig von kleinen Zweigen übersät; im Frühsommer unter dem Schnee der fluffigen Samen. Im Herbst leuchtete das heruntergewehte Laub. Im Sommer fiel das dunkelgrüne Rauschen in der Säule der schlanken Krone herab und stieg als silbrige Walze wieder daran empor, ein Träumen von Klang, ein Flimmern von Licht. Wer je an einem heißen Sommertag Erholung und Schatten unter einer Pappel gesucht und gefunden hat; wer je an einem winterlichen Fluß unter den filigranen Skeletten entlaubter Pappeln spazierengegangen ist, in deren Geäst der finstere Himmel festhing; wer je an einem Badesee schläfrig ins Laub der Pappeln am Ufer geblickt hat, verzaubert vom nimmergleichen Spiel des Flimmerns (wie Sonnenglitzern auf einem Fluß) – der weiß, wovon ich rede.
Wo diese Pappel letzte Woche noch stand, ist jetzt nur noch kahler Himmel. Wie zum Ersatz erhebt sich an der Stelle ein Händie-Sendemast. Der ist früher, von der Pappel buchstäblich in den Schatten gestellt, gar nicht aufgefallen. Häuserreihen, freiliegende Vorgärten. Es wimmelt plötzlich von allen möglichen Horizontalen. Am Himmel eine klaffende Leere, Gewölk, fliehende Vögel. Der Sendemast ragt hämisch in die Lücke hinein.
Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Auf meinem Weg zur Straßenbahnhaltestelle haben sie eine Hecke herausgerissen. Stumpf und Stiel, die Erde eine einzige Schürfung. An meiner Laufstrecke liegt plötzlich ein gestern noch gebüschbestandener Wall kahl da. Überall Erde, Stümpfe, Wunden. Ich verstehe es nicht.
Und dann dieser verbissene Kahlschlag im Wald. Wald? Ein Sägewerk ist das. Ich kann mich nicht erinnern, daß das früher auch schon so praktiziert wurde. Nicht so. Nicht in dieser methodischen, generalstabsmäßigen Weise. Damit es eine handvoll Menschen ein paar Wochen im Jahr gemütlich warm haben, ist für hunderte von Wanderern, Läufern, Spaziergängern, Dendrophilen, Pilzsuchern der Wald auf Jahrzehnte verschandelt.
Gibt’s dafür eine Prämie? Wird demnächst der Vogelschutz verschärft, so daß vorher noch mal ordentlich gefällt werden muß? Ist 2014 das Jahr der Motorsäge? Ich verstehe es nicht.
Mag sein, daß die Pappel alt war und wegmußte. Pappeln leben nicht lange, ihr Holz ist nicht stabil, man möchte nicht eine plötzlich umgefallene Pappel von den Schienen räumen. Das verstehe ich. Aber alt oder nicht, wenn so ein Baum wegkommt, möchte ich weinen.
Pappeln mögen schnellwüchsig sein. Trotzdem: In meiner Lebenszeit wird dort kein solcher Baum mehr zu so einer Pracht heranwachsen wie diese schöne Pappel einer gewesen ist.

