Öööööööö!

Hööööööööööö!
Üüüö!
Hhhhhöü, höü. höööö!
Ü, ü.
Alles, was ich von hinter der Scheibe, blickauf aus dem Souterrain verstehe, sind gerundete Vokale. Die werfen sie sich zu wie Sportler im Wettkampf. Es ist nicht zu sagen, ob sie, hüo, hüo! ein Team bilden oder gegeneinander spielen, Üüüüüüüüüüüü! Öh, öhööhhöö! Zwischendrin klettern sie auch auf dem Gerüst herum, dann geht es öööööööhü! nach oben und aus einer Höhe, die mein Kopf im Nacken nicht mehr zuläßt, schallt es, etwas hohl zwischen den Wänden hin und her echoend, zurück, uuuuuuuuö!
Mal lauter, mal leise, mal fast ein rundvokalisches Gemurmel, murmumühür. Dann wieder klingt es, als müßten sie sich ÖÖÖÖÖÖääärrr! auf die Brust trommeln. Wer die Vokale mit dem größten Öffnungsgrad hinkriegt, darf vielleicht ein Weibchen decken, öh, öh, öh!
Oder ist es eine besondere, den schwierigen akustischen Bedingungen einer Baustelle angepaßte Phonation? Lassen sich Informationen so besser über Bauteile, -schluchten und -höhen hinweg übermitteln? Eine Art Pfeif- oder Trommelsprache im Land der Baustellen-Guanchen? Ai, aihaaai, macht jetzt einer, und ein anderer steht dabei und schüttelt den Kopf. Ein anderer Dialekt, ein Sprachfehler, oder einfach noch ungeübt? Öi, öhööööi, korrigiert einer, und von oben schallt es: Öh! Öhööööö!
Konsonanten kommen fast gar nicht vor. Allenfalls ein gerundetes Rrrrrrrrrö. Plosive scheinen gar nicht in Gebrauch zu sein. Vielleicht tragen solche Laute schlecht, weil sie von Pfeilern und Säulen und Streben abprallen und unterwegs akustisch zersplittern. Wer soll da noch eine Botschaft heraushören? Wichtig ist sicher der Tonfall, das Auf und Ab oder oft auch das Verharren auf einem hohen Ton. Manchmal hohl und brünstig, manchmal eher scharf und gepreßt (wie unter erbärmlicher Anstrengung bei Verstopfung), läßt es an die Zurufe und Pfiffe, das Johlen und Heulen in der Männerumkleide und -dusche eines Badehauses denken. Höööööööö! Höh, hö! Errrrrg!
Sogar das Gelächter ist gerundet, von männlichen rrrrrrrs und chchchchs durchsetzt, hör, hör, hör, hüchch, hüüühüühüch!
Und ein paar Minuten später pfeifen sie wirklich, und das Pfeifen folgt der selben Intonationskurve nach, die eben noch die gerundeten Vorderzungenvokale beschrieben haben. Vielleicht, denke ich mir, hängt das mit den Entfernungen zusammen. Auf ein paar Schritt: Üüüüö. Auf zehn oder mehr Meter: Pfiffe.
Wenn das nichts mehr hilft, müssen sie eben wieder zum Zeigen und Fuchteln, zum vokallosen Weisen und unrunden Winken übergehen.

Bauradio

Hammerschläge, Kiesgeprassel, Motorengeräusche, in Ordnung, ich sehe ein, es geht nicht anders, wenn man ein Haus bauen will (und sei es auch nur Wohncontainer). Aber bei der Musik hört es auf, Radio muß nicht sein, Eins Live ist vermeidbarer Lärm. Man kann auch ohne zusätzliche Radiobeschallung hämmern und sägen. Schlimm genug, daß das Bauen nicht geräuschlos geht — aber muß man es mit Vorsatz noch schlimmer machen? Ich meine, die Baufritzen machen es ja sogar an, damit man was hört! Dabei vergessen sie, daß sie nicht die einzigen sind, die es hören: Lärm ist auf eine ziemlich fiese Art demokratisch.

