Frühprotokoll: Satie

Bei Eric Satie muß ich an ein Kölner Zimmer denken, in dem ich, täglicher, nächtlicher Gast, für eine Weile fast zu Hause war, und nie ganz. Die Unordnung in dem asymmetrisch, unneunziggradwinklig geschnittenen, hellen Raum spiegelte mit ihrer Farbigkeit aus Büchern, Heften, Ordnern und bunt bekritzelten Zetteln, Papierstapeln, Kopien und Hand-outs, benutzten Kaffeetassen, Löffeln und Schüsseln meine eigene Unordnung wieder, die ich überall verbreite, wo ich mich länger als eine Nacht niederlasse. Es gab ein altes, gemütliches Klavier aus dunklem, spiegelnden Holz, und zwischen Klavier und der nächsten Wand einen Futon für zwei Schläfer, an dessen Fußende ein Bücherregal, so daß man zwischen Klavier und Büchern ruhte. An der dem Bett zugewandten Seite des Klaviers hingen Familienphotos ohne Rahmen, die sich im Sommer, wenn die Luft feucht war, aufwärts bogen und im Winter wieder glätteten. Gegenüber eine Fensterfront, draußen ein Fußbreit Balkon. Links davon ein gläserner Schreibtisch, von Papieren und Büchern bis auf den Raum, den die Tastatur des Rechners einnahm, bedeckt. Abends schräg einfallende Sonne. Zwei Stockwerke tiefer ein weiter, verkehrsfreier, mit rotem Backstein gepflasterter Platz, den Verwaltungs- und Gerichtsgebäude aus triefendem Beton und schwarzem Glas umstellten; in der Mitte ein winziges Ahornbäumchen, ein Laubengang mit Blauregen. Der Himmel hatte es schwer über den Dächern der Hochhäuser, auf denen sich abends Tauben niederließen. Nachts wehte das Qietschen und Rumpeln von Zügen vom nahen Rangierbahnhof durch die Dunkelheit heran.
In diesem Zimmer spielte E., die das Quietschen gemütlich fand, Satie. Ich lag auf dem Bett und lauschte dem melancholisch-meditativen, bald verträumten, bald kindlich-ernsten Voranschreiten der simplen Akkorde, schaute an die Decke oder studierte die Buchtitel im Regal und war zufrieden, in diesem Zimmer zu Gast zu sein. E. hatte eine Art, mitten im Spiel abzubrechen, sich mit Schwung auf dem Hocker nach mir umzudrehen, die Lippen zu schürzen und mir eine Frage zu stellen. Manchmal lachte sie beim Spiel leise oder sang mit. Sie war vernarrt in die Gymnopédies, und wenn sie nicht gerade Satie spielte, summte sie die einfachen Motive vor sich hin oder sang sie auf einen Text aus Phantasiesilben, es klang wie schmöö-dem-schmöö. Unvermittelt konnte sie in einer Gesprächspause den Mund öffnen, die Lippen vorstülpen und eine kurze Melodie aufsingen, als wollte sie ihren Gesprächspartner an etwas erinnern, das immer auch noch berücksichtigt werden müsse. Oder an etwas, das schon jetzt, während es geschah, lange her war: Weißt du noch? Einmal saßen wir nachts von Freunden heimkehrend im Zug, wir hatten geschwiegen, waren müde, es war der heißeste Sommer aller Zeiten, da läßt E. den Kopf auf dem Sitzpolster zu mir herfallen, als wolle sie mich küssen, öffnet den Mund, wölbt die Lippen: schmöö-dem-schmööö. So ist das nämlich. Denk dran!
Satie klingt seither immer so, als wolle er mir immer wieder etwas ins Gedächtnis holen, das ich sonst wohl schon lange vergessen hätte.