Heimat an Flüssen

Später gab es die Schleuse, gab es die Bahnbrücke, gab es Wege allein. Raben zogen im Wasser über die Spiegelungen der Tiefe. Einen Abend gab es, der am Gitterwerk der Eisenbahnbrücke festwuchs. Züge machten die Ferne hörbar. Irgendwann muß die Ferne zum erstenmal ein Geräusch gemacht und gelockt haben. An einem Abend überm Fluß vielleicht, auf einer Fahrt über die Brücke, im Herbst. Die Räder ratterten und verbanden das Hier mit dem Dort. Das muß die Zeit gewesen sein, da die Welt klein wurde, und indem sie schrumpfte, wurde begreifbar, wie groß sie war. Die Dinge wurden unvollständig und verlangten nach etwas, das sie wieder heil machte, sie wieder einfügte in den Zusammenhang der Welt. Was es war, das ihnen fehlte, das hast du erst Jahre und Jahre später verstanden.
Erwachsensein hieß, alleine zu sein an Flüssen. Erwachsensein war, kommen und wieder gehen, von einer Brücke herab auf den Kanal blicken. Einmal löste sich ein Totenvogel aus dem Nebel in den Uferpappeln, das hast du nie mehr vergessen. Die Schreie der Krähe hallten über dem weißgeseiften Wasser. Darüber wolltest du schreiben, aber es gelang dir nicht. Störrisch und mächtig waren die Dinge, Krähe, Nebel, Pappel, aber einzeln waren sie, und wehrten sich gegen Worte. Geschichten hockten an den Wurzeln der Dinge, aber wenn man ihr erstes Wort sprach, um sie zu erzählen, da verflüchtigten sie sich und wurden unerzählbar, wie die Rabenschreie, die der Nebel wegnahm, wenn er sich auflöste überm glitzernden Strom.

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Sommer, der erste Rausch, du hattest eine Flasche Mâcon gekauft, du brietest dir Fleisch und leertest die Flasche allein auf dem Balkon, die Eltern waren in Urlaub, zum ersten Mal warst du nicht mitgefahren. Du warst allein. Erhitzt und begeistert vom Wein, deiner Kühnheit und der Nacht, in der du ganz allein warst, bist du gegen Mitternacht zur Kanalbrücke gegangen, wild verlangend nach Bewegung, Strömung und Bildern. Du fandest einen stillen Strom, die Kette der Laternen ein zittriges Band unter Holunder und Weiden. Ein Fluß im Sommer, zur Nacht, und das Gefühl, am Anfang einer jeglichen Nacht zu stehen. Das Wasser sehr still, nur das Schwanken der Schatten darauf deutete auf sein langsames Strömen; das Dorf wie verlassen; kein Verkehr auf den Straßen, weder nah noch fern. Die Bäume auf dem Schulhof deiner alten Schule vollgesogen mit Laternenlicht.
Die Luft war warm, feucht, voller Gerüche. Du hattest Nacht und Fluß, du hattest Brücke und Lichter, du hattest die Welt und dich selbst für dich allein, und alles in dir drängte danach, Nacht, Fluß, Rausch, ja, dich selbst: zu teilen. Daß da niemand war, der die Welt, der dich mit dir teilen mochte, das machte dir damals Schmerz, einen Schmerz, den die Nacht, die schwimmenden Lichter, die einsame Brücke, den dir diese Stunde nicht erklären konnte, nicht verwandeln, nicht mildern. Statt daß du ruhig werden konntest an einem Augenblick, da Zeit mit Zeiten zu einem ruhenden Spiegel verschmolz, wuchs dir in dieser stillen Stunde nur ein umso größerer Schmerz, eine umso wildere Sehnsucht zu. Die Stunde genügte sich selbst. Sie brauchte dich nicht. Du aber genügtest dir nicht. Oder war es die Stunde mit allem, was sie enthielt, der du nicht genügtest?
Was blieb dir damals, als zu Hause schon halb im betrunkenen Schlaf die Nacht mit dir selbst zu teilen. Jahre später aber ist diese Stunde auf der Kanalbrücke dann noch einmal zu dir zurückgekommen, als du über sie schreiben wolltest. Heil war sie da geworden an der Zeit und am gelebten Leben, heil an der Erzählung, und du begannst zu ahnen, daß dir bei aller Sehnsucht in diesen Jahren das Alleinsein zutiefst gemäß gewesen sein muß, als ordentliche Verfaßtheit deines jungen Lebens.

