Arboricidium

Der Waldsaum jenseits der Pferdeweiden ist noch eine schmale Linie, da ist es schon hörbar, dringt das Jaulen und Heulen daraus hervor wie Warnrufe kampfbereiter Tiere. Eine ganze Herde davon scheint in diesem Waldstück zu kauern.
Das Geflimmer von Warnwesten zwischen den Baumstämmen ist mittlerweile ein ebenso verhaßter Anblick geworden wie die am Waldweg aufgereihten geländegängigen Fahrzeuge mit Anhänger. Überall sieht man sie jetzt, die orange- und gelbbejackten Männer mit den Visieren und den Motorsägen, wie archaische Krieger auf Beutezug stapfen sie durch Untergehölz, die Waffe im Anschlag. Die Verheerungen, die sie anrichten, sind überall sichtbar. Kronenskelette, Stammrümpfe, Aststücke, Kleinholz liegen herum, wo noch ein paar Wochen zuvor lichte Hallen von Buchen standen, von denen im Sommer angenehmer Schatten auf den Weg fiel; der führt jetzt durch eine Wüste; der Grund zwischen den herumliegenden, auf ihre weitere Zergliederung wartenden Baumteilen ist zertreten von den Stiefeln der Sägekrieger; das Unterholz, die Krautschicht sind beseitigt und niedergetrampelt; Striemen von Raupenfahrzeugen haben sich in den Grund zwischen den noch stehenden Stämmen gewälzt, und auch die Wege sind beschädigt von Raupenketten, zermalmt, zerschlammt, unbrauchbar. Zwischen Radfurchen sammelt sich öliges Wasser. Aus den Schlammassen ragen noch grüne, abgerissene Pflanzenteile. Es ist eine Schneise der Verheerung, in der eine lange Reihe von Fahrzeugen, Anhängern, Schleppmaschinen sich aufreiht wie Fliegen über einer schwärenden Wunde. Schleifspuren. Sägemehl. Überall liegt das Rostrot von abgeschürftem Bast und abgeplatzter Borke herum.
Der bittere Geruch von frischem Holz mischt sich mit dem öligen Dunst aus Zweitaktermotoren, Das Geheul der Maschinen pflanzt sich fort in verebbende Räume des Waldes, aus denen immer neues Gekreisch wieder anschwellend zurückflutet. Die Krieger müssen einander zubrüllen, sonst verstehen sie ihr eigenes Wort nicht. Die Sägen hinterlassen klaffende Lichtungen, in die der Blick hineinstürzt wie in eine Grube. Darüber zuckt der Himmel zusammen, als schäme er sich seiner Nacktheit. Die Bäume am Rand der neuen Lichtungen scheinen frierend auf einem Bein zu balancieren, seit Jahren im Bestand stehend, fehlt ihnen das niedere Laub, das den Waldsaum natürlicherweise nach außen abschließt. Alle halbe Stunde prasselt ein Baum nieder. Was stehenbleibt am Rand des Schlachtfelds erledigt der nächste Frühjahrssturm, schon liegen die ersten Fichten quer überm Weg. Wir gut, nehmen wir die auch noch mit. Es hat etwas von Raserei.