Was ich nicht begreife ist dann folgendes. Ich habe jetzt, um das Geplärre nicht hören zu müssen, mich selbst mit Musik versorgt. Es ist eine Auswahl meiner Lieblingsstücke, und doch, wie soll ich sagen, hab ich es nach zwei Stunden satt. Nicht, weil es immer dieselben Stücke sind, bis jetzt hat sich noch gar nichts wiederholt, nein, ich bin einfach müde, ja, erschöpft, die Töne fallen mir zur Last, ich bin ganz einfach voll, habe mich sattgehört. Nicht noch was Süßes? Nein! Und jetzt frage ich mich: Die Bauarbeiter da draußen, wie halten die das Gedudel acht Stunden aus? Irgendwann muß doch auch mal Schluß sein. Oder lernt man das auf dem Bau? So wie man lernt, sich nicht auf den Daumen zu hauen? Aber wenn man das erst lernen muß – wär’s nicht besser, einfach kein Radio zu hören?
“Ach, wir hören da gar nicht mehr hin.”
“Warum machen Sie’s dann nicht aus?”

Warum machen sie’s überhaupt an?

Greinstraße, Baustelle

Nur noch ein paar Tage, dann ist es aus mit dem Blick auf die Baumkronen. Schon verstellt ein Gerüst diesen grünwogenden Ernst, trampeln Arbeiter in den Laubhöhlen herum, wächst vor meinem Fenster der Plan zur Übermalung des Himmels: Ein Containergebäude, so hat es die Verwaltung beschlossen, soll dort entstehen und den Mitarbeitern eines anderen Insituts während einer Baumaßnahme als Notunterbringung dienen.
Jahre haben aber die Kronen ihren Schatten auf das Rasenstück geworfen, mir an Winternachmittagen den Himmel in Nester und Parzellen geteilt, Frühling für Frühling die unscheinbaren Schönheiten ihrer vor dem Blattaustrieb schwellenden Blütenknospen wie schlagende Glöckchen an den Himmel gesteckt, und im Herbst konnte man zusehen, wie die Winde langsam, jeden Tag größere Lücken reißend, das mürbe Laub aus den Kronen blies.
Selbst die Fußgänger, die dann, die Hand am Hut gegen den Sturm, zu den Parkülätzen streben, verfallen in solchen Schatten, überdacht von den ausladenden Zweigen des Silberahorns, in einen anderen, in einen besonnenen Schritt, obwohl die Bewegung, mit der sie sich eins der brennendroten Blätter vom Mantel wischten, gedankenlos und mürrisch ist. Der Raum unter einem Baum ist immer ein friedvollerer Raum. Die Übermacht des Himmelsgewölbes, dessen Vollkommenheit manchmal wie die Drohung eines jederzeit fälligen Schlags überm Scheitel hängt, ist zerstreut und im sorgsamen Walten des Laubs aufgehoben. Darunter und darin läßt es sich wohnen. Seine Wurzeln aber drücken selbst Betonflächen empor und lassen den Sand zwischen Pflastersteinen davonrieseln. Es ist nicht alles machbar. Auch die frischweiße Fläche, die jetzt als Fundament für die erwarteten Container sich dort erstreckt, wo vor ein paar Wochen noch eine Wiese lag, könnte sehr leicht diesen Druck aus dem feuchten Inneren der Erde an sich zu spüren bekommen.
Schon zwängt sich der Raum zwischen den Scheiben und der noch imaginären Wand unruhig in seinem zukünftigen Spalt. Gerüstrohre heulen wie Orgelpfeifen. Die Männer zeigen und messen und zeigen noch mehr. Vom künstlichen Stein kräuselt sich eine Staubfahne empor. Der Silberahorn wedelt mit Laub und Licht, bereits in einen Bilderrahmen aus Gerüsten gespannt. Bald wird nichts weiter zu sehen sein, als die Wand, an der jeder müde hinausgependelte Blick abprallen wird. Der Horizont läßt Wolkenvögel losfliegen: Auch sie wird man bald nicht mehr sehen, mit etwas Glück noch ihren Schatten, wie er zu den anderen Schatten im Spalt zwischen Mauer und Fenster hereingleitet. Das Licht auf dem beton ist stumpf geworden wie Kreide. Über den Arbeiterschultern spannen sich die Hemden. Im vorauseilenden Licht der Leuchstoffröhren sitzt man jetzt schon wie beengt.

