Die Größe des Menschen besteht eben darin, sich gegen seine Neigungen entscheiden zu können, und sein Schicksal darin, es manchmal auch zu müssen. Niedere Instinkte sind menschlich, aber menschlich sind auch Mitgefühl, Kooperation, Solidarität und jene Fähigkeit, die uns am deutlichsten von allen anderen Lebewesen unterscheidet: Geschichten erzählen und anhand von Geschichten unser Leben und die Welt, in der dieses Leben gestellt ist, gestalten zu können. Gegen den Befund des IAT sind Sie, lieber Leser, liebe Leserin, machtlos; Ihre Freiheit aber besteht darin, zwischen dem Instinkt und Ihren edelsten Befähigungen wählen zu können.
Und nun zum guten Schluß noch eine kleine Geschichte. Stellen Sie sich vor, Sie stammen aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald, nennen wir es Hintertupfingen, Sie haben dort Ihre Kindheit und Jugend verbracht, Sie haben dort Ihre Familie gegründet, Sie haben dort Ihre Freunde und Bekannte, Ihren Kleintierzüchterverein und Ihren Posaunenchor, Sie kennen dort jeden Stein und jeden Baum, und bis zu einem verhängnisvollen Tag vor zwei Jahren haben Sie sich nicht vorstellen können, diesen geliebten Flecken Erde jemals zu verlassen. Dann aber ist in Süddeutschland ein Bürgerkrieg ausgebrochen und hat die ehemaligen Länder Baden, Württemberg und Rheinlandpfalz erst in ein verheerendes Blutbad und dann in einen zermürbenden Guerillakrieg gezogen. Ihr Dorf ist gespalten zwischen Unitariern und Separatisten, die Hälfte Ihrer Freunde kennt Sie nicht mehr, die andere Hälfte ist tot oder vertrieben; einen Nachbarn von Ihnen haben Sie nachts aus dem Haus geholt und im Wald erschlagen, Sie haben zitternd hinter der Tür gestanden und mit angehört, wie das Geschrei hinterm Ortsrand verebbte. Die Unitarier nennen Sie einen Feigling, die Separatisten einen Überläufer. Sie selbst wollen nur Ihre Ruhe. Die Rheinebene zwischen Basel und Mainz ist Kriegsgebiet, durch den Schwarzwald ziehen marodierende Banden, die alles plündern, vergewaltigen und versklaven, was nicht bei drei auf den Tannen ist. Ihr Bruder ist schon abgehauen, er hat Ihre beiden Töchter und Ihre Frau mitgenommen, vorübergehend, war die Abmachung, bis das Schlimmste vorbei wäre, denn einer muß dableiben und sich um den Hof und die Tiere kümmern. Aus dem fernen Afrika wollten sie dann Kontakt zu Ihnen aufnehmen. Sie haben seit vier Monaten nichts von Ihnen gehört, und es hat ganz den Anschein, daß im Schwarzwald das Schlimmste nicht nur nicht bald vorbei ist, sondern erst noch bevorsteht. Also beschließen Sie selbst, zu fliehen und Ihrem Bruder zu folgen. Sie haben ein paar Kontaktadressen, ein paar Namen im fernen Amsterdam. Das ist nicht gerade viel. Aber alles ist besser, als hier zu bleiben und darauf zu warten, daß die Unitarier und die Separatisten sich beim Abfackeln Ihres Hofes die Brandsätze aus der Hand nehmen.
