Erwachsenwerden

Mit einem mal war man erwacht aus einem Traum. Man war eben dreizehn geworden oder zwölf, man war aus den Ferien heimgekehrt, oder ein neues Schuljahr hatte begonnen. Und plötzlich gab es die Zeit. Gestern war das noch nicht gewesen. Es gab nicht mehr das eine einzige gewaltige Präsens von vor den großen Ferien, das Präsens, das ich selber war, solange ich denken konnte; es gab eine Vergangenheit, die sich unversehens aus mir gelöst hatte; und also gab es auch eine Zukunft, die erst Ich werden mußte, die ich aber schon überblicken konnte, wie ich mich selbst überblicken konnte; eine Zukunft, die mehr war als nur die Erwartung auf Weihnachten und die großen Ferien. Die Zeit war meßbar geworden, und bewegte sich nicht mehr. Nun war ich es, der sich bewegte. Ich hatte das Gefühl, jetzt kann ich schwimmen. Aber ich konnte nicht nur, ich mußte es auch, denn nun gab es auch keinen Grund mehr unter den Füßen. Man konnte ertrinken am Leben, wenn man sich nicht bewegte. Immer vorwärts, in die Zukunft. In meiner Verzweiflung griff ich nach den alten Kinderbüchern, Fünf Freunde, Schiff der Abenteuer, Pippi Langstrumpf, holte das Lego und Playmobil aus dem Schrank, lief bestimmte Wege noch einmal ab, als könnten die mich in die Welt vor dem Erwachen zurückführen. Aber die Kinderbücher gaben nur immer die gleichen Geschichten her, in denen ich mich nicht mehr verlieren konnte; und das Spielzeug lag fremd und störrisch in meiner Hand, ich konnte mir nicht mehr vorstellen, wozu es einst gedient hatte. Was es mir verdarb, war dieses plötzlich hellwache Bewußtsein dessen, was ich tat. Die Feststellung, daß ich spielte. Ich beobachtete mich beim Spielen, und damit gelangen mir die Stimmen meiner Helden nicht mehr. Die Raumschiffe flogen nicht mehr, die Burgen waren verlassen, die Galeeren gekentert. Und beim Lesen: Aha, jetzt lese ich also. Das Spiel war zu einem Spiel, die Bücher zu Büchern, die Schiffe zu Modellen geworden. Und auch der Wald war nur der Wald, und die Wege führten doch nur im Kreis wieder zurück zum eigenen, scharfen Bewußtsein, an man sich selbst schneiden konnte. Ich wäre so gerne noch ein bißchen geblieben, im großen Jetzt. Aber schon, daß ich das überhaupt denken konnte, machte meine Vertreibung aus.
Nur was man verloren hat, kann man sich zurückwünschen.

(Beitrag zu *.txt)

