Frühprotokoll ohne Wildschwein

Lauf in der Morgenkühle, gegen sechs an den Pferdeweiden, da ist die Sonne schon aufgegangen, fliegt steil hinauf, getützt auf einen Ahornbaum wie ein Springer auf seinen Stab. Turbulente Welt, strudelndes Licht, überall Plätze zum Schlafen und Aufbrechen.

Dort, wo immer die Wildschweine warten, stakst heute morgen nur ein einzelnes Reh über den Weg. Verträumt, wie in steifbeiniger Ekstase, schnuppernd, witternd, an einem Halm knabbernd. Erst sieht es mich nicht, dann sieht es mich. Dann kann es nicht abschätzen, was ich bin, dann flieht es, aus seinen Rehträumen verjagt. Ich wüßte gern, wie sich das warme Fell anfühlt. Die zitternde Flanke. Wie es riecht: nach Reh wahrscheinlich. Aber wie riecht ein Reh? Einmal habe ich aus nächster Nähe ein totes Reh gesehen. Es war erstaunlich klein. Ich habe es nicht angefaßt. Der Tod war eben erst dagewesen, er hatte die Augen glänzend und dunkel zurückgelassen, wie sie in den Himmel starrten, ein letztes Bild, in dem Tod noch nicht vorkam. Auch dies ein früher Morgen.

Klimmzüge am Fitneßpfad. Warum mache ich das? Ich werde sowieso eines Tages mit Mühe kaum über die Bettkante kommen. Und dann auch bald das nicht mehr. Soll ich mich nicht lieber jetzt schon daran gewöhnen?

Bei weiblichen Läufern zu früher Stunde füchte ich immer, daß sie sich vor mir fürchten. Rape culture. So weit geht die Indoktrinierung. Ich bemühe mich bereits, kleine Kinder nicht allzu genau anzuschauen, nicht daß jemand was denkt. Dabei ist an mir nichts, was zum fürchten wäre. Vielleicht fürchte ich es auch gar nicht, sondern mir gefällt die Vorstellung, daß sich jemand vor mir fürchtet. Die menschliche Seele ist eine Mördergrube.

Die Frau, die erst die lange Hundeleine einholen muß, bevor ich vorbei kann, ruft mir entschuldigend hinterher, Tut mir leid, kein Rückspiegel! Ich lache ihr zu und denke, wär ja noch schöner, wenn wir jetzt auf einem Fußweg auch schon Rückspiegel brauchten.

Die Sonne über der Ebene, abgestoßen vom Baum, vom Hügel, von allen Horizonten, freier Fall, lichtwärts.

Zu Hause ziehe ich erst die Spinnweben aus, dann die Kleider. Das Zimmer ist wärmer als die Luft in der Straße. Ich stünde gern nackt am Fenster, unsichtbar für alle, frei, frei im Licht und der Kühle, allein.

Unter Jägern

Aber natürlich kehrte der Wagen auf dem selben Weg wieder zurück, ich hörte das Krachen von Schotter unter den Reifen lange, bevor die helle Frontscheibe des Transporters zwischen den Bäumen erschien. Ich hatte mich bereits ausgezogen, lag schon im Schlafsack und war nach drei Stunden Wartens nur zu bereit zu glauben, nun sei es wohl vorbei, nun hätte ich meine Ruhe. Aber natürlich mußte er zurückkommen, hatte ich ernsthaft geglaubt, ein Wagen, der abends in den Wald hineinfährt, wo es laut Karte weit und breit keine Straße gibt, würde nicht auf demselben Weg auch wieder herausfahren? Zumal ich gehört hatte, wie das Fahrzeug nach etwa hundert Metern geparkt wurde. Gegen sieben war das gewesen. Da hatte mich noch niemand bemerkt, weil die Hecke mich nach Mürlenbach zu, woher der Wagen gekommen war, abschirmte, aber jetzt, jetzt war das anders, jetzt bot sich dem, der da in seinem wackelnden und rumpelnden Transporter in Richtung Dorf heranrollte, frontal ein freier Blick hinter die Hecke, auf die Wiese, auf den Fleck, wo klein und geduckt mein Zelt stand. Nicht klein, nicht geduckt genug. Zwar war es schon nach zehn, es dämmerte bereits, aber um unsichtbar zu sein, hätte um mich stockdunkle Nacht herrschen müssen; und auch dann hätten mich die Scheinwerfer des Wagens sicher gestreift. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein, als würde diese lächerliche Bewegung, nicht mehr als eine rituelle Geste, eine Beschwörung, mein Zelt dem Zugriff ungewünschter Blicke entziehen. Am liebsten hätte ich mich mitsamt dem Zelt in die Hecke verkrochen. Aber das ging natürlich nicht. Das hätte ich mir vor einer halben Stunden überlegen müssen (und wohin dann?), nicht jetzt, wo der Wagen bereits aus dem Wald heraus war und direkt auf mich zusteuerte.
Und hoffentlich gleich hinter der Hecke verschwinden, keinesfalls anhalten, sondern einfach weiterfahren würde, fort von hier, fort von meinem verbotenen Tun, zurück ins Dorf, nach Gerolstein, nach Trier, egal, nur weg. Ich hielt den Atem an. Es war ein lange vergessenes Gefühl, das mich wieder in die Kindheit zurückkatapultierte, in ein Klassenzimmer, wo der scharfe Blick des Lehrers wie ein Radar über die Reihen der Schüler huscht. Schau woanders hin, betet man und bemüht sich, wie jemand auszusehen, der die Hausaufgaben auf jeden Fall gemacht hat, besser noch, als wäre man gar nicht anwesend. Und dann, na ja, dann spürt man, obwohl man nicht hochschaut, wie der Blick auf einem stehen bleibt, eine Hundertstelsekunde, bevor man den eigenen Namen hört.
Ich hätte gern ein Somebody-else’s-Problem-Shield gehabt.
Wie so viele andere schöne Dinge auch, ist nämlich wild Zelten in Deutschland, diesem Musterland der Gängelung und des Ordungsamts, verboten. Wenn ich es trotzdem mache, so fordert mir das, einem eher ängstlichen Menschen, der wenig mehr scheut als Ärger mit Institutionen und ihren verschiedenen Sendlingen und Vollstreckern, einen ungeheuren Mut ab. Meistens fehlt der, und ich bleibe zu Hause oder nehme mir ein Zimmer; wenn ich mich dann doch einmal überwinde und mit dem Zelt losziehe, fürchte ich nichts so sehr wie eine Begegnung, nein, nicht mit Wildschweinen, sondern mit Jägern, Förstern oder demjenigen Typ Mensch, der in vergangenen Zeitaltern gern und freiwillig den Blockwart machte. Solche Begegnungen wie eine solche, die jetzt droht, während der Wagen in den Schutz der Hecke eintaucht und kurz die Hoffnung aufflammt, daß der Fahrer mich wirklich nicht gesehen hat (oder es ihm egal ist, was ich da mache), solche Begegnungen machen ein Abenteuer aus, auf das ich mich nicht freiwillig einlasse. Es ist ein Risiko, das für mich nicht die Spannung erhöht oder gar den Reiz der Sache ausmacht, sondern mir das Vergnügen, eine Nacht in freier Natur zu verbringen, wenn nicht ganz verdirbt, so doch beträchtlich eintrübt. Das Verbotene hat für mich jedenfalls keinen Reiz, nur weil es verboten ist.
Wider alle Erwartung wurde an diesem Abend, Pfingstsonntag, gejagt. Naiv wie ich war, dachte ich, im Frühsommer sei Schonzeit. Aber keine halbe Stunde, nachdem der Wagen im Wald verschwunden war, hatte es schon gekracht. Und dann noch einmal. Und nach einer Weile, sehr nah, sehr laut, so daß es rings in allen Tälern zwei, drei Sekunden widerhallte, noch einmal. Es war nicht das erste Mal, daß ich an Jäger geriet, und obwohl ich prinzipiell nichts gegen das Jagen einzuwenden habe, regt sich in mir inzwischen ein gewisser Unmut. Weniger übers Jagen und über Jäger als wieder einmal darüber, daß die Welt einfach zu klein ist, um allen Interessen genug Raum zu geben: Den Mountainbikern zum Brettern, den Jägern zum Ballern, den Walkern zum Stöckeschwingen, den Wildcampern zum Wildcampen. So groß, daß sie alle behaupten könnten, die Welt für sich alleine zu haben.
Während der Wagen langsam vorbeirollte, dachte ich an das letzte Mal, wo jemand abends noch mein Zelt bemerkte. Wir hatten es neben einer Bank an einer Wegkreuzung aufgestellt, wo laut Karte einmal ein Naturdenkmal gestanden hatte, und saßen gerade bei Worscht und Brot in der Abenddämmerung auf der Bank, als ein Bauer, der wohl noch nach seinen Kühen geschaut hatte, auf einem Quad vorbeikam, uns sah – und so scharf bremste, daß die Hinterräder des Fahrzeugs einen kleinen Hüpfer machten. Ich hob die Hand zum Gruß, freundlich – der andere grüßte nicht minder freundlich zurück. Guten Appetit! Wir unterhielten uns eine Weile, es gab kein Problem. Das Wegeckchen war Niemandsland, der Bauer verriet und, er habe selbst schon einmal dort gezeltet. Stolz auf seine Kälbchen, machte er uns, für den Fall, daß sie uns entgangen seien, auf sie aufmerksam. Das Naturdenkmal sei ein alter Baum gewesen, der noch 2014 gestanden habe. – Also dann, gute Nacht! – Gute Nacht! Ein netter Mensch. Aber das weiß man ja vorher nicht, und der Schreck saß uns beiden noch in den Gliedern, als der Bauer auf seinem Quad heim zu seinem Abendessen knatterte.
Der Transporter war halb am Zelt vorbei und ein gutes Stück hinter der Hecke, rollte, rollte, fuhr noch ein Stück. Ich war schon überzeugt, er werde vorbeifahren, da bremste er ab. Hielt, verdammt. Fuhr ein Stück zurück, wie es Comichelden tun, wenn sie zuerst nicht glauben wollen, was sie sehen. Die Fahrertür öffnete sich. Jetzt gibt’s Ärger, dachte ich, als ich mit klopfendem Herzen den Reißverschluß des Innenzeltes öffnete.
„Guten Abend!“ rief ich in offensiver Freundlichkeit durch den Zelteingang dem Mann zu, der etwas zögernd über die Wiese herangestapft kam. Ein Jäger, natürlich. Graues Hemd, graue Flanellhose, Waffe am Gürtel. Offensichtlich wußte er nicht so recht, was er mit mir anfangen sollte. Ich war ihm nicht recht, das spürte ich. Aber Ärger mit mir wollte er auch nicht haben.
„Schlafen Sie hier?“
Merkwürdiger Akzent, vielleicht ein Belgier. Ich hatte in dieser Gegend schon einmal in der Dämmerung ein Auto mit belgischem Kennzeichen im Wald herumfahren sehen. Was zum Teufel machten die hier? Gab es in den Ardennen keine Wildschweine?
„Das ist Jagdgebiet“, klärte mich der Mann auf. Woher ich das hätte vorher wissen sollen, sagte er nicht.
Ich hob nur die Schultern. Was war da zu machen? „Sind Sie denn fertig?“
„Ich schon, aber ob die anderen einverstanden sind …“ Er ließ den Satz unvollendet. Ich hob wieder die Schultern. So musterten wir einander eine Weile.
Da wandte sich der andere mit einer resignierten Geste ab, stapfte zurück zum Wagen, lenkte auf den Weg zurück und setzte seine Fahrt nach Mürlenbach hinunter fort. Ein paar Sekunden später war das Motorengeräusch verklungen. Es herrschte wieder die Stille von vorher, nur daß jetzt das Spotten der Drossel wie ein Kommentar zu den Narrheiten der Menschen klang. Ein bißchen beneidete ich die Raupe, die sich vor dem Zelt um einen Grashalm wickelte. Sie war so zu Hause in ihrer Welt, wie ich in der meinen nie sein würde. In der Stadt ebenso wenig wie hier draußen in meinem Zelt.

