“… poetische Visionen …”

Ich sollte solche Bücher nicht lesen. Das macht alles kaputt. Wenn ich von “poetischen Visionen” lesen muß, die sich als “tragfähig” erweisen (oder eben auch nicht!), werde ich ganz furchtbar klein und mache mich auf die Suche nach einem Mauseloch …

Gut war auch der Ausdruck: “gefällige Proben von guter Handwerkskunst” (wenn die “poetische Vision” fehle und der “Telos” nicht “stark zu spüren” sei)

sommerwahnsinn

im übrigen fangen jetzt unsere nachbarn auf der anderen seite (also, die, mit denen wir eine fensterlose wand über die länge der wohnung gemeinsam haben) auch mit so einer pochpochpoch-musik an. sie grillen, und dabei haben sie das drinnen so laut laufen, damit man’s auch im garten hört. warum man beim grillen musik haben muß, ist mir ein rätsel. wahrscheinlich, damit man die störenden amseln nicht so mitkriegt.
es gibt kein entkommen mehr. und der abend auf der terrasse ist mir verleidet. da scheint die sonne zum erstenmal im jahr so warm und sommerschön, daß auch die verschlafenen amseln und buchfinken endlich lust zu singen haben, und ich hocke in der bude, alle fenster zu, und betäube mich mit Strauss. das war früher nicht. dieses allüberall des lärms. das hat es einfach nicht gegeben. wohin führt das noch alles? und sollte es wirklich fürderhin keine stillen sommerabende mehr geben? hört eigentlich jemand, daß jede amsel ihre eigenen unverwechselbaren melodien hat?

es kommt dann dazu, daß ich selbst dagegenhalte und im zimmer Richard Strauss in original-orchesterlautstärke abspiele; nicht, um die anderen zu ärgern (hören sie eh nicht), sondern um mich innerlich zu reinigen.

ich muß hier weg.

unerreichbar

im frühjahr falle ich stets aufs neue aus den büchern und den geschichten. vielleicht sind es die gemeißelten helligkeiten, vielleicht der klang. in dieser wie angestoßen, glockendröhnenden welt (eine welt des beginns) sind die möglichkeiten derart wirklich, daß ihr gegenstand völlig unmöglich wird. wovon man vor einer stunde noch zu träumen imstande war, jetzt ist es so unausweichlich da, daß die entfernung, der lebensabgrund von den eigenen fingerspitzen dorthin, unüberbrückbar geworden ist
die janusköpfigkeit der schönheit – aller schönheit – die zugleich hier ist und im augenblick des schauens und schauerns bereits nicht mehr – nie – erreicht werden kann, ein beständig sich erneuerndes hoffen-getäuscht-werden. selbst wenn ich das erreichte, wovon ich glaube, daß es der gegenstand des sehnens ist – so wäre es in diesem augenblick schon nicht mehr das ersehnte, bei allem gewährten glück nicht.

Rheinbrücke

Und ich will aber, daß du auf mich aufpaßt, trotzdem, hat sie einmal geschrieben.
Die Möwen auf dem Geländer der Rheinbrücke sind alle in der gleichen Richtung gesessen, die Schnabelblicke wie die Zuschauer in einem Theater auf den vorbeifließenden Verkehr gerichtet, in einer langen Reihe, dichtandicht, die Schnäbel zur Straße, weg vom Wasser. Es war Winter, als sie so dasaßen, in einer Reihe. Flügel an Flügel. Manchmal bauschte sich Gefieder, wenn eine Bö hineingriff, ansonsten saßen sie alle still da, einvernehmlich nebeneinander und ganz still. Amüsiert die der Stau, habe ich mich gefragt, die Verkeilung von Bus, Straßenbahn und PKW, das fröstelnde Flitzen der Radfahrer?
Das müßte ich ihr schreiben, habe ich gedacht, das müßte ich E. erzählen, das würde ihr gefallen. Wie sie da sitzen, aufgereiht auf dem Geländer, alle die Schnäbel in eine Richtung, du hättest gelacht, nicht?
Ich krallte die Hände in die Lehne des Sitzes, gab das Fokussieren auf, und während ich in die Glitzersterne überm Wasser flog, habe ich gedacht, wie traurig Flüsse sich anfühlen können.

