Ich hätte innehalten können
Ich hätte auf dem Weg vom Tisch zum Bett stehenbleiben können. Ich hätte stehenbleiben können, das Glas in der Hand, verharren, warten.
Ich hätte, nackt inmitten des Zimmers, mit den Füßen in unserem vermischten Kleiderberg stehend, ein Glas Wasser in der Hand für dich, innehalten können, um dich zu betrachten.
Ich hätte es so machen können, daß kein Tropfen aus dem Glas gesprungen wäre. Ich hätte den Atem anhalten können. Ein Bein halb in der Luft. Auf einer Minute balancierend.
Aber wie leise ich auch gewesen wäre, wie behutsam ich es auch angestellt hätte: Du hättest es ja gemerkt. Du hättest gemerkt, daß auf einmal alles still wird und wie die Stille sich in die Zeit hinein ausrollt. Du hättest gespürt, wie die Stille sich um deine Nacktheit legt, um deinen Atem, um deinen Herzschlag, wie Du selbst in die Stille hineinwächst.
Und da hättest du von dem Buch aufgesehen und mich bemerkt, wie ich, nackt, ein Glas Wasser in der Hand, inmitten des Raumes stehe, um die Knöchel den weichen Berg Kleider geschlungen, dich betrachte und keinen Tropfen verschütte dabei.
Du hättest, nackt wie du warst, im Bett sitzend, zur Seite geneigt und auf den Ellenbogen gestützt, zugedeckt bis zur Hüfte, mich angeschaut und gewußt, daß ich dich anschaue.
Du hättest, nackt bis zur Hüfte, deine Brüste hell und zart wie Nestlingsvögel, dein Bauchnabel ein verspieltes „O“, gesehen, wie ich dich anschaue. Du hättest alles gewußt, und deine Nacktheit, deine süßen Nestlinge, wären nicht mehr dieselben, das „O“ nicht mehr ganz so verspielt gewesen. Denn sie wären von deinem Blick zu mir hin beherrscht worden. Deine Nacktheit hätte mich ihrerseits angeschaut.
Du hättest mich angeschaut, nackt hättest Du mich angeschaut, von einem Fleck Sonne gestreift, der deine Mamillen mit einem Schattenring umgab, und deine Nacktheit wäre nicht mehr bei sich selbst gewesen. Sie wäre eine Nacktheit gewesen, die plötzlich weiß, daß sie nackt ist. Die weiß, daß sie nackt ist und angeschaut wird und zuruckschaut. So eine Nacktheit.
Von einem angeschaut, der selbst nackt ist, und weiß, daß du weißt, daß du nackt bist, in diesem Moment. Mit einem Glas Wasser in der Hand, einen Fuß im Kleiderberg. (Kein Tropfen aus dem Becher sprang.) Ich glitt weiter, aus der Null eines Innehaltens in die Eins der Bewegung, streifte nur deine Nacktheit, nahm von ihr, soviel ich konnte in dem Moment, bevor sie sich selbst bewußt würde, und stellte das Wasserglas auf den Nachttisch. Dann beugte ich mich über dich und küßte dich.
Ich hätte den Uhren in die Zeiger greifen müssen, um nicht in der Zeit innezuhalten, sondern die Zeit selbst, um so diesen Moment in all seiner Dauer und deine selbstvergessene, unbeobachtete Nacktheit zu betrachten, wie sie eingebettet war in Licht und Schatten und das Dahinströmen der Zeit.
So war dieser Augenblick, aus der Null zur Eins, aus der fortlaufenden Bewegung in die weiter fortlaufende Bewegung, eine Folge von Momenten, ununterbrochen, Schwinge an Schwinge der Zeit; so war dieser Augenblick wie eine Buchseite, die der Wind umschlägt, bevor man das letzte, das erstaunlichste Wort lesen kann.