Greinstraße

Der Himmel ist von so tiefem Blau, daß man ihm seine Farbe nicht glaubt.
Vorhänge, die am Morgen von Bäumen eingefaßt wie ein Augenfilm über den Bachtälern lagen, haben sich fortgehoben, Vögel eine Minute Irrsinn in den Schnäbeln herangetragen und aufgezogen, eine Kulisse für Erdhügel und Baugruben, eine Verschwörung der Farben, die sich erheben wie beschwipste Lanzenreiter.
Die Bauleute zeigen nichts mehr.
Sie sitzen und rauchen. Sie sehen nicht müde aus. Sie haben die Bereitschaft mißtrauischer Tiere. Sie lauern und rauchen. Das Licht unter dem künstlichen Himmel ist so hell, daß es den Rauch wegbrennt. Geduckt stehen die Betonmauern in ihren Schatten herum, sind sich ihrer selbst nicht mehr sicher, sehen aus, als schmerzte sie die Sonne, als gäben sie nach unter der korrosiven Phalanx des Lichts, das alles zu glatten Flächen hobelt.
Es gibt keine Erdbeeren. Ob das mit dem Wüstenklima dieses Falschfarbenvormittags zusammenhängt, ich weiß es nicht. Wer kann sagen, was für eine Farbe sich die Erbeeren hätten einfallen lassen. Ich bemerke an mir, wie mich Unterbrechungen kleinster Routinen aus der Bahn werfen. Die Routine des Wetters etwa: So ein unverhofft blauer Sommermorgen nach Tagen trüben Regens, das bringt mich total aus der Fassung. Es setzt mich unter Druck. Es will was von mir. Daß ich den Koffer packe. Daß ich das erstbeste Mädchen am Bahnsteig anquatsche. Daß ich eine neue Vogelart entdecke. Daß ich ein Attentat verübe, bevor noch ein größeres Unglück geschieht. Daß ich mir eine Tonsur schneide und unter die Pilger gehe. Daß ich dem Licht den Morgen erkläre. Ich müßte mich verwandeln, aber wie? Ich weiß es doch auch nicht. Laß mich in Ruhe.
Den Kopf im Nacken könnte man einen Drachen sehen, Flugzeuge mit Werbefahnen, Spiegelungen unsichtbarer Schwimmbecken. Wie das alles vom Himmel aufgesogen wird, gleichgültig, und verschwindet. Es gibt kein Entkommen. Es gibt nichts als Zukunft an einem solchen Tag, und da, nein, da möchte man wirklich nicht hin.

Greinstraße: auf der Baustelle

Die Männer im Schattenschwenk der Baggerschaufel: ständig halten sie Arm und Finger ausgestreckt, kennt das Kinn Richtungen, wächst die Nase zum Expertenriecher. Die freie Hand auf der Hüfte, Fluppe im Mundwinkel, die Schirmmütze in der Stirn, stemmen sie die Füße in den Arbeitssschuhen auf die frisch aufgeworfene Erde, halten den Arm vor sich und zeigen, zeigen und kneifen die Augen zusammen und lassen Rauch aus ihrem Mund wehen, und folgen blickweise ihrem eigenen Finger den imaginären Pfad entlang, weisen und deuten und wissen bescheid, mal lanzenstarr, mal in einer aus dem mehrmals angewinkelten und wieder gestreckten Ellenbogen gestalteten Dynamik und Lautstärke, fassen immer irgendetwas ins Auge und sondern es mittels einer gedachten Verlängerung von Hand und Finger, in einer Art von semiotischem Energiestrahl aus dem Einerlei von Hügel, Haufen, Zaun und Grube heraus, machen es sich deutend zu eigen und zwingen die anderen, es ihnen zuzugestehen, ihr Eigentum, auf das sie kraft ihrer Zeigegewalt ein Anrecht erworben haben. Kein Gegenstand, der ihrem raffenden Blick gewachsen wäre. Wer stärker, besser, intensiver zu zeigen versteht, so scheint es, dem wird bald alles gehören, dem wird alles zu Willen sein. In der Morgendämmerung schweben ihre Gesichter wie behelmte Masken von Kriegsgöttern. Da geht’s lang! Es ist, als erfänden sie ganz neue Richtungen, wohin noch niemand je gezeigt hat. Sie stehen in einem Wettstreit der Richtungen. Wer eine neue Richtung findet, der darf ihr seinen Namen geben. So stehen sie, so marschieren sie, den Kopf voller Hoffnungen und Richtungen, so stapfen sie herum, gereckten Armes, pfeilscharfen Fingers, und zeigen, stoßen und zeigen. Überbieten einander mit Richtungen und Zielen, Objekten. Später sammeln sie die gezeigten Richtungen ein, nehmen sie als Trophäen mit nach Hause und bieten sie angstvoll ihren Frauen an. Mit diesen Erwartungen im Herzen zeigen und zeigen sie, inbrünstig, als sei dies, als sei das Zeigen ihre eigentliche, ihre wahrhaftigste Berufung, und immer ein bißchen verzweifelt angesichts einer unendlichen Aufgabe und vor einem nie ganz erfüllbaren Eid.