Inzwischen ist Rheinland-Pfalz von der Berliner Zentralregierung zum sicheren Herkunftsland erklärt worden – das Problem ist nur, daß Sie als Badener dort als Vaterlandsfeind sofort ohne Prozeß hingerichtet würden, wenn man Sie dort festnähme. Niedersachsen seinerseits hat mit Nordrhein-Westfalen ein Abkommen geschlossen, in dem das Nachbarland sich verpflichtet, etwaige Flüchtlinge schon an seiner südlichen Landesgrenze abzufangen, bevor „die Welle“, wie es schon ominös heißt, nach Niedersachsen gelangen kann. Da andererseits der Weg nach Süden und zum Mittelmeer völlig verriegelt ist, denn die Schweiz läßt niemanden mehr hinein oder hindurch, bleibt ihnen nur der Rhein als Weg nach den Niederlanden und zum Meer. In einem Albtraum aus durchwanderten Nächten und in Verstecken verbrachten Tagen, immer auf der Hut vor herumziehenden Freischärlern einerseits und Grenzhütern andererseits, ständig in Gefahr, aufgegriffen und postwendend zurückgeschickt zu werden (falls man Sie nicht gleich standrechtlich erschießt), haben Sie es irgendwie geschafft, sich nach Amsterdam durchzuschlagen; dort haben Sie Anschluß an andere Flüchtlinge gefunden und sich einem Schleuser in die Hände gegeben, der Sie und hundert weitere Unglückliche im Laderaum eines Frachters mit Kurs auf die senegalesische Küste schmuggelt. Im Senegal, heißt es, gibt es eine starke Solidaritätsbewegung und eine kompetente Flüchtlingshilfe; die Staatschefin soll mit dem vielversprechenden Slogan „Wir schaffen das“ von sich reden gemacht haben. Trockenen Fußes betreten Sie ein paar Wochen später den rettenden Kontinent. Andere, die sich kurz nach Ihnen auf den Weg gemacht haben, hatten nicht so viel Glück, erfahren Sie später, sie wurden im Ärmelkanal in einem Schlauchboot ausgesetzt und sind ertrunken oder verschmachtet, man weiß es nicht genau.
Und jetzt, nach weiteren Tagen oder Wochen, sind Sie hier, in diesem Großraumbüro in einem anonymen Gebäude und warten darauf, daß man Sie registriert. Sie haben keine Ahnung, was Sie erwartet, noch, was von Ihnen erwartet wird. Sie sind hier der einzige mit heller Hautfarbe. Sie verstehen kein Wort von dem, was um sie her gesprochen wird. Eine Gruppe von Angestellten lacht über einen Witz. Sie haben das Gefühl, daß sie zuvor zu Ihnen hinübergeschaut haben. Als Sie das Gebäude betreten haben, hat einer von seinem Bildschirm aufgeblickt und Sie angesehen mit einem Ausdruck, den Sie inzwischen gut kennen. Er bedeutet: Oh nein, nicht schon wieder einer. Sie haben entsetzliches Heimweh nach einer Heimat, die es nicht mehr gibt, Sie wissen nicht, was aus Frau und Töchtern und dem Bruder geworden ist, Sie sind krank vor Sorge um Ihre Lieben, fühlen sich verloren, fremd, herumgestoßen und unsäglich müde.
Und dann sagt jemand etwas neben Ihnen. „Hey!“
Und als Sie den Kopf heben, hat sich vor Ihnen einer aufgebaut, pechschwarze Haut, rasierter Schädel, kolossale Schultern. Die Hände in die Hüften gestemmt, steht dieser Riese vor Ihnen, reckt das Kinn vor und sagt noch einmal, „Hey!“
Und dann lächelt er. Ein breites, herzliches Grinsen voller blitzweißer Zähne spannt sich von Ohr zu Ohr. Sie wissen nicht recht, was das bedeuten soll. Schüchtern lächeln sie zurück. Da tippt der Riese Ihnen sanft auf die Schulter und sagt, „Hey, where do you really come from?“
Und völlig verdattert sagen Sie, „Schwarzwald, äh, Black Forest.“
Und der andere nickt und fragt, und wo da?
Sie zucken mit den Schultern und sagen, Tupfingen; und da hebt der Riese die Augenbrauen und fragt zurück, Vordertupfingen oder Hintertupfingen?
