112 Meilen (4)

Ich muß nichts mehr besitzen, denke ich versonnen, während ich mein Brot kaue und in die Morgensonne blinzle.
Es hat merklich abgekühlt, dafür ist der Himmel klar. Man merkt, es wird ein warmer, milder Helbsttag werden; noch aber spendet die Sonne nur gerade so viel Wärme, daß es fürs Auge reicht. Der Rest friert, ja zittert. Schnell noch ein Stück Schokolade, und weiter.
Am Morgen nicht aus dem Bett gekommen, schwerer Kopf, noch schwerere Glieder. Selbst nach dem Kaffee liegt eine Art Dunkelheit hinter den Augen, als hätte die Nacht einen Schlupfwinkel in meinem Kopf gefunden. Einmal habe ich eine Wanderung wegen einer Erkältung, die mich am Abend der zweiten Etappe heimsuchte, abbrechen müssen; seitdem fürchte ich ein solches Pech wie der Teufel das Weihwasser. Blöd genug, daß noch vier Pensionswirte auf uns warten, denen wir dann kurzfristig absagen müßten; noch dümmer, daß, wenn man nur Pech genug hat, die nächste Bahnstation einen halben Tagesmarsch entfernt ist, eine Strecke, die ich dann mit Fieber zurücklegen müßte. Am dümmsten aber, daß K. und ich jedes Jahr nur eine Chance haben, so eine Wanderung zu machen. Das will man nicht durch einen Virus vergeigt sehen.
Mit solchen Gedanken und einem matten Druck auf der Brust gehen ich los. Du bist jemand, der sich Sorgen macht, hat mir vor kurzem mal jemand gesagt. Stimmt genau. So einer bin ich. Ich sehe die Dinge genau vor mir, die schiefgehen können, alle. Das ist manchmal beschwerlich.
Die Straße ist taunaß und beginnt zu glänzen, wo die frühe Sonne den Asphalt berührt; Ahorn leuchtet; Nebel schaut verschlafen aus den Tälern; es ist ein Morgen wie aus dem Bilderbuch, aber ich gehe bedrückt und sehne mich nach Kaffee nach dem Kaffee. Eine Wegbiegung durch klammen Schatten, dann strahlt uns Blankenheims Burg aus der Höhe an.
Es ist Sonntag. Die Stadt schläft noch. Ein Schwarm Mountainbiker ist früh aufgestanden, überholt uns an der Straße, die steil aufwärts aus dem Ort fortführt. Mountainbiker bergauf sind ein seltsamer Anblick; wie sie sich mit irre schnellen Kurbelbewegungen in höchst zähem Tempo hinaufkämpfen, zentimeterweise, als zögen sie sich selbst an einem Flaschenzug in die Höhe, hat es etwas Sisyphoshaftes, Mitleiderregendes. Eine etwas schnellere Gangart, und wir würden sie zu Fuß wieder einholen. Ich habe schon Mountainbiker bergauf beim Lauftraining überholt. Zu Fuß Gehen, denke ich wieder einmal, ist für uns Menschen wohl die effizienteste Art, sich fortzubewegen. Langsam, aber fast endlos durchzuhalten.
Vor uns entrollen sich Fernen, strecken sich und gähnen wie Urlauber auf der Terrasse. Schlehen hocken versteckt hinter Dornen. Weißdorn lodert wie Ampeln aus dem Gebüsch. Der Sommer war lang, der Herbst spät und mild, Färbung hat noch kaum richtig eingesetzt. Nach dem Regen der letzten Tage ist die Luft wie gespült, die Weiden und Äcker liegen wie auf einer Anrichte drapiert. Der Druck in der Brust läßt nach, die Nacht strömt aus den Augen davon. Das Gehen geht von selbst. Man möchte dreimal mehr Atem schöpfen als man braucht und wünscht sich einen Geschmackssinn für Licht.
Die letzten bekannten Wegmarken: ein Holzstoß ohne Holz, nur noch aus Schleifspuren und Erinnerungen bestehend; Wegnamen: ein Brotpfad. Abzweigungen, an denen wir vorbeilaufen, deren Ziel ich kenne. An dieser Hütte bin ich vor Jahren an einem Neujahrstag vorbeigekommen, übermüdet nach einer schlaflosen Nacht, in welcher Nachbarn Brauchtumspflege betrieben. Damals hätte ich gleich hier übernachten sollen. Irgendwann mache ich das vielleicht. Alles scheint greifbar an einem solchen Morgen, das nächste wie das Entlegene, Vergangenheit, Zukunft und der unbegrenzte Augenblick, in dem ein Pilzhut aufblitzt, K. sich die Nase putzt, der Stiefel einen Kiesel anstößt und damit einen winzigen Beitrag zur langsamen Arbeit der Gebirgsabtragung leistet. Fast glaubt man, Schmetterlinge zu sehen, aber es sind nur die leuchtenden Körper von Spinnennetzen. Manchmal flackert ein Gebüsch von Vogelflug. Ein Rascheln, ein Warnpfiff, dann setzten sich Farbe, Schatten und Tiefen wieder zusammen.