Farbenlehre

Welche Farbe?“ haucht die süße M.-A., und ich bin sprachlos. Welche Farbe?
„Grün oder schwarz?“ flüstert sie und streckt mir, ohne rot zu werden, in jeder Hand ein streichholzbriefgroßes Päckchen hin.
Von Anfang an habe ich es gewollt. Wochenlang habe ich mich nicht getraut, habe gezögert, den ersten Schritt zu machen, mir Woche für Woche aufs neue Mut zugesprochen, wieder verzagt, mir am Ende alles aus dem Kopf schlagen wollen und doch wieder Hoffnung geschöpft, bis ich endlich all meinen Mut zusammengekratzt und sie einfach gefragt habe. Wie soll ich mein Glück beschreiben, als sie schlicht und ohne Umschweife ja gesagt hat? Und da sind wir nun. M.-A. räkelt sich. M.-A. weiß genau, wie sie sich räkeln muß, damit ihre vierzehnjährigen Brüste bestens zur Geltung kommen. Auch anderes an ihrem Körper kommt hervorragend zur Geltung, wie ich sehe. Und jetzt, so kurz vor der Erfüllung meiner Wünsche – muß sie Umstände machen und mir diese Frage stellen!
Was mich aus der Fassung bringt, sind nicht die bestens zur Geltung kommenden Brüste. Mag sein, davon schwindelt mir. Nicht das ist das Problem. Mein Blick geht zwischen M.-A.s kindlichen Händen hin und her. Das Problem ist, daß ich mich nicht entscheiden kann. Was ist das aber auch für eine dumme Unterbrechung, fast muß ich lachen, weil mich das alles an etwas erinnert, aber blöderweise auch noch an etwas anderes, nämlich daran, wie ich das erste Mal mit E. schlief, und sie mir kurz vorher die gleiche Frage gestellt hatte, nur mit anderen Farben, „Rot oder blau?“
Warum muß ich das entscheiden, kann das nicht bitte M.-A. für uns regeln? Ok, sie ist vierzehn, da ist man vielleicht ein bißchen nervös, hat Angst, etwas falsch zu machen, weiß nicht, wie es funktioniert, kann nicht so gut damit umgehen. Aber ist es so schlimm? Kann sie nicht einfach eine Packung aufreißen, das Ding herausholen und alsbald seiner Bestimmung zuführen? Ich helfe ihr auch dabei! Die süße, die freche, die forsche M.-A., die doch sonst immer weiß, was sie will, und es kann doch nicht sein, daß sie ausgerechnet jetzt pienzig wird und die Entscheidung mir überläßt!
Aber genau das tut M.-A. Regelt nichts und schweigt und ist süß und vierzehn und überläßt mir alle weiteren Entscheidungen, wobei sie geheimnisvoll lächelt, während sie die Verpackung leise zwischen den Fingern knistern läßt. Mh? Wie knistert das? Sie tut so, als lausche sie versonnen dem Geräusch nach. Knistert es vielleicht grün? Oder schwarz? Als gäbe es nichts Wichtigeres als diese Frage, legt sich ihre Stirn in spielerische Falten. Ich schweige. Mensch! Sag du doch einfach! Aber M.-A. sagt nichts. Sie räkelt sich. Die Wimpern klimpern, die Finger reiben, die Verpackung raschelt. Aufmunternd: Na los, entscheide dich, nur Mut! In den Spalt zwischen den Reihen alabasterweißer, ebenmäßger Zähne zwängt sich eine rosige Zunge. Jetzt oder nie! Ich bin nicht mehr der Jüngste, wenn das noch lange dauert, verliere ich die Lust und alles ist hin. Aber ich schüttele ratlos den Kopf. Grün oder schwarz, spielt das eine Rolle? Grün, schwarz, blaßviolett, infrarot, ist doch egal jetzt in diesem heiklen, in diesem zarten Augenblick! Nachher ist das Ding drin, dann sieht man doch eh nichts mehr davon!
„Der Geschmack ist anders“, erklärt M.-A. achselzuckend, und mir wird abwechselnd heiß und kalt. Geschmack? Aber – wäre es da nicht besser, M.-A. selbst würde …
Da stemmt M.-A. die Hände in die Hüften. „Also hören Sie mal! Wer wollte denn den Kaffee?“ Dann kneift sie die Augen zusammen und hält sich abwechselnd das eine, dann das andere Päckchen vors Gesicht. „Espresso legg … leggero oder L-Lungo forte?“ entziffert sie den Verpackungsaufdruck und stolpert dabei allerliebst über das legg … leggero, anmutig noch im Stottern. Sie spricht das gg falsch aus. Anmut im Stottern und in der fehlerhaften Phonetik.
„Oder soll ich lieber einen Tee machen, bevor wir anfangen mit Latein?“
Mit den Päckchen wedelnd, steht meine Nachhilfeschülerin in der Küchentür. Pulchra enim sunt ubera quae paululum supereminent … Sie verdreht die Augen, seufzt, lehnt sich an den Türrahmen. … et tument modice. „Nun?“, drängt sie sanft, und ich schlucke trocken und antworte, „Rot“.