Und es beschränkt sich nicht auf den Wald. Am Bahnhof unweit meines Zuhauses hat bis vor kurzem eine Pappel gestanden, dreißig, vierzig Meter Baum, eine Pyramidenpappel, im Sommer ein rauschendes, rieselndes, flimmerndes Fest, im Winter ein faszinierendes, fraktales Gebilde aus scheinbar wirren, eine höhere Ordnung bildenden Ästen. Alles ringsum lag unter ihrem Schatten und im Bannkreis ihres Rauschens wie unter einem gütigen Zelt. Nach jedem Sturm war der Bahnsteig von kleinen Zweigen übersät; im Frühsommer unter dem Schnee der fluffigen Samen. Im Herbst leuchtete das heruntergewehte Laub. Im Sommer fiel das dunkelgrüne Rauschen in der Säule der schlanken Krone herab und stieg als silbrige Walze wieder daran empor, ein Träumen von Klang, ein Flimmern von Licht. Wer je an einem heißen Sommertag Erholung und Schatten unter einer Pappel gesucht und gefunden hat; wer je an einem winterlichen Fluß unter den filigranen Skeletten entlaubter Pappeln spazierengegangen ist, in deren Geäst der finstere Himmel festhing; wer je an einem Badesee schläfrig ins Laub der Pappeln am Ufer geblickt hat, verzaubert vom nimmergleichen Spiel des Flimmerns (wie Sonnenglitzern auf einem Fluß) – der weiß, wovon ich rede.
Wo diese Pappel letzte Woche noch stand, ist jetzt nur noch kahler Himmel. Wie zum Ersatz erhebt sich an der Stelle ein Händie-Sendemast. Der ist früher, von der Pappel buchstäblich in den Schatten gestellt, gar nicht aufgefallen. Häuserreihen, freiliegende Vorgärten. Es wimmelt plötzlich von allen möglichen Horizontalen. Am Himmel eine klaffende Leere, Gewölk, fliehende Vögel. Der Sendemast ragt hämisch in die Lücke hinein.
Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Auf meinem Weg zur Straßenbahnhaltestelle haben sie eine Hecke herausgerissen. Stumpf und Stiel, die Erde eine einzige Schürfung. An meiner Laufstrecke liegt plötzlich ein gestern noch gebüschbestandener Wall kahl da. Überall Erde, Stümpfe, Wunden. Ich verstehe es nicht.
Und dann dieser verbissene Kahlschlag im Wald. Wald? Ein Sägewerk ist das. Ich kann mich nicht erinnern, daß das früher auch schon so praktiziert wurde. Nicht so. Nicht in dieser methodischen, generalstabsmäßigen Weise. Damit es eine handvoll Menschen ein paar Wochen im Jahr gemütlich warm haben, ist für hunderte von Wanderern, Läufern, Spaziergängern, Dendrophilen, Pilzsuchern der Wald auf Jahrzehnte verschandelt.
Gibt’s dafür eine Prämie? Wird demnächst der Vogelschutz verschärft, so daß vorher noch mal ordentlich gefällt werden muß? Ist 2014 das Jahr der Motorsäge? Ich verstehe es nicht.
Mag sein, daß die Pappel alt war und wegmußte. Pappeln leben nicht lange, ihr Holz ist nicht stabil, man möchte nicht eine plötzlich umgefallene Pappel von den Schienen räumen. Das verstehe ich. Aber alt oder nicht, wenn so ein Baum wegkommt, möchte ich weinen.
Pappeln mögen schnellwüchsig sein. Trotzdem: In meiner Lebenszeit wird dort kein solcher Baum mehr zu so einer Pracht heranwachsen wie diese schöne Pappel einer gewesen ist.