Noch ein Traum von E.

noch einmal von E. geträumt: ein vereinshaus, eine versammlung, ein club, wir zu gast, halb teilnehmend, halb unbeteiligt, stehen, sitzen, hängen (?) in einer vorhalle, einem foyer, vor einem dunkelspiegelnden fenster, und E. zeigt mir, will mir zeigen, was ihr freund M. ihr auf die rechte brust geschrieben hat (eine blauschwarze eddingtinte, leicht verschmiert), ich will es gar nicht wissen, nein, ich will es nicht, erhasche aber einen blick darauf, auf die über E.s sanft nach außen fallende brust gewellte schrift, sehe es augenwinklig ohne zu lesen, aber E. sagt es mir, er habe geschrieben, frauen sind flirterinnen? ich lach mich schlapp, und sie findet das höchst komisch, schüttet sich aus vor lachen (ihr mund sehr breit dabei), „er lacht sich schlapp, verstehst du?“ und da begreife ich den tieferen witz, „er lacht sich schlapp“, das heißt, er ist schlapp und zwar, wie E.s lachen zu entnehmen ist, in einem ganz besonderen sinne.
später wieder vor einer scheibe, ein schaufenster in bonn, bahnhofsnähe, das schaufenster einer bäckerei, wir lagern dort (auf einer portaledge? einem gerüst?), während ein gelehrter (gastvortrag) auf die scheibe des schaufensters malt und dazu doziert, einen zusammenhang herstellt zwischen den bewohnern des einen landes, die die frisuren der bewohner eines anderen landes kopieren und dann wieder von den ersten zurückkopiert oder -variiert werden, und dann „haben wir einen diskurs!“ sagt der gelehrte und breitet veranschaulichend die arme aus. ich sage etwas sehr allgemeines zu E. und dann füge ich ironisch hinzu, sie sei bestimmt beeindruckt von der scharfen exaktheit meiner bemerkung, und während sie herzlich darüber lacht, ist ihr mund wieder ganz breit.

