Vom richtigen Strafmaß (Sallust, Catilina 51, 1-8)

Allen Menschen, ihr Herren Senatoren, die über verworrene Dinge beratschlagen, ziemt es, frei von Haß, Liebe, Zorn und Mitleid zu sein. Nicht leicht sieht der Geist die Wahrheit, wenn solche Gefühle ihn behindern, und es hat noch keiner gleichzeitig seinen Leidenschaften und dem gemeinsamen Anliegen gedient. Sobald man den Geist anspannt, ist er stark; wenn ihn die Leidenschaft besitzt, vermag er nichts. Ich könnte jetzt eine Menge Fälle erwähnen, ihr Herren Senatoren, wo Könige und Völker sich von Zorn oder Mitleid haben schlecht beraten lassen. Aber ich will lieber davon sprechen, wie unsere Vorfahren gegen ihre Herzensgefühle richtig und in der Ordnung gehandelt haben. Im Makedonischen Krieg, den wir mit dem König Perses geführt haben, war das große und prächtige Rhodos, eine Stadt, die durch die Unterstützung des Römischen Volkes aufgeblüht war, uns gegenüber treulos und feindlich gesinnt. Als aber nach Beendigung des Krieges über die Rhodier beratschlagt wurde, entließen unsere Vorfahren sie unbestraft, damit man hinterher nicht würde sagen können, der Krieg sei mehr wegen Reichtümern als wegen Rechtsverletzungen angefangen worden. Genauso war es in allen Punischen Kriegen: Während die Karthager im Frieden und zu Zeiten von Waffenruhe viele Greueltaten verübt hatten, taten die Römer selbst niemals etwas ähnliches: Sie fragten mehr nach dem, was ihrer würdig sei, als danach, was den Karthagern von Rechts wegen hätte widerfahren dürfen. So müßt auch ihr Sorge dafür tragen, ihr Herren Senatoren, daß die Verbrechen des Publius Lentulus und der anderen bei euch nicht mehr Gewicht haben als eure Würde, und daß ihr nicht euern Zorn mehr pflegt als euern Ruf. Wenn sich nämlich eine angemessene Strafe für die Verbrechen dieser Leute finden läßt, dann befürworte ich einen neuen Beschluß; wenn aber die Schwere des Verbrechens den Einfallsreichtum aller übersteigt, muß man meiner Ansicht nach gebrauchen, was die Gesetze hergeben.

(Die Caesarrede aus Sallusts Catilina wird gern in der Schule gelesen, daher hier eine Warnung an Schüler: Die vorliegende Übersetzung ist sehr frei und als Lösung für Hausaufgaben nicht geeignet!)

Omnis homines, patres conscripti, qui de rebus dubiis consultant, ab odio, amicitia, ira atque misericordia vacuos esse decet. 2 Haud facile animus verum providet, ubi illa officiunt, neque quisquam omnium lubidini simul et usui paruit. 3 Ubi intenderis ingenium, valet; si lubido possidet, ea dominatur, animus nihil valet. 4 Magna mihi copia est memorandi, patres conscripti, quae reges atque populi ira aut misericordia inpulsi male consuluerint. Sed ea malo dicere, quae maiores nostri contra lubidinem animi sui recte atque ordine fecere. 5 Bello Macedonico, quod cum rege Perse gessimus, Rhodiorum civitas magna atque magnifica, quae populi Romani opibus creverat, infida et advorsa nobis fuit. Sed postquam bello confecto de Rhodiis consultum est, maiores nostri, ne quis divitiarum magis quam iniuriae causa bellum inceptum diceret, inpunitos eos dimisere. 6 Item bellis Punicis omnibus, cum saepe Carthaginienses et in pace et per indutias multa nefaria facinora fecissent, numquam ipsi per occasionem talia fecere: magis, quid se dignum foret, quam quid in illos iure fieri posset, quaerebant. 7 Hoc item vobis providendum est, patres conscripti, ne plus apud vos valeat P. Lentuli et ceterorum scelus quam vostra dignitas neu magis irae vostrae quam famae consulatis. 8 Nam si digna poena pro factis eorum reperitur, novum consilium adprobo; sin magnitudo sceleris omnium ingenia exsuperat, his utendum censeo, quae legibus conparata sunt.