Es ist so einfach, sich vorzustellen: Ab jetzt wird alles anders. Das eigene Leben scheint machbar, formbar, gestaltbar. Plötzlich hat man wieder die Wahl. Man könnte einfach so weitermachen, einfach weiterlaufen, der schwerste Augenblick, das Schließen der Tür, ist drei Tage her, wann wenn nicht jetzt, schon Verblassen die Erinnerungen an überfüllte Pendlerzüge, verstopfte Straßen, Bürovormittage, Lichtzeichenanlagen. Was für eine Absurdität, überhaupt, nicht einfach gehen zu dürfen, nur weil irgendwo ein Ampelhampelmännchen rot leuchtet. Irrsinn. Gehen ist das einfachste von der Welt, so elementar wie Atmen. Dafür gibt es ja auch keine Ampel.
Das Gefühl während jeder Wanderung: Jetzt muß, jetzt kann alles ganz anders werden.

Das Elementare wieder an seinen Platz rücken, denke ich mir. Das Leben absolut setzen. Seine Grandiosität endlich ernst nehmen. Schon genug Jahre an einem albernen Schreibtisch verbumfidelt. Was braucht es mehr zum guten Leben als einen Rucksack und ein Paar Wanderschuhe? Augen zum Sehen, Gedanken zum Denken und einen Bleistift für die Geschichten? Was wäre das für ein Leben? Nicht immer ein bequemes; sicher ein menschengemäßeres.
In solchen Augenblicken, auf einem steilen Anstieg kurz vor dem Frühstück, zu Füßen in Bronze gegossenes Laub, die Ferne wie ein Sog vor den Schritten, Pantomimen des Morgenlichts in den rotgewürzten Buchenwipfeln, mit Magenknurren und dem klaren Bewußtsein einer kräftigen Wurst im Rucksack – in solchen Augenblicken scheinen die Bilder von den Alltagsquälereien nicht einmal mehr bitter. Sie lassen sich einfach auflösen wie Nebel. Sie wiegen nichts mehr. Sie sind so irrelevant wie die Sorgen eines abgelegten Jahrhunderts.

Später, Meilen von hier, aber noch Meilen von Gerolstein entfernt, kommt alles zum Schweigen. Das Land streckt sich voller Winkel und Spalten; Kiefern und Wacholder duften; ein namenloser Käfer kämpft sich unter der Bank durchs Gras. Der Blick lernt fliegen, und die Sonne tastet alles ab, nimmt die Dinge in Augenschein, krümmt hier einen Fluß zurecht, schiebt noch einen Forst etwas malerischer auf einen Hügel hoch, sieht mild zu, wie ein Traktor eine Staubfahne über einen Weg wirft, bis alles, alles perfekt ist, und da ist es plötzlich ein Glück, ohne Worte zu sein, leer und frei wie Luft über Steinen, ahnungslos und vorbehaltlos offen.