Moebius

Der Himmel, der dich anblickt, mit seinen Zähnen aus Laternenpfahl und Müllcontainern. Die Pappeln unternehmen einen Reformversuch, der von den Vögeln vereitelt wird. Deine Grübeleien spiegeln sich matt im Kies. Ringsum ist alles voller Plan: Die Bikini-Models sind noch schmaler als letztes Jahr, nächstes Jahr werden sie vielleicht ganz verschwunden sein, eine Linie zwischen zwei Hälften Strand und Meer. Aber wer soll dann den Bikini tragen, grübelst du. Alles steckt voller Absichten. Postfächer schnappen nach Hochglanz. Tacker heften fleißig Lächelsalven zu Stapeln, katalogisieren die morgigen Bedürfnisse, zur schnellen Verfügung. Lichter und Schilder verfügen über deine Schritte. Überall blinkt es von Taschen, in denen der Abend fein verpackt ist. Feierabend-to-go. Über allem dreschen Helikopter auf die Wolken ein, um die Spreu vom Lichtweizen, du hast keine Ahnung. Pläne: Nur du hast keinen, schon gar nicht Wolken betreffend, ist doch die Wahl des richtigen Waschpulvers („Personalisiere dein Omo!“), ist doch die Wahl des geeigneten Vibrators (Big®, Well-Endowed® oder Maxi-Max®?), ist doch die Frage nach der Klobürste, die am besten zu dir paßt (jetzt mit scrub-o-flexTM Technologie) eine wahnsinnige Herausforderung. Die Entscheidung, Circe oder Medusa, kostet dich tausend gestaute Herzschläge. Kaum zu bemeistern: Die Ansprüche des nächsten Tages. Seine high density Flaggen. Da ist es gut, die Wolken: daß sie einfach nur sind. Und daß sie Vögel bei sich dulden, unendlich sanft.
Du suchst nach Hinweisen. Vielleicht gibt es irgendwo einen Spalt, einen Riß, den die Wurzel eines Veilchens schlug. Womöglich ist hinter der Spiegelung noch mehr. Doch wie auf die andere Seite eines Möbiusbandes gelangen? Der Horizont leidet unter Atemnot. Bleib noch ein bißchen, stürze noch nicht ein. Halt mir die Wolken fest.
Zwischen den Kapitelüberschriften, dem Auge des Fischreihers und dem Karussell der Jahreszeiger gibt es kein Entkommen.