Heimat an Flüssen

Komm, wir gehen an den Fluß.
An der Hand von Vater und Mutter den Riesenschiffen zusehen, wie sie den Strom hinabgleiten oder hinaufstampfen. Schau nur, sie haben Wäsche aufgehängt. Eine Radarantenne dreht sich darüber. Dreht sich und dreht sich, und dann ist das Schiff vorbei. Auf der Brücke, hinter den winzigen Scheiben, ist kein Mensch zu sehen. Ratlos bückst du dich nach Kieseln, geh nicht so nah ans Wasser. So viel Verlorenheit in der Kinderbrust. Auf den Kieseln hockt der Tod. Du wischst dir die Hände an der Hose ab. Es riecht, es riecht nach Fremde. Die Häuser, sind zu groß, lassen sich nicht fassen, die Fabrikfassaden, an denen der Blick sich abarbeitet, abgleitet, abstürzt. Buntes, abgeschliffenes Glas liegt zwischen den Wurzeln der Weiden. Die Möwen hängen mit traurigen Schwingen in der Luft; sie gleichen den seltsamen Vögeln, die in deiner eigenen Brust ihre verlorenen Bahnen ziehen. Warum sind diese Vögel schrecklich? Und wie wird man den Strom wieder los, dessen Ufer bis ins Kinderzimmer reichen, dessen Wintermorgen bis in die Nacht dauert, bis in den Traum. Bis zu den Vögeln in der Brust, mit ihren traurigen, verlorenen Schreien, als schrien sie noch den Möwen nach, den schwebenden Tieren mit ihren grausamen Augen.
Klein ist der eigene Schatten geworden, die eigene Dunkelheit auf den Kieseln rund um das Bunte der Gummistiefel, kleiner und kleiner, bis er in den Mittag voller harter Klänge entkommt.
Das Wasser spiegelt nichts; braun ist es und noch weniger als braun. Träge fließt es dahin, löst alle Farben in sich auf und vernichtet sie, so daß alle Ufer, das jenseitige wie das hiesige, kiesige, stromauf, stromab, tot und verdorrt scheinen.
Stampfen und Stampfen. Der Hafen drüben ein Kreischen von Rost. Endlos der Strand. Eine Brücke aus Seilen häkelt stumm an Entfernungen und Richtungen. Und doch kommt nichts vom Fleck. Alles steht. Der Nachmittag steht, die Möwen, das Wasser. Dorthin kann man nicht gehen, aber die Entfernung ist brüchig, sie hält nicht. Angst kommt in dir hoch. Am Horizont hängt Rauch und Dampf an dünnen Fabrikschornsteinen über einer Ferne, in der alles fremd ist, und die dich in ihre Fremdheit hineinzieht, bis du dir selbst fremd geworden bist, ein Fremdkörper unter fremden Dingen, der schlaffe Ball, die zerkratzte Colaflasche, die Verpackung eines Keksriegels, von deren Farben nur grün und blau geblieben sind. Fremde und verfremdete Farben. Vielleicht wußten die Möwen davon, kannten sich aus mit ihrem Fremdsein, fraßen die Fremdheit der Dinge in sich hinein. Brotrinden, Steine und Staub. Nester aus Heimatlosigkeit. Zerbrochene Muschelschalen. Sperrweite Schnäbel, abgehärtet von Schreien. Unbeirrt lag alles entfernt und zugleich so nah, daß es dich erschreckte, waren die Strecken überspannbar zu dir, bis alles in weiter Ferne bedrohlich geworden war und ins Nahe reichte, wie ein Feuer, eine ferne Flamme, schon der Anblick eine Gefahr, ein Fraß an der Seele. Fremd waren zuletzt noch deine Träume, dein Schlaf, wenn die Autobahn jenseits der Häuser gleich Flammengebraus durch die Nacht hallte, und da war es, als habe jene Hängebrücke über den Fluß alle Fernen zusammengespannt, daß kein Geheimnis mehr blieb in der Welt und die Zukunft schon angebrochen war.