Arboricidium

Der Waldsaum jenseits der Pferdeweiden ist noch eine schmale Linie, da ist es schon hörbar, dringt das Jaulen und Heulen daraus hervor wie Warnrufe kampfbereiter Tiere. Eine ganze Herde davon scheint in diesem Waldstück zu kauern.
Das Geflimmer von Warnwesten zwischen den Baumstämmen ist mittlerweile ein ebenso verhaßter Anblick geworden wie die am Waldweg aufgereihten geländegängigen Fahrzeuge mit Anhänger. Überall sieht man sie jetzt, die orange- und gelbbejackten Männer mit den Visieren und den Motorsägen, wie archaische Krieger auf Beutezug stapfen sie durch Untergehölz, die Waffe im Anschlag. Die Verheerungen, die sie anrichten, sind überall sichtbar. Kronenskelette, Stammrümpfe, Aststücke, Kleinholz liegen herum, wo noch ein paar Wochen zuvor lichte Hallen von Buchen standen, von denen im Sommer angenehmer Schatten auf den Weg fiel; der führt jetzt durch eine Wüste; der Grund zwischen den herumliegenden, auf ihre weitere Zergliederung wartenden Baumteilen ist zertreten von den Stiefeln der Sägekrieger; das Unterholz, die Krautschicht sind beseitigt und niedergetrampelt; Striemen von Raupenfahrzeugen haben sich in den Grund zwischen den noch stehenden Stämmen gewälzt, und auch die Wege sind beschädigt von Raupenketten, zermalmt, zerschlammt, unbrauchbar. Zwischen Radfurchen sammelt sich öliges Wasser. Aus den Schlammassen ragen noch grüne, abgerissene Pflanzenteile. Es ist eine Schneise der Verheerung, in der eine lange Reihe von Fahrzeugen, Anhängern, Schleppmaschinen sich aufreiht wie Fliegen über einer schwärenden Wunde. Schleifspuren. Sägemehl. Überall liegt das Rostrot von abgeschürftem Bast und abgeplatzter Borke herum.
Der bittere Geruch von frischem Holz mischt sich mit dem öligen Dunst aus Zweitaktermotoren, Das Geheul der Maschinen pflanzt sich fort in verebbende Räume des Waldes, aus denen immer neues Gekreisch wieder anschwellend zurückflutet. Die Krieger müssen einander zubrüllen, sonst verstehen sie ihr eigenes Wort nicht. Die Sägen hinterlassen klaffende Lichtungen, in die der Blick hineinstürzt wie in eine Grube. Darüber zuckt der Himmel zusammen, als schäme er sich seiner Nacktheit. Die Bäume am Rand der neuen Lichtungen scheinen frierend auf einem Bein zu balancieren, seit Jahren im Bestand stehend, fehlt ihnen das niedere Laub, das den Waldsaum natürlicherweise nach außen abschließt. Alle halbe Stunde prasselt ein Baum nieder. Was stehenbleibt am Rand des Schlachtfelds erledigt der nächste Frühjahrssturm, schon liegen die ersten Fichten quer überm Weg. Wir gut, nehmen wir die auch noch mit. Es hat etwas von Raserei.
Und es beschränkt sich nicht auf den Wald. Am Bahnhof unweit meines Zuhauses hat bis vor kurzem eine Pappel gestanden, dreißig, vierzig Meter Baum, eine Pyramidenpappel, im Sommer ein rauschendes, rieselndes, flimmerndes Fest, im Winter ein faszinierendes, fraktales Gebilde aus scheinbar wirren, eine höhere Ordnung bildenden Ästen. Alles ringsum lag unter ihrem Schatten und im Bannkreis ihres Rauschens wie unter einem gütigen Zelt. Nach jedem Sturm war der Bahnsteig von kleinen Zweigen übersät; im Frühsommer unter dem Schnee der fluffigen Samen. Im Herbst leuchtete das heruntergewehte Laub. Im Sommer fiel das dunkelgrüne Rauschen in der Säule der schlanken Krone herab und stieg als silbrige Walze wieder daran empor, ein Träumen von Klang, ein Flimmern von Licht. Wer je an einem heißen Sommertag Erholung und Schatten unter einer Pappel gesucht und gefunden hat; wer je an einem winterlichen Fluß unter den filigranen Skeletten entlaubter Pappeln spazierengegangen ist, in deren Geäst der finstere Himmel festhing; wer je an einem Badesee schläfrig ins Laub der Pappeln am Ufer geblickt hat, verzaubert vom nimmergleichen Spiel des Flimmerns (wie Sonnenglitzern auf einem Fluß) – der weiß, wovon ich rede.
Wo diese Pappel letzte Woche noch stand, ist jetzt nur noch kahler Himmel. Wie zum Ersatz erhebt sich an der Stelle ein Händie-Sendemast. Der ist früher, von der Pappel buchstäblich in den Schatten gestellt, gar nicht aufgefallen. Häuserreihen, freiliegende Vorgärten. Es wimmelt plötzlich von allen möglichen Horizontalen. Am Himmel eine klaffende Leere, Gewölk, fliehende Vögel. Der Sendemast ragt hämisch in die Lücke hinein.
Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Auf meinem Weg zur Straßenbahnhaltestelle haben sie eine Hecke herausgerissen. Stumpf und Stiel, die Erde eine einzige Schürfung. An meiner Laufstrecke liegt plötzlich ein gestern noch gebüschbestandener Wall kahl da. Überall Erde, Stümpfe, Wunden. Ich verstehe es nicht.
Und dann dieser verbissene Kahlschlag im Wald. Wald? Ein Sägewerk ist das. Ich kann mich nicht erinnern, daß das früher auch schon so praktiziert wurde. Nicht so. Nicht in dieser methodischen, generalstabsmäßigen Weise. Damit es eine handvoll Menschen ein paar Wochen im Jahr gemütlich warm haben, ist für hunderte von Wanderern, Läufern, Spaziergängern, Dendrophilen, Pilzsuchern der Wald auf Jahrzehnte verschandelt.
Gibt’s dafür eine Prämie? Wird demnächst der Vogelschutz verschärft, so daß vorher noch mal ordentlich gefällt werden muß? Ist 2014 das Jahr der Motorsäge? Ich verstehe es nicht.
Mag sein, daß die Pappel alt war und wegmußte. Pappeln leben nicht lange, ihr Holz ist nicht stabil, man möchte nicht eine plötzlich umgefallene Pappel von den Schienen räumen. Das verstehe ich. Aber alt oder nicht, wenn so ein Baum wegkommt, möchte ich weinen.
Pappeln mögen schnellwüchsig sein. Trotzdem: In meiner Lebenszeit wird dort kein solcher Baum mehr zu so einer Pracht heranwachsen wie diese schöne Pappel einer gewesen ist.