Golberg, 11. Februar 2017

Nachts hat es geschneit.
Platzsparend voreinandergerollte Kulissen die Hügel, wo sich der Wald zu Reihen aus gestaffeltem Grau öffnet. Der Himmel so tief, daß sich die Gipfel, die Bäume, Häuser und Strommasten ducken müssen. Die Ferne läuft nur ein Stück voraus und kehrt, bleich geworden, wieder um. Nichts wirft einen Schatten, als sei der Grund zu weit weg, um darauf zu stehen. Alles ist leicht, die Mauern hohl, Scheunen aus Papier. Nur Bäche haben ein schwarzes Gewicht, sie ziehen an den Dingen, die von ihnen fortstreben. Krähen steigen aus einem kahlen Baum auf. Schnee bröselt von einer Birke, als habe ein Tier den Ast gestreift. Alles, was Blicke hat, schaut woanders hin. Fehlen nur noch heimkehrende Jäger.

Das letzte Haus vorm Wald, ein Schneehaufen markiert das Schaufelende des Räumfahrzeugs, danach fängt ein Weg an, den nur sparsam Tierspuren kreuzen. Als erster Mensch auf dem Weg, ein Stückchen weit. Es tut beinahe weh, auf die frische Schneedecke zu treten, die perfekte, mühelose Makellosigkeit mit der schnaufenden, rotzenden, behelfsmäßigen Trivialität der Sohlen zunichte zu machen. Andere menschliche Spuren sind eine Erleichterung, dort kann man gehen, dort war schon jemand, dort ist die Welt gedeutet und aufgebrochen. Wie ein Kuchen, den endlich jemand angeschnitten hat.

Ein Ort, von dem aus man die Straße hört. Kurze Blickräume zur nächsten Reihe Fichten, dahinter löst sich jede Erwartung von Sicht ins Annähern und Entfernen von Geräusch auf. Sägen oder Hundegebell, es ist nicht zu unterscheiden. Die Umwelt ist lauter als sie sichtbar ist. Meisen rufen wie von hinter den Kulissen, und ein ganz unbekannter Vogel. Der Schnee auf der Bank: unberührt. Eine Birke hüllt sich in Fetzen vergilbter Tapete.

Und dann, weniger sichtbar als fühlbar an der plötzlichen Abtönung einer Rauchschwinge über einem Wohnhaus, an der Vertiefung des Reliefs, das die Körnung auf unberührten Schneedecken bildet, an einer Auflockerung des nassen Straßenglanzes: die Sonne. Noch kein Himmelskörper, nur ein Erstarken von Flächen und Kontrasten, in dem die Verlängerungen von Wegen und Hügelachsen transparent werden, und die Bäume in perspektivisches Zucken geraten. Der Schnee schmilzt, man hört es an den Geräuschen, sie werden härter, sie isolieren sich voneinander, auch zwischen ihnen wird es heller.

Plötzlich Stimmen. Blickauf, hineingekleckst in die schwarzweiße Welt des Waldes wie Anstriche in einem Schulbuch, farbige Jacken, Mützen, Hosen. Ein Trupp Wannderer zieht vorüber, soldatisch stramm, dabei immer redend, redend, eifrig und alle auf einmal, als müßten sie alles, was irgendwo schon einmal gesagt worden ist, unbedingt noch einmal sagen. Sie verschwinden zwischen den Bäumen, die Stimmen verstreuen sich im Wald. Einen Moment später ist die Kreuzung voller Spuren, die niemandem mehr gehören. Doch noch heimkehrende Jäger, könnte man denken, aber nein, sie haben nicht woanders hingeschaut.

Noch einmal Neujahr

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Ein Gang über winterliche Gefilde, wir zählen zwei und zwei die fünf Bäche zusammen.

Ehe sie sich vereinigen, unterirdisch, unbeobachtet in conspirativen Kanälen, aus denen die feuchte Kälte rauscht.

Gebäude stellen die Topologie voll. Es ist schwierig, den Überblick zu behalten.

Wir behalten ihn. Wir krempeln dem Talgrund den Ärmel auf. Landschaft, an den Häusern vorbeigeschmuggelt. Ich mag es, deinen Augen zuzusehen, wenn wir vom Wandern sprechen.

Ein weggeworfenes Mühlrad neben der alten Mühle, mahlt Schnee mit schwarzen Schaufeln. Eine Fremde tritt auf den Weg zur Mühle, sieht sich um, stumm, wir grüßen auch nicht. So stehen wir jedes für sich vor der Vergangenheit, die für alle gleich ist.

Der Mühlteich verlandet; Wasserpflanzen stoßen ans Eis, wie Lippen von Kindern, die eine Fensterscheibe küssen.

Noch eine neue Schicht Weg übern Weg gelegt. Eine tröstliche, neue Schicht, noch einmal Feiertagskerzen in den Fenstern.

Der Schnee wie frische Farbe in den Zimmern eines neu zu beziehenden Hauses. Zu Hause in der Welt, wieder zu Hause da, das wär was.

Überall schon die Meisen, als hingen die Bäume voller Fahrradklingeln.

„Was hast du für kalte Hände!“, sagst du, und dann ist es wirklich Zeit, nach Hause zu gehen.

Devon

Beim Wandern habe ich einmal am Ackerrand einen merkwürdigen Stein gefunden. Etwa honigmelonengroß, wog er gut seine zehn bis zwölf Pfund und hatte die Form einer riesigen Kartoffel. Er war von schmutzigroter bis graubrauner Farbe, wies keine Bruchkanten auf, war aber auch nicht glattgeschliffen, und zeigte auf der Oberfläche zahlreiche Narben und Grübchen, die sich bei näherm Besehen als Versteinerungen münzgroßer Muscheln und Schnecken herausstellten. Es war Winter, Wind tobte übers Feld, Schneegraupel fanden keinen Halt auf den frisch gebrochenen Schollen. Ich las den Stein mit vor Kälte fühllosen Fingern auf, reinigte ihn von Schneematsch und Erde und legte ihn in meinen Rucksack. Ich trug ihn noch fünfzehn Kilometer nach Hause, wo er seitdem die Badezimmerfliesen ziert.

Was ich noch weiß von dieser Wanderung: Einem nicht mehr gepflegten Weg folgen, an Viehweiden auskommen, unter einem Weidezaun durchkriechen, dabei die Hand auf einen Brennesselschößling stützen, eine Erinnerung, die noch tagelang schmerzt. Neue Wege durch abgelegene Landstriche, ein Landgraben, ein Wacholderschutzgebiet; mit steifen Fingern eine Brotrinde halten, da hat der Wind nachgelassen. Auf einem neuen Weg in eine alte Stadt. Worte, die ich wie einen Mantel über mich werfe. Beim Nachhausekommen das glückhafte Gefühl, etwas Schönem begegnet zu sein, eine Gnade des Landes selbst erfahren zu haben. Wie Wind, der noch im Innern weiterbraust. Der Stein machte ein hohles Geräusch, als ich ihn im Bad auf den Boden legte.

Koniferenzapfen; knospende Zweige; Pilze und Beeren; Häherfedern. Meistens ist aber das, was ich vom Wandern mitnehme, ein Stein. Ein kleines Schieferstückchen vielleicht, schwarz wie Gagat. Oder ein Stück Basalt, den eine Quarzspur durchzieht. Oder einen symmetrischen Kiesel, der mir in der Dämmerung als irgendwie leuchtend in die Augen fällt. Solche Funde trage ich Monate mit mir herum, in jeder Jacke habe ich mindestens einen. Wenn ich nichts zu tun habe, etwa auf eine Straßenbahn warte, spiele ich damit herum. Mit der Zeit werden die Steine ganz abgegriffen und glänzend. Dann sind sie irgendwann mehr als nur ein Stein. Stecke ich die Hand in die Tasche, ist mir der Stein sofort vertraut. Ich weiß immer genau, welchen ich wo gefunden habe.

Ein Gegenstand, der so langsam altert, daß er als Anker im Strom der Zeit dienen kann. Eine Fadenbindung der übereinander fallenden Augenblicke, die Stelle, die alles zusammenhält, über die eigene Existenz hinaus, aus dem Devon übers Erdmittelalter bis zur Erdneuzeit, mein eigenes Daseinsblinken ebenso verklammernd wie die unendliche Zukunft. So langsam, so sehr in sich selbst ruhend, so sehr sich selbst gleichend von Augenblick zu Augenblick, daß die Zeit ihn aus sich fallen läßt.

Ich starre auf ein Mosaik aus Herbstblättern. Gelb an Rot an Braun. Kältesteife Finger halten ein Würstchen, ein Stück Brot. Ich kaue, es schmeckt nicht. Ich müßte die Nase putzen, lasse den Rotz über die Lippe laufen. Und starre aufs Laub. Hier, und jetzt, und hier, und irgendeinmal. Ich saß hier mal mit einem Freund und beschwerte mich über das Geklingel aus fremden Kopfhörern. Es war ein froher Sommertag, und statt Jetztpunkten gab es Erleben. Ströme. Erinnerungen.
Elstern schimpfen in entlaubten Espen. Vom parallelen Pfad jenseits des Baches klingen Stimmen herüber. Die Strukturen des Laubs brennen sich auf der Netzhaut fest. Die Elstern schweigen wieder, sind bereits Vergangenheit, während sie im Kopf noch nachzuhallen scheinen, wie das Nachbild des Laubs, Vergangenheit genauso wie das Gespräch mit dem Freund, wie die Stimmen am Bach, die eben verstummt sind, wie alles, was nicht jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
Ist.
Und nicht mehr ist.

Wenn ich wandere, versuche ich, zurückzukehren, in ein Haus aus Bildern und Luft. Ich sehne mich nach Orten, aber wenn ich dort bin, sind die Orte nicht mehr da. Ort und Zeit scheinen verschränkt, eins so unerreichbar wie das andere. Nur das Jetzt, da müßte man zu Hause sein, heimisch werden im Flug, im freien Fall. Oder in den Erinnerungen.

Als könnte man sich noch und noch in den Bildern der eigenen Geschichte aufhalten. Es gelingt nicht. Ich bin weder hier ganz, noch woanders. Ich fasse den Stein in meiner Jackentasche fester, und bin in einem seltsamen Raum, indem ich mir dabei zusehe, wie ich den Rotz hochziehe und auf ein Mosaik von Herbstblättern starre.

Frühprotokolle: Wolkentürme

In der Weite der Börde sichtbar: Wolkentürme, wie der Rauch nicht allzu ferner Schlachten. Der Wind weht von dort, Unwetter in den klammen Taschen. Die Föhrenstämme, rot und schmal vor dem Schatten des Forstes, Fliehende, die aus der Dunkelheit auf die Lichtung taumeln, vom plötzlichen Licht erstarrt. Jetzt haben sie im Rücken, was auch immer sich dort nähert, noch ohne Lärm.

An einer grasigen Fläche am Wegesrand liegt ein Auspufftopf. Lange liegt er da noch nicht, aber schon beginnt die Auflösung des Anorganischen ins Organische, des Künstlichen ins Natürliche: Schon ist die Oberfläche stumpf, schon ahnt man den Anhauch von Rost, schon zwängt sich das Gras unter dem Metall hervor. Das Metall, im Feuer einem in sich ruhenden Mineral abgezwungen, wird wieder zum Mineral, ehe es Halm wird, Wurzel, Borke. Kommentarlos zurückgenommen von den lebenden Dingen in den Kreislauf lebender Dinge.

Wald, und Stille. Morgens ist es wieder dämmrig, selbst bei klarem Himmel. Der Vogelchor der letzten Wochen ist in einzelne Stimmen zerfallen, das Gewebe ist brüchig, zerrissen wie ein Tuch, durch das die Sonne scheint, hier noch ein Buchfink, in der Nähe ein Zilpzalp, wie ein Versehen, natürlich die Singdrossel, die das Zwielicht liebt beim Singen. Das Grün hat die größte Sättigung erreicht, die größte Dichte, fast schwarz an den Rändern. Der Wald ist eine Höhle. Von hier unten scheint der Himmel hell und freundlich blau, die Wolkentürme, sie sind unsichtbar. Hier drinnen sind sie weit fort, sind sie jenseits von Grenzen. Drüben. Vielleicht sogar nur geträumt.