Wir frühstücken, genauer gesagt, wir frühstücken zum zweiten Mal, das erste Frühstück war ausgezeichnet, neben reichlich Brotsorten und Brötchen, Wurst, Käse, Marmelade hat der Wirt uns einzigen Frühstücksgästen ein frisches Omelette zubereitet. Passend zum Namen des Wegs, Brotpfad, machen wir an der Hütte Rast. Brot, Wurst, Äpfel von Huberts Wiese. Die Geschichte zu dieser Hütte war: In der Silvesternacht 2008 so furchtbar über die Hofnachbarn geärgert, die zum ersten Mal, seit ich dort eingezogen war, den Jahreswechsel feierten, so laut, als wollten sie die versäumten Silvesternächte alle auf einmal nachholen, daß ich mich erblödete, bei den Ordnungshütern anzurufen. Dort beschied man mir, sie könnten nichts unternehmen, das sei Pflege des Brauchtums, da dürfe man auch die ganze Nacht durchfeiern. Kaum vorstellbar, daß ich damals keine Ohrstöpsel im Haus hatte (heute vergeht keine Nacht, da ich die Dinger nicht brauche), aber es waren wohl insgesamt leisere Zeiten, wie ich die Nacht rumgekriegt habe, weiß ich nicht mehr, will ich auch nicht wissen. Jedenfalls bin ich nach Plan um sechs aufgestanden und war gegen acht in der Eifel. Am späten Nachmittag des ersten Januar kam ich aus der anderen Richtung an diese Hütte, hatte mir die Müdigkeit und den frustrierten Zorn aus den Gliedern gelaufen, freute mich über die liebevolle Sorgfalt, mit der die Hütte eingerichtet worden war (es fehlte nicht einmal Klopapier), und schrieb sogar ein paar Zeilen ins Gästebuch, etwas in der Richtung, wie froh ich über die Stille sei. Denn still war es, endlich, an diesem verkaterten Feiertag. Ich bin den ganzen Tag keinem Menschen begegnet.
Es ist ein schöner Ort, eine Wegkreuzung im kurzen Schatten von Eichen, der Gipfel eines Hügelkamms, das Licht überall nah, wie Glockenklang aus einem gemütlichen Dorf. Wir kriegen Besuch: zwei Mountainbiker in voller Montur, ein Mann und ein Mädchen, dem Alter nach Großvater und Enkelin. Sie steigen ab und sehen sich um, spähen durchs die Fenster der Hütte, können sich nicht entschließen, sich zu uns zu setzen. Der Mann schiebt ein Bäuchlein vor sich her. Das Mädchen, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, ist ausgesprochen hübsch. Blondes, halblanges, glattes Haar, großer Mund, helle Augen, die die Farbtemperatur von allem, was sie anschauen, zu heben scheinen; geschmeidiger Körperbau, Beine, die sicher und federnd tragen, nicht mehr Kind, noch nicht Frau, ich staune dieses Wesen an, die Brüste nehmen eine Reife vorweg, die der Stimme, den Händen noch fehlt. Und wie ich ihre selbstvergessene, noch durch keinen Selbstzweifel angekränkelte Anmut bewundere, überkommt mich ein seltsamer Hunger. eine nagende Wehmut, als hätte ich irgendetwas verpaßt, und nun wäre es zu spät. Ich spüre eine bekannte Unruhe sich regen; der Fahradhelm blitzt am Ellenbogen; das blonde Haar ist stellenweise von Schweiß und Helm an den Kopf geklebt, was das Entzücken nur steigert. Und dann löst sich alles in einer Art befreiter Heiterkeit auf. Du mußt das nicht mehr, denke ich. Du stehst dem Großvater an Jahren näher als dem Mädel. Laß gut sein. Du mußt dir nicht mehr den Kopf zerbrechen, wie du das Interesse der hübschen Kommilitonin aus dem Hegelseminar auf dich ziehst. Du brauchst nicht mehr cool und attraktiv zu sein. Du hast das alles hinter dir. Du mußt nichts mehr haben, du mußt nichts mehr kriegen, du mußt nichts mehr besitzen.
Es reicht, wenn du in der Sonne sitzt, dein Brot mit einer Gefährtin teilst; es reicht, daß es Worte gibt und einen Platz, sie niederzuschreiben; es reicht, daß der Weg schmal ist und das Ziel noch sehr, sehr fern.

112 Meilen (1)

Am Rande der Großstadt ankommen, der bekannten, der unbekannten, der oft durchfahrenen.
Linie 260, Linie 4, die Straßenzüge vertraut, aber jetzt wie aus der Froschperspektive, als wäre man geschrumpft, als kröche man auf allen Vieren. Aus dem Feld, aus dem Wald, naß und verdreckt und müde von neun, zehn Stunden Marsch auf die Straße treten und plötzlich als Fremder in die gestern erst verlassene Welt zurückkehren, wie das eigene dunkle Haus bei Nacht, in fremdem Gewand, durch die Terrassentür: In jedem schäbigen Waldgasthof in der Einöde wäre man heimischer als hier, nach einem Tagesmarsch keine Stunde Zugfahrt von der eigenen Wohnung entfernt.

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Das windschiefe Fachwerkhaus in dem kleinen Weiler unweit der Bundesstraße, mühsam richtet es sich eigens für uns auf dem Ellenbogen auf. Ich denke an die Spinnen im Keller des Hauses, das wir gestern besichtigt haben. Wie die Schatten an der Wand die transparenten Spinnenleiber in die Luft projizierten wie holographische Fresken.

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Ein Rind, das im Galopp auf uns zustürmt, ein anderes, auch im Galopp, das vor uns flieht. Beide irritiert von unseren Regenponchos. Ein Phänomen, das uns wieder und wieder begegnen wird. Ich summe in Gedanken einen Tanzsatz eines unbekannten Künstlers, den ich neulich im Radio gehört habe. Es wird mein Soundtrack für die nächsten 112 Meilen.