Philemon & Baucis (Ovid, Met. VII 707-724)

„Priester zu sein, das ist unser Wunsch, euern Tempel zu hüten;
und, nachdem wir vereint des Lebens Spanne durchmessen,
daß uns vereint auch das Stündlein schlage, und ich nicht der Gattin
Grabmal erblicken muß, noch daß mich begraben muß jene.“
Wirklichkeit folgte dem Wunsch: So hüteten beide den Tempel,
Zeit ihres dauernden Lebens; bis daß sie, gebeugt schon vom Alter,
zufällig einmal standen am Fuße der heiligen Stufen,
eingedenk seiner Geschichte, und Baucis Philemon Blätter
knospen, und Philemon sah, wie Baucis mit Laub sich bedeckte.
Während die Zwillingsgesichter schon schwanden in wachsenden Kronen,
gaben sie Worte einander, solang sie noch konnten, „Ach, Lieber!“
sprachen zugleich sie „Leb wohl!“, und zugleich bedeckt die verhüllten
Lippen der Stamm: Bis heute zeigt dort der Bewohner Bithyniens
jene aus zwiefachem Leib gesproßten benachbarten Bäume.

„esse sacerdotes delubraque vestra tueri
poscimus, et quoniam concordes egimus annos,
auferat hora duos eadem, nec coniugis umquam
busta meae videam, neu sim tumulandus ab illa.“
vota fides sequitur: templi tutela fuere,
donec vita data est; annis aevoque soluti
ante gradus sacros cum starent forte locique
narrarent casus, frondere Philemona Baucis,
Baucida conspexit senior frondere Philemon.
iamque super geminos crescente cacumine vultus
mutua, dum licuit, reddebant dicta „vale“ que
„o coniunx“ dixere simul, simul abdita texit
ora frutex: ostendit adhuc Thyneius illic
incola de gemino vicinos corpore truncos.

Foedus antiquum (Livius, Ab Urbe Condita I, 24)

Zufällig gab es in den zwei Heeren Drillingsbrüder, im gleichen Alter und ungefähr gleich an Kraft. Daß es Horatier und Curatier waren, steht fest, und es gibt wohl keine Geschichte aus alter Zeit, die berühmter wäre. Dennoch bleibt selbst bei dieser so bekannten Überlieferung unsicher, zu welchem Volk die Horatier, zu welchem die Curatier gehörten. Die Autoren schwanken zwischen beiden; die die Horatier für römisch halten, sind aber zahlreicher, und ich bin geneigt, ihnen darin zu folgen. Die Könige verhandeln mit den Drillingen, daß sie jeweils um ihr Vaterland mit dem Schwert kämpfen; welcher Seite der Sieg zufalle, dort solle die Herrschaft liegen. Man hat keine Einwände; Zeit und Ort werden vereinbart. Vor dem Kampfe wird ein Vertrag zwischen Römern und Albanern geschlossen, daß der, dessen Bürger in dem Kampf siegreich seien, über das andere Volk ungehindert herrschen solle. Es wurden noch verschiedene andere Verträge geschlossen, aber alle auf die gleiche Weise. Folgender Vorgang ist uns überliefert, und es ist dies das früheste Zeugnis für die Schließung eines völkerrechtlichen Vertrags, das wir haben. Der Fetialis fragte Tullus mit diesen Worten: Heißest du mich, König, mit dem Pater Patratus des albanischen Volks einen Vertrag zu schließen? Und als der König es befahl: Ich fordere Gras von dir, König! Der König erwiderte: Hole reines Gras. Der Fetialis brachte frisches Gras von der Burg. Dann fragte er den König mit folgenden Worten: Mein König, machst du mich zum königlichen Boten des römischen Volks der Quiriten, zusammen mit meinen Werkzeugen und meinen Gehilfen? Der König antwortete: Wenn es ohne Schaden für mich und das römische Volk der Quiriten ist, tue ich es. Der Fetialis war M. Valerius; dieser ernannte Sp. Fusius zum Pater Patratus, indem er dessen Kopf und Haupthaar mit einem Olivenzweig berührte. Der Pater Patratus hat die Aufgabe, einen Eid zu leisten (patrare), das heißt, einen Vertrag zu weihen; dies vollbrachte er mit vielen Worten, deren langer, umständlicher Wortlaut die Mühe der Wiedergabe nicht lohnt. Nachdem die Vertragsbedingungen verlesen worden waren, sagte er: Höre, Iuppiter, höre, Pater Patratus des Volks der Albaner, höre, albanisches Volk! Von den Bedingungen dieses Vertrags, wie sie öffentlich zuerst und zuletzt von Holz oder Wachs abgelesen ohne Arglist, und wie sie hier und heute richtig verstanden worden, will das römische Volk nicht abweichen. Wenn das römische Volk zuerst nach öffentlichem Beschluß mit Arglist abweichen sollte, dann soll Jupiter das römische Volk so treffen, wie ich hier und heute dieses Schwein treffen werde; und dein Schlag soll umso schrecklicher sein, wie du schrecklicher schlagen kannst und mächtiger bist. Sowie er das gesagt hatte, schlug er ein Schwein mit einem Kieselstein nieder. Die Albaner schworen ihrerseits mit ihren eigenen Formeln, durch ihren eigenen Herrscher und ihre Priester den Eid.