Paul-Schallück-Straße

Es gibt nämlich keine Paul-Schallück-Straße mehr. Klar, der Stadtplan. Der kann viel erzählen. Stadtpläne wissen aber nichts von den Orten, die sie abbilden. Stadtpläne sind blind. Du betrachtest sie, folgst vielleicht mit dem Finger (das hat etwas Hingebungsvolles, das gefällt mir, ja, aber), mit dem Finger folgst du vielleicht dem Geschlängel eines Weges, wobei du dir vornimmst, den gehe ich demnächst, bald oder nächstes Jahr, oder wenn wieder Herbst ist, so wie früher, denkst du, und dabei stellst du dir Landschaften vor, die du aus den ins Abstrakte projizierten Angaben der Karte wieder in die Wirklichkeit zurückformst; aber so ein Herbst kommt ja doch nicht, auch kein ähnlicher, und auch der Weg, den du meinst, den die Karte aber nur abbildet, ist verschwunden; oder du pochst auf eine Stelle, eine Kreuzung vielleicht oder einen Abzweig, den du mal verpaßt hast, oder etwas, das ganz unscheinbar ist, und das dir nur dadurch wichtig wird, daß da mal jemand stand und lächelte, an einer öden Häuserecke, oder dir entgegenkam, auf dich gewartet hatte, oder einfach nur in deinen Gedanken war und dort mit dir und hineingespiegelt in die Wirrnis eines Unortes, auf den du jetzt, mühelos wiedergefunden, deinen Finger legst: Wie auf etwas, das sich orten und festhalten ließe. Als wäre dieser Ort nicht vielmehr in dir selbst als auf irgendeiner Karte zu finden. Du trägst ihn mit dir herum. Die Karte weiß nichts, sagt Paul-Schallück-Straße, sagt Hier, aber sie hat keine Ahnung.
Wer Paul Schallück war, das haben wir auch nie herausgefunden, nicht einmal versucht haben wir’s, jetzt ist es egal, denn die nach ihm benannte Straße, auch so ein Ort, gibt es ja nicht mehr, Stadtplan hin oder her, leg nur deinen Finger drauf, hier das Justizgebäude, dort der Supermarkt, dort die Eisenbahnlinie (das Quietschen nachts, wenn die Güterwagen herumgeschoben wurden, wir mochten das beide, diese nahe Ferne, die Stimmen hin und her, Geräusche wie Reise und Unterwegssein, wir lauschten dem, brauchten nichts zu reden, schmiegten uns aneinander, draußen rumpelte es manchmal, dann herrschte die Stille der weiten Welt, Bahnhöfe, Häfen, die Laternen des Aufbruchs, der immer gemeinsamer Aufbruch war, sein sollte, gewesen wäre), leg nur den Finger drauf, versuchs nur, es ist dort nichts, nur der Name ist geblieben, von Bahnhöfen und Häfen und Schalterhallen, das bedruckte Papier. Wir waren kaum je gemeinsam unterwegs. Hättest du ihn schon gefunden, nur weil da der Name steht? Später bist du noch oft dort entlanggegangen, hattest dummerweise was vergessen, mußtest in den Supermarkt, hieltest den Kopf gesenkt, um ihr nicht zu begegnen, fragtest dich jedesmal, ist sie zuhause, in unserem ehemaligen Heim, da drüben, das Fenster fast sichtbar durchs Ahornlaub, steht sie jetzt hinter diesen Spiegelungen, die ein Stück Himmel mit Wolken darin, mit Wind darin, heruntersaugen, unsichtbar ihr dunkles Haar, spielt sie Klavier, die Töne beinahe bis hierher hörbar, wäre der Wind nicht, die Schritte der Leute nicht; oder tritt sie am Ende noch gerade jetzt heraus, um dir zu begegnen und wieder nichts zu sagen zu haben, nur ohne Quietschen diesmal, ohne Schmiegen. Einmal hin, wieder zurück, diesmal ihre vermeintlichen Blicke, ihr Zögern und Ausweichen im Rücken. Ging sie vielleicht einmal hinter dir, langsam, damit eure Wege sich nicht kreuzen müßten, du sie nicht bemerken würdest, wenn du dich umdrehtest?
Und wußtest nicht, sooft du dort vorbeigingst, daß es diesen Ort ja schon längst nicht mehr gab. Glaubtest sie dort oben, dabei war sie schon längst ausgezogen. Fürchtetest und ersehntest ganz umsonst ihre Begegnung.
Du drehtest dich nicht um, nie. Sie auch nicht, das war nicht ihre Art. Auch Abschiede nicht, waren nicht ihre Art. Ebensowenig wie ein großes Wort, ein Wort, das den Mut hätte, Großes zu sagen, nein. Wegdrehen, weggehen. Jetzt ist dieser Ort verschwunden, der Ort, der uns noch kannte, und wer Paul Schallück war, ist abermals unbedeutend, hier ist nichts nach ihm benannt, wie schnell Karten veralten können, nicht? Da zeigt das Blatt noch diesen Straßennamen, dabei … Da gibt es doch nichts. Man kommt dort nirgendwo aus, man verläuft sich, macht noch ein paar Schritte, hat einen Gedanken, verheddert sich, hascht nach einer Erinnerung, die dir plötzlich, aber sie ist schon weg, und im nächsten Augenblick bist du im Kreis gelaufen und wieder dort, wo du seit einiger Zeit schon dich aufhältst. Zuhause bist du nicht, hier nicht und dort nicht, und die Paul-Schallück-Straße gibt es nicht mehr. Am Ende, beim letzten Blick aus dem Fenster dieses Ortes, den es nicht mehr gibt, waren die Blätter des Bäumchens auch gelb. Vielleicht hast du noch das Laub dieses Ahornbäumchens wehen sehen, auf einem deiner vielen Gänge in dieses Abseits jedes möglichen Raums, hinter der Häuserecke hervor, Blätter, die aus einer imaginären Richtung herausfallen, in den irrealen Vektor des Lichts geraten, wo sie aufblitzen, Blätter, deren Wirbel vom Schatten verschluckt werden, über den Boden rascheln, still sind. Immer mehr Blätter, die vor deinen Füßen liegenbleiben.
Dieser Ort ist mehr als er selbst, und darum so unzugänglich, daß es ihn nicht gibt, unaufholbar. Gleich einer Karte zeigt er Namen und Bilder, eine Täuschung, steht er an der Kreuzung potentieller Vielfacher von ihm selbst. Unsortierbar und unzerlegbar die Folien, die über ihm und über einander liegen, aus deren höherdimensionaler Interferenz etwas entsteht und immer weiter wirkt, das für immer einen Raum im Außerhalb von allem einnimmt. Indem er über sich selbst hinausweist, bleibt der Ort unerschöpflich. Eine Ahnung zieht dich immer wieder hier hin, als könntest du dich in diese Dimensionen auffächern und darin herumgehen, aber selbst wenn … Was würdest du sehen, was doch immer nur im Sehen verhaftet bliebe?
Heute warst du wieder im Park mit den Photonegativen. Wie dunkel ihre Stirn leuchtete. Wie hell die Augen, als könnten sie, solche Augen, als einzige sehen, den Ort, wie und wo er wirklich ist oder war oder sein wird.