Greinstraße

Die Schreie schleppen Männer hinter sich her, blaugrauschwarze Schleppen in öligen Overalls, lassen sie übern den Kiesweg schleifen. Die Schreie, derb und ein bißchen frech, schütteln die Männer immer wieder gründlich durch und zwingen ihnen, besonders die langgezogenen, den Kopf in den Nacken. Die Schreie haben dicke Brillen, durch die wilde Augen linsen. Die Schreie haben einen verzerrten Mund und schwarze Finger, mit denen sie auf das Gerüst vor dem Gebäude zeigen, wo ein Getrampel über Gitter und Trittstufen aus Blech an Gummisohlen festgewachsen ist, ein zitternder Schepperbaum. Man sieht nicht, wohin die männernden Schreie zeigen. Den Schreien nach ist es was Wichtiges. Leises Gurren läßt plötzlich Tauben aus den Zwitscherschwärmen herausregnen. Knattern und Dröhnen spuckt einen Traktor über den zerpflügten Rasen hin. Irgendwo rasselt etwas.
Aus dem Schaben und Scharren auf Stein und Asphalt wachsen Rechen und Schaufeln heraus, größer als die Männer der Schreie, baumhoch und verästelt, beherbergen sie Nester aus Schnaufen und Husten, deren gewundene Gerten fransig sind und zerfasert und einen drahtigen Bast absondern, der sich wie ein Röcheln in den unhörbaren Strömungen der Luft bewegt.
Die Fensterscheiben filtern nicht nur das Licht, sondern auch den Schall. Was hier ankommt, ins Souterrain hineinstreut, das hat keine meßbare Entfernung, ist weder hier noch dort, sondern gleich präsent, hat jede Qualität eines Ortes oder einer Richtung verloren und damit auch die Ordnungen von Ursache und Wirkung. Man könnte sagen, alles Geschehen von Klang und Licht in der Zeit spielt sich auf einer einzigen tiefenlosen Ebene ab, der Fläche der getönten Scheiben, durch die alles hindurchmuß, was an Information der äußeren Welt hier hereinströmt. An dieser Fläche bleibt alles haften und bildet zweidimensionale Projektionen nicht nur des vermutlich dreidimensionalen Raumes jenseits, sondern auch des vieldimensionalen Gewebes von Nacheinander, Folge, Entwicklung und Ursache, aller Verschlingungen des Zeitlichen, des Lichtvollen, des Klanges. Aus unserer Höhle betrachtet ist die Landschaft draußen ein merkwürdiges Durcheinander unzusammenhängender Klänge und Bewegungen, deren Verweise aufeinander in mehreren Richtungen Sinn ergeben.

Greinstraße

Kahl: der Himmel. Risse im Grund. Ein Taumeln im Geäst. Die Büsche sehen aus, als hätten sie sich eine Kapuze übergezogen. Zornige Vögel zerren an den Wolken, bis nach einer endlosen Zeit erst flimmernde Ränder erscheinen, die Farbloses von Farblosem abtrennen, dann Flecken und Dunstzeiger sichtbar werden, und schließlich zuckt es im Schnee von Sonnenlicht. Wie auf ein Rufen hin klappern Autotüren. Etwas rutscht, die Dächer gleißen. An den Bäumen blühen Warzen. Die Vögel sind auf und davon.