Forte in duobus tum exercitibus erant trigemini fratres, nec aetate nec viribus dispares. Horatios Curiatiosque fuisse satis constat, nec ferme res antiqua alia est nobilior; tamen in re tam clara nominum error manet, utrius populi Horatii, utrius Curiatii fuerint. Auctores utroque trahunt; plures tamen invenio qui Romanos Horatios vocent; hos ut sequar inclinat animus. Cum trigeminis agunt reges ut pro sua quisque patria dimicent ferro; ibi imperium fore unde victoria fuerit. Nihil recusatur; tempus et locus convenit. Priusquam dimicarent foedus ictum inter Romanos et Albanos est his legibus ut cuiusque populi cives eo certamine vicissent, is alteri populo cum bona pace imperitaret. Foedera alia aliis legibus, ceterum eodem modo omnia fiunt. Tum ita factum accepimus, nec ullius vetustior foederis memoria est. Fetialis regem Tullum ita rogavit: „Iubesne me, rex, cum patre patrato populi Albani foedus ferire?“ Iubente rege, „Sagmina“ inquit „te, rex, posco.“ Rex ait: „Pura tollito.“ Fetialis ex arce graminis herbam puram attulit. Postea regem ita rogavit: „Rex, facisne me tu regium nuntium populi Romani Quiritium, vasa comitesque meos?“ Rex respondit: „Quod sine fraude mea populique Romani Quiritium fiat, facio.“ Fetialis erat M. Valerius; is patrem patratum Sp. Fusium fecit, verbena caput capillosque tangens. Pater patratus ad ius iurandum patrandum, id est, sanciendum fit foedus; multisque id verbis, quae longo effata carmine non operae est referre, peragit. Legibus deinde, recitatis, „Audi“ inquit, „Iuppiter; audi, pater patrate populi Albani; audi tu, populus Albanus. Ut illa palam prima postrema ex illis tabulis cerave recitata sunt sine dolo malo, utique ea hic hodie rectissime intellecta sunt, illis legibus populus Romanus prior non deficiet. Si prior defexit publico consilio dolo malo, tum ille Diespiter populum Romanum sic ferito ut ego hunc porcum hic hodie feriam; tantoque magis ferito quanto magis potes pollesque.“ Id ubi dixit porcum saxo silice percussit. Sua item carmina Albani suumque ius iurandum per suum dictatorem suosque sacerdotes peregerunt.