Kopf in den Sand: Das Unheil naht. Der Wind saugt den Himmel von den Feldern. Auch die Drossel ist stumm. Blätter tragen eine Botschaft von Saum zu Saum. Über die Wiesen flieht ein erschrecktes Pferd, ich weiß nicht, vor mir oder wovor.

Frühprotokoll: Laufen

Fast wäre ich mitten hineingelaufen, so unerwartet tummeln sie sich auf dem Waldweg, fünf, sechs, vielleicht noch mehr Tiere, miteinander vertieft in unaussprechliche Wildschweinemsigkeiten, eine Versammlung, ein geheimer Rat, ein Familientreffen, so unbekümmert bei sich selbst, daß sie mich noch später bemerken als ich sie. Eben bin ich schon zwei großen Schweinen begegnet, die in größerer Entfernung den Weg kreuzten, eine Spur strengen Geruchs dalassend. Hier ist es eine ganze Rotte. Jetzt lieber mal langsam machen. Ich falle in Schritt. Ein bißchen absurd ist das schon, soll ich mich räuspern, in die Hände klatschen? Ich will sie keinesfalls überraschen, erschreckte Wildschweine können gefährlich werden. Aber da erklingt plötzlich ein zweimaliges Bellen, wuff, wuff, und Bewegung kommt in die Gruppe, erst zögernd, dann entschieden, dann panisch. Noch ein Bellen, dann hat es auch der Nachzügler, der eben hinterm Gebüsch sichtbar wird, begriffen und setzt eilends den andern, die schon im nahen Unterholz verschwunden sind, nach. Innerhalb von zwei, drei Sekunden ist der Spuk vorbei, es herrscht Totenstille.

Letzten Winter habe ich zehn Meter von dieser Stelle entfernt eine Nacht verbracht. Nach den letzten vereinzelten, müde von der nächsten Siedlung herüberklingenden Feuerwerkskörpern hatte eine ebensolche tiefe Stille im Wald geherrscht. Irgendwo mußten natürlich Tiere sein, aber nach der Knallerei gaben sie keinen Mucks von sich. Gegen fünf Uhr früh durch den pechschwarzen Wald nach Hause marschiert, unterm Eskort von Waldtauben, die alle zwanzig Schritte unter wildem Flügelgeklatsche aus den Zweigen brachen. Später Nieselregen, noch später ein Mond, in dessen gelbem Schein ich einen Doppelschatten warf, als folgte mir ein dämonischer Zwilling. –
Kurz nach der Stelle spähen, nach dem Flecken, wo ich in der einbrechenden Dämmerung morsches Birkenholz weggeräumt hatte, um Platz für die Matte zu schaffen. Damals hatte ich es eilig, einen Schlafplatz zu finden. Heute ist es ein Unort, eine Stelle, die sich sofort ins Vergessen drängt.

An der Wegbiegung, wo jemand eine Reihe von Nußbäumchen gepflanzte hat, bleibe ich stehen, um Wasser zu lassen. Sofort setzen sich mir vier fünf Stechmücken auf die bloßen Waden. In Tümpeln nahebei schwebt Pollen über gespiegeltem Himmel, schillern lohfarbene Schlieren, hocken Bläschen in Trauben, wie Spucke am Mundwinkel eines Kindes. Zu meinen Füßen leuchtet der gemusterte Leib einer Hornisse, die einen nässenden Fleck auf der Wurzel einer Fichte abnagt, still, getunkt in sich selbst, wie der letzte Säufer in einer verlassenen Bar.

112 Meilen (7)

Den asphaltierten, in Behaglichkeit ansteigenden Weg zu einer Grillhütte hinaufsteigen, eine fein gesponnene, sanft ausgeleuchtete Ferne im Rücken, in der Baumgruppen, Häuser, Straßenläufe schwimmen wie Bojen, angehoben von einem leise alles unterlaufenden Licht. Auf dem Weg, dessen Struktur körnig ist und hart, ins Nahe geworfen und wie darin auskristallisiert, liegt jedes Herbstblatt um einen Farbrest gekrümmt. Das Licht gleitet wie Schleppen übern Weg, leise auf dem Bitumen hakelnd. Der Rain mit den Obstbäumen, den Grasbüscheln, ist gepflegt, als ginge man durch ein Wohnzimmer der Natur. Man glaubt, ein Dröhnen zu vernehmen, sanft, meerartig, und so fern, als sei irgendwo ein Fenster zu einem noch viel größeren Draußen geöffnet.

Man spürt es am Schwung der Straße, hier fahren oft fröhliche Menschen, zum Feiern, zur Geselligkeit, zum Trinken. Sie fahren vor einer solchen Kulisse aus Strecken und Feldern und Tiefen und Abendlicht, wie wir sie in diesem Moment anstaunen, während wir dem Weg bedächtig folgen, unsere langen Abendschatten vor uns her hinanschiebend. Was denken diese Menschen, was fühlen sie, wenn sie hier durch ihre Heimat, durch tagtäglich Vertrautes fahren? Fühlen sie überhaupt etwas? Oder sind sie in etwa so mit ihren Gedanken woanders, wie wenn ich an einem Samstagvormittag die Zülpicher Straße entlanghaste, um den Zug noch zu kriegen?

Sind sie vielleicht – so wie ich in jenem Moment vielleicht an ein Eifeldorf mit wunderschöner Aussicht denke – in ihren Gedanken eben hier, in der dröhnenden Innenstadt, wohin sie sich wünschen angesichts wieder eines langweiligen Abends mit den Jungs und lauwarmem Bier?

Eine Abendglocke schlägt im nahen Ort, und wie immer falle ich ins Grübeln über das Beieinander von Waldeinsamkeit und Menschentreiben; fasziniert mich diese Nachbarschaft von kühlem, strengem Abseits und Außen und dem, was, egal, wo man steht, immer eine Art Innen ist: Häuser mit erleuchteten Fenstern, Geschäfte, Waren, Straßennamen, Abendbrottische. Wie der Glockenklang noch hinters dichteste Brombeergesträuch dringt und von unfaßbar Nahem läutet, das gleichwohl unerreichbar scheint. Oder umgekehrt: Als wäre der Waldrand mit seinen grausigen Schatten, den kühlen Sternen, dem Blätterhauch nur eine Illusion, der man sich erschauernd hingeben mag, solange man nur will, weil es reicht, um eine Ecke zu linsen, um sich zu vergewissern, daß die Schwelle warm erleuchtet ist, zu der man später hereintreten kann.

Es ist Sonntag, kein Wagen begegnet uns. Ein hölzerner Wegweiser zeigt wie eine Armprothese nach dem Waldrand, die Schrift in der einbrechenden Dämmerung so schlecht lesbar, als drücke sie sich aus Angst vor dem Frost ins Holz. Bis Gerolstein sind wir noch über eine Stunde unterwegs.

112 Meilen (6)

Plötzlich hat die Ferne einen Thron, auf dem sitzen wir, wie Spatzen auf dem Riesenschädel eines marmornen Kaisers.
Kurz vor Ripsdorf auf einer Abkürzung vor einem Stacheldrahtzaun ausgekommen. Darunter durchgeklettert, dabei Zaun zerstört: Zaun wehrte sich und stach, mußt er eben leiden. K.s Wanderrock bleibt hängen, trägt aber, anders als mein Daumen, keinen Schaden davon. In Ripsdorf dann «Kartoffelfest», Bürger in Sonntagsstaat, Blasmusik live, für uns gibt es Kaffee und Kuchen auf einer sonnigen Terrasse. Gegenüber, ganz in Weiß eine Trutzburg des Herrn. Was mußten das einmal für wilde Landstriche gewesen sein, die den Bau solcher Gottesbunker nötig machten? Was für unsichere Zeiten?
Mit dem Kaffee vergeht die Schwere und die Schwermut, man atmet die letzten Sträuße Dunkelheit aus den Lungen ab wie den Weindunst einer durchzechten Nacht. Wir verlaufen uns, kürzen abermals ab, queren Wiesen, steuern den nächsten Weg nach dem Kindergejohle an, das aus einem Tal heraufschallt. Sonntag, Ausflugswetter, Kartoffelfest. Wir meiden die Menge auf den breiten Wegen, biegen an einer Brücke ab, schlüpfen in ein Seitental, wo wir an Bachläufen unter Fichtensäumen gehen wie unter Galerien. Noch ein Anstieg, dann entläßt uns ein Wildgatter in einen kolossal offenen Raum, in den wir unsere eigene Ferne vorauswerfen: als Weg, als Zukunft, als Plan, als einen Umriß und ein Gefäß dessen, was unsere nächsten Schritte heranholen und ausfüllen werden.
Eine Bank, eine Infotafel. Wir machen Pause im Licht einer milden Spätsommersonne. Hinter uns ein Hang mit knisterndem Wacholder. Schokolade schmilzt wie das Licht auf den fernsten Hügeln. Zu unseren Füßen derweil kämpft ein merkwürdiger, ohrwurmartiger schwarzer Käfer mit seiner eigenen urwaldbestandenen Ferne.

Später ist unsere Ferne nah, wo aus dem Greifbaren plötzlich ein Traktor mit Anhänger unseren Raum kreuzt. Staub hat sich von anmutigen Fahnen in farbloses Husten verwandelt. Der Weg ist schmal und zwingt uns zum Ausweichen in den Graben, und plötzlich besteht die Welt nur noch aus Lärm, Schatten, gewundenem Stahl und Gestank. Staub wirbelt um die riesigen Reifen. Der Fahrtwind saugt gehäckselte Maisblätter dem Wagen nach. Auf unseren Zähnen knirscht Sand.
Wir merken, es ist ein ständiges Kommen und Gehen dieser Fahrzeuge. Ein paar Schritte weiter dann Blick auf ein Feld, wo ein Maisvollernter den Berg rasiert. In Fahrtlinie fallen die Stengel, während es aus dem vogelhalsartigen Rohr Körner sprudelt. Sie prasseln in einen Anhänger, der von einem Riesentraktor parallel neben dem Ernter her gezogen wird. Es dauert keine Minute, da ist der Anhänger voll. Der Ernter bleibt stehen, das Rohr spuckt noch ein bißchen nach, der nächste Traktor wartet schon. So geht es Reihe um Reihe, die Felder stehen voll, die Arbeit dauert Stunden um Stunden. Ich hätte keine Geduld für so etwas, denke ich. Ein Feld pflügen oder ernten. Wände streichen. Eine Mauer bauen. Nach einer Reihe hätte ich schon die Nase voll, Geduld habe ich nur beim Gehen, eine Geduld, die, statt sich aufzubrauchen, mit jeder Meile noch zunimmt.