Monat: Januar 2014
Gehen, gemeinsam
(Oder auch: dein trockenes Husten am Morgen, wie besorgt ich da war. Deine leise Gereiztheit, als uns die Stadt ohne Auto nicht einlassen wollte. Deine intensive Anwesenheit in allem, im Gehen, im Sprechen, in jedem Blick, und wie das vom Bach, von den Felsen, von den Laubschichten zu dir und mir zurückfällt und mir meine eigene Anwesenheit selbst deutlich werden läßt: Als zeigte alles auf mich, auf uns. Überhaupt, all das Deutliche eines solchen Tages mit dir. Oder auch: Vor Schreck, du könntest hinter mir ausgeglitten sein, mich hastig umdrehen und beinahe selbst ausgleiten auf der matschigen Wiese. Oder auch: Wie du später müde warst und dein Gesicht glühte beim Kaffee. Oh, und auch: Gehalten sein in deinem Blick, Stirn an Stirn, gehalten sein, ehe der Zug einfährt, gehalten sein noch im Abschied und darüber hinaus. Und auf der Brücke: Wie der Fluß sich in deinen Augen spiegelt, grün in grün gemischt. (Bei jedem Licht ein bißchen anders: Diesmal war es ein Vorfrühlingsgrün, das dich dem Fluß, dem Wasser, der hellen Luft verband.) Auf der Brücke, gemeinsam, Schulter an Schulter. Die plötzlich aufschießende Furcht, du könntest fallen, der steile Himmel könnte dich vernichten, etwas Schreckliches könnte geschehen. Dann aber liegt deine Hand in der meinen, ruhig, warm, lebendig. Dein Schritt auf dem Waldweg, die Sicherheit und Selbstverständlichkeit deines Daseins in der Welt, die erstaunliche Tatsache, daß der Schlamm an deinem Fuß hängenbleibt, daß ein Brombeerzweig sich verhakt an dir, daß das Laub raschelt unter deinem Tritt und deine Stiefel Abdrücke hinterlassen auf dem Weg. Deine Wirklichkeit, deine Spur: Wie mir das kostbar ist, diese Abdrücke von dir. Daß du eine Spur hast in der Welt, hier, hier bist du gegangen. Und wie mir alle Facetten Deines Selbst willkommen und ganz und gar erstaunlich sind; wie sie mir als stetiger Fluß Deines Daseins zu Sinnen und Freuden kommen; wie nichts an deiner Wirklichkeit auch nur in Gedanken zu viel oder zu wenig sein könnte; daß dein Dasein keine Lücke hat; wie du du bist und ich ich, jedes für sich in den eigenen Schuhen durch den Schlamm stapfend, im eigenen Gleichgewicht, mit den eigenen Sinnen einem großen Vogel im Davonstreben folgend, und dennoch, in allem: als zwei in der Welt, die mehr sind als zwei. Die einander fehlen können; denen nichts fehlt zum Wir.)
Straße, Strömung, Rauschen, Reifen
Dieses Kreuz und Quer von Straßen, als erforsche die Welt da draußen den innersten Traum, als käme der steigende, wachsende, in alle Welt ausknospende Tag dem Schlaf auf die Spur, tastend, auskeimend, während jener sich nach Art von Frühstunden einkapselt, zurückzieht in die zunehmend belasteten Innenräume des eigenen Schweigens, fliehend, blind, ohne dem ameisenhaften Nachdrängen der Stunden, die alles besser wissen oder besser zu wissen behaupten, entkommen zu können, um endlich noch aufgefunden zu werden, in sich selbst nachgezeichnet, ein Traumlauf, abgerollt, daran der Tag sich entlanghangelt und Namen zu sich selbst finden, und damit jeder Stille noch eine Bedeutung zu geben, eine alles durchbrechende Struktur, die der Tag sich selbst einritzt, eine Gravur von Straße, Strömung, Rauschen, Reifen, und mit dieser Eindeutigkeit der Zeichen die multiplen, einander gewährenden Richtungen der Träume negiert, aufhebt, ausrichtet und alle Ziele und Wege zugunsten des einen Vorwärts beseitigt.
Kritzel
Ein Morgen wie ein Buch, in das man nicht hineinfinden will. Schon die ersten Minuten verwirren. Figuren tauchen auf um zwei Augenblicke später wieder verschwunden zu sein. Wenn sie sprechen, tun sie das nicht miteinander. Andere wechseln den Namen. Wieder andere das Gesicht. Die Architektur eines Wohnzimmers erschließt sich nicht, die Landschaft eines Flußtales ergibt keinen Sinn, so vermischt aus Nahem und Fernem sind ihre Merkmale. Ereignisse bewirken ihre eigene Ursache. Stunden werfen mir Namen zu, die sich an keinem Gesicht festmachen. Zurückgebogen in sich selbst, verknäuelt in Schleifen, an den Rändern ins Ungangbare flimmernd, führen die Wege nicht hinaus, nicht hinein, nicht her, nicht hin. Der Blick kann ihnen nicht folgen, fällt aus der Spur, während sie die Dimensionen wechseln.
Mühsam lege ich Wörter aus, klopfe Silben fest, schnüre Sätze zusammen, braue brüchige Stege, die mir diesen fremden Morgen mit Eigenem gangbar machen. Ein Buch, das ich in ein fremdes Buch hineinschreibe. Atemzüge aus Papier. Blicke aus Tinte. Meine Herzschlag: Ein Palimpsest.