Auf dem Kalender, du warst

Auf dem Kalender du warst
voller Farben man mußte umzukringeln
gehabt haben, anzuworten sich und einander
der Abend brach sich an den Gladiolen, einst war
jetzt auf dem Kalender.
Du verschwandest als
die Straßenbahn noch zum alten Bahnhof fuhr,
man das Brötchen nach Pfennigen maß.
Vorwärts, rückwärts die Zahl ergab
Sinne zuviel. Woran es fehlte, war Sinnloses,
so ein Gekritzel mit Stiften, Zehen
oder Fühlern, waren Buchstaben auf Stein wie
von der Wimper gemalt, waren
Spuren, in Borke gebrannt, Fleckzeichen aus
Spucke so leicht nachzulesen wenn
man den Blick der Libelle einnahm,
eh es die Sonne wegbrannte. Und Singen im Dunkeln.
Wann sie die Straßenbahn umgeleitet, die neuen
Münzen geprägt, die Fabrik abgerissen, den
Pflaumenbaum gefällt haben, der Kalender weiß es nicht mehr.
Was aber plötzlich fehlte:
Schnecken über Warzen laufenlassen,
Weidenflöten schnitzen, Limoblubbern.
Sandgeriesel, Förmchenformen. Strand der aufbricht, wo
du den Bauch vorwölbst, so was, ein Erdbeben, riefst du,
und deine Zehen kamen herausgewackelt
und hast später dann gesungen im Dunkel, Fuß an Fuß
Krümeliges zwischen zwanzig Zehen, und die Haut
satt vom Himmel, den hatte sie ausgetrunken,
der Abend brach sich in deinem Nabel
und da hat das Dunkel gesungen
mit deinen Lippen, gezwitschert vielleicht
war’s auch die Amsel, hielt mich
der ferne Mond mit deinen erkühlten Händen
und was die Tausendfüßler mir mit deinen Fingern,
kein Kringel sagt’s dem Kalender, kein Käferblick hebt sowas auf.

Rheinbrücke

Und ich will aber, daß du auf mich aufpaßt, trotzdem, hat sie einmal geschrieben.
Die Möwen auf dem Geländer der Rheinbrücke sind alle in der gleichen Richtung gesessen, die Schnabelblicke wie die Zuschauer in einem Theater auf den vorbeifließenden Verkehr gerichtet, in einer langen Reihe, dichtandicht, die Schnäbel zur Straße, weg vom Wasser. Es war Winter, als sie so dasaßen, in einer Reihe. Flügel an Flügel. Manchmal bauschte sich Gefieder, wenn eine Bö hineingriff, ansonsten saßen sie alle still da, einvernehmlich nebeneinander und ganz still. Amüsiert die der Stau, habe ich mich gefragt, die Verkeilung von Bus, Straßenbahn und PKW, das fröstelnde Flitzen der Radfahrer?
Das müßte ich ihr schreiben, habe ich gedacht, das müßte ich E. erzählen, das würde ihr gefallen. Wie sie da sitzen, aufgereiht auf dem Geländer, alle die Schnäbel in eine Richtung, du hättest gelacht, nicht?
Ich krallte die Hände in die Lehne des Sitzes, gab das Fokussieren auf, und während ich in die Glitzersterne überm Wasser flog, habe ich gedacht, wie traurig Flüsse sich anfühlen können.

Abermals Traum von E.

Beim Erwachen der Regen, aus den Tiefen der Zeit aufrauschend, die Tücher der Helligkeit, die traurigen Tücher.