Wir sind dort, wohin wir vorhin geschaut, wir sind in dem Raum, den wir vorhin mit rasch ausgreifenden, gierigen Blicken vermessen haben. Was von oben nicht mehr war als ein Silberfaden in den Kissen der Hügel, ist jetzt ein breiter Feldweg. Die dünnen Staubfahnen der Traktoren sind jetzt Tonnen und Walzen, die uns die Sicht nehmen. Alles ist anders. Die Innenansicht entzieht sich den Bildern, die wir aus der Draufsicht gewonnen haben, so wie eine Karte stets Bilder, aber nie das zutreffende Bild der Landschaft erzeugt, aus der sie per Abstraktion gewonnen wurde.
Fernen, in Fernen eingefaltet. Unendliche Abtönungen von Distanz. Ein Strom von Annäherungen und Entfernungen. Immer wieder schaue ich zurück zu unserem Rastplatz, alle paar hundert Schritte. Dort oben geht auch jetzt, in diesem Moment, der Käfer seinem Geschäft nach, wippt vielleicht ein Grashalm, schnellt eine Meise von einem Wacholderzweig. Irgendetwas ist der Fall dort oben, ohne uns. Die Bank steht in der Sonne; man würde uns von dort jetzt nicht mehr ausmachen können im Dunst der Ebene. Manchmal genügt eine Viertelstunde, um Heimweh nach einem Ort zu bekommen. In der Erwartung, die jedes Mal weiter geschrumpfte Infotafel beim nächsten Umdrehen nicht mehr sehen zu können, zeigt sie sich doch noch einmal. Und noch einmal. Doch da ist die Stelle selbst schon Ferne geworden, Weite, die sich nur noch selbst kennt, unberührbar, mit eigenen Dingen beschäftigt, uns nicht mehr nachschaut. Einer von den Orten, an die man nicht zurückkehren kann. Was wir da droben sehen, diesen Fleck, der die Infotafel ist, die helle Stelle, wo die Bank stehen muß, das Säulchen eines Wacholderbaums – das ist alles nicht mehr als eine leere Hülse, ein Zeichen, das für etwas bereits Verschwundenes steht. Schon jetzt gibt es den Ort nicht mehr, außer als Bedeutung, außer im Zeichen, außer in uns, und vielleicht war er nie anderswo als eben dort.

112 Meilen (4)

Ich muß nichts mehr besitzen, denke ich versonnen, während ich mein Brot kaue und in die Morgensonne blinzle.
Es hat merklich abgekühlt, dafür ist der Himmel klar. Man merkt, es wird ein warmer, milder Helbsttag werden; noch aber spendet die Sonne nur gerade so viel Wärme, daß es fürs Auge reicht. Der Rest friert, ja zittert. Schnell noch ein Stück Schokolade, und weiter.
Am Morgen nicht aus dem Bett gekommen, schwerer Kopf, noch schwerere Glieder. Selbst nach dem Kaffee liegt eine Art Dunkelheit hinter den Augen, als hätte die Nacht einen Schlupfwinkel in meinem Kopf gefunden. Einmal habe ich eine Wanderung wegen einer Erkältung, die mich am Abend der zweiten Etappe heimsuchte, abbrechen müssen; seitdem fürchte ich ein solches Pech wie der Teufel das Weihwasser. Blöd genug, daß noch vier Pensionswirte auf uns warten, denen wir dann kurzfristig absagen müßten; noch dümmer, daß, wenn man nur Pech genug hat, die nächste Bahnstation einen halben Tagesmarsch entfernt ist, eine Strecke, die ich dann mit Fieber zurücklegen müßte. Am dümmsten aber, daß K. und ich jedes Jahr nur eine Chance haben, so eine Wanderung zu machen. Das will man nicht durch einen Virus vergeigt sehen.
Mit solchen Gedanken und einem matten Druck auf der Brust gehen ich los. Du bist jemand, der sich Sorgen macht, hat mir vor kurzem mal jemand gesagt. Stimmt genau. So einer bin ich. Ich sehe die Dinge genau vor mir, die schiefgehen können, alle. Das ist manchmal beschwerlich.
Die Straße ist taunaß und beginnt zu glänzen, wo die frühe Sonne den Asphalt berührt; Ahorn leuchtet; Nebel schaut verschlafen aus den Tälern; es ist ein Morgen wie aus dem Bilderbuch, aber ich gehe bedrückt und sehne mich nach Kaffee nach dem Kaffee. Eine Wegbiegung durch klammen Schatten, dann strahlt uns Blankenheims Burg aus der Höhe an.
Es ist Sonntag. Die Stadt schläft noch. Ein Schwarm Mountainbiker ist früh aufgestanden, überholt uns an der Straße, die steil aufwärts aus dem Ort fortführt. Mountainbiker bergauf sind ein seltsamer Anblick; wie sie sich mit irre schnellen Kurbelbewegungen in höchst zähem Tempo hinaufkämpfen, zentimeterweise, als zögen sie sich selbst an einem Flaschenzug in die Höhe, hat es etwas Sisyphoshaftes, Mitleiderregendes. Eine etwas schnellere Gangart, und wir würden sie zu Fuß wieder einholen. Ich habe schon Mountainbiker bergauf beim Lauftraining überholt. Zu Fuß Gehen, denke ich wieder einmal, ist für uns Menschen wohl die effizienteste Art, sich fortzubewegen. Langsam, aber fast endlos durchzuhalten.
Vor uns entrollen sich Fernen, strecken sich und gähnen wie Urlauber auf der Terrasse. Schlehen hocken versteckt hinter Dornen. Weißdorn lodert wie Ampeln aus dem Gebüsch. Der Sommer war lang, der Herbst spät und mild, Färbung hat noch kaum richtig eingesetzt. Nach dem Regen der letzten Tage ist die Luft wie gespült, die Weiden und Äcker liegen wie auf einer Anrichte drapiert. Der Druck in der Brust läßt nach, die Nacht strömt aus den Augen davon. Das Gehen geht von selbst. Man möchte dreimal mehr Atem schöpfen als man braucht und wünscht sich einen Geschmackssinn für Licht.
Die letzten bekannten Wegmarken: ein Holzstoß ohne Holz, nur noch aus Schleifspuren und Erinnerungen bestehend; Wegnamen: ein Brotpfad. Abzweigungen, an denen wir vorbeilaufen, deren Ziel ich kenne. An dieser Hütte bin ich vor Jahren an einem Neujahrstag vorbeigekommen, übermüdet nach einer schlaflosen Nacht, in welcher Nachbarn Brauchtumspflege betrieben. Damals hätte ich gleich hier übernachten sollen. Irgendwann mache ich das vielleicht. Alles scheint greifbar an einem solchen Morgen, das nächste wie das Entlegene, Vergangenheit, Zukunft und der unbegrenzte Augenblick, in dem ein Pilzhut aufblitzt, K. sich die Nase putzt, der Stiefel einen Kiesel anstößt und damit einen winzigen Beitrag zur langsamen Arbeit der Gebirgsabtragung leistet. Fast glaubt man, Schmetterlinge zu sehen, aber es sind nur die leuchtenden Körper von Spinnennetzen. Manchmal flackert ein Gebüsch von Vogelflug. Ein Rascheln, ein Warnpfiff, dann setzten sich Farbe, Schatten und Tiefen wieder zusammen.

Es ist so einfach, sich vorzustellen: Ab jetzt wird alles anders. Das eigene Leben scheint machbar, formbar, gestaltbar. Plötzlich hat man wieder die Wahl. Man könnte einfach so weitermachen, einfach weiterlaufen, der schwerste Augenblick, das Schließen der Tür, ist drei Tage her, wann wenn nicht jetzt, schon Verblassen die Erinnerungen an überfüllte Pendlerzüge, verstopfte Straßen, Bürovormittage, Lichtzeichenanlagen. Was für eine Absurdität, überhaupt, nicht einfach gehen zu dürfen, nur weil irgendwo ein Ampelhampelmännchen rot leuchtet. Irrsinn. Gehen ist das einfachste von der Welt, so elementar wie Atmen. Dafür gibt es ja auch keine Ampel.
Das Gefühl während jeder Wanderung: Jetzt muß, jetzt kann alles ganz anders werden.

Das Elementare wieder an seinen Platz rücken, denke ich mir. Das Leben absolut setzen. Seine Grandiosität endlich ernst nehmen. Schon genug Jahre an einem albernen Schreibtisch verbumfidelt. Was braucht es mehr zum guten Leben als einen Rucksack und ein Paar Wanderschuhe? Augen zum Sehen, Gedanken zum Denken und einen Bleistift für die Geschichten? Was wäre das für ein Leben? Nicht immer ein bequemes; sicher ein menschengemäßeres.
In solchen Augenblicken, auf einem steilen Anstieg kurz vor dem Frühstück, zu Füßen in Bronze gegossenes Laub, die Ferne wie ein Sog vor den Schritten, Pantomimen des Morgenlichts in den rotgewürzten Buchenwipfeln, mit Magenknurren und dem klaren Bewußtsein einer kräftigen Wurst im Rucksack – in solchen Augenblicken scheinen die Bilder von den Alltagsquälereien nicht einmal mehr bitter. Sie lassen sich einfach auflösen wie Nebel. Sie wiegen nichts mehr. Sie sind so irrelevant wie die Sorgen eines abgelegten Jahrhunderts.

Später, Meilen von hier, aber noch Meilen von Gerolstein entfernt, kommt alles zum Schweigen. Das Land streckt sich voller Winkel und Spalten; Kiefern und Wacholder duften; ein namenloser Käfer kämpft sich unter der Bank durchs Gras. Der Blick lernt fliegen, und die Sonne tastet alles ab, nimmt die Dinge in Augenschein, krümmt hier einen Fluß zurecht, schiebt noch einen Forst etwas malerischer auf einen Hügel hoch, sieht mild zu, wie ein Traktor eine Staubfahne über einen Weg wirft, bis alles, alles perfekt ist, und da ist es plötzlich ein Glück, ohne Worte zu sein, leer und frei wie Luft über Steinen, ahnungslos und vorbehaltlos offen.

Wir frühstücken, genauer gesagt, wir frühstücken zum zweiten Mal, das erste Frühstück war ausgezeichnet, neben reichlich Brotsorten und Brötchen, Wurst, Käse, Marmelade hat der Wirt uns einzigen Frühstücksgästen ein frisches Omelette zubereitet. Passend zum Namen des Wegs, Brotpfad, machen wir an der Hütte Rast. Brot, Wurst, Äpfel von Huberts Wiese. Die Geschichte zu dieser Hütte war: In der Silvesternacht 2008 so furchtbar über die Hofnachbarn geärgert, die zum ersten Mal, seit ich dort eingezogen war, den Jahreswechsel feierten, so laut, als wollten sie die versäumten Silvesternächte alle auf einmal nachholen, daß ich mich erblödete, bei den Ordnungshütern anzurufen. Dort beschied man mir, sie könnten nichts unternehmen, das sei Pflege des Brauchtums, da dürfe man auch die ganze Nacht durchfeiern. Kaum vorstellbar, daß ich damals keine Ohrstöpsel im Haus hatte (heute vergeht keine Nacht, da ich die Dinger nicht brauche), aber es waren wohl insgesamt leisere Zeiten, wie ich die Nacht rumgekriegt habe, weiß ich nicht mehr, will ich auch nicht wissen. Jedenfalls bin ich nach Plan um sechs aufgestanden und war gegen acht in der Eifel. Am späten Nachmittag des ersten Januar kam ich aus der anderen Richtung an diese Hütte, hatte mir die Müdigkeit und den frustrierten Zorn aus den Gliedern gelaufen, freute mich über die liebevolle Sorgfalt, mit der die Hütte eingerichtet worden war (es fehlte nicht einmal Klopapier), und schrieb sogar ein paar Zeilen ins Gästebuch, etwas in der Richtung, wie froh ich über die Stille sei. Denn still war es, endlich, an diesem verkaterten Feiertag. Ich bin den ganzen Tag keinem Menschen begegnet.
Es ist ein schöner Ort, eine Wegkreuzung im kurzen Schatten von Eichen, der Gipfel eines Hügelkamms, das Licht überall nah, wie Glockenklang aus einem gemütlichen Dorf. Wir kriegen Besuch: zwei Mountainbiker in voller Montur, ein Mann und ein Mädchen, dem Alter nach Großvater und Enkelin. Sie steigen ab und sehen sich um, spähen durchs die Fenster der Hütte, können sich nicht entschließen, sich zu uns zu setzen. Der Mann schiebt ein Bäuchlein vor sich her. Das Mädchen, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, ist ausgesprochen hübsch. Blondes, halblanges, glattes Haar, großer Mund, helle Augen, die die Farbtemperatur von allem, was sie anschauen, zu heben scheinen; geschmeidiger Körperbau, Beine, die sicher und federnd tragen, nicht mehr Kind, noch nicht Frau, ich staune dieses Wesen an, die Brüste nehmen eine Reife vorweg, die der Stimme, den Händen noch fehlt. Und wie ich ihre selbstvergessene, noch durch keinen Selbstzweifel angekränkelte Anmut bewundere, überkommt mich ein seltsamer Hunger. eine nagende Wehmut, als hätte ich irgendetwas verpaßt, und nun wäre es zu spät. Ich spüre eine bekannte Unruhe sich regen; der Fahradhelm blitzt am Ellenbogen; das blonde Haar ist stellenweise von Schweiß und Helm an den Kopf geklebt, was das Entzücken nur steigert. Und dann löst sich alles in einer Art befreiter Heiterkeit auf. Du mußt das nicht mehr, denke ich. Du stehst dem Großvater an Jahren näher als dem Mädel. Laß gut sein. Du mußt dir nicht mehr den Kopf zerbrechen, wie du das Interesse der hübschen Kommilitonin aus dem Hegelseminar auf dich ziehst. Du brauchst nicht mehr cool und attraktiv zu sein. Du hast das alles hinter dir. Du mußt nichts mehr haben, du mußt nichts mehr kriegen, du mußt nichts mehr besitzen.
Es reicht, wenn du in der Sonne sitzt, dein Brot mit einer Gefährtin teilst; es reicht, daß es Worte gibt und einen Platz, sie niederzuschreiben; es reicht, daß der Weg schmal ist und das Ziel noch sehr, sehr fern.