Hildegard von Bingen, Liber Scivias, Visio Prima

Vidi quasi montem magnum ferreum colorem habentem, et super ipsum quendam tantae claritatis sedentem, ut claritas ipsius visum meum reverberaret, de quo ab utraque parte sui lenis umbra velut ala mirae latitudinis et longitudinis extendebatur. Et ante ipsum ad radicem eiusdem montis quaedam imago undique plena oculis stabat, cuius nullam humanam formam prae ipsis oculis discernere valebam, et ante istam imago alia puerilis aetatis, pallida tunica sed albis calceamentis induta, super cuius caput tanta claritas de eodem super montem ipsum sedente descendit ut faciem eius intueri non possem. Sed ab eodem qui super montem illum sedebat multae viventes scintillae exierunt, quae easdem imagines magna suavitate circumvolabant. In ipso autem monte quasi plurimae fenestellae videbantur, in quibus velut capita hominum quaedam pallida et quaedam alba apparuerunt.

Ich sah gleichsam einen großen Berg in der Farbe von Eisen, und darüber schwebend, so hell, daß ihr Licht meine Augen blendete, eine Erscheinung, zu deren Seiten sich ein leichter Schatten wie Flügel von wundersamer Länge und Breite erstreckte. Und davor, am Fuß des Berges, stand eine Gestalt, die über und über von soviel Augen bedeckt war, daß ich keine menschliche Form darin ausmachen konnte; und vor dieser Gestalt eine weitere, knabenhaften Alters, angetan mit einem bleichen Mantel, doch hellweißen Schuhen, über deren Kopf eine solche Helligkeit von jener anderen Erscheinung über dem Berg herabfiel, daß ich ihr Gesicht nicht anschauen konnte. Aber von der Erscheinung über dem Berg gingen viele lebhafte Funken aus, die aufs angenehmste um diese Gestalten herumflogen. Im Berg selbst aber waren zahlreiche Öffnungen wie Fensterchen sichtbar, in denen, die einen bleich, die anderen weiß, gleichsam die Häupter von Menschen auftauchten.

Privatsphäre (Sen. Ep. III, 25)

„Handle stets so, sagt [Epikur], als ob Epikur dir dabei zusähe.“ Ohne Zweifel ist es nützlich, sich selbst einen Aufpasser zur Seite zu stellen und jemandem zu haben, mit dem man rechnen muß, den man sich als Mitberater bei den eigenen Entschlüssen vorstellen kann. Am besten wäre es freilich, so zu leben wie unter den wachsamen Augen eines stets anwesenden vortrefflichen Menschen; doch bin ich schon damit zufrieden, wenn du in allem so handelst, als sähe jemand Beliebiges zu. Alles Schlechte empfiehlt uns das Alleinsein. Wenn du schon so große Fortschritte gemacht hast, daß du dir eine gewisse Ehrerbietung zollen magst, kannst du den Lehrmeister wegschicken: Bis es so weit ist, begib dich in die Obhut von Leuten, deren Vortrefflichkeit unbestritten ist – Catos oder Scipios oder Laelius’ oder irgendeines anderen, durch dessen Einschreiten selbst verwahrloste Menschen ihre Fehler unterdrücken würden. Das tu, bis du selbst einer geworden bist, in dessen Gegenwart du keinen Fehler zu machen wagst. Wenn du das geschafft hast und bei dir eine ehrfurchtsvolle Haltung dir selbst gegenüber eingetreten ist, will ich dir zugestehen, was auch Epikur nahelegt: „Besonders dann ziehe dich in dich selbst zurück, wenn du gezwungen bist, dich in einer Menge aufzuhalten.“ Du mußt dich von den Vielen unterscheiden, solange es noch nicht gut für dich ist, dich zu dir selbst zurückzuziehen. Schau dir die Leute an: Es gibt keinen, für den es nicht vorteilhafter wäre, bei irgendeinem beliebigen anderen zu sein, als bei sich selbst. „Besonders dann ziehe dich in dich selbst zurück, wenn du gezwungen bist, dich in einer Menge aufzuhalten.“ – ja, wenn du ein guter Mensch bist, wenn du ruhig bist und besonnen! Andernfalls solltest du dich vor dir selbst in die Menge zurückziehen: Denn bei dir selbst bist du dann einem schlechten Menschen allzu nahe. Lebe wohl.

