Drei Greifvögel, einander umkreisend: Mal werden sie so schmal, daß sie in den Falten des Lichts zu verschwinden scheinen, dann tauchen sie wieder auf aus dem Blau wie Messer aus einem Tuch. Unten branden die Äcker an den Himmel, treiben eine leere Viehtränke bis zum Horizont. Dort steht sie auf einem wackligen Schatten. Vertäute Inseln liegen im Fluß, die der Strom zu Tropfen aus Jade schleift. Man muß sehr still sein und warten, dann hört man, wie Gelächter abseits der Wege leise zerplatzt, gleich einem Bonbon unter der Zunge des trägen Nachmittags. Kühl von Schatten fallen unterdessen die Küsse durchs Laub, verschwiegen wie Fledermäuse, während ein bemoostes Mäuerchen den Grund für sein Grübeln längst vergessen hat. Eine Stunde zieht die andere empor, aufs Treppchen, auf den Pavillon, zu den Balustraden des Tags, der Strom macht Pause, die Hügel sind Linien, die beim Zeichnen einschliefen, du hast Butterblumen unterm Kinn, die Viehtränke ist umgefallen, und oben, ganz oben kreisen weiter die drei Vögel, beweglich und stationär wie Bojen in starker Strömung.

Wie vergessener Schmuck in einer verschlossenen Schublade im dunkelsten Zimmer eines langsam verfallenden Hauses: so verstummen die Eulenrufe im Wald.

Mit schwarzen Schnäbeln hackt der Wind nach dem Schnee. Im Feld toben die Steine, wühlen sich durch den Acker, kratzen Narben in den Grund, jagen einander die höchstrangigen Stellen ab. Unter einem Himmel aus Eis schwimmt die Sonne im kahlen Pappelstrom davon.

Spuren und Nähte, Geflicktes und Wiederaufgebrochenes, aus den Wiesensäumen quillt die Füllung ans sumpfige Licht. Weiden knirschen mit den Zähnen. Schatten haben Schaum im Mundwinkel.

Wissenden Blicks wie Mumien kochen die Brombeeren Sonnenuntergänge ein in ihren hellen Grabkammern aus Wind.

Frühprotokolle. Muskelkater

 
Der Morgen aufgestuhlt, ausgefegt, hallend von einem einsam tropfenden Wasserhahn. Aufgewacht mit einem fremden Socken am Fuß.

Vogelnamen aufzählen. Zungen archivieren. Wälder imaginieren, Hügel ins Flimmern bringen hinter den Wimpern des Forstes.

Wie ein müder Athlet streckt der Stiefel die Schnürsenkel von sich. Im Baum zählen die Raben ihr Beutegeld.

Das Wetter ein verrückter Einfall von gestern, der am Morgen absurd erscheint. Jetzt hängen wieder die Wolken über den leeren Bahnsteigen. Abgeknickte Schirme stecken den Kopf in Abfallbehälter. Die Forsythie hat einen schmutzigen Schuh aufgespießt.

Wie geht es weiter? Der Himmel riecht nach Flugzeugen. Die Braunelle zwitschert eine Endlosschleife aus Pausen.

Frühprotokoll. Sommerzeit

 
Mit den Vögeln wach werden. Hausrotschwanz, Singdrossel, Amsel. Im Traum fliegen den Dingen wieder die Namen zu, Wolke, Weißdorn, Rauch, Kiesel, Weide, Gras. Der Tag ist wie ein kühler Ärmel, in den man fröstelnd schlüpft.

Hellere Wege. Was auch immer unter dem Winterlaub lauerte, ist jetzt fort. Die Sonne dreht eine Rose ins Schloß. Die Räume häuten sich und kehren die Fleischseite nach außen.

Als schwebten Fledermäuse langsam zu Boden, so kehren nach der nächtlichen Jagd die Bücherstapel zurück zum Tag. Der Fenstergriff, eine schwirrende Libelle, schwebt über den Schatten des Glases. Unter den Wolken indes breitet bequemer das Land sich aus.