Für später, für jetzt, für alle Tage

Quibus enim nihil est in ipsis opis ad bene beateque vivendum, eis omnis aetas gravis est; qui autem omnia bona a se ipsi petunt, eis nihil malum potest videri quod naturae necessitas adferat. Quo in genere est in primis senectus, quam ut adipiscantur omnes optant, eandem accusant adeptam; tanta est stultitiae inconstantia atque perversitas. Obrepere aiunt eam citius, quam putassent. Primum quis coegit eos falsum putare? Qui enim citius adulescentiae senectus quam pueritiae adulescentia obrepit? Deinde qui minus gravis esset eis senectus, si octingentesimum annum agerent quam si octogesimum? Praeterita enim aetas quamvis longa cum effluxisset, nulla consolatio permulcere posset stultam senectutem.

Denn die nichts an Reichtum in sich finden, der ihnen zu einem guten Leben verhelfen würde, denen fällt jedes Lebensalter schwer. Die aber jedes Gut in sich selbst suchen, denen kann nichts als Übel erscheinen, was die Notwendigkeit der Natur mit sich bringt. Unter diesen Dingen ist besonders das Alter zu nennen: Alle wollen es erreichen und verfluchen es doch, wenn sie’s erreicht haben. So groß ist die Inkonsequenz und Verdrehtheit der Dummen. Dann sagt man, das Alter sei schneller herangeschlichen als geglaubt. Darauf ist erstens zu sagen: Wer hat denn diese Leute gezwungen, etwas Falsches zu glauben? Denn wie könnte Wie sollte sich denn das Greisenalter schneller ans Erwachsenenalter anschleichen als das Erwachsenenalter an die Kindheit? Und zweitens: Wie könnte sollte einem nach achthundert Jahren das Greisenalter weniger beschwerlich sein als nach achzig? Denn Ganz gleich wie lang die Lebensspanne auch wäre – einmal verflossen, könnte sie ja dem Dummen im Alter doch zu keinerlei Trost gereichen.

(Cicero, Cato Maior De Senectute, 4)

Am Fenster

Es wimmelt von kleinen Toden im Garten.
Schillern von Insektenflügeln. Blindheit von Kröten. Spalten im Kalk, darin Schicht um Jahresschicht von Schatten. Auf dem Mäuerchen über den geöffneten Klingen einer Gartenschere ein gelbes Blatt. Kirsche oder Pflaume. Seine Adern in der Sonne leuchtend. Drüben die Terrasse, ein Menschenalter entfernt. Eine Jugend wurde woanders zu Stein. Wolken betrachten sich in den Fensterscheiben. Das Tal fällt vom Garten hinab zu den Straßen, den Kreuzungen, den flackernden Ampeln.
Auf der Fensterbank reifen Bläschen im Brunnenwasser. Das nach unten aufgeschlagene Buch nickt, als sei es seiner eigenen Geschichte müde.
Im Fenster ein Baum, die kahlen Äste hinausgestreckt in eine stets anwachsende Helligkeit, deren Diesseits, fühlt man, plötzlich nichts als papierener Schatten ist. Der Baum weiß, wie hell der Raum ist, in dem seine Zweige verschwinden, hinter der Mauer. Hinter dem Rahmen, der Uhr, dem allerneuesten, allerbuntesten Kalender.
Als wäre die Zeit genau das. Je neuer, desto bunter.
Jenseits der kleinen Tode, im Garten, auf der Mauer, erhebt sich auf leisen Sohlen das Licht. Eine kaum merkliche Regung und Richtung. Im Gras ein Paar Handschuhe mit Halmen zwischen den Fingern, eine weggeworfene Harke, ein Gummistiefel, aufrecht, im Schritt verlorengegangen. Zeichen eines lang verschwundenen Nachmittags, als hier jemand ging und den Stiefel stehenließ. Die Sonne wendet sich ab, zittrig, von blassen Vögeln durcheilt. Ein Strauch hält eine Jacke in den Wind.
Im Garten bleiben die Rosen zurück, der Stein, eine Sichel, die Schere, der Maulwurfshügel. In den Regentonnen hat sich vor Jahren einmal ein Herbst gespiegelt. Nun sind sie stumpf. Dunkelheit steigt daraus empor. Ein Falter findet den Tod in einer Pfütze voller Wolken. Plötzlich kann man das Raspeln hören, mit dem die Ränderchen des Kirschblatts ins Licht sägen. Die Farben schlagen die Augen auf. Am Fenster der Blick, lichtauf, zur Mauer, woher alles strömt, lichtauf, und noch, und noch. Was wäre das für ein Blick, der dieser Richtung folgen könnte, hinauf und weiter bis zum Ende des Leuchtens.
Einen Ast noch hoch, gerichtetes Strahlen, und weiter, und heller. Die Mauer zerfällt, durch die Jacke bläst der Wind, der Gummistiefel füllt sich mit Wasser. Das Licht aber steigt darüber hinweg, schwebt, stößt sich ab von der leeren, leichten, federnden Krone des Ahorns. Wo das, was sich im Tag versammelt, zum Greifen fern ist. Hinter der Wand, jenseits des Kalenders. Die Tapete stürzt ins Dunkel, während draußen der Hasel leuchtet. Ein Wasserhahn tropft. Eine Diele knarrt. Der Raum pflanzt sich fort und zeigt auf sein eigenes Jetzt. Irgendwo zwischen Wand und Baum und Ast, losgelöst von Schere, Kirschblatt, Harke. Losgelöst von Stein, Mauer, Schatten, aufwärts. Weiter. Ein unerreichbar nahes Anderssein im Licht. Die Wolken sind schon immer von hier. Und der Wind. Dahinter aber schweigt alles. Vögel kommen nicht von dort. Keine Stimmen. Kein Ton.