„Sic fac“ inquit „omnia tamquam spectet Epicurus.“ Prodest sine dubio custodem sibi imposuisse et habere quem respicias, quem interesse cogitationibus tuis iudices. Hoc quidem longe magnificentius est, sic vivere tamquam sub alicuius boni viri ac semper praesentis oculis, sed ego etiam hoc contentus sum, ut sic facias quaecumque facies tamquam spectet aliquis: omnia nobis mala solitudo persuadet. [6] Cum iam profeceris tantum ut sit tibi etiam tui reverentia, licebit dimittas paedagogum: interim aliquorum te auctoritate custodi – aut Cato ille sit aut Scipio aut Laelius aut alius cuius interventu perditi quoque homines vitia supprimerent, dum te efficis eum cum quo peccare non audeas. Cum hoc effeceris et aliqua coeperit apud te tui esse dignatio, incipiam tibi permittere quod idem suadet Epicurus: „tunc praecipue in te ipse secede cum esse cogeris in turba“. [7] Dissimilem te fieri multis oportet, dum tibi tutum [non] sit ad te recedere. Circumspice singulos: nemo est cui non satius sit cum quolibet esse quam secum. „Tunc praecipue in te ipse secede cum esse cogeris in turba“ – si bonus vir , si quietus, si temperans. Alioquin in turbam tibi a te recedendum est: istic malo viro propius es. Vale.

„Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, daß es irgend jemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.“ (Eric Emerson Schmidt, Vorsitzender von Google Inc.)

Für später, für jetzt, für alle Tage

Quibus enim nihil est in ipsis opis ad bene beateque vivendum, eis omnis aetas gravis est; qui autem omnia bona a se ipsi petunt, eis nihil malum potest videri quod naturae necessitas adferat. Quo in genere est in primis senectus, quam ut adipiscantur omnes optant, eandem accusant adeptam; tanta est stultitiae inconstantia atque perversitas. Obrepere aiunt eam citius, quam putassent. Primum quis coegit eos falsum putare? Qui enim citius adulescentiae senectus quam pueritiae adulescentia obrepit? Deinde qui minus gravis esset eis senectus, si octingentesimum annum agerent quam si octogesimum? Praeterita enim aetas quamvis longa cum effluxisset, nulla consolatio permulcere posset stultam senectutem.

Denn die nichts an Reichtum in sich finden, der ihnen zu einem guten Leben verhelfen würde, denen fällt jedes Lebensalter schwer. Die aber jedes Gut in sich selbst suchen, denen kann nichts als Übel erscheinen, was die Notwendigkeit der Natur mit sich bringt. Unter diesen Dingen ist besonders das Alter zu nennen: Alle wollen es erreichen und verfluchen es doch, wenn sie’s erreicht haben. So groß ist die Inkonsequenz und Verdrehtheit der Dummen. Dann sagt man, das Alter sei schneller herangeschlichen als geglaubt. Darauf ist erstens zu sagen: Wer hat denn diese Leute gezwungen, etwas Falsches zu glauben? Denn wie könnte Wie sollte sich denn das Greisenalter schneller ans Erwachsenenalter anschleichen als das Erwachsenenalter an die Kindheit? Und zweitens: Wie könnte sollte einem nach achthundert Jahren das Greisenalter weniger beschwerlich sein als nach achzig? Denn Ganz gleich wie lang die Lebensspanne auch wäre – einmal verflossen, könnte sie ja dem Dummen im Alter doch zu keinerlei Trost gereichen.