Blinzeln des Rolladens. Die Kirschzweige im Fenster sind wie ein gekritzelter Gruß, den man am Frühstückstisch findet, wenn man zu spät erwacht.

Eine Anmutung von Fremdheit

Als wäre das Laufen nicht mehr dieselbe Tätigkeit, als hätte sich, was ich als Laufen bezeichnete, wenn ich es tat, klammheimlich aus der Hülle des so Bezeichneten entfernt. Zu sagen, es ist nicht mehr dasselbe, trifft diese Verwandlung nicht, denn ich weiß nicht mehr, wie es vorher war. Es ist, als sei ein Schleier zwischen mein Laufen heute und mein Laufen vor, sagen wir, zehn Jahren getreten.

Es geht mir noch mit anderen Tätigkeiten so. Sie fühlen sich auf unheimliche Weise fremd an, oder ich selbst als Erlebender und Handelnder fühle mich in ihnen fremd an, als sei meiner Aufmerksamkeit ein weiterer Zuschauer gewachsen, unter dessen Augen und im Bewußtsein seines Zuschauens mir das Vertraute zu etwas sanftmütig Fremdem gerät. Selbst Küsse. Selbst das Liebesspiel. Selbst das Vertrauteste bekommt in diesem Argwohn die Anmutung von etwas Fremdartigem. Bin ich sicher, daß ich immer schon so umarmt, so geküßt habe? Ich weiß, was ich tue, ich fühle, was ich vermeintlich immer gefühlt habe. Aber plötzlich schiebt sich der zarte Schleier einer Unsicherheit zwischen mich und das Erleben. Es ist, als probierte ich den Geschmack von Dingen, die ich seit sehr langer Zeit entbehrt habe. Das merkwürdige aber ist, ich habe nichts entbehrt, es gibt ein Kontinuum ohne Brüche. Ich habe nie mit dem Laufen aufgehört, und auch mit der Liebe nicht, zum Glück.

Es ist etwas ungeheuer Plausibles in den Dingen, die wiederkehren. Plausibel und überraschend zugleich. Wenn überhaupt etwas, dann sind es die Gerüche und Geräusche der Jahreszeiten, die Textur eines bestimmten Frühlings- oder Herbstmorgens, die Dichte der Luft, die Transparenz des Raums, der Glocken, die darin schlagen, das geringste Gewicht des Lichts auf einer Anemone, die jenseits jeden Zweifels wahr sind, uralt und unveränderlich jung in ihrem Wiederauftreten. Spürt man, wie man alt wird, an ihrem Jungbleiben? Die Jahreszeiten werden nicht mit uns alt, mit niemandem.

Insofern ist jedes Erlebnis eines Frühlings, diese plötzliche Haupterhebung, daß man in der Frühe aus dem Haus tritt und sich wie gesalbt fühlen darf von der über Nacht geheiligten Luft, der Verweis auf alle Frühlinge, die man zuvor erlebt hat, und dadurch, daß so ein Morgen als etwas Bekanntes, als etwas, das man schon einmal erlebt hat, in Erscheinung tritt, und zwar als ganz genau dieselbe Erscheinung, gibt sie mir das Bewußtsein meines Alterns ein. Ich erinnere mich ja. Der Frühling ist neu und unverändert. Aber indem ich mich erinnere, daß genau der gleiche Frühling schon einmal war, ja, indem er mir überhaupt als etwas Bekanntes begegnen kann, fühle ich meine eigene Bewegung durch die Zeit.