Rauch

Bogenförmige Versteifung … Irgendwo hatte ich diesen Ausdruck schon einmal gehört. Ich erhob mich, sah, daß die Frau gegenüber mich anstarrte, starrte freundlich zurück (erhaschte dabei einen rieselnden Blick auf ihr nacktes Kinn), suchte in der Weste nach den Zigaretten und begriff, daß hier abermals ein Fall von absurder Steigerung eines durch elementares Unglück verursachten Kummers infolge eines an sich völlig belanglosen Ärgernisses vorlag. Und so war ich wie ein Hiob ordentlich verzweifelt, als ich feststellen mußte, daß sich all meine Rauchwahre oben in der Wohnung befand. Vor der die Fahnder auf mich warteten, wenn sie nicht schon die Geduld verloren hatten.
Steif erhob ich mich und ging zur Theke.
Ich äußerte meinen Wunsch, griff nach der Geldbörse, suchte darin einen Schein und sah beim Aufblicken, daß die Verkäuferin mich bewegungslos ansah. Erwartungsvoll. Ich schaute nicht minder erwartungsvoll zurück. So starrten wir eine Weile; hatte sie vielleicht nicht richtig gehört? Doch während ich meinen Wunsch wiederholte, beschlich mich wieder das Unbehagen, das ich in den letzten Wochen und Monaten so oft empfunden hatte. Was war jetzt wieder falsch?
Sie hob leicht die Schultern, öffnete weit die Augen, und da war es wieder. Ich erinnere mich nicht, wann die Leute damit anfingen. Lexikalisch war es ein „ja“. Der a-Laut aber ganz kurz und wie abgerissen vom nachfolgenden, deutlich hörbaren Kehlkopfverschluß, was immer so klang, als habe ein Sturm das Wort weggeblasen. Ja’. Man ließ die Schultern nach vorne fallen, reckte den Kopf vor, riß die Augen weitauf, und dabei machte man ja’, hielt die Stimme an und damit die Spannung (man konnte förmlich die Bauchmuskeln sich kontrahieren sehen), vielleicht schüttelte man auch ein wenig den Kopf dabei, während, ja’, die Stimme vermittels der Körperspannung illusionär fortklang, um dann nach einem Schreckmoment wieder einzusetzen, so wie jetzt.
„Ja’ – Ihre Kaaaarte! Die letzten beiden Wörter wie das herrische Motiv eines Marsches oder düsteren Tanzes, dada diiiiii da, verärgert, ungeduldig, unduldsam. Ihre Kaaaarte. NunmachenSieschon.
Welche Karte? Sie hatte die Hand schon ausgestreckt. Am Ringfinger trug sie einen quietschrosa Ring. Ihre Nägel waren so lang, daß ich durch das dünne Horn den abspringenden Lack auf der anderen Seite sehen konnte. Mir dämmerte, was sie von mir wollte. Ich schüttelte den Kopf.
„Ohne Karte kein Rauch.“
„Hören Sie … ich hab sie vergessen, ich … wußte nicht, wie lange …“
„Ohne Karte kein Rauch.“
„Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen?“
„Hören Sie, da könnte ja jeder kommen und wollen, daß man ’ne Ausnahme macht. Nee nee, entweder Sie haben eine Karte, damit der Rauch ordentlich verbucht wird, oder es gibt keinen Rauch.“
„Aber ich … nur unter uns … vielleicht … braucht doch keiner zu erfahren …“
„Nein, es – geht – nicht! Selbst wenn ich einverstanden wäre – was ich nicht bin, schließlich muß ich letztendlich dafür aufkommen, wenn Sie Ihre Gesundheit ohne Rückstufung ruinieren – aber selbst wenn, wie gesagt, es geht nicht. Der Automat gibt mir nur nach Einlesen der Karte Ware heraus. Ist automatisch. Nichts zu machen. Tut mir leid. Au – to – ma – tisch.“
Ich hätte es wissen müssen. Wie so oft in letzter Zeit hatte ich die Lage unterschätzt. In einer resignierten Geste ließ ich meine Handfläche auf den Tresen aufklatschen und wandte mich ab; und schlurfte, noch ein Stück müder, durch den Sonnenfleck zu meinem Tisch und dem kaltgewordenen Tee zurück. Dabei schloß ich einen Moment geblendet die Augen, und es schien, so lange ein Herzschlag dauert, daß der Boden in einer spiegelnden Bewegung wegkippte. Ich griff hastig nach der Tischkante. Nach einem Atemzug wurde das Bild wieder klar. Vor den Scheiben fuhr ein Lastkraftwagen an, lautlos eine Abgaswolke aus dem Rohr blasend.
Die Sonne blitzte noch einmal über die Scheiben, der Fahrer schaltete, eine weitere Rauchwolke drang aus dem Schornstein; die Straße jenseits der Berberitzenhecke zitterte und dröhnte, und in diesem Moment begriff ich endlich: Ich mußte weg.

Abermals Traum von E.

Beim Erwachen der Regen, aus den Tiefen der Zeit aufrauschend, die Tücher der Helligkeit, die traurigen Tücher.