Heimat unter Strom

Wenn ich an meine Heimat denke, fallen mir als erstes die Stromleitungen ein. Es ist ein Land der Strommasten und Oberleitungen gewesen. Zahlreicher als Bäume, spannten sie sich durch alle Blicke, summte in ihnen der Wind, hing der Horizont an ihnen fest wie an einer Drachenschnur. Riesen aus Stahl hielten ihre Arme den Staren hin und knisterten bei Nebel überm Feld. Nach Westen verglühten abends die Schnüre und brannten sich in Netzhaut und Schlaf. Der Himmel hing voll schwingenden Drahts. Gegliedert in Rauten und Bahnen,ließ er sich halten von zirpendem Stahl. Morgens zogen Drähte die blaue Welle der Berge aus dem Rand der Ebene hinauf, ordneten Kabelläufe die Grenzen und Furchen der Äcker und richteten die Straßen und Feldwege nach ihnen aus, hielten die Güterzüge auf der Spur, striegelten und zwangen selbst noch die Schwärme der Krähen zur Formation. Von einem Ende der Felder zum anderen warfen sie Anker, hielten die Äcker zusammen, glätteten und hinderten die Ebenen am Auseinanderbrechen. Wasser störte sie nicht, gelassen widerstanden sie dem Strom von Kanälen und Bächen. Selbst in den Pfützen ließen sie Bruchstücke ihrer Ordnungen sehen. Im Sommer brannten ihre Schatten Striemen auf den Weg. Im Herbst kämmten sie Regen aus den Wolken. Dem Auge buchstabierten sie die Räume vor und die Weiten.

Musik im Kopf, und die Landschaft unaufhaltsam. Bewegung, Bewegung. Aufbruch und Zwischenreiche. Die Atemlosigkeit der Bahnsteige. Beton. Schienen und Beton, geborstene Erzählungen. Gräben, in die Stücke vom Horizont hineintauchen. Klang und Land im Kopf, einander widerstreitend. Lärm: der Schmerz der Entfernungen. Diese Heimfahrten immer, ihres Namens nicht würdig. Ich komme nicht nach Hause. Weil ich nicht daheim bin daheim.

Das Bild von Vater und Mutter im Flur. Winken am Fenster. Nachher, beim Auspacken aus der Reisetasche, werden die Kleider noch nach dem anderen Zuhause riechen, in meiner Wohnung nach ihrer Wohnung, nach der Wärme der Küche und dem Dampf auf dem Herd, nach Wein und schöner Seife und Willkommensein. Vier Nächte Schlaf, Wange und Stirn dem behutsamen Raum überlassen. Vor dem Einschlafen der letzte Blick hoch zu den wachenden Titeln der Bücher. Mittags den Schlüssel immer ohne Angst ins Schloß stecken.

Musik im Kopf, ein Zwang. Unter blitzschönen Himmeln wuchert fremdes Land ins Weite, wo Hochhäuser am Horizont schaben. Zahlenspiele der Krähen und Elstern. Schatten winden sich um die Hecken. Minutenlang nur Felder hinter dem Spiegel der Scheiben. Land und Land und Land. Die Einsamkeit der Telegraphenmasten in diesem blauen Triumph von Flächen, das macht mich ganz traurig. Wie diese Bögen aus Draht weiterschwingen und vervielfachte Weiten verknüpfen müssen und niemals ans Ende kommen, um Nachricht zu werden, Stimme und Wort.