Vielleicht ist es ein verändertes Bewußtsein von den Dingen, für die Dinge, für mein selbst in der Begegnung mit den Dingen. Eine Schärfung, nicht der Wahrnehmung selbst, sondern der Selbstwahrnehmung. Ein Argwohn gegenüber dem allzu Selbstverständlichen. Noch ist mein Laufen selbstverständlich, das Musikhören, das Betrachten einer Waldlandschaft, der Geruch geschlagenen Holzes, Stuhlgang, das Gefühl von feuchter Kiefernborke, Fieber, ein Weinrausch; aber es ist nicht mehr selbstverständlich, daß es selbstverständlich ist; daß es selbstverständlich so ist. Plötzlich könnte es auch anders sein. Plötzlich könnte es früher ganz anders gewesen sein als jetzt. Ich erinnere mich; aber die Erinnerung enthält nur Bilder, die zu allem passen, was ich jetzt erlebe. Die Erinnerung enthält ja nur Dinge, die man nicht mehr erleben kann, man kann nur die Erinnerung erleben. Nie kann ich in einen Lauf von vor fünfzehn Jahren zurückkehren, oder in eine vergangene Liebesnacht. Das Schöne an einem Frühlingsmorgen aber ist vielleicht, daß er selbst keinerlei Erinnerung hat an all die anderen Frühlinge vor ihm, die nur wir in ihm wiederfinden.

 
Aus der lärmigen Stadt hinunter ins Tal zu den Mühlen und den schwarzen Bächen. Schiefer, zart wie Aquarell, zerbirst unterm Trommelfeuer des Spechts. Aus den Tiefen sickert Farbe zu Tal. Da heißt es hinaus zu den Straßen, den Brücken zwischen Wolken und Wasser, mit zittrigem Stift in die Luft gemalt, hängen sie wie kaum faßbare Gedanken über der Schlucht. Alles hat es eilig, selbst die Bäume machen sich den Platz streitig, bemühen sich, als erste den Hang zu erklimmen. Langsam dreht sich Licht in der schmalen Angel einer Birke. Schwanken wie von Toren, aus denen Moder zum Trocknen ins Freie strömt. Meisen und Spatzen fallen durch die Zweige, Postkarten gleiten in verrostete Briefschlitze, Schatten bohren sich in den Grund, munter tauchen die Schuhe unter den Weg, der Himmel springt von Ast zu Ast, und leise, leise faucht der Wald vor sich hin, wie ein alter Seehund, der heimlich Arien übt.

7.5.13

Zuviel draußen umhergetollt, Zug bekommen, zulange aufgewesen, jetzt zu früh raus: Heute ist das Licht erkältet. Müde blinzelt es übern Hang, mit verquollenen Augen, fröstelt und trägt einen Schal. Leise hüstelt es in den Bäuschen des Löwenzahns. In Fieberschauern krümmt sich die Wiese.
Der Himmel hat sich zusammengezogen, darin zappeln die Vögel, wild wie Fische im Netz. Die Mauersegler schrammen über Innenräume aus Luft. Im Morgengrauen zertritt der Rotschwanz einen Berg Töpferscherben.

6.5.13

Alles, was spät war gestern, hat sich in Frühe verwandelt. Alles, was alt war und müde, ist jetzt jung und wach. Das Licht zieht sich selbst am Schopf aus dem Wald. Am Grund der Straßen klebt noch ein Film Dunkelheit, eingetrocknet wie Spuren von Wein im nächtlichen Glas. Träume wackeln auf den Grasspitzen. Der Morgen blinzelt, die Birken recken die Glieder. Liebe, alles spricht von deinem Schlaf.

Aequinoctium

Himmel, geklemmt zwischen Wein, über Steine klettern die Burgen.
     Wo deine Braue beginnt, öffnet die Ferne den Tag.
Höher greifen die Türme, entziffern die Gleichung der blauen
     Säume des Morgens, vom Feld holen die Wege den Lenz.
Mühlen gründeln im Tal, im Rucksack meutern die Karten,
     Hügel holen den Fluß zwischen den Büchern hervor.
Nie ist es weit zu den Schiffen, der Abend hält schon die Lampe.
     Wo deine Braue beginnt, schließt sich die Ferne im Kuß.