Ein Traum von E. Zuerst bei ihr in einer merkwürdigen Kellerwohnung. Wir sind uns wieder näher gekommen, trotzdem bleibt sie (Sinnbild unserer ganzen tatsächlich stattgehabten Beziehung) fremd, geheimnisvoll, unergründlich-unzugänglich oder sprunghaft unvorhersehbar, beginnt plötzlich Vorwärtsschwünge an einer niedrigen Reckstange zu üben (ihr schwarzes Haar fällt ihr vornüber). Später bin ich allein in der Wohnung, nackt im Bett, da kommt jemand herein, und ich habe panische Angst, es könne ihr Freund M. sein. Ich bedecke meine Köpermitte hastig mit der Decke und hersche den anderen an, er solle bitte gehen. Er ist einer von E.s Studenten, der etwas mit ihr besprechen will und durchaus keine Anstalten macht, zu gehen. Dann kommt noch jemand, wieder die Angst vor M., aber wieder ein anderer.

Es geht immer wieder darum, ob wir oder nicht, aber was genau? Miteinander schlafen? Uns wieder zusammentun?, Eine Daueraffäre habe? Alles zusammen. Ich umarme sie. Ich beruhige sie. Ich bin fern von ihr, sehe sie auf einem Poster, sie hat ganz kurze blonde Haare, ein rosafarbenes weites T-Shirt, eine Halskette. Ich bin fern von ihr, hoffnungsvoll, quälend-hoffnungsvoll fern.

Schließlich will sie mich spontan in den Mund nehmen, aber bevor sie sich noch richtig über mich gebeugt hat, glänzt schon ein Samentropfen auf ihrem Kinn, und dann werden es immer mehr, obwohl ich noch gar nicht gekommen bin, Schlieren, die ihr auch störend die Augen verkleben, und die ich, immer besorgt, es könne ihr gleich zuviel des guten sein, mit einem Taschentuch wegzuwischen versuche, wobei ich sie nur verteile, so daß sie fortfährt, ihre Augen zu reiben.

Beim Erwachen der Regen. Die traurigen Tücher. Das träge, aus den Tiefen der Zeit aufsteigende und in dieselben Tiefen zurückfallende Prasseln, Pladdern, Tropfen. Das Tropfen.

… wird Sturm ernten

Habe heute früh die Glühbirne ganz herausgedreht.
Meine Hofnachbarn gegenüber, zwei junge Frauen anfang zwanzig, haben zwei störende Angewohnheiten. Erstens pflegen sie beim Fortgehen wie beim Nachhausekommen lautstark miteinander zu palavern (wobei man sich fragen muß, was man noch zu besprechen hat, wenn man zusammen wohnt, zusammen weggeht, zusammen wiederkommt, zusammen studiert, und, wie mein Mitbewohner zuverlässig berichtet, selbst den Einkauf von Schreibwaren gemeinsam erledigt), währenddessen mit den Fahrrädern zu klappern und mit einer Kunststoffpersenning zu rascheln, ungeachtet der abendlichen, nächtlichen oder auch frühmorgendlichen Uhrzeit. Zweitens: Sie lassen abends über der Eingangstür das Licht brennen. Da mein Schlafzimmerfenster auf den Hof hinausgeht, den zum einen die Lampe taghell und bis ins Zimmer hinein ausleuchtet, wo zum anderen jedes auch nur zaghafte Geräusch widerhallend verstärkt wird wie in einem Kirchenraum oder einem Kellergewölbe, finde ich diese beiden Angewohnheiten derart gräßlich, daß ich mich seit einiger Zeit wenigstens des Lichteinfalls durch eine entschiedene Maßnahme erwehre, indem ich nämlich das Gehäuse der Lampe auf- und die Glühbirne gerade so weit herausschraube, daß sie keinen elektrischen Kontakt mehr hat. Gegen Palaver, Fahrradklappern, Persenningrascheln kann ich nichts tun.
Heute nacht war es vier Uhr. Morgens.
Ich wurde von den Stimmen wach, vom bekannten Klappern, hörte, wie die eine ausrief, oh Mann, das Licht ist aus, da sieht man ja gar nichts, dann mehr Fahrradklappern, das Geräusch des Ständers, das Rascheln der Persenning, und das alles in einer Lautstärke, die nicht die geringste Vorsicht oder Rücksicht erkennen ließ, dann hörte man ein Schrauben, und das Licht ging wieder an. Die Tür fiel ins Schloß, Schlüsselklirren zweimal, dann Stille. Irgendwo gurgelte eine Toilettenspülung. Der Hof taghell, die Zeit: 4:03. Sie hatten es einfach angelassen! Brauchten es nicht mehr, waren ja zurück, und ließen es brennen! Was glauben die eigentlich, warum ich die Birne rausdrehe, zur eigenen Recreation des Gemüths?
Habe heute früh, im Morgengrauen, kurz nach sechs, die Birne ganz herausgedreht und an mich genommen. Wer Wind sät …