Sonntag

Das Verächtliche an diesen Tassen, ihre blanke Gleichgültigkeit, mit der sie ihren Inhalt verteilen. So wie das Licht auf Tischen und Tellern herumliegt, wie es beiläufig auf billigem Messerstahl blitzt, wie es absolut nicht wählerisch sein will mit dem, worin es sich spiegelt; wie dann die Wanderschuhe unterm Tisch noch den Kellerstaub vom Winter zeigen und oben die Sonnenbrillen ins Leere starren; wie dann die Münder mit jener unergründlichen Zufriedenheit, wie sie nur Sonnenbrillenträger hinkriegen, in die vogelstimmensatte Luft hineinplappern; und das billige Parfum, und die Omapelze; und wie die Kellnerin in Strumpfhosen, Handschuhen, Mütze und Schal neuen Kaffee bringt; und wie die Spatzen herumhüpfen nach Kekskrümeln; Feiertagslippenstift und Wanderkarten; und wie die Ebene unter der Burg daliegt wie ein schamloses langes Gähnen; und wie dann alles kein Ende haben wird, einfach kein Ende finden kann, die geschminkten Lippen nicht und die lauernden Blicke hinter der Sonnenbrille, die Meisen nicht und der Kaffee nicht, und man schon am Sonntag die Erschöpfung des Montagmorgens in alles Knochen spürt, die allumfassende Erschöpfung aller jemals durchlittenen Montagmorgen, und wie alles unvermeidlich nur darauf zulaufen wird, auf den nächsten Tag, als sei das unser aller Schicksal, einem nächsten Tag entgegenzuschweigen, für immer diesem nächsten Tag; genauso, einen Kaffee herunterwürgen, der schon nach Später schmeckt und doch jetzt bereits unsäglich bitter ist; die Fahnen klirren hören, im Tiefkühlobstkuchen stochern, den Kindern zusehen, wie sie verzweifelt zwischen den Tischen umherspringen, um jede Stunde dieses Sonntags ringen und nicht wissen, was besser ist: die Stunden zu verlängern oder sie besser schon im Abbau zu vergessen? Und wie man schon weiß, daß die Wohnung sich nach so viel erstem Frühjahrslicht später anders zeigen, das Treppenhaus schon anders riechen wird, nach Drinnen und Wänden, nach Verschalung und dumpfem Staub; wie man dann auf dem Absatz kehrtmachen möchte; wie man nicht kehrtmacht; wie die Uhr über den Küchentisch tickt; und wie die Kirchenglocken gedämpft über die Ebene heraufgeschwungen sind, Kindertage heruntergezählt haben, und die Müdigkeit abgeschnüffelter Teppiche, Nasen am eiskalten Fensterglas, und die Glocken, schwingen und schwingen, die Kellnerin dampft vor Atem, draußen gibt es nur Kännchen, und die Stühle sind angekettet, fugenlos und vernünftig stehen die Mauern, die Schleifen an den Wanderschuhen sind mit Doppelknoten gesichtert, am Nachbarstuhl lehnen die Turbokrücken, es knistert von himalayatauglichen Geweben; dieser Sonntag ist eine einstweilige Verfügung, Geldstücke klimpern wie eine Losung, aber wer kann sich schon freikaufen? Und wie dann der Gedanke an eine Flasche Wein samtig aufschimmert, und wie dann, trink nicht so viel, sagt jemand, morgen ist Montag da mußt du früh raus.

Rolandsbogen

Am Samstag überm Rhein. Aus dem Wald um einen Felskegel herum, ein paar flache Stufen, dann ist man oben. Oben: eine klirrende Fahne über dem eiskalten Strom, der Bogen ein steinernes Fliehen, vom Strom auf den Felsen, vom Felsen in die Wolken. Etwas wie schwarzer Draht ist um die Säulen gewickelt, bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als eine Lichterkette. In der Mittagshelle starren die erloschenen Birnchen wie die Körper lebloser Käfer. Zwei Stufen weiter die leere Terrasse, nicht einmal zusammengeklappte Stühle oder eingefaltete Sonnenschirme, nur Steinplatten laufen auf eine Tür zu, die blind ist von Spiegelungen, das Siebengebirge mit dem körnigen Himmel darüber, der Bogen mit dem Käferkranz, eine merkwürdig schmale Gestalt mit riesendunklen augen, das bin ich wohl selbst. Mit der Nase an den Scheiben erkennt man einen Gastraum, und seltsam, die Tische sind schön gedeckt, Stoffservietten zu schlanken Pyramiden gefaltet, drei Sorten Gläser an jedem Platz, auch sie spiegelnd, sauber, bereit. Auf der Terrasse knistert etwas Laub vor sich hin, die Umfassungsmauer zuckt die Achseln, ein Stapel leerer Bierfässer, eine Guide-Michelin-Empfehlung klebt innen auf den Scheiben, alles spricht hier von einem Sommer, an den man nicht glauben kann. Endlos das Dröhnen der Güterzüge im Rheintal. Keine Vögel. Zwischen Nonnenwerth und dem hiesigen Ufer läßt sich eine Rudermannschaft treiben, die Riemen über dem Wasser schwebend, der Rumpf sehr schlank, es sieht aus wie ein Gliedertier, ein Wasserläufer.