Mitte März

Gedanken, ins Winterlicht niedergeschlagen, Träume, in die Schneeprismen gehaucht, Vögel aus Rauch, am Feldrain  wachsen Muscheln. Wimpern wie Bäume, Meisen durchzucken die Hände, das Gelebte von Küssen schwemmt an die Glocken, ein blaues Wort fällt in die Weite und ein Name, der von dort wieder zurückströmt in die Tiefe des Morgens, wo er Blick wird und Trost.

AEQVINOCTIVM

Möwen im Stillstand. Die Luft, zerhackt von Schnäbeln und Blicken,

lüftet die Flaggen am Strom. Alte an Leinen, ein Hund

führt ihre munteren Knochen spazieren, durch Schatten querhin, wo

Gelbgebleckter Jasmin kratzt Apostrophe ans Wehr.

Fleißig säht alles den Tag aus. Dort zieht schon, der Ferne entgegen

Plastik, in Falten, im Strom, Buntes, wie Polkas im Eis.

Traum, Choral, Buchfink

Vor einigen Tagen wieder ein klingender Traum. Es spielte in einem Kammermusikensemble, das man von der Straße her durch ein offenes Fenster erspähte, eine Fagottistin ein langsames Solo. Die Melodie ist einfach, in Dur, schmucklos, beginnt mit einer lang ausgehaltenen Note, welche die Solistin aus dem Mezzopiano wie aus einem gedämpften Hintergrund langsam crescendierend in den Vordergrund des musikalischen Geschehens einschwingen läßt. Ihr Ton ist sehr weich und näselnd, das allmählich vortretende Vibrato unaufdringlich und schmeichelnd. Die Melodie ist eine fallende Figur, gleitet aus dem ersten Ton hinab, fängt sich, schwebt wieder empor und erreicht eine vorläufige Kadenz; dann beginnt es noch einmal von vorn. Bei der Wiederholung bin ich schon ein paar Schritte weitergegangen, die Weise erklingt noch einmal neben oder hinter mir, indes ich das Fagott vor mir sehe, ein frühes Instrument aus merkwürdig hellem Holz.
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Später im Radio den Bachchoral „Jesus bleibet meine Freude“ in einer Klavierbearbeitung von Busoni.
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Indessen, draußen, vor dem Fenster ein Buchfink, weder nah noch fern, und ebenso an den Dingen beteiligt wie unbeteiligt, ahnungslos, freundlich, ein vergnügter Teil der Welt, der bei allem, was diesen Augenblick ausmacht, unersetzlich ist.
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Der Traum, der Choral, der Buchfink: Die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt und etwas zu Seite geneigt, nur noch im Ohr beheimatet sein. Gestern und morgen, das Jahr und der Tag, Nächte und Morgen, Stimmen und Blicke, das Nahe wie das Ferne kommen in einem einzigen einfachen Ort zusammen, in dem alles, was man nur denken kann, die Bedeutung reiner Freude hat und sich ganz leicht auflöst in den Kullertränen eines unaussprechlichen Glücks.

Camping Genienau

Was noch vor ein paar Tagen unbeholfener Versuch war, ein prüfendes, tastenden Stolpern ins Schneelicht des Morgens hinein (man konnte nicht sicher sein, ob man sich nicht verhört hatte), das ist sich, zumindest hier im Rheinland, seiner vergessen geglaubten früheren Virtuosität wieder bewußt geworden, hat den Dreh wieder raus; und so tönt es jetzt aus den Büschen und Bäumen, perlend, hell, kraftvoll und so stolz, als müßte es die Verspätung wieder wettmachen: Die ersten Buchfinken.
Ende Januar war es letztes Jahr schon soweit, in einem Waldstück voller Sonnensäulen und eiskalten Buchenrinden; in der ferne schwebte die Godesburg, angehoben von Licht, während tief unten der Sonntagnachmittagsverkehr blitzte.