Erzählen

Oft habe ich Ransmayr bewundert für diese verblüffend gelassene art, etwas zu erzählen, ohne es zu erzählen. Immer wieder zurückblättern, innehalten, austreten aus dem sprachstrom und mich fragen: Wie sind wir jetzt hierher gekommen? Wie ist es möglich, daß hier erzählung stattfindet, zwischen den sätzen, sozusagen, und kein einziges mal mit diesem gruseligen, von mir so verachteten und doch immer wieder sich einschleichenden, scheinbar unvermeidlichen hinweis darauf, daß erzählt wird. Bei mir schreit jedes wort laut heraus, daß es erzählung sei. Ich bin als erzähler allzu präsent, meistens in beschämender weise, als hätte ich in einem flüsterleisen kirchenraum plötzlich mit lauter und zugleich unsicherer stimme falsch zu singen begonnen. Bei Ransmayr nichts davon, die erzählung geschieht, sie spricht nicht, sie spricht sich nicht aus. Auf einmal sind wir in Irland, auf Horse Island, in Sechuan, im Eis, ohne je – kein „und dann zogen wir drei tage gen Sechuan“ oder ähnlicher quatsch – geführt worden zu sein, ohne erklärungen aus dem off (obwohl fast alles aus dem off ist), alles nebenbei (aber woneben eigentlich?), ohne eröffnung, ankündigung, einleitung, jedes setting wie aus sich selbst geboren, und erst im nachhinein stellt man fest, man ist ja mittendrin! Wie aber aus den einzelnen, für sich völlig unauffälligen (sieht man von ihrem geschliffenen glanz ab) sätzen die erzählung entsteht, bleibt ein geheimnis, und auch zurückblättern enthüllt es nicht. In geradezu beängstigender weise ist hier das ganze mehr, weit mehr, als die summe seiner teile.