Greinstraße

Er stand seit Tagen im Schnee. Tag für Tag, Nach für Nacht. Die Füße in den Grund gestemmt, die Nase zum Licht gestreckt, bis in den Himmel hinein. So kohlschwarze Augen. So eine gelbe, krumme Nase. Erst mutlos, dann immer trauriger, hat er erst sein Reisigbündel abgeworfen, nicht mehr auf den Hut geachtet und schließlich die Arme hängengelassen. Seine Knie haben ein wenig nachgegeben, aber noch steht er aufrecht, sein Kopf, trotz des Lochs in der Wange, ist hoch erhoben. Er grinst mit einem lachenden Mund, aber seine Augen strafen diese Sorglosigkeit Lügen. Manchmal, wenn man nahe an ihm vorübergeht, hört man ihn keuchen. Er will sein Bündel aufheben, aber es gelingt ihm nicht. Sein Herz pocht. Seine Augen brennen sich in ihre Höhlen ein. Und er schwitzt. Er schwitzt trotz der eisigen Kälte, schwitzt und schillert in der zunehmenden Sonne, schwitzt sich die Knöpfe vom Wams, schwitzt Nässe aus der hohen Stirn, bis die kohligen Augen zu schwimmen beginnen. Um ihn tropft es schon von Schweiß. Oder vielleicht sind es auch Tränen, die sein Wachsgesicht von Innen zerfressen, während alles um ihn zu leuchten beginnt. Man glaubt nicht, daß er Kinder erschreckt, die Kinder aber haben sich am Anfang nur vorsichtig genähert und sind davongerannt, wenn sie seiner Rute angesichtig wurden. Eine prächtige Rute war es auch, schwarz und stachelig und steil aus ihrer Eiswurzel emporgereckt. Dann aber kam die Traurigkeit und das Licht, und jetzt liegt die Rute neben ihm im Matsch. Die Kinder beachten ihn nicht mehr. Auf seiner Stirn sammeln sich, eine helle Unruhe, die Vögel, ein Schwarm Stare. Rechts und links durchstechen Pfähle den Himmel.
Jetzt stehen die Glockenschläge Schlange unter dem bepelzten Himmel. Ein Netz dunkler Straßen gräbt sich ins Weiß, das Licht hat sich selbst vergessen, ein Reisigbündel fault im Schlamm. Als der Vogelschwarm aufflog, blieb ein Kreis aus Schnee im Grund. Dazwischen schimmert es wie von Kränzen und dunklen Sternen.
Vielleicht erinnert sein Geist sich an das Mondlicht, das auf seinen Schultern lag wie ein Panzer, tief nachts, wenn die Straße ihren Namen vergaß, drüben das Gebäude schlief und die Kohleaugen sich in den riesigen Fensterflächen spiegelten.

Greinstraße

Wenn das Licht so wie heute Nachmittag aus einer weiten Lichttiefe heraus senkrecht in die Scheiben fällt, bleibt jede Bewegung, die da draußen die Strahlen verwirbelt, aufgezeichnet, huscht als Schatten über die Schrankwand, zieht eine Spur über den Boden, hinterläßt ein seismographischen Beben an den Augenlidern. Vogelschwärme lassen ihren Schatten durch den Raum fallen, Radfahrer mit ihrem Sprühkranz der Speichen wälzen sich träge über den Teppich, während die Äste von Silberahorn und Pappel hinter allem ein leicht bewegtes Muster bilden. In die andere Richtung blickend verglühen ihre Zweige im Sonnenfeuer. Die Ferne teilt sich in Schichten auf. Zuerst die Folie zwischen drinnen und draußen, die Wand, an der sich die Geräusche dieser Stunde, Autolärm, Schritte, später vielleicht abermals Kirchenglocken, brechen und zu einem beständigen, an- und abschwellenden Rauschen ermüden, das manchmal vom Wind unterbrochen wird. Feine Ringe, Schleifen, kreise, Ovale zeigen diese Grenze an, Striche, Läufe und Flecken, die sich zu Zeichen verdichten, einander widersprechen, in Rätselhaftigkeit schweigen und wieder zu Bedeutungslosen Klecksern zerfallen. In einem Streifen weder diesseits noch jenseits, eingespiegelt in eine Zwischenfläche, sammelt sich ein erster, transparenter Schatten, der dem dichten Abriß, wie er über Schrank und Wände huscht, entlang der Fensterscheibe vorausgleitet. Dahinter, schon im Kreis des Lichts, liegt der Raum der Bewegungen, spannt sich die Baumschicht, der Astzaun, von wo die bewegten Dinge mit ihrem Abbild ins Innere hineingreifen. Und noch weiter die Linie der dritten Schicht, vorerst ein dunkler, unregelmäßiger Wall, dessen Ränder später aber, in einer halben Stunde vielleicht, zu glühen beginnen wird, wenn die Sonne beim Untergang darüber hinstreift. Diese helle Nachmittagsstunde ist eine Welt in der Welt, in die der Klang und die Bewegung dessen, was draußen sein mag, unkenntlich und verzerrt wie in einen Traum hineingreifen.