Ein Traum von E. Zuerst bei ihr in einer merkwürdigen Kellerwohnung. Wir sind uns wieder näher gekommen, trotzdem bleibt sie (Sinnbild unserer ganzen tatsächlich stattgehabten Beziehung) fremd, geheimnisvoll, unergründlich-unzugänglich oder sprunghaft unvorhersehbar, beginnt plötzlich Vorwärtsschwünge an einer niedrigen Reckstange zu üben (ihr schwarzes Haar fällt ihr vornüber). Später bin ich allein in der Wohnung, nackt im Bett, da kommt jemand herein, und ich habe panische Angst, es könne ihr Freund M. sein. Ich bedecke meine Köpermitte hastig mit der Decke und hersche den anderen an, er solle bitte gehen. Er ist einer von E.s Studenten, der etwas mit ihr besprechen will und durchaus keine Anstalten macht, zu gehen. Dann kommt noch jemand, wieder die Angst vor M., aber wieder ein anderer.

Es geht immer wieder darum, ob wir oder nicht, aber was genau? Miteinander schlafen? Uns wieder zusammentun?, Eine Daueraffäre habe? Alles zusammen. Ich umarme sie. Ich beruhige sie. Ich bin fern von ihr, sehe sie auf einem Poster, sie hat ganz kurze blonde Haare, ein rosafarbenes weites T-Shirt, eine Halskette. Ich bin fern von ihr, hoffnungsvoll, quälend-hoffnungsvoll fern.

Schließlich will sie mich spontan in den Mund nehmen, aber bevor sie sich noch richtig über mich gebeugt hat, glänzt schon ein Samentropfen auf ihrem Kinn, und dann werden es immer mehr, obwohl ich noch gar nicht gekommen bin, Schlieren, die ihr auch störend die Augen verkleben, und die ich, immer besorgt, es könne ihr gleich zuviel des guten sein, mit einem Taschentuch wegzuwischen versuche, wobei ich sie nur verteile, so daß sie fortfährt, ihre Augen zu reiben.

Beim Erwachen der Regen. Die traurigen Tücher. Das träge, aus den Tiefen der Zeit aufsteigende und in dieselben Tiefen zurückfallende Prasseln, Pladdern, Tropfen. Das Tropfen.

Solstitium (Consecutio temporum)

Das Gewicht der Schmerzlosigkeit, des Gewicht der Leere.

Als wäre die Jahre danach alles, was uns einmal verbunden hatte, nur mehr in Schmerz ausdrückbar gewesen, fühle ich nun die vielleicht schönste Zeit meines Lebens (ganz sicher sind wir nicht; es könnte auch die zweitschönste sein) zu einem Nichts verblaßt. Ohne den Schmerz hat das alles keine Geltung, war nur als Nachleiden noch gültig, nur so lange, nur vorläufig. Zuerst sehnte ich mich nach E., jetzt sehne ich mich nach dem Schmerz. Eine Zeit nach aller Zeit, wo?, nirgends. So verliert man selbst den Verlust noch, die gelebte Zeit. So verschwindet das Leben hinter einem, schließt sich, ist fort, hat es bereits nie gegeben.

Selbst ihr Name nicht, gilt nicht mehr. Wenn ich sie denke, nunmehr unter dem Gewicht des Schmerzmangels, denke ich sie nur noch als Bild, als Haar, als Mund, als Sprache, als Klang, als Flöten, als Tierlaut. So wie ich neulich zusammenzuckte, abends am Südbahnhof; sie in der Tiefe der gelben Laternen zu sehen meinte; ohne Sprache dachte ich sie; das Aufzucken im Innern namenlos, wortlos das Erkennen.

Die Schwierigkeit besteht darin, daß ich ja nicht mehr weiß, wen ich da eigentlich geliebt haben soll, noch viel weniger, wer das ist, die mir nach der Liebe den Schmerz eingab. Ich kann mich ja kaum noch erinnern; was einen ganz neuen Schmerz bedeutet, Schmerz über den Verlust eines Schmerzes, einen Schreck wie beim Sturz, wenn das letzte haschende, panische Zucken nur Luft, Leere, haltlosen Schwung zu greifen bekommt. Kein Tempus ist hier richtig, ich habe E. geliebt und ich liebe E. sind gleichermaßen zu widerlegen und zu bekräftigen. Um diese Geschichte zu formulieren, jenseits jeder Chronologie nachzubuchstabieren, bedürfte es einer völlig neuen Grammatik, einer Sprache, die Erinnerungen besser abbilden, ihre Lebendigkeit und Bedeutung ebenso wie ihr Verblassen, ebenso wie ihren weitausfallenden Schattenwurf besser umreißen könnte.

Ich versuche, es zu finden, finde keins: ein Tempus, das irgendwie von jener vergangenen und zugleich unvergänglichen Zeit handeln würde, ein Tempus, das die Kraft hätte, sich auf dieses Niemandsland von erinnertem Leben und verlebter Erinnerung zu beziehen, jenes Erinnerungsraums, in dem ich absurde Römische Dichter lese und morgens die Kaffeetasse mit kaum vernehmbarem Hallen aufs Klavier absetze, hinausblinzele in das Quietschen der Güterzüge, während du noch schläfst, das Gesicht in den Kissen, Strudel von Haar darüber, und dein Name noch E. ist.