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Der freundliche Kellner in Unterburg teilt uns bedauernd mit, daß es den ganzen Tag regnen wird. Wir lassen uns, noch halbwegs trocken, unser Lachsfrühstück schmecken. Später die Sengbachtalsperre. Der Wasserspiegel geschwollen wie ein entzündetes Auge. Die Staumauer aufgequollen, als wäre es Pappe. Ingenieure, die irgendwelche Messungen durchführen, kommen uns entgegen, die Jacken noch trocken. Blick in eine Art Wachturm an der Mauer. Durch die halboffene Tür sichtbar ein schmaler, erleuchteter Innenraum, Schreibtisch, Lampe, elektrische Geräte. Das Gemütliche einer solchen Arbeit. Stifte, Papier, Daten. Konzentration. Draußen der Regen. Regen. Irgendwo wird es Kaffee geben, kochendheiß aus einer Thermoskanne.
Das Südufer ist steil, der Weg matschig. Nasse Buchenzweige schlagen uns ins Gesicht, während wir aus dem Tal kriechen. Oben wartet der nächste Schauer.

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Die Ränder der Feldwege lösen sich auf wie Papier; wenn der Wind auf die Forste drückt, spritz das Wasser heraus wie aus Schwämmen. Kirchtürme ducken sich unter die Spitzdächer, die Schallfenster der Glockenstühle zu Schlitzen geschlossen. Keine Glocken. Die Rinder glotzen. Zwei Kälber saugen am Muttereuter, ihr Hunger unbeeindruckt vom Regen. Wir verlaufen uns. Dicke Tropfen fallen auf das, was von der Karte noch übrig ist.

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An der Bushaltestelle, wo wir Pause machen, geschützt vor dem Regen, nicht vor dem Wind, rutscht mir der Rucksack von der Bank, und das Brot, gottlob verpackt, fällt in einen Speichelteich, den ein gelangweilter Teenager dort angelegt hat. Schon leicht genervt vom Regen, der durchweichten Karte, der Ungerechtigkeit des Himmels, der uns ausgerechnet am ersten Wandertag Dauerregen beschert, brülle ich «Barbaren!» in den Regen hinaus. Das vielleicht zwölfjährige Kind, das auf den Bus wartet, den wir ignorieren werden (zu stolz; außerdem geht er in die Gegenrichtung), hat auf der Wange eine riesige, schwarze, gerade, vom Mundwinkel bis zur Schläfe reichende Narbe. Aufgemalt, als wäre schon Hällowien oder Karneval. Neben der Speichelpfütze liegt eine abgenagte Kuchenrinde.

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Eine Birne, ein Stück Schokolade, keine Muße, richtig Pause zu machen. Der Lärm der Straße pustet uns entgegen, man versteht sein eigenes Wort nicht, wir kauen stumm, mit klammen Fingern, auf der harten Schokolade. Schwertransporter, gefolgt von einer Schlange Autos, gefolgt von einem noch schwereren Schwertransporter. Die Reifen spritzen, der Grund bebt. Die aus dem Busfenster betrachtet so ruhige, ja beschauliche Landstraße (im besten Sinne des Wortes eine Landstraße, erweist sich als mörderisch, wenn man selbst ruht und ihr zusieht.

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Der freundliche Mofafahrer, der gerade in dem Moment nach Hause kommt, wo wir, eine druckfrische, aber bereits veraltete Karte in Händen, vor zugesperrten Zäunen und Haustüren stehen, vor die uns die Karte geführt hat, und nicht weiterwissen. Wir lassen uns den Weg zeigen. Ein Maisfeld. Und noch eine Landstraße. Im letzten Waldstück hört der Regen auf.

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(In der Unterkunft hört man die Linie 4 hinterm Grundstück vorbeifahren. Ein paarmal bin ich da selbst drin gesessen. Und wußte nicht, daß ich dort vorbeifuhr, wo ich später im Jahr im Bett liegen, und dies schreiben würde.

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Wir essen zu Opernklängen. Antipasti. Taglerini mit Lachs und rosa Pfeffer. Totmüde ins Bett. Im Bad tropfen die Ponchos.