112 Meilen: Blasenexkurs

Man kann mit knurrendem Magen wandern, und man kann halbverdurstet wandern. Man kann mit fünfzehn und mehr Kilo Gepäck auf dem Buckel wandern. Man kann schwitzend, frierend und übermüdet wandern. Man kann mit einem Kater wandern und mit Muskelkater auch. Man kann durchnäßt immer noch prima einen Fuß vor den andern setzen, und der Gegenwind fällt beim Gehen am wenigsten auf. Man kann durch Tiefschnee waten oder über glühende Steine springen, man kann bei Dunkelheit gehen und buchstäblich bei Nacht und Nebel. Man kann halbtot sein vor Erschöpfung, und man staunt, was noch alles geht, nachdem man das erste Mal gedacht hat, Ich kann nicht mehr. Man kann mit dem Kopf unterm Arm gehen, wenn nur die Beine noch nicht abgefallen sind. Aber eine kleine Blase am Fuß, und die Wanderung ist gelaufen – wenn man Glück hat, und eine Bahnlinie in der Nähe ist.

Erst ist da nur so ein komisches Gefühl, als wäre der Socken verrutscht. Dann ist es ein Kratzen. Aus dem Kratzen wird ein Scheuern. Aus dem Scheuern ein Brennen, aus dem Brennen ein Schmerz. Und schließlich kann man nur noch humpeln. Als wäre eine glühende Münze im Schuh. Wer das nicht selbst erlebt hat, wird nicht glauben, wie weh ein solch vermeintliches Wehwehchen tun kann. Und es ist auch kaum glaubhaft, was so ein Schmerz mit demjenigen macht, der ihn zu ertragen hat. Gestandene Männer fragen, wie weit es noch sei; vernünftige Erwachsene stampfen mit dem Fuß auf (dem gesunden, versteht sich) und verkünden, daß sie keinen Schritt mehr weitergehen; Kerle, die sich durchaus das Epithet «hart» zutrauten, brechen weinend am Straßenrand zusammen. (Das ist nicht übertrieben. Ich muß das wissen, denn der harte Kerl war ich selbst. Es geschah auf einer viertägigen Wanderung von Wittlich nach Bonn; die Blasen traten am Nachmittag des zweiten Tages am kleinen Zeh auf, wuchsen sich aus zu einer Blasenkolonie, unter der der Zeh verschwand wie unter Luftkammerpolstern; ich lief die hundertvierzig Kilometer trotzdem durch, aber hinterher konnte ich drei Tage keine Schuhe mehr tragen. Seitdem weiß ich, daß es Mehrkammerblasen gibt, wo eine Blase über der anderen wächst wie Pilze aus Schmerz. Wieviele Schritte machen einen Kilometer? Wieviele zwei? Zehn? Zwanzig? Wer Blasen hat, weiß das. Kaum jemand macht sich Gedanken über die Anzahl von Schritten – bis jeder einzelne so weh tut, daß man in die Knie gehen möchte. Oder besser: auf Knien.)

Aber eine Blase ist wenigstens ein manifestes Übel. Man kann sie untersuchen, betasten, aufstechen, abkleben. Man kann ihren Verlauf beobachten. Man kann den nackten Fuß schütteln und mit Erstaunen registrieren, daß die Flüssigkeit schwappt. Man kann sie anstaunen, anstarren, verfluchen. Man hat was zu tun mit einer Blase. Andere Schmerzzustände zeigen sich nicht in äußerlich sichtbaren Symptomen. Keine Rötung, keine Schwellung, keine Läsion gibt Hinweis darauf, daß irgend etwas kaputt wäre, dort wo es bei jedem Schritt so höllisch schmerzt: diese Stelle an der Ferse, am Spann, am Zeh. Der Schmerz verschwindet, sobald man aus dem Stiefel schlüpft, als wäre nie was gewesen; läßt sich durch keine Bewegung, keinen Druck des prüfenden Fingers hervorrufen. Nur im Schuh schmerzt es. Bei jedem Schritt, und bei jedem Schritt ein bißchen mehr. Man tritt anders auf, man variiert die Schnürung, man klebt Pflaster auf die Stelle. Vergebens. Vielleicht Rückwärtsgehen? Ein Freund erzählt mir von einem Wanderkameraden, der am Ende so verzweifelt war, daß er versuchte, an der betreffenden Stelle ein Loch in den Schuh zu schneiden. Aber Schuhe, Wanderschuhe zumal, sind nun einmal dafür gemacht, scharkantigen Gegenständen zu widerstehen. Auf Socken, erzählt der Freund, hätten sie in der Dunkelheit das nächste Dorf erreicht, wo sie den Pfarrer vom Fernsehkrimi wegklingelten und baten, ob er sie zur Bahnstation fahren könne.

Bei der Behandlung oder Vorbeugung von Blasen gehen die Ansichten auseinander. Während die einen darauf schwören, die Blasen mit einer sterilen Nadel aufzustechen, zu desinfizieren und abzukleben, lehnen andere diesen Eingriff als unhygienischen Leichtsinn ab. Nicht von der Hand zu weisen, denn wer hat schon auf einer Wanderung sterile Nadeln und Desinfektionsmittel dabei? Die Blase ist ein natürliches Polster, das das Gewebe vor Läsionen durch Reibung schützen soll, erfüllt also eine ähnliche Funktion wie die Schwellung im verknacksten Knöchel, die das Gelenk ruhigstellt. Wer jetzt mit Eisspray die Beweglichkeit wiederherstellt, tut sich keinen Gefallen. Dummerweise neigen Blasen dazu, bei anhaltender Belastung aufzuplatzen. Und wenn das passiert, jammert der harte Kerl nicht mehr, sondern ruft nach seiner Mama.
Manch einer meint auch, durch Blasen müsse man einfach durch, wie durch Kinderkrankheiten. Ich kann mich gut an den Schweizer Bergsteiger erinnern, der mir sagte, Blasen könne man nicht verhindert, Blasen müssen man aushalten. Ich weiß nicht, welches Epithet sich so einer zutraut. Jedenfalls ist wohl richtig, daß man sich in einem eingelaufenen Schuh keine Blase mehr holt. Eigentlich. In der Theorie. Andererseits ist der Blasenschmerz vielleicht ein zu teurer Zoll für einen passenden Wanderschuh. Schwierig wird es zumal, wenn man den Schuh nur ein- zweimal im Jahr trägt; da geht der Blasenzirkus nämlich jedesmal wieder von vorne los. So wird die monatelang geplante Korsika-Durchquerung oder der Inka-Trail zum Höllentrip.
Für viele bewährt hat sich der Einsatz von Blasenpflastern. Die Sache hat allerdings zwei Haken. Erstens: Wer schon einmal einen Langstreckenlauf mit Blasenpflaster absolviert hat, weiß, daß der Klebstoff nach zwei Dutzend Kilometern aufgibt, das Pflaster mithin verrutscht. Das ist in einem Wettkampf, wo man nicht so ohne weiteres anhalten und die Füße neu pflastern kann, recht mißlich. Zweitens: Man muß vorher schon wissen, wo es später weh tun wird, sonst nutzt das beste Pflaster nichts. Wenn man das weiß, hat man Glück, aber dann tut es auch einfach Leukoplast, das ist billiger, läßt sich besser zurechtschneiden, klebt wie Pech und Schwefel und verhindert zuverlässig Reibung. Nach meiner Erfahrung ist dagegen von besonderen Socken aus Funktionsgeweben, die einerseits rutschfest anliegen, andererseits an einschlägigen Stellen wie Ferse und Zehenbereich besonders stark gepolstert sind, abzuraten: Sogenannte Funktionsstoffe führen im Widerspruch zu ihren Versprechungen nicht zum Abtransport von Feuchtigkeit, sondern erst einmal zu extremer Schweißproduktion. Schweiß aber läßt die Haut aufquellen, was die Blasenbildung begünstigt. Das beste Material für Socken ist immer noch Wolle. Wolle ist angenehmer zu tragen, bevördert das Schwitzen weniger, transportiert die Feuchtigkeit ebenso gut wie Funktionsstoff aus Kunstfaser, und anders als jene fängt sie nicht nach ein paar Kilometern an zu stinken. Besondere Polsterungen aber können recht schnell zu Druckstellen und blauen Zehennägeln führen. Ob das besser oder schlechter als eine Blase sei, ist Geschmacksache.
Die beste Vorbeugung gegen Blasen ist natürlich ein passender Schuh. Es gibt Schuhhändler, die behaupten, Schuhe müßten nicht eingelaufen werden; gebe es Blasen, trage man einfach noch nicht den richtigen Stiefel. In Zeiten von Konfektionsware eine leichtfertige Behauptung: Finde da mal einer den richtigen Schuh. Ich habe zudem schon Blasen in Schuhen bekommen, in denen ich bereits viele hundert Kilometer blasenfrei gegangen war. Und Wolfgang Büscher berichtet in seinem Buch Berlin–Moskau, daß ihn der Stiefel gedrückt habe, auch noch nach tausenden von Kilometern – Blasen, scheint es, schmerzen nicht nur, sie sind auch so unberechenbar wie Pest und Schnupfen.

112 Meilen (3)

Zum Gehen braucht es Hüftgelenke, Knie, Muskeln, Füße, Knöchel, allerlei Bänder und Sehnen, manchmal eine Willensanstrengung, oft einen langen Atem. Man braucht Kreislauf, Wasser, Nahrung. Man braucht nicht unbedingt ein Ziel. Aber man braucht gesunde Zehen.
Am Abend des zweiten Tages ist mein linker großer Zeh nicht gesund, schmerzt bei der Adduktion, schlimmer, schmerzt bei jedem Schritt. Wieder alle Fragen neu. Lag es am Schuhwerk? Am Asphalt? An meiner erzwungenen Laufpause? Am Gepäck?
Ich hasse es, mich auf mich selbst, auf meine Muskeln, Bänder, Sehnen, nicht verlassen zu können. Es sei denn, in Büchern, mag ich keine Überraschungen, weder beim Wandern noch sonst.

Wir gehen noch essen, unsere Gastgeber und wir; wir fahren über Feldwege, die eigentlich dem landwirtschaftlichen Verkehr vorbehalten sind, aber Hubert, der große Umweltschützer und Kräuterpädagoge, hat keinerlei Skrupel. Wie unterschiedlich die Auffassungen sind: Jeder kommt mit seiner Ideologie aus einer anderen Richtung. Für mich verböte es sich, auf dem Feldweg zu fahren, weil mich als Fußgänger Autos auf Feldwegen bis zur rumpelstielzoiden Raserei nerven; für Hubert zählt vielleicht das bessere Argument, daß der Weg zu unserem Ziel, ein entlegenes Gasthaus am See, über offizielle Straßen mehr Fahrerei, mithin mehr Kraftstoffverbrauch bedeutete. Ich weiß es nicht, ich tauge nicht für Diskussionen, registriere nur mit müdem Erstaunen, daß wir auf einem Feldweg fahren und ich mithin Teil von etwas bin, das sich mir sonst als verhaßtes Ärgernis zeigt. Da es nicht meine Entscheidung ist, wo wir fahren, beschließe ich jedoch, mich nicht dafür zu hassen.