Anderntags sitze ich im Zug nach Au (Sieg). Wenn ich schon nicht laufen kann, will ich wenigstens im Zug in Bewegung sein. Ich dachte mir, schaust du dir mal an, wie es da ist am Westerwaldrand, da warst du noch nie. Fuhr also hin, stieg aus, sah wie es war und fuhr wieder zurück. Wie war es: Schön. Die Strecke führt im Tal der Sieg entlang und überquert den derzeit stark angeschwollenen Strom mehrmals. Mal fließt der träge und läßt eine Ente auf sich schwimmen, dann geht es stürmisch glitzernd über Schnellen. Weiden und Pappeln stehen im Wasser und hängen voll mit verfilztem Schilfgras. Das Tal ist noch winterlich grau, Spaziergänger und radfahrende Familien sammeln sich auf den Uferwegen und tragen bunte Tupfer in die trübe Ferne davon. Im Baumdraht über den das Tal einfassenden Hügeln irrlichert es von Sonne und Wolken im Wechsel, ein Licht, das wie verdünnt ist, sich nicht entscheiden kann.

Der Ort selbst ist leer. Immer noch keine Vögel. Eine Straße führt vom Bahnhof hinunter, zwischen den Häusern blitzt etwas wie eine Wiese, davor schwingt sich eine Schnellstraße die Hügel hinauf. Mehrere Zuglinien fahren von hier noch weiter, ich lese Namen wie Dillenburg und Limburg auf dem Fahrplan, der überraschend kräftig gelb ist, nicht wie sonst auf Provinzbahnhöfen leichenhaft blaß hinter der angelaufenen Scheibe vor sich hin modert. Trotzdem scheint hier etwas zu Ende, macht dieser Ort, der, wie ich später erfahre nur einige hundert Einwohner zählt, den Eindruck einer letzten Station, hier noch einmal Wasser, Brot, Tee und Kocherbenzin einkaufen, bevor es losgeht in die Wildnis, die gleich da drüben, am Hang, der die Schnellstraße ansaugt und verschwinden läßt, beginnt.

Ein Paar in Festtagskleidung betritt den Vorplatz, Stöckelschuhe klappern. Der Bahnsteig ist überraschend belebt. Handtaschen, kleine Rucksäcke. Kinderwagen. In Köln muß sich der Sonntag anders anfühlen, sagen die Gesichter, in Köln wird jetzt schon Frühling sein.

Aber erst heute zittern an den Bahndämmen die Schneeglöckchen, als habe gestern mit dem Sonntag nicht nur die Woche geendet. Auf dem Weg zur Straßenbahn nach einer Schrecksekunde begriffen, daß, was man da eben gehört hat, ein Buchfinkwar.