Wege von und zu der alten Wohnung. Argelanderstraße. Fluchtgedanken, wirre Pläne von einem Neubeginn, vom Wohnen auf dem Campingplatz oder im Wohnmobil, Ärger auf Nachbarn und den ermüdenden Autoverkehr vor dem Küchenfenster. Ich weiß noch daß ich in jenen Tagen Campingplätze wegen eines Dauerstellplatzes angeschrieben habe, und einmal bin ich sogar runter nach Mehlem gefahren, um mir einen anzusehen, ein trostloses Stück Wiese mit vereinzelten moosüberwachsenen Campinganhängern darauf, wie Findlinge schief und geneigt, die Fenster verrammelt oder blind vor Staub. Die Schranke an der Einfahrt war heruntergelassen und mit einem Vorhängeschloß gesichert, Verbotsschilder, hier gilt die StVO, der Name „Genienau“ krümmte sich, gestützt auf zwei Pfähle, verwittert und unleserlich über den Weg, irgendwo ein Blechschild mit der Hausordnung. Unbefugten Zutritt verboten. Ich ging trotzdem hinein, besah mir die Anschläge und Plakate vor der Rezeption, drückte die Klinke, abgeschlossen, keine Klingel, keine Öffnungszeiten, in den Fenstern undurchdringliche Vorhänge. Ich sah nur mein eigenes ratloses Gesicht in den Scheiben. Auch die Türen der Sanitären Anlagen waren alle verriegelt. Nirgendwo auf dem Platz ein Mensch, in den Hecken eine Menge Spatzen, Möwen vom Rhein, nur draußen auf dem Feld ging eine einsame Frau mit Dackel.

Viel später erfuhr ich, daß das Wohnen im Campinganhänger in Deutschland nur unter strengsten Auflagen möglich sei. Was kann man auch anderes erwarten in einem Land, in dem Wartehäuschen mit einem Spalt für Zugluft versehen und Sitzgelegenheiten auf öffentlichen Plätzen und in Bahnhöfen so unbequem wie nur möglich gestaltet werden, damit nur ja keiner auf die Idee komme, sich dort hinzulegen?
Ich drehte noch eine Runde um das Gelände, stieg den Feldweg hoch zur Straße, fand die Hänge einladend und schön, kehrte zum Fluß zurück. Drüben der Drachenfels, sehr steil, das Schloß auf seinem Gipfel massiv und bedrohlich. Der Rhein hatte wenig Wasser und war braun, spiegellos, in den trockenen Kieseln lag eine milchig abgewetzte Wodkaflasche. Ich begriff, daß ich hier niemals wohnen würde. Nicht am Rhein, nicht in einem bemoosten Wohnwagen auf einem Platz ohne Dusche oder Waschbecken, nicht im Schatten des Drachenfelsschlosses, überhaupt nirgendwo. Traurig machte ich mich auf den Weg von dort, wo ich nicht wohnen würde nach dort, wo ich nicht mehr wohnen wollte.

An jenem Tag also der erste Buchfink. Vor ein paar Tagen bin ich dort auf einem Lauf von Rolandseck nach Hause wieder vorbeigekommen. Das Schloß noch höher, wackelig balancierte es knapp unter den Wolken, die Brombeeren ebenso braun wie vor einem Jahr, von den Wohnwagen fehlten die meisten. Aber die Sonne kam durch, viele Spaziergänger hatten die Hoffnung auf Frühling noch nicht aufgegeben, machten einen weiteren Versuch, und die Buchfinken hatten den Dreh endlich auch wieder raus.

Turdus merula

Und wie die jubelnde Erlösung, die endlich blitzartig die Spannung einer monatelang aufgefluteten, unerträglich gewordenen Stille und Starre löst und in Klang verwandelt, der, in der Dämmerstunde süß aus der Dunkelheit hervorquellend, den letzten, mürbe gewordenen Schlaf durchströmt, die Fensterferne heranholt, nah und näher, innig, ein Fordern, farbig und schalmeienklar, und wie aus dem feuchten Inneren einer hartschaligen Frucht ins Erwachen hinein: die erste Amsel.