Ob Bier eigentlich vegan sei? Die Hefe habe doch mal gelebt! Ich verkneife mir die Bemerkung, Die Gerste nicht?

Der See nur eine Ahnung, eine Art Tiefe in der Luft über dem Dach eines Holzhauses, als würfe die Wasserfläche ihre Dunkelheit hinter Hecken an den Himmel. Da der Name «Steinbach» im Auto gefallen ist, kann es nur die Talsperre sein; dann muß ich an dieser Stelle, wo wir ans unsichtbare Ufer kommen, dutzende Male vorbeigekommen sein. Aber natürlich nicht nach Einbruch der Dunkelheit, und nicht aus dieser Richtung. Wie wenig man sieht, wie eindimensional. Ein Weg ist eben immer Richtung. Eine andere Richtung ergibt einen ganz anderen Weg. Morgen früh werden wir an dieser Stelle Rast machen und Wurst essen. Die Apfelbutzen landen hinter der Bank. Der Ort hat sich abermals verwandelt; jetzt gleicht er dem Weg, den ich so oft gegangen bin, worin er vertraut wird; aber in ihm überlagert sich die Erinnerung vom Abend mit der Stunde jetzt, und da wird er wieder fremd.
Das Logo, Schriftzug mit kleinem Fuchs, über dem Eingang zum Restaurant, wo wir gestern aßen: Wie eine Telephonnummer, die man nach einer Kneipennacht in der Gesäßtasche findet, und von der man gleich weiß, daß man sie niemals anrufen wird. Hinter den Terrassenfenstern ist noch Nacht.
Am Ufer Photographen mit riesigen Teleobjektiven. Die Spiegelungen ducken sich in den Teich, wie zarte Gemüter vor der Blöße von Exhibitionisten.

Der Fuß schmerzt, gleich bei den ersten Schritten. Furcht kommt auf. Was, wenn ich es nicht schaffe? Man kann zwanzig Kilometer mit Schmerzen gehen; aber dreißig und mehr sind schon in günstigen Umständen eine Herausforderung. Und wer auch nur zehn Kilometer mit einer Blase gelaufen ist, weiß, daß ein solches Wehwehchen im Handumdrehen an die Belastungsgrenze führt.

In Bad Münstereifel wird es kritisch, ich merke, daß ich anfange zu humpeln. Der Plan: zurück zu den schweren Schuhen, dem Problem der Druckstellen durch Weglassen des zweiten Sockenpaars zu begegnen. Ein Griff der erfahrenen Masseurin, mit der ich das Glück habe, diese Wanderung zu machen, auf einer Bank an einem Brunnen, umgeben von Samstagsgreisen, die die Hauptstraße entlanggehen und zumeist -rollen; der Schuhwechsel; und plötzlich ist es, als habe K. den Schmerz aus dem Zeh gezogen, zusammengeknüllt und in den Abfalleimer geworfen. Das Gehen mühelos, kaum ist der Schmerz weg, fühlt man sich wie ein junger Gott. Die zehn Kilometer von heute früh sind vergessen, nun wollen die restlichen zwanzig bis Blankenheim gegangen sein.

Die Kellnerin im Café «Printenhaus» hat auch mal Christoph und mich bedient. Ich neide ihr die zünftigen Schuhe und mag ihren breiten Mund über dem kräftigen Kinn.

Der neben dem Treppchen abgestellte Rollator; davor ein Hundenapf. Als habe jemand die Blechschale der durstigen Gehhilfe hingestellt.

Alte Jahre, seltsam unberührt. Damals, sagen wir schon einander und gehen auf alten, auf sehr alten Wegen. Aber wir sind nicht mehr die von damals. Wir haben unser eigenes Leben miteinander aus dieser Vergangenheit abgezweigt; und schauen zurück auf zwei, die uns merkwürdig ähnlich sind, aber uns nicht kennen, erst noch wir werden müssen. Was für eine Aufgabe, denke ich. Ich erinnere mich an ein Photo, durch eine Hecke aufgenommen. Irrtum des Autofokus, die Hecke ist scharf, die Landschaft, das Hauptmotiv der Ferne, verschwommen. Die Hecke ist noch da, die Wege. Die Bürstenfrisur eines Gehölzes auf einem Hügelkamm. Er sah damals genauso aus. Wir leben schon in einer Zukunft, die von damals aus nicht faßbar war. Am Ende eines langen Schattens, der uns geworfen hat und weiter wirft.

112 Meilen (1)

Am Rande der Großstadt ankommen, der bekannten, der unbekannten, der oft durchfahrenen.
Linie 260, Linie 4, die Straßenzüge vertraut, aber jetzt wie aus der Froschperspektive, als wäre man geschrumpft, als kröche man auf allen Vieren. Aus dem Feld, aus dem Wald, naß und verdreckt und müde von neun, zehn Stunden Marsch auf die Straße treten und plötzlich als Fremder in die gestern erst verlassene Welt zurückkehren, wie das eigene dunkle Haus bei Nacht, in fremdem Gewand, durch die Terrassentür: In jedem schäbigen Waldgasthof in der Einöde wäre man heimischer als hier, nach einem Tagesmarsch keine Stunde Zugfahrt von der eigenen Wohnung entfernt.

***

Das windschiefe Fachwerkhaus in dem kleinen Weiler unweit der Bundesstraße, mühsam richtet es sich eigens für uns auf dem Ellenbogen auf. Ich denke an die Spinnen im Keller des Hauses, das wir gestern besichtigt haben. Wie die Schatten an der Wand die transparenten Spinnenleiber in die Luft projizierten wie holographische Fresken.

***

Ein Rind, das im Galopp auf uns zustürmt, ein anderes, auch im Galopp, das vor uns flieht. Beide irritiert von unseren Regenponchos. Ein Phänomen, das uns wieder und wieder begegnen wird. Ich summe in Gedanken einen Tanzsatz eines unbekannten Künstlers, den ich neulich im Radio gehört habe. Es wird mein Soundtrack für die nächsten 112 Meilen.

***

Der freundliche Kellner in Unterburg teilt uns bedauernd mit, daß es den ganzen Tag regnen wird. Wir lassen uns, noch halbwegs trocken, unser Lachsfrühstück schmecken. Später die Sengbachtalsperre. Der Wasserspiegel geschwollen wie ein entzündetes Auge. Die Staumauer aufgequollen, als wäre es Pappe. Ingenieure, die irgendwelche Messungen durchführen, kommen uns entgegen, die Jacken noch trocken. Blick in eine Art Wachturm an der Mauer. Durch die halboffene Tür sichtbar ein schmaler, erleuchteter Innenraum, Schreibtisch, Lampe, elektrische Geräte. Das Gemütliche einer solchen Arbeit. Stifte, Papier, Daten. Konzentration. Draußen der Regen. Regen. Irgendwo wird es Kaffee geben, kochendheiß aus einer Thermoskanne.
Das Südufer ist steil, der Weg matschig. Nasse Buchenzweige schlagen uns ins Gesicht, während wir aus dem Tal kriechen. Oben wartet der nächste Schauer.

***

Die Ränder der Feldwege lösen sich auf wie Papier; wenn der Wind auf die Forste drückt, spritz das Wasser heraus wie aus Schwämmen. Kirchtürme ducken sich unter die Spitzdächer, die Schallfenster der Glockenstühle zu Schlitzen geschlossen. Keine Glocken. Die Rinder glotzen. Zwei Kälber saugen am Muttereuter, ihr Hunger unbeeindruckt vom Regen. Wir verlaufen uns. Dicke Tropfen fallen auf das, was von der Karte noch übrig ist.

***

An der Bushaltestelle, wo wir Pause machen, geschützt vor dem Regen, nicht vor dem Wind, rutscht mir der Rucksack von der Bank, und das Brot, gottlob verpackt, fällt in einen Speichelteich, den ein gelangweilter Teenager dort angelegt hat. Schon leicht genervt vom Regen, der durchweichten Karte, der Ungerechtigkeit des Himmels, der uns ausgerechnet am ersten Wandertag Dauerregen beschert, brülle ich «Barbaren!» in den Regen hinaus. Das vielleicht zwölfjährige Kind, das auf den Bus wartet, den wir ignorieren werden (zu stolz; außerdem geht er in die Gegenrichtung), hat auf der Wange eine riesige, schwarze, gerade, vom Mundwinkel bis zur Schläfe reichende Narbe. Aufgemalt, als wäre schon Hällowien oder Karneval. Neben der Speichelpfütze liegt eine abgenagte Kuchenrinde.

***

Eine Birne, ein Stück Schokolade, keine Muße, richtig Pause zu machen. Der Lärm der Straße pustet uns entgegen, man versteht sein eigenes Wort nicht, wir kauen stumm, mit klammen Fingern, auf der harten Schokolade. Schwertransporter, gefolgt von einer Schlange Autos, gefolgt von einem noch schwereren Schwertransporter. Die Reifen spritzen, der Grund bebt. Die aus dem Busfenster betrachtet so ruhige, ja beschauliche Landstraße (im besten Sinne des Wortes eine Landstraße, erweist sich als mörderisch, wenn man selbst ruht und ihr zusieht.

***

Der freundliche Mofafahrer, der gerade in dem Moment nach Hause kommt, wo wir, eine druckfrische, aber bereits veraltete Karte in Händen, vor zugesperrten Zäunen und Haustüren stehen, vor die uns die Karte geführt hat, und nicht weiterwissen. Wir lassen uns den Weg zeigen. Ein Maisfeld. Und noch eine Landstraße. Im letzten Waldstück hört der Regen auf.

***

(In der Unterkunft hört man die Linie 4 hinterm Grundstück vorbeifahren. Ein paarmal bin ich da selbst drin gesessen. Und wußte nicht, daß ich dort vorbeifuhr, wo ich später im Jahr im Bett liegen, und dies schreiben würde.

***

Wir essen zu Opernklängen. Antipasti. Taglerini mit Lachs und rosa Pfeffer. Totmüde ins Bett. Im Bad tropfen die Ponchos.