Greinstraße (und weiter …)

das himmelsgrau nistet in den baumkronen, vertreibt die vögel, läuft stämme, treppen, schächte hinauf, lärmt, pocht, heult, drückt sich durch die poren des glases, legt sich als finger und flossen über den tisch, wo es das papier zu klebriger hieroglyphenasche zerstäubt. silbern stellen sich die unterseiten der ahornblätter auf, verwandeln sich in finger, klauen, ohrringe, sturmlinien, zähne, deren licht aus dem inneren kommt und als flackern über wand und boden läuft. ein erloschener laternenpfahl neigt sich den ganzen morgen lang gegen den wolkenzug. man erinnert sich, leicht, wie im schwebtraum, irgendwo steht in einem hof ein bäumchen, das jetzt kahl sein müßte, ein naßdunkles, tropfenschüttelndes gerippe, wie es beglänzt von lampen sichtbar ist aus dem fenster oben, aus dem stummen raum heraus, der einmal ein zuhause war, ein raum voller licht und photographien und bücher und zärtlicher unordnungen, allenthalben. ein heller ton klingt auf, wenn der regen gegen das geländerrohr schlägt, ein müdes ostinato, wie von einem gelangweilten kind, das seine finger auf immer dieselbe taste des klaviers drückt, wieder und wieder.

geister

es gibt geister, von denen kommt man nicht los. wahrscheinlich nie mehr.

da heißt es tragen tragen tragen, und gehen, und weitertragen. an sich selbst. an sich selbst schwer tragen. sich selbst eine last.

mit dem finger den wein auf der tischplatte malen, einen namen, einen schwanenhals, einen kiesel. dem rätsel so nahe sein wie nie, aber nie mehr so wie damals.

in der winterkälte bogen sich immer die photographien. wie sich etwas einbrennen kann: ich weiß noch genau, wie sich das bett anfühlte, der stuhl, der widerstand der tür beim öffnen und schließen, schränke, spüle, die gegenstände, die geräusche.

aufsehen vom tisch und den schwarzen pferdeschwanz wippen sehen, draußen im licht, draußen. ich bin gefaßt auf das zusammenzucken, und dennoch kommt es jedesmal unerwartet.

geister kündigen sich selten an.

wasserschildkröte

einmal erzählte mir E., wie sie in griechenland auf dem markt eine wasserschildkröte gekauft habe. es gibt in Athen ganze straßenzüge, in denen allerlei haustiere zum kauf angeboten werden, volieren mit vögeln sind da aufgereiht, käfige mit hamstern, mäusen und kaninchen, wasserschildkröten in großen eimern. so eine wasserschildkröte, ein kaum kinderhandgroßes tier, kaufte E.; bekam ein gefäß mit, ein eimerchen vielleicht, oder eine plastiktüte mit wasser, ich weiß es nicht mehr, und damit ging sie nach hause.
und da war sie nun, die wasserschildkröte, bei E. zu hause. saß in ihrem eimerchen, hatte das köpfchen halb aus dem wasser erhoben und paddelte verloren mal hierhin, mal dahin; und als sie das erzählte, da legte E. ihre stirn mitleiderregend in falten, weitete die hilflosen augen und bewegte die angewinkelten arme wie beim schwimmen, so sei die wasserschildkröte in ihrem eimerchen herumgeschwommen, sagte sie, „das war so traurig, wie die wasserschildkröte allein in ihrem eimerchen herumschwamm, das köpfchen halb aus dem wasser, – wo bin ich, was mach ich hier? –, ich hab das nicht ertragen“, sagte sie und machte noch eine hilflose schwimmbewegung.
anderntags brachte sie die schildkröte zurück zum händler. „Δεν μπορώ“, sagte, sie, „ich kann das nicht.“ der händler nahm das tier zwar zurück, das geld wollte er E. aber nicht herausgeben.
ab und an denke ich an diese wasserschildkröte und wie E. die arme anwinkelte und die stirn in falten legte, und es greift mir ans herz.

Paul-Schallück-Straße

ich stelle mir vor, daß dort die schwarzweißgeringelte tasse immer noch steht, auf dem klavier, und daß eben erst der dumpfe, saitenverstärkte hall verklungen ist, mit dem sie dort aufkam. ich stelle mir vor, daß alles so ist, wie es war, als ich ging. vielleicht mit ein wenig staub überall, mit lustig wirbelnder leichtigkeit vor den morgendlichen fensterscheiben, einem duft nach unbewohnheit, oder nach ebengegangensein; daß das licht eingefroren ist über den blüten des ahorns; daß gegenüber die menschen überm schreibtisch sitzen, weder unbeweglich noch in bewegung, gerade nur so, wie jemand still steht, den man mit einem raschen blick erfaßt und wieder fortstößt, starr, obwohl vielleicht inmitten einer fließenden bewegung.
ebenso dieses zimmer, starr inmitten von bewegung, erfüllt von tanzendem staub, behängt mit träge wippendem papier, beschriebenem, das mit einer reißzwecke angepinnt ist; stille inmitten von klang, das knarzen des futons, das hohle poltern, mit dem die tasse aufs klavier trifft, verhalten, um eine schlafende nicht zu stören. das eine wird für immer eben erst gewesen sein, das andere wird für immer noch sein. gleich. jeden moment.
dieser raum hat sich abgelöst von allen räumen, die ich nun bewohne oder nicht bewohne. nur mehr zugänglich der vorstellung, verharrt er nun ewig in einem augenblick, kurz bevor jemand fragt, soll ich dir einen kaffee machen? und dennoch liegt staub über den noch fußwarmen sportschuhen am fenster, das handtuch ist noch feucht, die stretchhose zerknüllt unter dem zerschabten lederrucksack, der sich nicht mehr schließen ließ. ein sonnenstrahl liegt quer über einem mit georgischen schriftzeichen bekritzelten blatt papier, das nicht mehr vergilben wird. am klavier biegen sich die photographien. und werden sich immer biegen, die farben dazu verdammt, immer frisch zu bleiben, die gesichter immer strahlend. hier kann es nicht nacht werden und nie richtig tag; es herrscht ein ewiger morgen, mit dem immer im selben winkel verharrenden licht, dem staub, der tasse, in der noch der duft des kaffees ruht, eingefangen zwischen feuchter wärme und eintrocknung, und ein faden flüssigkeit spannt sich über die keramik, schwarz und weiß geringelt.