Mole

Das Wasser ist grün und hell. Das Licht hat viele Richtungen und kommt mit matten Farben über den Strom geschwommen. Libellen schwirren über die weißen Steine, erst allein, dann in aneinander verhakten Paaren. Wie heißt das, was die Libellen da tun, wenn sie, verkettet in Paaren, einen Hinterleib des Doppelkörpers ins flache Wasser über den Steinen lecken lassen, als wollten sie hastige Schlucke davon nehmen? Und wie machen die das, mit ihren insgesamt vier Flügeln, Gleichung um Gleichung komplizierter Aerodynamik zu lösen? Wir schauen es uns an und staunen. Das Licht bricht sich auf den Flügeln und auf der Reling der Boote und Schimmert silbern auf Blattunterseiten. Eine Gruppe von Kajakfahrern gleitet langsam den kleinen Hafen hinauf. Ihre Paddelblätter tauchen mit Feiertagsruhe ins Wasser. Wie könnte man auch nicht ruhig sein an diesem Ort, auf dem Wasser, mit den herbstlichen Pappeln und Weiden hoch am Himmel.
Deine Finger kribbeln in meinem Nacken, und ich schließe die Augen. Das Wasser gluckert, Dieseldampf weht herüber, ein Motorboot tuckert. Ich sitze schief an Dich gelehnt auf dem schrägen Stein, eine Hand auf Deinem Knie, mein Bein schläft ein und wird glücklich taub, die Angler lassen die Leinen schwirren, ich weiß nicht, wie das heißt, was die Libellen tun, eine prächtige Yacht gleitet vorüber, eine Geschichte von Geld und Erfolg, ich aber küsse Deine Hand und atme Deinen Duft, ich habe nur eine alte Jacke, aber Du hast mir einen Knopf geschenkt, ich küsse Deinen Mundwinkel, höre Dich seufzen und bin reicher als sie alle, ich bin der reichste Mann der Welt.

Aequinoctium


Wo wir einst gingen, weben die Spinnen das Ufer, der Spiegel
    Schenkt uns, verwandelt ins Jahr, freundlich die Tage zurück.
Küsse schmecken die Zeit, unter Blättern schlummern die Tage;
    tief in der Tasche die Nuß träumt vom vergangenen Jahr.
Wo wir einst gingen, bevor wir uns kannten, vor Jahren und Tagen:
    Dort, im ewigen Herbst, wandeln die Flüsse im Schlaf.

Stock & Hut

Zeilenumbruch des Jahres: Einmal Atemholen, noch einmal der glühenden Felder, der Lerchen gedenken, des heißen Staubs, der knisternden Ähren; ein Blick zurück, einer vorwärts, gelb und blau: Schon ist es Herbst.

Man friert zur Nacht, das Käuzchen ruft, früh tragen die Tomatenstauden ein Tropfenkleid. Nebel saugt die Hügelflügel ins Nichts, stößt fallend einen Baum ins Greifbare, hält die Vogelrufe in der Schwebe gefangen. Minutenlanges Schweigen von allem. Im Kaffee schmeckt man den Winter.

Hol das Wams aus dem Schrank, schüttel den Staub aus den Wollsachen; back ein Brot, nimm einen Klumpen Butter, ein Beutelchen Salz; Papier und Bleistift für die Geschichten; Stock und Hut für den frohen Mut. Laß uns die Schuhe schnüren, ein leichtes Bündel packen. Was brauchen wir mehr als ein Stück Straße und die Ferne, die immer weitergeht? Komm: Nie rufen die Wege so dringlich wie jetzt.

Ströme, Strömung, stromern

Ein Licht, in dem die Uhren langsamer gehen und die Ströme träge im Kreis fließen. Du steigst niemals in denselben Fluß? An einem solchen Tag würdest du immer wieder aufs neue im selben baden. Du würdest dich naß machen mit den wiederholten Spiegelungen von Spiegelungen, und uraltes Licht von den Fingerspitzen wegschleudern. Du würdest waten in Geflüstertem und Anvertrautem, Gestöhntem und Gekichertem, Zettel mit zerlaufener Tinte, wo jemand seine Angst notiert und in den Strom geworfen hat. Irgendwo glauben sie, die Liebe festschließen zu können und dem Wasser den Schlüssel überantworten. Man will hoffen, daß das Wasser im Kreis fließt; wie soll sonst die Liebe immer neu beginnen?

Wie träge Schiffe auf dem Ozean schweben die Züge für Ewigkeiten zwischen den Bahnhöfen; am Ende sind sie alle doch pünktlich. Ins Licht wachsen die Wälder, Augen und Zungen hängen voll Laub. An den Füßen tummeln sich Mäuse; in allen Taschen trägt man süße Schatten mit sich herum. Auf so viele Arten kann etwas trocken sein. Samtig und kratzig und staubig, Alphabete des Knisterns. Fransige Lippen und spröde Wangen und warme Risse an den Händen. Küsse mit süßer Restfeuchte am tiefen Grund. Wie kühl sonnenhelles Haar ist. Wie flüssig dein Schatten über dem Wasser, mit Hut. Reife Früchte, Schoten mit Buchstaben darin, platzende Hülsen und Häutchen um die Seele von Nüssen. Zweifarbige schillernde Tugenden, bitter schmeckt der Herbst, und gut. Ein Sonnenstrahl kommt an den Serifen eines Blattrands zur Ruhe. Buntes stiefelt durchs Laub, das trägt Stock und Hut und ein Liedchen auf den Lippen: Nicht im Lenz, wie die meisten glauben, sondern im Herbst fängt alles an.