Cafeteria

Ich starrte ihr unter den Maskenrand, länger als es schicklich war, fing einen Blick von ihr auf, der mich schmerzvoll an jenen amüsierten Mut-em-Enets oder Astartes erinnerte, den sie mir damals in der Straßenbahn nicht zugeworfen hatte, senkte rasch die Augen und starrte auf den weißgrellen Sonnenfleck auf dem PVC, wie er sich langsam vorschob und dabei eiförmig zerfloß. Die Tüte mit Eßbarem knisterte, die Füße der Frau scharrten, Lederknarren und ein leises, mit äußerster Zurückhaltung nicht mehr unterdrückbares Räuspern war zu hören, das unter dem Dämpfer der Maske beinahe melodiös klang, jedenfalls nicht krank. Eine Fliege landete vor mir auf dem Tisch. Ich erschrak: Wie lange war es her, daß ich keine Fliege mehr gesehen hatte? Ein merkwürdiger zweiter Schrecken floß aus der Frage, wie es wohl kam, daß die Fliegen rar geworden waren – oder wurde ich allmählich verrückt? Wie still dieses dunkel schimmernde, von fahlgrauem Pelz spärlich bedeckte Insekt dasaß … was geht wohl im Nervengeflecht eines solchen Tiers vor sich, während es scheinbar teilnahms-, jedenfalls der Anschauung nach bewegungslos dasaß? Träumte es? Dachte es? Und was waren das wohl für Gedanken? Langweilte es sich vielleicht? Jetzt hob es eines seiner dornigen, wie mit Widerhaken besetzten Beinchen, das linke des ersten Beinpaars. Sah es mich an? Schimmerte mein Abbild da drin in den irisierenden Schleifflächen der gut zwei Drittel des Kopfsegments ausmachenden Augen? Ich beugte mich und ging in die Hocke, bis meine Nasenspitze die Tischfläche berührte. Im aus den Neonröhren schleichenden Licht warfen die Fliegenbeine allerfeinste Schatten auf die Resopalplatte. Der Pelz aus feinem Haar bedeckte den Körper nicht gleichmäßig, das meiste davon bildete eine Art von Stola oder Schal um die Fugen zwischen Kopf- und Brustsegment. Vereinzelte Büschel aber staken auch auf dem rundlichen Hinterleib, als litte das Insekt an einer Art Arthropoden-Alopezie. Auf der Unterseite dieses von bogenförmigen Versteifungen geteilten Segments wölbte sich etwas wie eine Tasche oder ein Beutel, eine knollenförmige, dunkle Ausbuchtung, die, so weit ich das mit bloßem Auge erkennen konnte, von einem krustigen Schorf bedeckt war. War das Wesen krank? Nährte es da einen Parasiten, ein Nest aus Würmern, oder war es einfach nur Schmutz? Aus einer Verletzung ausgetretenes, geronnenes, die Wunde schützendes Sekret? Oder trug es darin Eier mit sich herum? Ob so ein Tier auch die Verzweiflung spürte, fragte ich mich plötzlich, angesichts einer solchen Cafeteria, der Flecke auf dem Boden, der Frau mit den Gurkenbrüsten gegenüber, dem schorfigen Gebilde unter dem eigenen Bauch? Das abgespreizte Bein zitterte ein wenig. Es zeigte, wie ich da vor dem Tisch hockte, genau auf mich. Et tu Brute! schien es zu sagen. Plötzlich wandte die Fliege sich in einer zuckenden Bewegung um, als sei sie brüskiert, machte einen Sechsschritt und erhob sich im nächsten Augenblick in die Luft, wo sie sich beim Wechsel aus dem Schatten in die Fensterhelle von einem dunklen Punkt in einen Leuchtstreif verwandelte, und gleichsam durchstrahlt in der sonnenhelle Tiefe der Cafeteria verglomm.

22:09

manchmal wird es so sein: man kommt nach hause, man sitzt im schein der lampe, man hört musik, man war im wald gewesen.
manchmal vermißt man, und man glaubt es sich selbst nicht, das buch fällt zu, man glaubt es nicht, den verblüfften finger in den seiten starrt man von weitem ins nahe geleuchtete fenster, und in die gegeneinander gelehnten flächen dahinter, und man ist schon ziemlich fassungslos, vermissen? fragt man, vermissen? droben am berg gongt die längste zeit der kirchenschlag.
an die grenzen gestellt, unter den scheren der straßenlaternen, tick tick tick geht die blindenampel, aber nicht das war es, das man suchte. aber was und wo? tatsachen, fakten, blinken, rotes ampellicht. städtische nachtkerzen, geflacker, geheul. irgendwo das eigene, die wände, eine küche, die von ihren spiegelungen begrenzt wird, vermissen? fragt man.
während ein einsamer einen brief schreibt. während ein jüngling eine treppe zum letzten mal hinuntersteigt. während eine tür über ein hell aufflammendes schluchzen fällt und den laut in seinem verlaufe weggknickt und abschlägt; während die blätter über den straßenlaternen stillstehen; zwei uhr nachts, drei uhr nachts und kein hauch. ein motor erstirbt in der ferne, eine nachtigall. oder irgendso ein vogel, dessen namen einem im unpassendsten moment einfällt. ein rotkehlchen. ein gimpel. pyrrhula pyrrhula.
die tür fällt der geschichte ins schloß. ein augenpaar sagt, alles in ordnung, monate später, wieder eine ampel, grün genug für ein mach’s gut komm nie mehr wieder, nicht rot genug für eine berührung, oder war es der frühling.
heimkehren. aus der stimme entlassen. die stadt, die stadt ist dieselbe. aber ich nicht, oder umgekehrt. ich fahre, ich vermisse. verschwiegene syntax ohne pronomen. vermissen, verlangen, vergessen.
kreuzungen in rot, tick tick tick. phasenversetzt reihum, tick tick. tick tick. hier oder hier, jeder ort seine geschichte, meine geschichte, palimpsest der erinnerung, zeichen, die einander durchdringen, durchwachsen und schließlich zu neuen zeichen verschlingen, und irgendwann, in der Stadt der Städte, am ende des jahrtausends oder sonstwo, wird man das vermissen selbst noch vermissen lernen.