Hello Wihn

In der Folge eines Eintrags bei Schreibman habe ich mich gefragt, ob es wohl auch irgendwo einen Aufkleber für halloweenfreie Zonen gibt. Ich finde, der Zirkus hat beängstigende Ausmaße angenommen. Habe neulich einem Schulkind eine Geschichte vorgelesen, in der Halloween in der Schule für eine Themenwoche taugte. Das ganze war so dargestellt, als wär’s von je ein deutsches Volksfest und müßte nicht erst erklärt werden, was es damit eigentlich auf sich hat.
Für die Kleinen bedeutet das ja, daß es nie anders war. Erschreckend. Kurz fragte mich, ob sie nicht wenigstens die Schreibung seltsam finden. Dann fiel mir ein, daß heute Englisch ja schon in der Grundschule unterrichtet wird (nichts gegen frühes Fremdsprachenlernen; aber man könnte auch gut Französisch oder Polnisch nehmen, schließlich sind das unsere Nachbarn, oder Türkisch, das wäre pragmatisch sinnvoller), und daß da ein weiteres merkwürdig geschriebenes Wort nicht weiter auffällt. Was aber denken sich Autoren, Lektoren und Verlage dabei, wenn sie so einen Mist schreiben? Womöglich, könnte man denken, soll hier der künftige Bürger schon einmal auf die kulturelle Hegemonie der USA eingestimmt werden. Wenn Kindern Halloween schon als völlig normal dargestellt und nicht im mindesten hinterfragt wird, glauben die noch tatsächlich, daß das hier schon immer so üblich war, sich das Gesicht anzuschwärzen und mit allerlei Pseudogrusel angetan um Süßigkeiten (oder, schlimmer, gleich um Geld) zu betteln.
Am Ende feiern wir alle noch Thanksgiving. Oder warum begehen wir nicht gleich den Unabhängigkeitstag? Ist doch egal, wer da von wem unabhängig wurde, Hauptsache, es gibt was zum saufen.
Bei uns gibt es das Märtensingen und die Sternsinger, und die gehören in Kindergeschichten, nicht irgendeine importierte, absurde Möchtegernfolklore.

Nach Hause

Das Nachhausekommen gelingt nicht mehr. Du steigst aus dem Zug, gehst die stillen Straßen hinunter, schließt die Tür auf. Zuhause bist du nicht, lange nicht, lange nicht mehr gewesen. Trauer, wieder Trauer. Worüber? Über einen unnennbaren Verlust. Ohne Wortweiser. Die Gedichte rühren zu Tränen, aber du betrachtest sie von einer anderen Welt aus, von deiner Warte des Verlorenseins, und drüben, die Worte, die von je du kennst, sie haben sich aus dem Wirklichen gelöst, in das du auch eingebettet sein durftest, einmal, jetzt aber nicht mehr. Jahre und Jahre und Licht, den Duft der Tannen in der Nase, die Krähen, die Felder, an deren Stoppeln sich das Licht bricht, in die Ferne hinein, die dich immer auch enthielt, ein Stück weit, deine Ferne war, aber erst jetzt, wo du das kennst, bedeutet es etwas. Und auch dieses hast du verloren, wie die Heimat der Gedichte, an irgend einer Wegkreuzung hast du dich aufgemacht, aber wann das war, das bekommst du einfach nicht mehr zusammen, oder wo, fassungslos blätterst du die Tagebücher auf, da steht sie, die Jahreszahl, das Datum, aber wann das war? Nicht einmal deine eigene Schrift ist das doch noch, so krakelig, so steil und stolz, das sollst du geschrieben haben? Woher denn dieser Stolz? Nein. Das ist weg. Weg wie die Pfade, wie die Abenddämmerung, die Heimkehr, ja, die Heimkehr, dieser langsame Schritt in ein warmes Licht von Stube und Sorglosigkeit, Duft und Lernendürfen und Ruhe, dieses Nachhausekommen, das dir, egal, wo du wohnst, gleich wie die Laternen, die Fenster, die Eulen oder die Bahnen der Fledermäuse beschaffen sind, gleichwie, nicht mehr gelingen will, einfach nicht mehr gelingt.