Zwischen den Schläfen geht der Himmel auf. An den Wimpern hängen die Hügel fest, Kastanien rollen vor dem Fuß davon, und in den Lüften über allen Stirnen: Ein Flugzeug mit Gebrumm. Um von Horizont zu Horizont zu gelangen, braucht es einen ganzen lang hingesponnenen Nachmittag. Da sind die Züge alle schon eingefahren, haben sich die Wege verirrt und verknäuelt und kennen deinen Namen nicht mehr. Die Nacht ruft sie zurück in die Schatten und sammelt alles Verstreute wieder ein. Aufgerollt und eingeschmiegt die Richtungen, Winkel und Fernen, der Kies, der Sand und Stimmen. Darin findet sich wohl auch dein Name wieder, irgendwo, versteckt, kichernd in einem uralten Holunderstrauch.

Fern von hier, an deinem Haus, war der Strom auch schon derselbe.

Aequinoctium

Immer von weit aus verschlossenen Räumen die Glocken des Abends
    tönen von dort, wo je lehnten die Türen am Licht.
Nah ist sonst alles. Die Türme, die Mauern stehn nah und die Straßen,
    nah ist der Baum und das Schild, Wege sind nah und ein Pfad
führt vom nahen ins nächste. Nah ist dein eigener Atem,
    nah, was du ißt und trinkst, nah dir die eigene Hand.
nah sind selbst noch die Boten. Wohin du auch gehst, es ereilt dich,
    daß du dir selbst bist so nah, daß du dir niemals entgehst.
Fern nur, das wären: Geschichten. Begegnen dir selber, das willst du,
    nah sein, dem, der du warst: Fern, wie Erzählung dich hat.
Dort, wo alles dich kennt, wirst du stapfen, wenn hinter den Glocken
    leuchtet, was einst dich enthielt, fern wie von Frauen ein Blick.

Bei solcher Witterung. 8:58

Bei solcher Witterung haben selbst die Blicke der Menschen im Zug etwas Nebliges, ja, Nebulöses an sich, versponnen, labyrinthfarben, nach innen gerichtet und doch die Umgebung im Blick, traumgefärbt vielleicht, als gäbe es da etwas, das uns, jene Frau und mich, die ich schon seit langem im Zug beobachte aus sicherer Distanz und der versteckten Warte beiläufiger Taxierung, das uns also schon von je verbindet, nur ich weiß es nicht, abgelenkt und verloren wie ich war an eine andere Erzählung, an ein anderes Licht. Die Felder eisgrau, ohne das Gewicht von Farben. Raben, die auf einen Acker niederfallen. Strommasten huschen lautlos vorbei. Der Blick sagt, hast du’s immer noch nicht verstanden? Und ein pastellenes Glänzen liegt da wie eine eingenistete Trauer in ihren Augen, ein Sog.
Sie verläßt vor mir den Zug, wobei sie mich mit diesem ballistischen Blick auffängt und gleich wieder fallenläßt, mit diesem knappen, zwischen Beachtung und beiläufigem Desinteresse schwankenden Streiflicht und Hast-du’s-noch-nicht, das Kinn ein wenig auf die Brust gesenkt, die Aufmerksamkeit jetzt auf die Lücke gerichtet zwischen Trittstufe und Bahnsteig, es ist eine Aufmerksamkeit, die ebenso beiläufig ist wie vorhin der Blick, und sich noch weitere Aufmerksam- und Beiläufigkeiten vorbehält. Ihre hohen Stiefel machen kleine Geräusche jetzt schon auf dem Bahnsteig, auf den angefeuchteten Steinen, Geräusch wie von solchen Schritten, die sich eine nächtliche Straße hinunter einsam entfernen, manchmal ein Holpern, wenn die Fußspitze beim Vorwärtsschwung noch einmal den Boden berührt, tänzerisch klingt das und elegant, klack klack kliklack, ihr violetter Mantel beginnt sich schon aufzulösen, das Haar glänzt wie von Kondenstropfen. Die Schultern spannen sich leicht, als wüßte sie mich vertrauensvoll hinter sich, wüßte meinen Blick auf ihr ruhen, der ihr auch wirklich folgt, wie sie, womöglich mit dem Bewußtsein, das ich sie nicht aus den Augen lasse, klack klack kliklack dem Treppenabsatz zur Dasselstraße zustrebt. Sie senkt den Fuß auf die erste Stufe, neigt ein bißchen den Kopf vor, vorichtig, hat ein Taschentuch hervorgezogen, schneuzt sich die Nase, schnieft, der Nebel, die Kälte, das Herbstzittern, ihre Gestalt schon eingetrübt, senken sich die Schultern auf der Treppe, bereits die einer Fremden in einer Menge weiterer Fremder, eine auf und ab wogende Isokephalie unter dem Stahlbogen, wo jetzt das feuchte Gleiten einer Taube den Stahlschatten des Bahnübergangs entkommt. Die Treppe saugt die Menge an sich, unten erklingt das sanfte Gekreisch einer bremsenden Straßenbahn, der Zug schickt zwei rote Rücklichter aus der Kurve zurück. Das Bahnhofsgelände hat sich geleert; eine Zigarettenkippe qualmt in der Nässe, ein Papiertaschentuch leuchtet weiß auf dem Perron, die Taube entfernt sich flügelklatschend und verschwindet in der Silhouette der Platanen, und als ich wieder zur Treppe sehe, wird sich die Fremde kein zweites Mal nach mir umgedreht haben.