(Cicero, Cato Maior De Senectute, 4)

Zur Nacht


Est prope Cimmerios longo spelunca recessu,
mons cavus, ignavi domus et penetralia Somni,
quo numquam radiis oriens mediusve cadensve
Phoebus adire potest: nebulae caligine mixtae
exhalantur humo dubiaeque crepuscula lucis.
non vigil ales ibi cristati cantibus oris
evocat Auroram, nec voce silentia rumpunt
sollicitive canes canibusve sagacior anser;
non fera, non pecudes, non moti flamine rami
humanaeve sonum reddunt convicia linguae.
muta quies habitat; saxo tamen exit ab imo
rivus aquae Lethes, per quem cum murmure labens
invitat somnos crepitantibus unda lapillis.
ante fores antri fecunda papavera florent
innumeraeque herbae, quarum de lacte soporem
Nox legit et spargit per opacas umida terras.
ianua, ne verso stridores cardine reddat,
nulla domo tota est, custos in limine nullus;
at medio torus est ebeno sublimis in antro,
plumeus, atricolor, pullo velamine tectus,
quo cubat ipse deus membris languore solutis.
hunc circa passim varias imitantia formas
Somnia vana iacent totidem, quot messis aristas,
silva gerit frondes, eiectas litus harenas.


Nah dem Kimmerischen Lande da teufen geräumige Grotten;
Hohl ist der Berg: darinnen die Heimstatt des unregen Schlafes.
Nie darf dort mit dem Licht – nicht morgens, nicht mittags, nicht abends –
Phoebus zur Tür herein. Vermischt mit Dampfschwaden steigen
Nebel vom Boden auf, und es herrscht ein unklares Zwielicht.
Niemals begrüßt dort mit schmuckem Schnabel den Anbruch des Tages
stimmgewaltig ein Hahn, nicht brechen mit Bellen und Kläffen
reizbare Hunde das Schweigen, noch, schärfer als Hunde, der Ganter.
Wild nicht und Vieh nicht und auch nicht der Wind in den Zweigen der Bäume
gibt einen Laut von sich, und erst recht nicht das Zanken von Menschen.
Lautlose Ruhe herrscht; nur im hintersten Innern des Felsens
quillt mit Gemurmel hervor Vergessen bringendes Wasser,
plätschert die Welle den Schlummer herbei mit dem Rieseln von Kieseln.
Fruchtbar blüht der Mohn vor den Toren der Höhle, und zahllos
wachsen da Arten von Kräutern, aus deren Milchsaft den Schlummer
ausliest die taufeuchte Nacht und ihn streut übers Dunkel der Länder.
Daß nicht die Tür in den drehenden Angeln qietsche beim Öffnen,
fehlt sie gleich ganz dem Haus, auch steht auf der Schwelle kein Wächter.
Doch in der schwarzdunklen Mitte, da streckt sich erhaben ein Lager,
federflaumig und schwarz, bedeckt mit den Daunen von Küken.
Dort ruht der Schlaf in Person, dort reckt er träge die Glieder.
Um ihn liegen verstreut die Bilder eitler Gesichte,
so viele Träume versammelt wie Ähren zur Ernte die Felder
tragen, wie Wälder an Laub, wie der Strand hat an Körnern des Sandes.

Ovid, Met. XI 592–615

Gruß

Haec tibi cum subeant, absim licet, omnibus annis
     ante tuos oculos, ut modo uisus, ero.
Ipse quidem certe cum sim sub cardine mundi
     qui semper liquidis altior extat aquis,
te tamen intueor, quo solo pectore possum,
     et tecum gelido saepe sub axe loquor.
Hic es et ignoras et ades celeberrimus absens
     inque Getas media iussus ab Vrbe uenis.
Redde uicem et, quoniam regio felicior ista est,
     istic me memori pectore semper habe.

Mag ich auch Jahr um Jahr fehlen – indem dir das alles zu Sinn kommt,
     werd ich vor deinem Blick stehn wie noch eben geschaut.
Sicher werd ich auch selbst, von unter der Angel des Globus,
     die übers klare Meer höher stets aufragt empor,
immer dich so anschaun wie ich’s kann: mit dem Herzen; und mit dir
     redend verbunden sein, unter der Achse, im Eis.
Ahnungslos bist du hier, bist abwesend häufiger Gast mir,
     eilst auf meinen Ruf gleich zu den Geten aus Rom.
Tu mir ein Gleiches, du, und da du im froheren Land bist,
     halte mich dort immer fest in deiner liebenden Brust.

(Ex Ponto II,10,43-52