VIA NOVAESIANA

Beim Verlassen der Wohnung fiel es sofort auf. Die Luft.
Sie war grün.
Grün mit einem lebendigen Hauch Gelb darin, aderweise. Sie roch nach Weiden und nach Wald, nach Chlorophyll und ein bißchen nach Fels, nach staubigem, trockenem Fels.
Nicht nur die Farbe und der Geruch der Luft waren anders; der Raum selbst, der sie enthielt, hatte sich verändert, seine innere Struktur und mit ihr die Geräusche, die er trug: Sie hatten eine weitere Strecke hinter sich als sonst, wie ein Ruf aus klarer Ferne, zugleich waren sie schärfer, heller und deutlicher geworden. Der Raum hatte sich von Verwerfungen freigemacht, sämtliche tauben Knoten geglättet und noch ein paar Richtungen hinzugewonnen, in denen jetzt die Klänge hockten: Klopfen einer Fußmatte gegen einen Laternenpfahl; eine Autotür, die ins Schloß fiel; Hundegebell, Schlüsselgeklapper. Alles von weit weg und zugleich klirrend, nah, es war, als habe sich die Luft aus einer staubigen Verpackung herausgeschält.
Die Haustür lachte ein quietschendes Lachen, und während sie wie von selbst aufsprang, schmeckte auch sie die Farbe; und zum ersten Mal seit langer, wirklich sehr langer Zeit ließ sie das Draußen wieder herein, mit offenen Angeln, bis es sich im Flur ausgebreitet hatte, grün, natürlich und mit soviel Raum, daß die Wände es kaum hielten.
Die Haustür, satt und glücklich von soviel Draußen, fiel mit einem hellen Klirren ins Schloß.
Selbst die Klänge schienen heute eine andere Farbe zu haben.
Grün. Der Morgen war grün, grasgrün, mit einer Spur lebendigen Gelbs darin.

Frühlingsfieber

Sich fühlen, als hätte man einen Fieberanfall hinter sich, nicht nur unendlich müde, sondern auch wackelig auf den Beinen, Watte im Kopf und die Augen geblendet von eigentlich keinem Licht, oder als käme es aus dem Inneren, aus dem eigenen Schädel. Vorhin durch den Wald gezittert und eine Stunde später immer noch einen Puls von 80. Die Vogelstimmen hallen leicht nach wie aus einem Traum. Oder eine Illusion, ein Imitat ihrer selbst.

Endlich The Time Traveller’s Wife durch und froh, daß dieser Albtraum zu Ende ist. Zuletzt fürchterlich überreizt. Statt es in einem hinter mich zu bringen, hab ich den Schrecken nur verlängert, weil ich mehr als ein paar Seiten täglich nicht ertragen habe – und auch die nur morgens und mittags im Zug, weil man da mehr Abstand hat.

unerreichbar

im frühjahr falle ich stets aufs neue aus den büchern und den geschichten. vielleicht sind es die gemeißelten helligkeiten, vielleicht der klang. in dieser wie angestoßen, glockendröhnenden welt (eine welt des beginns) sind die möglichkeiten derart wirklich, daß ihr gegenstand völlig unmöglich wird. wovon man vor einer stunde noch zu träumen imstande war, jetzt ist es so unausweichlich da, daß die entfernung, der lebensabgrund von den eigenen fingerspitzen dorthin, unüberbrückbar geworden ist
die janusköpfigkeit der schönheit – aller schönheit – die zugleich hier ist und im augenblick des schauens und schauerns bereits nicht mehr – nie – erreicht werden kann, ein beständig sich erneuerndes hoffen-getäuscht-werden. selbst wenn ich das erreichte, wovon ich glaube, daß es der gegenstand des sehnens ist – so wäre es in diesem augenblick schon nicht mehr das ersehnte, bei allem gewährten glück nicht.