Greinstraße

In der Sonne laufen die Passanten ihren Schatten hinterher: Jemand mit der Krücke, die er aber nicht benutzt, sondern wie eine Wünschelrute vor sich über den Weg hält; eine junge Frau in schwarz und blond überholt ihn, später werden Arbeiter mit blauen Werkanzügen in die andere Richtung vorbeischlendern, Stulle in der Hand, und der Stoff der Anzüge wird in der Sonne leuchten.
Das Laub des Silberahorns ist schütter geworden, während die Pappeln schon alle Blätter verloren haben. Blickauf ist der Himmel von Gezweig gemasert. Einmal die Woche kommt ein Mann mit einem kleinen Fahrzeug, dreht Kreise über den Rasen und bläst mit erheblichem Lärm das Laub zusammen. Ich sehe ihm dabei zu und überlege, daß das Wort „Rechen“ wahrscheinlich bald aussterben wird, zusammen mit dem Gegenstand, den es bezeichnet. Einmal im Monat wird gemäht. Dem Wort „Sense“ wird es ähnlich ergehen wie dem Wort „Rechen“.
Hinter den Häuserreihen jenseits des Parkplatzes schimmert so fern der Himmel, als spiegele er den Ozean, und auch die Luft, Salz und Ozon, kommt frischweg von der See. Vögel auch, Möwen vom Rhein, zerschlitzen Licht und Himmel in pfeilschnelle Striemen.
Wichtige Herren in Krawatte lassen manchmal ihre Aktentasche mit einer lässigen Drehung des Handgelenks aufblitzen, während sie dem Kollegen etwas Wichtiges – daß es wichtig ist, sieht man an ihrem geneigten Nacken, an den hackenden Kiefermuskeln – mitteilen. Dahinter weht ein Fahrradfahrer auf einer unsichtbaren Strömung dahin.
Die Fenster dieses halben Souterrains beginnen auf dem Bodenniveau, das dem, der sich im Inneren aufhält, bis zur Brust reicht. Bis zum Kinn, wenn man am Schreibtisch sitzt. Ab und zu kommt ein Ball samt einem Knäuel Hund angerollt, und der Kies vor der Scheibe zerspritzt. Das gefällt mir. Ich zucke zusammen, ein Erschrecken, ein Blick ins lachende Hundemaul mit Ball, und man fühlt sich aufs Angenehmste daran erinnert, daß man noch lebendig ist.

wind

beim gang durch die grünanlage fiel wieder der wind auf.
durchsetzt mit möwenschreien, die eigentlich sittichschreie sind, kam er heran aus einer rufweiten ferne jenseits der häuserzeilen, ließ pappellaub silberhell umschlagen, rappelte in den zäunen, scheuchte vögel aus dem weißdorn, hieb schluchten in die wolkenberge und brachte von ganz nah das meer mit: so sturmklar und frisch, daß man in ihn hineinrufen, ihm einen abzählreim vorsagen, ein rätsel aufgeben mochte, ihn einen augenblick verhalten in der hohlen hand, daß es wie orgelpfeifen darin brausen würde, ehe man ihn wieder zum blankgefegten himmel entließ.

Greinstraße (und weiter …)

das himmelsgrau nistet in den baumkronen, vertreibt die vögel, läuft stämme, treppen, schächte hinauf, lärmt, pocht, heult, drückt sich durch die poren des glases, legt sich als finger und flossen über den tisch, wo es das papier zu klebriger hieroglyphenasche zerstäubt. silbern stellen sich die unterseiten der ahornblätter auf, verwandeln sich in finger, klauen, ohrringe, sturmlinien, zähne, deren licht aus dem inneren kommt und als flackern über wand und boden läuft. ein erloschener laternenpfahl neigt sich den ganzen morgen lang gegen den wolkenzug. man erinnert sich, leicht, wie im schwebtraum, irgendwo steht in einem hof ein bäumchen, das jetzt kahl sein müßte, ein naßdunkles, tropfenschüttelndes gerippe, wie es beglänzt von lampen sichtbar ist aus dem fenster oben, aus dem stummen raum heraus, der einmal ein zuhause war, ein raum voller licht und photographien und bücher und zärtlicher unordnungen, allenthalben. ein heller ton klingt auf, wenn der regen gegen das geländerrohr schlägt, ein müdes ostinato, wie von einem gelangweilten kind, das seine finger auf immer dieselbe taste des klaviers drückt, wieder und wieder.