Am Fenster

Es wimmelt von kleinen Toden im Garten.
Schillern von Insektenflügeln. Blindheit von Kröten. Spalten im Kalk, darin Schicht um Jahresschicht von Schatten. Auf dem Mäuerchen über den geöffneten Klingen einer Gartenschere ein gelbes Blatt. Kirsche oder Pflaume. Seine Adern in der Sonne leuchtend. Drüben die Terrasse, ein Menschenalter entfernt. Eine Jugend wurde woanders zu Stein. Wolken betrachten sich in den Fensterscheiben. Das Tal fällt vom Garten hinab zu den Straßen, den Kreuzungen, den flackernden Ampeln.
Auf der Fensterbank reifen Bläschen im Brunnenwasser. Das nach unten aufgeschlagene Buch nickt, als sei es seiner eigenen Geschichte müde.
Im Fenster ein Baum, die kahlen Äste hinausgestreckt in eine stets anwachsende Helligkeit, deren Diesseits, fühlt man, plötzlich nichts als papierener Schatten ist. Der Baum weiß, wie hell der Raum ist, in dem seine Zweige verschwinden, hinter der Mauer. Hinter dem Rahmen, der Uhr, dem allerneuesten, allerbuntesten Kalender.
Als wäre die Zeit genau das. Je neuer, desto bunter.
Jenseits der kleinen Tode, im Garten, auf der Mauer, erhebt sich auf leisen Sohlen das Licht. Eine kaum merkliche Regung und Richtung. Im Gras ein Paar Handschuhe mit Halmen zwischen den Fingern, eine weggeworfene Harke, ein Gummistiefel, aufrecht, im Schritt verlorengegangen. Zeichen eines lang verschwundenen Nachmittags, als hier jemand ging und den Stiefel stehenließ. Die Sonne wendet sich ab, zittrig, von blassen Vögeln durcheilt. Ein Strauch hält eine Jacke in den Wind.
Im Garten bleiben die Rosen zurück, der Stein, eine Sichel, die Schere, der Maulwurfshügel. In den Regentonnen hat sich vor Jahren einmal ein Herbst gespiegelt. Nun sind sie stumpf. Dunkelheit steigt daraus empor. Ein Falter findet den Tod in einer Pfütze voller Wolken. Plötzlich kann man das Raspeln hören, mit dem die Ränderchen des Kirschblatts ins Licht sägen. Die Farben schlagen die Augen auf. Am Fenster der Blick, lichtauf, zur Mauer, woher alles strömt, lichtauf, und noch, und noch. Was wäre das für ein Blick, der dieser Richtung folgen könnte, hinauf und weiter bis zum Ende des Leuchtens.
Einen Ast noch hoch, gerichtetes Strahlen, und weiter, und heller. Die Mauer zerfällt, durch die Jacke bläst der Wind, der Gummistiefel füllt sich mit Wasser. Das Licht aber steigt darüber hinweg, schwebt, stößt sich ab von der leeren, leichten, federnden Krone des Ahorns. Wo das, was sich im Tag versammelt, zum Greifen fern ist. Hinter der Wand, jenseits des Kalenders. Die Tapete stürzt ins Dunkel, während draußen der Hasel leuchtet. Ein Wasserhahn tropft. Eine Diele knarrt. Der Raum pflanzt sich fort und zeigt auf sein eigenes Jetzt. Irgendwo zwischen Wand und Baum und Ast, losgelöst von Schere, Kirschblatt, Harke. Losgelöst von Stein, Mauer, Schatten, aufwärts. Weiter. Ein unerreichbar nahes Anderssein im Licht. Die Wolken sind schon immer von hier. Und der Wind. Dahinter aber schweigt alles. Vögel kommen nicht von dort. Keine Stimmen. Kein Ton.

Das bohrende Schweigen der Vögel

Der Tag hangelt sich von Uhrtick zu Uhrtack fort. Müde Farben sind sein Geschenk. Am Tisch eine Kaffeetasse, ein Löffel. Die harten, verläßlichen Dinge. Im Glas fängt sich ein Spiegelbild. Lichtverspieltheit. Harter Stahl in der Handfläche. Verkehrsgeheul erkundet die Fernen. Heute lasse ich die schlafen, die gestern mich nicht schlafen ließ. Das bohrende Schweigen der Vögel.

Dämmerung

So ein Himmel, wieder kaum strukturiert, erschöpft von Nässe und den Anstrengungen, die es kostete zu regnen, nachtstunden auf und ab, still jetzt, still und voller blassem Gefädel, zu leicht fast für Vögel. Einen Glockenton bräuchte es für Licht und Sperling, die scharfe Kante eines aufglühenden Schattens, ein Zwinkern der Hundsrose. Aber die Wege sammeln weiter Dämmerungen ein, eine Zehrung den langsam stürzenden Bäumen an ihrer Schulter.

21. An Claudia

Und noch ein Tag Sommer: Riesige Menschenschatten wandeln über die Plätze, das Laub der Bäume ist still, die Flächen des Betons strecken sich. Die Scheiben des Uni-Centers blinzeln in die Sonne. Irgendwo ist noch eine Pfütze vom letzten, schon vergessenen Regenguß liegengeblieben und spiegelt einen Himmel voll Laub wider. Der eigene Schatten fällt überlang aus dem Schatten des Ahorns. Die Insekten sind träge von der Nachtkühle. Mit ihren krummen Bahnen spannen sie Räume unters Gezweig. Es ist überall Licht, teils versteckt, teils offen leuchtend, teils gerade, teils verwinkelt, hier in Stücken und Flecken, dort herrlich über eine Straße hingegossen, Licht, das sich die Schatten zurückerobert, und so eines, das wir gestern abend noch für unmöglich erklärt hätten.

Gestern sind wir hier noch gegangen, Liebe, ja, gestern wars. Wir sprachen. Wir lachten. Du berührtest mich am Arm. Wir gingen. Wir blieben stehen. Du so entspannt und ganz du und voller ausgelassener Gelassenheit und Freude an allem. Ich ganz Aufschub, Hinhalt, Verzögern. Dich noch länger, noch eine weitere Minute, sehen und beimirhaben. Nur noch eine Minute, ehe du dich, schon weiter, schon abgewendet, verabschiedest, schon verabschiedet hast von mir und dich aus mir löst und fort bist für ichweißnichtwielang. Nur noch diesen Augenblick. Und dann noch einen und noch einen.