Prismen

Diese feinen Bruchmuster, Netzsplitter, Patinae, Jahresringe. Wieder in die alten Wirrwege und Leuchtgärten mit ihrem Abenteuerflimmern hinabsteigen. Daten, jahreszahlen, Erscheinungsmonate alter Ausgaben des GEO-Magazins, die, ich weiß nicht genau, was, aufbewahren. Wie ein Tagebuch. Eines, das nicht ohne weiteres lesbar ist; etwas, das auf tieferen Sinn verweist, und unter der Oberfläche aus bekannten Bildern (ein altes ostfrisisches Bauernhaus mit Bettkasten; ein gekreuzigter Rabe im Baskenland; eine nachgebaute spanische Galeone; Wissenschaftler in gelben Schutzanzügen zwischen Rosttrümmern auf dem Mururoa-Atoll), die wegen ihrer Bekanntheit so verstörend sind im Detail, wie ein gealtertes Gesicht, und unter dieser Oberfläche: die Bruchmuster, die feinen Linien, das Abgeplatzte, das Gesplitterte und Gebrochene.
Es ist ein zwiefacher Verweis auf meine eigene versunkene Welt, meinen eigenen Untergang: Es bildet ab, was war, dessen Zeitzeuge ich hätte sein können. Es zeigt mir die Kulisse oder Stücke davon, oder eine mögliche Kulisse, für mein eigenes Drama von damals, und damit verweist es mich zurück, der ich ja damals diese Kulisse wahrgenommen habe oder hätte wahrnehmen können. Und zum andern bringt es mich durch die Lektüre zurück und verbindet mich mit jener Zeit, wo ich dieses Heft zum erstenmal durchblätterte, oder in eine Zeit, wo ich solche Hefte ganz allgemein durchblätterte, und zwar dann, als sie frisch waren und keine versunkene, sondern eine aufbrechende Welt abbildeten und nichts darauf schließen ließ, daß sie einmal von Netzsplittern und Bruchmustern überlagert sein würden.

Erinnerungsarchiv

Diese feinen Bruchmuster, Netzsplitter, Patinae, Jahresringe. Wieder in die alten Wirrwege und Leuchtgärten mit ihrem Abenteuerflimmern hinabsteigen. Daten, jahreszahlen, Erscheinungsmonate alter Ausgaben des GEO-Magazins, die, ich weiß nicht genau, was, aufbewahren. Wie ein Tagebuch. Eines, das nicht ohne weiteres lesbar ist; etwas, das auf tieferen Sinn verweist, und unter der Oberfläche aus bekannten Bildern (ein altes ostfrisisches Bauernhaus mit Bettkasten; ein gekreuzigter Rabe im Baskenland; eine nachgebaute spanische Galeone; Wissenschaftler in gelben Schutzanzügen zwischen Rosttrümmern auf dem Mururoa-Atoll), die wegen ihrer Bekanntheit so verstörend sind im Detail, wie ein gealtertes Gesicht, und unter dieser Oberfläche: die Bruchmuster, die feinen Linien, das Abgeplatzte, das Gesplitterte und Gebrochene.
Es ist ein zwiefacher Verweis auf meine eigene versunkene Welt, meinen eigenen Untergang: Es bildet ab, was war, dessen Zeitzeuge ich hätte sein können. Es zeigt mir die Kulisse oder Stücke davon, oder eine mögliche Kulisse, für mein eigenes Drama von damals, und damit verweist es mich zurück, der ich ja damals diese Kulisse wahrgenommen habe oder hätte wahrnehmen können. Und zum andern bringt es mich durch die Lektüre zurück und verbindet mich mit jener Zeit, wo ich dieses Heft zum erstenmal durchblätterte, oder in eine Zeit, wo ich solche Hefte ganz allgemein durchblätterte, und zwar dann, als sie frisch waren und keine versunkene, sondern eine aufbrechende Welt abbildeten und nichts darauf schließen ließ, daß sie einmal von Netzsplittern und Bruchmustern überlagert sein würden.