traum

wieder geträumt, aus blinden räumen plötzlich hervorgetreten, vom wein entblößt, vielleicht: wieder sie und doch gleichsam verwandelt, eine neue frisur, kurzhaar und frech wie ein erstarrter sturm auf dem kopf, ich treffe sie mit ihm und will ihnen ausweichen, aber der raum wird zu eng, enger als berechnet, ich muß einen sprung machen, und sie merken, ich hab sie bemerkt. ihm weich ich aus, er bleibt in der nähe, aber mischt sich nicht ein. gegen sie aber bin ich auf eine weise kühl, die mich selbst schmerzt, aber es ist, als sei ich nicht ich selbst, als spräche eine andere gewalt in mir, ich kann nicht anders als rüde sein, abweisend, ablehnend. sie ist neutral. höflich? nein, einfach nur neutral. ich will ihr kein zeichen der zurückweisung geben, ich will ihr zeigen, daß sie so viel für mich bedeutet, es ist lebenswichtig in diesem augenblick, aber es geht nicht, ich bleibe eiskalt. irgendwann fehlt sie, ich stehe an ein mäuerchen bei einem aufzug gelehnt, ich denke, das wollte ich nicht, und der mund verzieht sich mir zum stillen weinen.

Zeitzeichen

in den tiefen fältelungen einer lang nicht getragenen jacke: finde ich heute morgen unter vielen zetteln, leihquittungen der bibliothek im schumannhaus (mozart orgelwerke, vivaldi concerti grossi, widor orgelwerke), kassenzetteln von edeka (milch, pepperoni mild, hefe, mehl, wein) auch die quittung. café ehrenstraße. 02.01.2002. zweitausendzwei. ich muß nicht lang überlegen, ich gehe ja nie in cafés.
um mich ein bißchen selten zu machen, hatte ich das institut gemieden und die mail an o. von einem internetcafé aus geschrieben. bis zur verabredung hatte ich nun noch zwei, drei stunden zeit, die ich nicht wußte, wie füllen. was zu denken war, war alles bis an die grenze der angst gedacht, was zu hoffen war, gehofft, nun ging das bangen los, wohin mit all dem in den drei stunden, bis ich das jüngste vom tag zuvor (orgelflimmern im dom, seil ohne bahn, frühstück, dann die blaue kälte über den schnurgeraden wegen im königsforst, der mann mit dem opi-parfum, die getrennt frierenden handpaare) endlich o. würde erzählen können?
also ein café, ein beliebiges, und ich gehe ja doch nie in cafés, also egal. zum zweiten oder dritten mal in meinem leben mit der neuen währung zahlen. zuckerkrümel zählen. passanten beobachten. bang sein. hoffen. irgendwie ging es vorbei. las ich was? schrieb ich was? ich weiß nicht mehr wie, nicht einmal an das unangenehme, das zähe, wie es doch gewesen sein mußte, erinnere ich mich. die stunde kam, die stunde ging, ich zahlte in der neuen währung und ging hinüber zum neumarkt. damals fuhr die linie 16 noch nach mühlheim.

Aufarbeitung (6): Nicht mehr da

Sie, meine Liebe, verliebt, andernwärts, andernaugs. Das trifft mich ganz tief drinnen, wo es wahnsinnig schmerzt, an einem Ort, vergraben in mir, wo jede Vernunft fehlt und fehlgeht. Schmerz, übelkeitstiftender Schmerz.

Sie wird nicht mehr da sein. Sie, die ich anrufe, immer wenn es schlimm ist und ich was zu tragen und eine Trauer hab. Zusammen gehören wir eigentlich schon seit längerem nicht mehr; aber eigentlich, in meiner Vorstellung, waren wir es doch die ganze Zeit, in Keuschheit beisammen und füreinander und versprochen einander. Ja. Einander.