Sich freuen, aufeinander

Sich freuen, wir haben den ganzen Abend für uns.
Den ganzen Abend für uns haben und sich freuen, du mußt nach dem Essen nicht mehr weg.
Zusammen essen und sich freuen, wir können nachher beieinander einschafen.
Beieinander einschlafen und sich freuen, wir können nebeneinander träumen.
Nebeneinander Träumen und sich freuen, du bist noch da.
Wieder einschlafen und sich freuen, die Nacht ist noch lang und der Morgen weit.
Den Wecker hören und sich freuen, wir haben ja noch einen Kaffee miteinander.
Kaffee trinken und sich freuen, wir können gleich noch zusammen duschen.
Zusammen duschen und sich freuen, wir haben noch eine Viertelstunde, bis wir aus dem Haus müssen.
Aus dem Haus gehen und sich freuen, wir haben noch den gemeinsamen Weg zum Bahnhof.
Am Bahnhof ankommen und sich freuen, wir haben noch fünf Minuten für Küsse.
Einander küssen und sich freuen, wir haben noch ein paar Augenblicke zum Winken.
Winken, winken, winken, bis du nicht mehr zu sehen bist.
Winken, und sich freuen, daß wir uns wieder aufeinander freuen können.

Zweigeteilt

Und nun ist dieser Vormittag mit dir völlig unwirklich geworden. Die Zeit hat sich weggedreht. Ein Schleier ist vom Tag gerutscht. Ich habe beinahe Angst, die Bettdecke aufzuschlagen. Ich weiß nicht, was mir unbegreiflicher wäre: Daß unsere Spuren noch da sind oder wenn sie fehlten.
Ein zweigeteilter Tag. Ein zweigeteiltes Ich, dessen Erleben am Morgen ein ganz anderes ist als das Erleben des Nachmittags. Der Tag trug dich her, der Tag nimmt Dich wieder fort. Nun gehen wieder unsere Botschaften hin und her. Eben noch warst du die, die ich küsse. Nun bist Du wieder die, der ich immer schreibe.

L’après-midi d’un fièvre

Und plötzlich ist es viel später:

Du wachst, das Gesicht voller
Wimpern. Da duckt sich das Fenster
unters Gefieder des Tags.

Eine Stunde überholt sich selbst.
Plötzlich hat niemand gerufen,
vor langer Zeit. Das Haus war
leer. Auf der Straße die Kinder, ein
fröhliches Trampeln und Drängeln.

Plötzlich ist alles viel später.

Die Uhren keimen aus. Du bist zwei.
In fuchsroten Wolken fährt
der Nachmittag über den Himmel.

Die meerkühle Stirn schwimmt den
wächsernen Träumen davon. Im Ärmel
ruht ein erkaltender
Elephant, Atemzüge aus
Zucker wehen am Horizont.

An den Fingerspitzen hängt
das Gewicht der
Ferne, ein Kreisel, ein Kinderspiel, wie du
dich zu den Hügeln streckst,
liegen sie schon vor deinem Bett.

Du tauchst den Fuß in Bäche hinter
dem Horizont. In einem Schneckengehäuse ruht
dein müdes Fingergelenk.

Unbemerkt reißt
das Gewebe der Stunden, die,
je mehr sie sich enthüllen,
umso tiefer

verstummen, in einem Wiegenlied,
später, aus einem fremden
Wald.