Irrlichter

Plötzlich, beim Queren des Hauptwegs, blitzt rechts von mir das Doppelauge eines Autoscheinwerfers in der Tiefe des morgendunklen Waldes auf. Ein Ärgernis, das keine Seltenheit ist. Ich laufe weiter, vielleicht hundert Meter, das Licht verschwindet hinter den gestaffelten Hindernissen der Bäume, bis zur nächsten Kreuzung, wo es, großzügig aufgeblendet, man ist hier ja alleine, abermals von rechts über meine Wange flammt, aus der Linie des speichenartig vom ersten fortstrebenden zweiten Hauptwegs heraus mich zielsicher trifft: der Fahrer ist dort vorne abgebogen, sein Licht meiner Laufrichtung gefolgt, wie ein Radarstrahl nach mir tastend; die Scheinwerfer halten voll auf mich drauf. Ich bleibe stehen und blende einen Moment mit der Stirnlampe frech zurück, ehe ich meinen Lauf, taumelnd und steifbeinig, fröstelnd, im Wissen, daß ich beobachtet werde, fortsetze. Auf einem für normale PKW unzugänglichen Pfad laufe ich halbparallel zum Forstweg, auf dem der Wagen sich langsam nähert. Auf die Entfernung und mit der geringen Geschwindigkeit machen Motor und Reifen kaum Geräusch. Laub flammt auf, Schatten graben sich in den Raum wie fliehende Tiere, die Lichtkegel raufen Baumstämme wie Pfahlbündel aus dem Dunkel und lassen sie hinter sich wieder fallen. Der Wagen wird langsamer, die Bäume im Lichtkegel scheinen sich aufzurichten. Ich stehe und leuchte zurück, gut sichtbar für den anderen als einzelner Lichtpunkt in der Schwärze des Waldes. Der Wagen hält. Zwei Lichter, meins und das fremde, starren einander entgegen. Die Bäume stehen still im Lichtkeil. Dann höre ich den Motor im Rückwärtsgang aufheulen, der Kegel schwenkt herum, streift mich, windet einen Schatten um mich, wandert weiter. Bleibt liegen. Im veränderten Winkel sehe ich die Rücklichter im Dunkel glühen; zwischen ihnen und der ausgestrahlten Kulisse des Waldes ist der Wagen selbst ein dunkler Fleck. Lichtspaten pflügen den Wald um, als sich das Fahrzeug langsam wieder in Bewegung setzt. Nur ein paar Meter, ehe es abermals zum Stehen kommt, als ließe dieses andere Licht, dieser freche fremde Schein querab in der Finsternis, keine Ruhe. Eine dunkle Angst kriecht in mir hoch. Und wenn das jetzt kein Förster ist? Kein Jäger, kein Holzfäller? Keiner von den üblichen Forstverwaltern und -verwertern? Wie spät mag es sein, keine sieben Uhr. Ich denke daran, wie ich besorgten Angehörigen, wenn die mir was von Überfällen redeten, von Gefahr, und wer soll mich finden, wenn mir was zustößt, und wäre es nicht besser, ein Händie …?, wenn ich jenen Bedenkenträgern die Bedenken über meine nächtlichen Streifzüge ausgeredet habe: Wer soll denn bitteschön, so meine im Tageslicht stolze Vernunft, sich morgens zwischen fünf und sieben im Wald herumtreiben? Und wenn jemand Böses im Schilde führt – warum sollte er das um diese Zeit auf völlig vereinsamten Waldwegen tun? Ja, denke ich, wer soll denn bitteschön morgens vor sieben Uhr … Und bevor da drüben jemand aussteigen und nachsehen kann, habe ich mich schon abgewandt und laufe in den Wald hinein, weg von den Lichtern, soll ich sagen, ich fliehe? Ich fliehe.

Apollinarishütte

Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Premium-Wanderweg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben, und was oben am Weg, was auf der Landstraße sich nähert, vor sich geht, sich wieder entfernt, geht uns nichts an. Wir sitzen umschlossen von Holz und vor uns hängt Wildwuchs vorm Tal.
Wir sind an dem Ort, der uns schon von zwei früheren Malen kennt. Keine Umschweife, kein Essen und Trinken, nicht einmal der Form halber, unser Hunger, er ist ein ganz anderer, unser Durst ein lange, allzu lange nicht gestillter. Die Rucksäcke legen wir ab, wenden uns einander zu. Wir fassen uns bei den Händen, wir küssen uns und nehmen den Faden, der uns den ganzen Weg hierher zitternd verbunden hat, wieder auf wie ein unterbrochenes Gespräch – aus Küssen. Wozu die Lippen und die Zungen nicht alles gut sind, wir entdecken es wieder und wieder neu. In diesem Moment gibt es nichts zu sagen, was mit Sprache besser oder schöner oder poetischer zu sagen wäre, als mit der stummen Phonetik des Speichels.
Ab und zu lassen wir ab voneinander, schauen uns in die Augen, Stirn an Stirn. Schon haben wir die Brillen abgelegt, ist der Umkreis in wolkige Unschärfe gesunken. Ein Knacken, ein Rascheln: Wir lauschen. Waren da nicht Stimmen? Nein. Wir sind allein, allein in einem Kreis Unschärfe, der uns schützt wie eine Zeltplan. Wir wenden uns einander wieder zu.
Es gibt ein Wort von dir, das mich immer in verlegenes Entzücken versetzt. Du schöner Mensch, sagst du dann, und weil ich weiß, du meinst es so, macht es mich noch mehr verlegen. Jetzt zupfst du mir das Hemd aus der Hose, schiebst es mir hoch bis über die Brust und murmelst etwas davon, was du die ganze Zeit schon gewollt habest. Deine Finger sind warm vom Gehen. Im hölzernen, trockenen Schatten der Hütte leuchtet weiß mein Bauch hervor, rund und weich wie der Bauch eines ruhenden Kindes. Die ganze Zeit klingen Hammerschläge aus dem Tal herauf; Hunde bellen, als hätten sie uns gewittert; im Gebüsch zetern Vögel. Wir halten inne, lauschen. Einmal sind wir zwar nicht erwischt, aber heikel überrascht worden. Auch dieses Mal werden wir so eben noch Glück haben.
„Du schöner Mensch!“ sagst du und beugst dein Gesicht über meinen weißen, weichen Kinderbauch. Dein Mund ist noch wärmer als deine Finger.
Und während wir die Zeit vergessen, vergißt uns die Zeit nicht. Sie drängelt nicht, sie bummelt, wartet, läßt die Momente genau ineinanderfallen. Höflich und diskret teilt sie aus von sich, so daß uns genug von ihr bleibt, um aufzuknöpfen, was aufzuknöpfen, um abzustreifen, niederzureißen, was abzustreifen und niederzureißen ist, und während oben gerade der Wagen in den Parkplatz abbiegt, haben wir genug Zeit, um zueinander zu finden, und während oben der Wagen mit knirschenden Kieseln zum Stehen kommt, haben wir uns aneinandergedrängelt, an die Wand der Hütte gelehnt mit Faust und heiserem Atem, und die Zeit schaut genau hin, daß sich nichts überschneide und peinlich überlappe, die Zeit ist schamhaft und meint es gut mit uns, sie ist unsere Verbündete, unsere Komplizin, die wohlmeinende Amme an der Tür, ich habe dich umfaßt und drücke dir Küsse in den Nacken, während oben eine Wagentür zuschlägt, ein Jubellaut sammelt sich in deiner Kehle, während Schritte über den Waldweg herbeikommen, und bis wir zusammenzucken und die Beine unter uns nachgeben, sind sie schon auf den Pfad zur Hütte eingebogen; aber nichts stört uns auf, die Zeit verlangsamt dort den Gang, beschleunigt ihn hier, läßt unserer Lust die Dauer, hemmt drüben die Schritte, die sich erst nähern, dämpft die Stimmen, die erst dann aufklingen dürfen, wenn wir ermattet auf die Bank zurückgesunken und zu Atem gekommen sein werden; erst wenn wir die Augen zueinander aufgeschlagen, erst wenn wir uns geräuspert, Haar und Hemd in Ordnung gebracht haben; erst, wenn wir uns träge, der Wonne nachschmeckend, geküßt haben, erst, wenn niemand uns mehr etwas ansehen würde (es sei denn, er schaute sehr, sehr genau hin): Erst dann hören wir beide die Stimmen, deutlich jetzt und unbezweifelbar, und wie sich die Familie, zwei Erwachsene, ein Kind, vom Wege her im Rücken der Hütte, wie sie sich unserem Versteck nähern und endlich ins Blickfeld stürzen.
Später, da sitzen wir an der Bank im Freien, wird uns das alles wie ein Traum vorkommen. Die Straße ist still. Die Besucher haben sich umgesehen und sind wieder verschwunden. Niemand kommt mehr vorbei, so lange wir noch hier verweilen. Ein Traum. War da überhaupt jemand? Wir blinzeln einander zu, erwachend. Wir küssen uns beklommen, fast scheu. Nachdenklich kosten wir von den Mirabellen.
Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Weg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben. Wir küssen uns. Ein Vogel zetert. Im Tal bellen wieder die Hunde.

Und hier die Antwort

Sehr geehrter Herr Solminore,
das von Ihnen bezeichnete Waldgebiet befindet sich weitestgehend im Eigentum privater Waldeigentümer; einige kleinere Areale sind Kommunalwald. Die Waldeigentümer sind berechtigt, ihren Wald zu bewirtschaften und dementsprechend Holz zu ernten. Dies ist in der Tat mit Belästigungen für den Waldbesucher verbunden, die leider nicht zu vermeiden sind. Das Regionalforstamt hat nur zum kleinere Teil Einfluss auf die Holzernte selbst. Diese liegt in der Organisation der privaten Waldeigentümer und der Forstbetriebsgemeinschaften.
Wir achten darauf, dass die forstgesetzlichen Vorschriften eingehalten werden. Rodungen, d. h. Umwandlungen von Wald in andere Nutzungsarten werden nicht durchgeführt. Die flächig genutzten Waldstücke müssen innerhalb von zwei Jahren wieder aufgeforstet werden.
Weiterhin wirken wir durch unsere beratenden Förster darauf hin, Kahlschläge zu vermeiden und die Holzernte möglichst schonend durchzuführen. Leider sind einige Fichtenwälder bereits durch Trockenheit, Sturm und Borkenkäfer soweit geschädigt, das sie in den nächsten Jahren immer weiter verschwinden werden.
Die Durchforstungen sind ansonsten günstig für die Stabilität, Mischung und Wertentwicklung der Wälder.

Der nachwachsende Rohstoff Holz wird von uns allen in Form von Papier, Möbeln, Hausdächern etc. benötigt. Jeder Bundesbürger verbraucht ca. 1,5 m³/Jahr. Wenn dieser benötigte Rohstoff Holz nicht nachhaltig in den heimischen Wäldern produziert wird, dann wird er auf den Weltmärkten eingekauft und zum Teil aus Ländern importiert, in denen eine nachhaltige Waldnutzung nicht garantiert werden kann.

Die Bewirtschaftung des Waldes ist auch hinsichtlich des Klimawandels von Bedeutung. Die Bäume entnehmen bei ihrem Wachstum der Umgebungsluft CO2 und wandeln dieses klimaschädliche Gas im Zuge der Photosynthese in Holz um. Jährlich wachsen in unseren Wäldern Millionen von Festmetern Holz zu (ein Kubikmeter Holz speichert ca. eine Tonne CO2). Ein positiver Effekt lässt sich über eine Kaskadennutzung erzielen. Vom Rohprodukt Holz über eine Verarbeitung zu Bauholz, einem Recycling dieses Bauholzes zu Spanplatten bis hin zu einer energetischen Nutzung können mehrere Jahrzehnte vergehen. Je langlebiger Produkte aus Holz oder Zellstoff sind (z.B. Bauholz, Möbeln oder Papier), desto länger wird der Kohlenstoff der Atmosphäre entzogen. Hinzu kommen Substitutionseffekte, da alternativ zu Beton, Stahl oder fossiler Energieträger der nachwachsende Rohstoff Holz verwendet wird. Das von den Bäumen aufgenommene und im Holz gespeicherte CO2 wird der Atmosphäre und damit dem Kohlenstoffkreislauf über einen längeren Zeitraum entzogen und im Nutzholz fixiert.

Die Waldbewirtschaftung in Deutschland folgt dem Modell der multifunktionalen Waldwirtschaft, d. h. die drei Hauptfunktionen Erholung, Naturschutz und Rohstoffproduktion erfolgen auf der gleichen Fläche. Dies erfordert Kompromisse, die sich in ihrem Fall durch eine zeitlich befristete Belästigung der Waldbesucher auswirken.
Ich bitte um Verständnis für die Maßnahmen. Spätestens mit Laubausbruch werden die Hiebsmaßnahmen in den Laubwäldern für diese Saison beendet sein.

mit freundlichen Grüßen
FD Hugo Schelmenhorst

Anfrage ans Forstamt

Sehr geehrte Damen und Herren,

in diesem Frühjahr beobachte ich mit Besorgnis, daß in deutlich höherem Maß als sonst im nördlichen Vimbelwald zwischen Quellstetten, Lafter und Hemmelshain Holz eingeschlagen wird. Da dies mit beträchtlicher Verschlammung der Wege einhergeht, der Freizeitwert des Waldes auch in anderer Hinsicht durch Lärm, Gestank, hohes Aufkommen von Fahrzeugen, schließlich durch häßliche Rodungen erheblich gemindert wird, möchte ich mich an Sie wenden mit der Frage, wie lange das noch so weitergeht, und in welchem Ausmaß noch mehr Holzarbeiten zu erwarten sind. Betrachten Sie bitte diese Nachricht auch als freundliche Aufforderung, den Einschlag auf ein Mindestmaß zu reduzieren, bzw. günstigenfalls ganz einzustellen. Vielen Dank.