Sie, meine Liebe, verliebt, andernwärts, andernaugs –

Aufarbeitung (5): Wildrosen, Mahler

Erwacht ruckartig aus schütterstem Schlafe, emporgezuckt und gewuchtet in schwärzestem Schrecken: Es ist wahr. Esistwahresistwahresistwahr. Herzgehämmer, Atemlosatem, einen Moment Schweben, dann Sturz in Übelkeit, der Magen verknotet zu hartem Dingsda. Die Zeit: Nichtvornichtzurück. Elendewig.

Sichhochkrallen, emporknistern, die Finger in die Luft geschlagen, den Fuß überm Licht. Wie soll das, wie soll das nur gehen, weiter auch noch, weiter und weiter, wie nur?

Später: schreiben. Das Wunder stellt sich auch diesmal wieder ein. Es hilft.

Noch später Gustav Mahler. Das Lied von der Erde. Der Einsame im Herbst. Im Frühling, haha, es ist Frühling, wer jetzt kein Haus hat, stimmt alles nicht, ist alles verschoben und falsch.

Gedanken an meine Großmutter, deren eigenes Leid ich jetzt gerade nicht zu teilen, nicht zu umgreifen vermag, verstrickt wie ich bin ins Selbst. Wann duften die wilden Rosen auf Sylt, habe ich sie gefragt.

Den ganzen Sommer über, antwortete sie.

Aufarbeitung (4): Der Andere

„Ich hab halt seit ein paar Wochen gedacht, wir könnten … einander wieder näher kommen.“

„Oh … aber nein … aber nein…“

Faustworte in Bittermagengrube.

Ich war im Grunde, stelle ich rückblickend fest, überzeugt: Wir gehören eigentlich, komme was wolle, zusammen, und alles ist nur schwierig, aber nicht endgültig, zu Ende schon gar nicht. Ich stelle fest, daß ich die ganze Zeit im Grunde nicht geglaubt habe, daß es vorbei sei. Ich habe es gar nicht begriffen, und schon gar nicht das Ausmaß all dessen, was es heißt, wir sind nicht mehr zusammen. Nämlich, daß das bedeutet, wir gehen jetzt ein jeder unserer Wege, getrennter Wege. Nämlich, daß das bedeutet: Sie und er, wer auch immer es ist, haben ein Leben zusammen. Er, nicht ich. Das ist unvorstellbar.

Eifersucht? Nein, das hat damit nichts zu tun. Der Schmerz ist ein Verlustschmerz und kommt aus dem glasharten Bewußtsein, daß sie nun fort ist. Aus-meinem-Leben-entfernt ist. Daß uns keinerlei Ausschließlichkeit mehr unter sich aufnimmt und die Welt draußen sein läßt. Ich bin nun bloß noch Welt und draußen. Und drinnen, irgendwo, in irgendeinem warmen Raume, der diese Welt ausschließt und Erinnern und Wärme und Geborgenheit schafft, da ist sie – und das fremde Herz, mit dem sie dieses Drinnen nun teilen will.

Alleinsein heißt: Draußen sein, und von draußen in einen verwehrten Raum sehen, wo man selbst einmal war.

Aufarbeitung (3)

Alteram Venerem tecum habere volebam, novam Venerem et quae nos renovare posset. Alteram Venerem volebam tecum, non nullam. Pristinam ferocitatem corporis animique, qua olim iungebamur, redinvenire volui.

Nunc autem cor tuum vagatum est longe et vidit quem amare vult. Meum ipsius cor quoque vagabitur per planities et silvas et montes; at videbit amabitque nullam.

Aufarbeitung (2)

Diese Sehnsucht und Gier wird doch wieder nur dazu führen, daß ich nicht wähle, sondern daß es die erstbeste wird. Wie schon E. die erstbeste gewesen ist – um sich dann auch als die erstrichtigste zu erweisen, bis auf jene klitzekleine wichtigste Kleinigkeit, manche sagen auch: Nebensache, der Welt.

Wenn auch dies gestimmt hätte und wir darin überein – wo wäre ich dann jetzt. Noch zermalmter, als ich es so schon bin.

Aufarbeitung (1)

Ich gewöhne mich. Ich wage, mich ohne sie, sie ohne mich zu denken. Das geht schon ganz gut. Wieder einmal bemerke ich meine starken und schnellwirkenden Selbstheilungskräfte. Dennoch liegt mir der drohende Tag im Magen, an dem E. mehr nicht nur verliebt, sondern auch zusammen sein wird, mit dem Großbuchstaben-Ihm. Dem Andern eben, der nicht mehr ich bin.

Ich komme leichter über alles hinweg, wenn ich zu denken wage: Auch du hattest deine Zweifel. Auch ein Teil von dir wollte nicht mehr. Auch du gucktest wieder hin und vergucktest dich. Auch du wolltest dich schon trennen, oder sahst das als einzigen Ausweg. Freilich kann auch ein Trennungswunsch ein falscher Wunsch sein, der schadet oder blindlings wütet — ohne zu begreifen. Aber er war da, der Wunsch, in Kauf nehmend.