Beim Aufschlagen der Zeitung fragte ich mich plötzlich etwas Merkwürdiges, nämlich, Wieviele, murmelte ich und nahm einen Schluck kaltgewordenen Kaffees, der ebenso schal schmeckte wie der Himmel draußen trübe war, Wieviele Menschen würden wohl von 100 km Ethanol-Getreide satt?

Föhren

Geträumt von einer Föhre mit vor Dunkelheit oder schwindendem Licht bläulich schimmernden Schirm. Die einzelnen Nadel- und Astschichten voneinander zapfenähnlich abgesetzt, darunter, zwischen den Spitzen der Zweige und dem Stamm, eine merkwürdige Art glänzender Leere. Ein Weg liegt dort dunkel, fällt in die Tiefe, während weiter fort, fern, sich eine schlichte Helligkeit hebt; und zuletzt, vielleicht schon beim Erwachen, von diesen Bäumen mehrere, viele, Schirm über Schirm, ein Wald, und ein Wald, der schwebt, wie Bojen auf einer leisen, unsichtbaren Dünung, Zapfen und Säulen, die auf- und niedersteigen, dunkelschimmernde Ballons, Raumschiffe oder Iptamena Dendra die fliegenden Bäume.

7 uhr morgens

Versuchte, die anflutende traurigkeit zurückzustemmen, der verzweiflung herr zu werden, die wieder …
sieben uhr morgens, und das licht in ringen über den tischen … chromstangen, müdes gebäck … zermürbtes schlaffes zuckerbröselndes gebäck, ein pvc-boden, der längst über all den Schuhzumutungen resigniert zu haben schien. vorsichtig aufgetreten, fast die schuhe ausgezogen. eingetrocknete kaffeespritzer, wer konnte sich das leisten, heutzutage, kaffee einfach so zu verschütten, in einer großartig verschwenderischen geste des mißgeschicks, wer konnte sich denn mißgeschicke überhaupt noch leisten? kannte so manchen, der sich nicht schämen würde, mit der zunge am boden entlangzuschlürfen, bis das letzte restchen kaffeefeuchte aufgesogen wäre und nur noch speichelfeuchte auf den pvc glänzen würde … wie konnte es mit uns dazu kommen. daß niemand etwas sagen würde, ja, daß allenfalls die unglaubliche verschwendung, das unzeitgemäße mißgeschick und dann: die versäumte reue, die unterlassene zunge-auf-pvc mißbilligende blicke auf sich zöge …
Gegenüber eine junge frau in bronzefarbenen kleidern, die dokumentierten, wie gesund und sozialverträglich sie sich ernährte, stopfte sich mit halb abgewandtem kopf aus der tüte etwas zweifellos ungesundes in den mund, während die augen hinter ihrer butterbraunen, stirn- und schläfenpartie betont ausbauenden maske argwöhnisch hin und her gingen wie von einem pickenden sperling …
sah, wie kleine krümel ihr über und zwischen die brüste, und kämpfte wieder mit den tränen.