Nach Hause

Das Nachhausekommen gelingt nicht mehr. Du steigst aus dem Zug, gehst die stillen Straßen hinunter, schließt die Tür auf. Zuhause bist du nicht, lange nicht, lange nicht mehr gewesen. Trauer, wieder Trauer. Worüber? Über einen unnennbaren Verlust. Ohne Wortweiser. Die Gedichte rühren zu Tränen, aber du betrachtest sie von einer anderen Welt aus, von deiner Warte des Verlorenseins, und drüben, die Worte, die von je du kennst, sie haben sich aus dem Wirklichen gelöst, in das du auch eingebettet sein durftest, einmal, jetzt aber nicht mehr. Jahre und Jahre und Licht, den Duft der Tannen in der Nase, die Krähen, die Felder, an deren Stoppeln sich das Licht bricht, in die Ferne hinein, die dich immer auch enthielt, ein Stück weit, deine Ferne war, aber erst jetzt, wo du das kennst, bedeutet es etwas. Und auch dieses hast du verloren, wie die Heimat der Gedichte, an irgend einer Wegkreuzung hast du dich aufgemacht, aber wann das war, das bekommst du einfach nicht mehr zusammen, oder wo, fassungslos blätterst du die Tagebücher auf, da steht sie, die Jahreszahl, das Datum, aber wann das war? Nicht einmal deine eigene Schrift ist das doch noch, so krakelig, so steil und stolz, das sollst du geschrieben haben? Woher denn dieser Stolz? Nein. Das ist weg. Weg wie die Pfade, wie die Abenddämmerung, die Heimkehr, ja, die Heimkehr, dieser langsame Schritt in ein warmes Licht von Stube und Sorglosigkeit, Duft und Lernendürfen und Ruhe, dieses Nachhausekommen, das dir, egal, wo du wohnst, gleich wie die Laternen, die Fenster, die Eulen oder die Bahnen der Fledermäuse beschaffen sind, gleichwie, nicht mehr gelingen will, einfach nicht mehr gelingt.

Solstitium (Consecutio temporum)

Das Gewicht der Schmerzlosigkeit, des Gewicht der Leere.

Als wäre die Jahre danach alles, was uns einmal verbunden hatte, nur mehr in Schmerz ausdrückbar gewesen, fühle ich nun die vielleicht schönste Zeit meines Lebens (ganz sicher sind wir nicht; es könnte auch die zweitschönste sein) zu einem Nichts verblaßt. Ohne den Schmerz hat das alles keine Geltung, war nur als Nachleiden noch gültig, nur so lange, nur vorläufig. Zuerst sehnte ich mich nach E., jetzt sehne ich mich nach dem Schmerz. Eine Zeit nach aller Zeit, wo?, nirgends. So verliert man selbst den Verlust noch, die gelebte Zeit. So verschwindet das Leben hinter einem, schließt sich, ist fort, hat es bereits nie gegeben.

Selbst ihr Name nicht, gilt nicht mehr. Wenn ich sie denke, nunmehr unter dem Gewicht des Schmerzmangels, denke ich sie nur noch als Bild, als Haar, als Mund, als Sprache, als Klang, als Flöten, als Tierlaut. So wie ich neulich zusammenzuckte, abends am Südbahnhof; sie in der Tiefe der gelben Laternen zu sehen meinte; ohne Sprache dachte ich sie; das Aufzucken im Innern namenlos, wortlos das Erkennen.

Die Schwierigkeit besteht darin, daß ich ja nicht mehr weiß, wen ich da eigentlich geliebt haben soll, noch viel weniger, wer das ist, die mir nach der Liebe den Schmerz eingab. Ich kann mich ja kaum noch erinnern; was einen ganz neuen Schmerz bedeutet, Schmerz über den Verlust eines Schmerzes, einen Schreck wie beim Sturz, wenn das letzte haschende, panische Zucken nur Luft, Leere, haltlosen Schwung zu greifen bekommt. Kein Tempus ist hier richtig, ich habe E. geliebt und ich liebe E. sind gleichermaßen zu widerlegen und zu bekräftigen. Um diese Geschichte zu formulieren, jenseits jeder Chronologie nachzubuchstabieren, bedürfte es einer völlig neuen Grammatik, einer Sprache, die Erinnerungen besser abbilden, ihre Lebendigkeit und Bedeutung ebenso wie ihr Verblassen, ebenso wie ihren weitausfallenden Schattenwurf besser umreißen könnte.

Ich versuche, es zu finden, finde keins: ein Tempus, das irgendwie von jener vergangenen und zugleich unvergänglichen Zeit handeln würde, ein Tempus, das die Kraft hätte, sich auf dieses Niemandsland von erinnertem Leben und verlebter Erinnerung zu beziehen, jenes Erinnerungsraums, in dem ich absurde Römische Dichter lese und morgens die Kaffeetasse mit kaum vernehmbarem Hallen aufs Klavier absetze, hinausblinzele in das Quietschen der Güterzüge, während du noch schläfst, das Gesicht in den Kissen, Strudel von Haar darüber, und dein Name noch E. ist.