Hieroglyphen im Kristall

Die Hand in der Sonne und der kleine Schatten, den die Finger ins Laub werfen, und zu den anderen Schatten, im Ohr das ganze Jahr, und die bunten Mützen drüben an der Hecke, Limonadenflaschen unter dem Vergessen der Weißbuchen, das ganze Jahr, die Vorgärten mit ihren Marmorstimmen, ein ganzes Jahr, die Wolken im See und dann wieder übers Jahr und übers Feld, die Raben, der Bausch Dunkelheit am Feldrain, das Wort wieder denken, und die Schritte über den Kies knirschen lassen, langsam einen jeden. Nach einem Stein suchen, seiner glatten Kälte, den Adern und Hieroglyphen im Kristall. Die Hände an der Hose abwischen, stehenbleiben. Blumen in den Tonnen, so viele Blumen, die ihr Buntes verschenkt haben, Jahr um Jahr, ihre geliehenen Farben der Erde zurück, diese Töne von Ocker, Schilfhell und Tabakbraun, von Seeschlamm und Kastanienbleich, von Eichelglanz und Eckernstumpf, eine Erinnerung an eine Erinnerung an Farbe. Die Püppchen blicken ins Laub, und die bleichen Photographien, der Marmor mit den Schattentümpeln, es ist, als hätten selbst die Bäume den Blick gesenkt. In den Pfützen regt sich der Schimmer, knapp an den Rand geflackert, von Flämmchen. Ein jedes ein Fensterchen, das ein einsamer Wanderer aus der Ferne des dunkelnden Hanges erblickt, zu spät, rings neigt sich das Tal, das holst du nicht mehr auf. Es riecht der Acker nach Kaminrauch, dir aber bleibt nur der Weg, übers Jahr und übers Feld, morgen war schon, wieder nichts gemerkt, paß auf, nichts wird schneller reif als das gestern, das der heutige Tag sich so mühsam erringt.

Greinstraße (und weiter …)

das himmelsgrau nistet in den baumkronen, vertreibt die vögel, läuft stämme, treppen, schächte hinauf, lärmt, pocht, heult, drückt sich durch die poren des glases, legt sich als finger und flossen über den tisch, wo es das papier zu klebriger hieroglyphenasche zerstäubt. silbern stellen sich die unterseiten der ahornblätter auf, verwandeln sich in finger, klauen, ohrringe, sturmlinien, zähne, deren licht aus dem inneren kommt und als flackern über wand und boden läuft. ein erloschener laternenpfahl neigt sich den ganzen morgen lang gegen den wolkenzug. man erinnert sich, leicht, wie im schwebtraum, irgendwo steht in einem hof ein bäumchen, das jetzt kahl sein müßte, ein naßdunkles, tropfenschüttelndes gerippe, wie es beglänzt von lampen sichtbar ist aus dem fenster oben, aus dem stummen raum heraus, der einmal ein zuhause war, ein raum voller licht und photographien und bücher und zärtlicher unordnungen, allenthalben. ein heller ton klingt auf, wenn der regen gegen das geländerrohr schlägt, ein müdes ostinato, wie von einem gelangweilten kind, das seine finger auf immer dieselbe taste des klaviers drückt, wieder und wieder.