Mit freundlichen Grüßen,

Solminore

Arboricidium

Der Waldsaum jenseits der Pferdeweiden ist noch eine schmale Linie, da ist es schon hörbar, dringt das Jaulen und Heulen daraus hervor wie Warnrufe kampfbereiter Tiere. Eine ganze Herde davon scheint in diesem Waldstück zu kauern.
Das Geflimmer von Warnwesten zwischen den Baumstämmen ist mittlerweile ein ebenso verhaßter Anblick geworden wie die am Waldweg aufgereihten geländegängigen Fahrzeuge mit Anhänger. Überall sieht man sie jetzt, die orange- und gelbbejackten Männer mit den Visieren und den Motorsägen, wie archaische Krieger auf Beutezug stapfen sie durch Untergehölz, die Waffe im Anschlag. Die Verheerungen, die sie anrichten, sind überall sichtbar. Kronenskelette, Stammrümpfe, Aststücke, Kleinholz liegen herum, wo noch ein paar Wochen zuvor lichte Hallen von Buchen standen, von denen im Sommer angenehmer Schatten auf den Weg fiel; der führt jetzt durch eine Wüste; der Grund zwischen den herumliegenden, auf ihre weitere Zergliederung wartenden Baumteilen ist zertreten von den Stiefeln der Sägekrieger; das Unterholz, die Krautschicht sind beseitigt und niedergetrampelt; Striemen von Raupenfahrzeugen haben sich in den Grund zwischen den noch stehenden Stämmen gewälzt, und auch die Wege sind beschädigt von Raupenketten, zermalmt, zerschlammt, unbrauchbar. Zwischen Radfurchen sammelt sich öliges Wasser. Aus den Schlammassen ragen noch grüne, abgerissene Pflanzenteile. Es ist eine Schneise der Verheerung, in der eine lange Reihe von Fahrzeugen, Anhängern, Schleppmaschinen sich aufreiht wie Fliegen über einer schwärenden Wunde. Schleifspuren. Sägemehl. Überall liegt das Rostrot von abgeschürftem Bast und abgeplatzter Borke herum.
Der bittere Geruch von frischem Holz mischt sich mit dem öligen Dunst aus Zweitaktermotoren, Das Geheul der Maschinen pflanzt sich fort in verebbende Räume des Waldes, aus denen immer neues Gekreisch wieder anschwellend zurückflutet. Die Krieger müssen einander zubrüllen, sonst verstehen sie ihr eigenes Wort nicht. Die Sägen hinterlassen klaffende Lichtungen, in die der Blick hineinstürzt wie in eine Grube. Darüber zuckt der Himmel zusammen, als schäme er sich seiner Nacktheit. Die Bäume am Rand der neuen Lichtungen scheinen frierend auf einem Bein zu balancieren, seit Jahren im Bestand stehend, fehlt ihnen das niedere Laub, das den Waldsaum natürlicherweise nach außen abschließt. Alle halbe Stunde prasselt ein Baum nieder. Was stehenbleibt am Rand des Schlachtfelds erledigt der nächste Frühjahrssturm, schon liegen die ersten Fichten quer überm Weg. Wir gut, nehmen wir die auch noch mit. Es hat etwas von Raserei.
Und es beschränkt sich nicht auf den Wald. Am Bahnhof unweit meines Zuhauses hat bis vor kurzem eine Pappel gestanden, dreißig, vierzig Meter Baum, eine Pyramidenpappel, im Sommer ein rauschendes, rieselndes, flimmerndes Fest, im Winter ein faszinierendes, fraktales Gebilde aus scheinbar wirren, eine höhere Ordnung bildenden Ästen. Alles ringsum lag unter ihrem Schatten und im Bannkreis ihres Rauschens wie unter einem gütigen Zelt. Nach jedem Sturm war der Bahnsteig von kleinen Zweigen übersät; im Frühsommer unter dem Schnee der fluffigen Samen. Im Herbst leuchtete das heruntergewehte Laub. Im Sommer fiel das dunkelgrüne Rauschen in der Säule der schlanken Krone herab und stieg als silbrige Walze wieder daran empor, ein Träumen von Klang, ein Flimmern von Licht. Wer je an einem heißen Sommertag Erholung und Schatten unter einer Pappel gesucht und gefunden hat; wer je an einem winterlichen Fluß unter den filigranen Skeletten entlaubter Pappeln spazierengegangen ist, in deren Geäst der finstere Himmel festhing; wer je an einem Badesee schläfrig ins Laub der Pappeln am Ufer geblickt hat, verzaubert vom nimmergleichen Spiel des Flimmerns (wie Sonnenglitzern auf einem Fluß) – der weiß, wovon ich rede.
Wo diese Pappel letzte Woche noch stand, ist jetzt nur noch kahler Himmel. Wie zum Ersatz erhebt sich an der Stelle ein Händie-Sendemast. Der ist früher, von der Pappel buchstäblich in den Schatten gestellt, gar nicht aufgefallen. Häuserreihen, freiliegende Vorgärten. Es wimmelt plötzlich von allen möglichen Horizontalen. Am Himmel eine klaffende Leere, Gewölk, fliehende Vögel. Der Sendemast ragt hämisch in die Lücke hinein.
Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Auf meinem Weg zur Straßenbahnhaltestelle haben sie eine Hecke herausgerissen. Stumpf und Stiel, die Erde eine einzige Schürfung. An meiner Laufstrecke liegt plötzlich ein gestern noch gebüschbestandener Wall kahl da. Überall Erde, Stümpfe, Wunden. Ich verstehe es nicht.
Und dann dieser verbissene Kahlschlag im Wald. Wald? Ein Sägewerk ist das. Ich kann mich nicht erinnern, daß das früher auch schon so praktiziert wurde. Nicht so. Nicht in dieser methodischen, generalstabsmäßigen Weise. Damit es eine handvoll Menschen ein paar Wochen im Jahr gemütlich warm haben, ist für hunderte von Wanderern, Läufern, Spaziergängern, Dendrophilen, Pilzsuchern der Wald auf Jahrzehnte verschandelt.
Gibt’s dafür eine Prämie? Wird demnächst der Vogelschutz verschärft, so daß vorher noch mal ordentlich gefällt werden muß? Ist 2014 das Jahr der Motorsäge? Ich verstehe es nicht.
Mag sein, daß die Pappel alt war und wegmußte. Pappeln leben nicht lange, ihr Holz ist nicht stabil, man möchte nicht eine plötzlich umgefallene Pappel von den Schienen räumen. Das verstehe ich. Aber alt oder nicht, wenn so ein Baum wegkommt, möchte ich weinen.
Pappeln mögen schnellwüchsig sein. Trotzdem: In meiner Lebenszeit wird dort kein solcher Baum mehr zu so einer Pracht heranwachsen wie diese schöne Pappel einer gewesen ist.

Mole

Das Wasser ist grün und hell. Das Licht hat viele Richtungen und kommt mit matten Farben über den Strom geschwommen. Libellen schwirren über die weißen Steine, erst allein, dann in aneinander verhakten Paaren. Wie heißt das, was die Libellen da tun, wenn sie, verkettet in Paaren, einen Hinterleib des Doppelkörpers ins flache Wasser über den Steinen lecken lassen, als wollten sie hastige Schlucke davon nehmen? Und wie machen die das, mit ihren insgesamt vier Flügeln, Gleichung um Gleichung komplizierter Aerodynamik zu lösen? Wir schauen es uns an und staunen. Das Licht bricht sich auf den Flügeln und auf der Reling der Boote und Schimmert silbern auf Blattunterseiten. Eine Gruppe von Kajakfahrern gleitet langsam den kleinen Hafen hinauf. Ihre Paddelblätter tauchen mit Feiertagsruhe ins Wasser. Wie könnte man auch nicht ruhig sein an diesem Ort, auf dem Wasser, mit den herbstlichen Pappeln und Weiden hoch am Himmel.
Deine Finger kribbeln in meinem Nacken, und ich schließe die Augen. Das Wasser gluckert, Dieseldampf weht herüber, ein Motorboot tuckert. Ich sitze schief an Dich gelehnt auf dem schrägen Stein, eine Hand auf Deinem Knie, mein Bein schläft ein und wird glücklich taub, die Angler lassen die Leinen schwirren, ich weiß nicht, wie das heißt, was die Libellen tun, eine prächtige Yacht gleitet vorüber, eine Geschichte von Geld und Erfolg, ich aber küsse Deine Hand und atme Deinen Duft, ich habe nur eine alte Jacke, aber Du hast mir einen Knopf geschenkt, ich küsse Deinen Mundwinkel, höre Dich seufzen und bin reicher als sie alle, ich bin der reichste Mann der Welt.

In nemore

Unter Flaggen schlafen, ruhen im Wind über Berg und Tal und Burg, in luftiger Höhe, und beim Erwachen liegt der Tag immer noch ruhig in unserer Hand. Küsse, Küsse voll Wind und Sonne. Deine Finger liegen auf meiner Brust, erst auf dem Hemd, dann unter dem Hemd, und ich sage dir, daß ich dich will, abermals will ich dich, will dich mein Leib, ich küsse dich und sage es dir, und du: „Laß uns noch einmal ein Plätzchen finden, ja?“

Ein Plätzchen: flimmernde Sonne in der grünen Tiefe, ein helles Polster abseits des Weges. Stapfen durchs Unterholz, über Wiesen aus Springkraut, ausgerechnet, sich umdrehen, und dann ist der Weg, kein Weg mehr zu sehen, und der Wald hat uns aufgenommen in seine eigene Zeit. Eine Decke im Vorjahreslaub; nesteln am Schuhwerk, und wie du dann deine Unterhemden abgestreift hast, deine Brüste, wie sie in diesem weichen Baumlicht aufleuchteten, hellweiß abgesetzt deine Glieder, eine Corona leuchtender Häute in all dem dampfenden Grünbraun ringsum; die Luft, die mir von Kopf bis Fuß um den Körper streicht, diese ans Erschrecken grenzenden Verblüffung, daß wir uns tatsächlich nackig gemacht hatten, mitten in der großen, freien Welt, der kleine Schreck dabei, und das Entzücken, der Jubel und das hellwache Bewußtsein dieser Nacktheit: Wie mir meine eigene Blöße an deinem weißen Körper aufging: Und mit Herzklopfen vor Begehren habe ich mich neben dich gelegt, deinen andersnackten Leib in meine Arme genommen. Nie, noch nie, sind wir hinter Türen so nackt gewesen wie da in den weiten Hallen der Buchen, unter Rotkehlchen, Zaunkönig und Amsel, und brauchten uns nicht zu schämen.

Zwischen unseren Zehen krümeln Vorjahrsblätter. Trockenes mündet in Feuchtes. Haarfäden glänzen. Rings leuchtet und wedelt der Farn. Wir strecken uns aus, zwei Bündel zarter Glieder. Wie schön du bist. Dein Leib ein Loblied der Sonne. Deine Blicke sind voller Sterne. In der Farbe deines Schoßes findet sich die Farbe des Lebermooses wieder. Deine Haut riecht nach Heu und Thymian. Warm bist du und brennend, als ich zu dir komme. Unsere Blicke stürzen ineinander. Plötzlich haben wir es eilig, der Buchfink schmettert, Laub rutscht unter uns, der Wald nimmt uns auf wie eine offene Hand; ich flüstere deinen Namen, und das letzte, was ich sehe, ehe ich die Augen schließe und verschwinde, in einer Falte zwischen Himmel und Erde, zwischen Sphagnum und Aquilegia verschwinde, das letzte, was ich sehe, ist der überblaue Himmel, der sich in deinen weit aufgerissenen Augen spiegelt.