Blatt

Ein leiser knall in der morgenfrühe, die sich selbst noch nicht wiedererkannt hat, so liegt es beim aufschließen vor dem fuß, das blatt, rot, gesprenkelt von feinsand, aller botanischer namen ledig, ein rundes oval verästelter farbe. voll schärfe spaltet es die nachbildungen des steins; wo sein licht nicht hinfällt, wird es schlagartig herbst in den läden und buden. gierig hat es vom regen genommen; jetzt ist es satt und verfärbt von wonne und wahrsagen und leuchtet mit filigranen dämmerungen sein asphaltenes bett aus.

Greinstraße

vormittag. die bäume streifen den himmel, und das eigene antlitz schwimmt hohlwangig in den pfützen umher. wohin man auch geht. glockengeläut kratzt an den erinnerungen.
und gehen muß man viel, zwischen buch und buch. tastaturengeklimper. aufzüge. und wieder der mittag, schwer, schwankend, kopflastig vornüber geneigt. man dreht einen bleistift träge zwischen den fingern. keine stimmen für gemütlichkeit, ein singen, ein singen. abstoßende sirenen, die der fremde, dem draußen, der weite das entzücken stahlen. bitteres klebt an den illustrierten. feuchtkalt wellt sich das papier auf der toilette. nasse socken, kaltes laminat. spinnengeister erheben sich in den ecken, während der rücken schmerzvoll über der tastatur hängt.
die geschichten verhaken sich.
blut strömt zur leibesmitte, das ist immerhin schöne ablenkung. wärme, wallung, schwellung. um sich selbst kreisen und dabei alte worte wieder auspacken. das klingt wie: es war einmal. gemeint aber ist: so war es. das kann man sich nicht oft genug klarmachen. manchmal vergißt man das jetzt. weil das war nicht mehr gegenwärtig ist.
mich ängstigt die asymmetrie alles lebendigen, aller zeit. die zukunft nimmt stetig ab. die vergangenheit wächst linear. immer mehr gibt es zu erinnern. immer mehr zu wissen. immer mehr zu lernen. irgendwo las ich, daß die kunst des erinnerns in wahrheit eine kunst des gezielten vergessens sei. mit dem alter könne man immer schlechter vergessen. weshalb man immer weniger behielte.
so ist es wohl. alles tritt immer unmittelbarer an einen heran. und bleibt dort hängen. während man geht und geht und geht.
vormittag. und am himmel die zweige … die pfützen sagen nichts. schon gar nicht, wer mein spiegelbild ist.

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waldlauf

wieder morgens laufen: man gewöhnt sich daran, umschattet von wald, begleitet von gewölbten tiefen zu laufen, unter einem schieferfarbenen himmel, der sich nur mühsam von den Kronen der Bäume rechts und links des weges ablöst, durch dickicht, das geradewegs in die nacht, ins wasser, in nester führt, in lichtungen auskommt, wo hexenhäuser wachsen. beim ersten, beim zweiten mal war es noch so unheimlich, daß man den atem anhalten wollte. das knacken überall, das prasseln von eicheln, die immer nur in unmittelbarer nähe fallen, als lenke sie ein widerstrebender baumwille, das gefühl von schritten im rücken, kein eigentliches geräusch, eine sinnesunbegründete gewißheit: das ist wer! so daß man sich zwingen muß, nicht ständig erschrocken den kopf zu wenden. überhaupt das erschrecken. dieses zusammenschrumpfen aller sinne, der zeit selbst, des blutes: einmal, als ich es noch nicht kannte, das kalte glimmen zweier punkte vor mir über den weg, ein reflektorstreifen! huschte laulos zum wegrain, wo es, was immer es war, stehenblieb, und meine phantasie schlug purzelbäume, was macht ein walker mit reflektorstreifen am walkingsstock morgens um sechs am wegrain? warum bleibt der stehen? wartet er auf mich, um mir im passenden moment mit seinem reflektorwalkingstock eins überzuziehen? modernes raubrittertum? ausgebrochener anstaltsinsasse?
monate später erkannte ich, daß es eine katze gewesen war.

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Kreuzberg–Rheinbach

Es ist nur so, daß ich mit den Gedanken woanders bin. Natürlich könnte ich schreiben, natürlich fiele mir was ein – nur hab ich keine Zeit dazu, und in Gedanken zähle ich Reiherschwingen.

Kreuzberg-Rheinbach-3-10-06-040

In Gedanken zähle ich Reiherschwingen: Ich folge den schweren Leibern, Silbe für Silbe murmele ich ihrem Fluge nach. Ich folge der Bahn mit dem Finger; naß von stehendem Gewässer, tropf ich die träge Linie in den Wind. Den Schwingen, wie sie sich beladen mit fernem Gewölk, seh ich lange nach. Sie tragen meine Blicke in die Weiten, auf und davon —
Im Schilf die Libelle. Klappern von Flügeln.
Ein Totentanz in Türkis-moll.

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