Szenenwechsel. Sie arbeiten selbst in so einem Großraumbüro. In Ihrer Welt ist das Gefährlichste der Straßenverkehr und Handystrahlen und das Unangenehmste ein Besuch beim Zahnarzt. Sie haben zwei gesunde Kinder und einen Partner, den Sie sehr lieben. Ihre Arbeit könnte mehr Spaß machen, aber immerhin ist sie nicht belastend oder stupide. Mit den Kollegen verstehen Sie sich gut (eben haben Sie über einen Witz mit ihnen gelacht). Sie haben einen anstrengenden Tag mit hunderten von Anträgen, einer Dienstbesprechung, drei Protokollen und einem ersten Entwurf zur zweiten Präambel der dritten Fassung der Durchführungsverordnung hinter sich, es ist sechzehn Uhr, Sie haben Hunger und Lust auf ein Bier. Sie freuen sich auf Ihren Feierabend und auf das Abendessen mit ihrer Familie, lauter gute Dinge, die Sie so fest glauben, verdient zu haben, daß Ihnen kein anderer Gedanke dazu kommt.
Und nun betritt eine Gestalt das Großraumbüro, ein Mann in Ihrem Alter, dunkle Hautfarbe, schwarze Locken, die Sportjacke hat schonmal bessere Tage gesehen. Der Mann sieht sich um mit einem Gesichtsausdruck, den Sie schon von vielen hundert anderen kennen. Wenn sich das mit dem jetzt hinzieht, dann kommen Sie nicht rechtzeitig raus, und Sie müßten zu Hause anrufen, um durchzugeben, daß es wieder einmal später wird. In letzter Zeit wird es oft später, denken Sie mißmutig. Ihr Blick trifft den Blick des Mannes, und sie denken, nicht schon wieder einer.
Und dann passiert eine ganz kleine Sache. Vielleicht hat Ihre Tochter gerade eine Blinddarmoperation heil überstanden, oder Sie sind am Tag zuvor einem Verkehrsunfall nur knapp entgangen, oder der Zahnarzt hat keine neue Karies festgestellt, jedenfalls fühlen Sie, das kann nicht alles sein, irgendetwas wird jetzt passieren, und ehe Sie darüber nachdenken, sind Sie schon aufgestanden, zu dem Mann hinübergegangen und haben sich, große Statur, militärischer Haarschnitt, breite Schultern, eisblaue Augen, vor ihm aufgebaut.
Und dann lächeln Sie.
„Hey!“ sagen Sie, „Where are you really from?“ –
Was hat Sie das gekostet? Nur einen kleinen Schritt; aber viele kleine Schritte machen eine Menschheit aus. Sie kennen diesen Menschen nicht, nicht seine Geschichte, nicht seine Träume, nicht seine Wünsche, seine Ängste nicht und nicht seine Hoffnungen. Sie wissen nur, daß er, wie jeder Mensch, eine Geschichte, Träume, Wünsche, Ängste und Hoffnungen hat. Genau wie Sie. Vielleicht ist das ein Busengrapscher, vielleicht ein sanfter Familienvater, vielleicht ein Fanatiker, vielleicht die Gelassenheit in Person, vielleicht ein Bombenleger, vielleicht ein Spaßmacher, vielleicht ein Choleriker, Sie wissen es nicht. Aber wenn Sie raten wollen, liegen Sie am wahrscheinlichsten mit der Vermutung richtig, daß er Durchschnitt ist. Genau wie Sie. Und während er Ihnen antwortet, Ethiopia, huscht etwas über seine Züge, das Sie selbst vielleicht schon sehr lange nicht mehr nötig gehabt haben: Hoffnung.
Kann sein, dieser Mensch hat Sie schon am nächsten Tag wieder vergessen. Kann aber auch sein, Sie haben dadurch, daß Sie sich für ihn interessierten, eine freundliche Spur in diesem Menschen hinterlassen und ihm fünf Minuten geschenkt, die er noch Jahre später seinen wiedergefundenen Töchtern erzählen wird.
Und nun eine Bitte.
Lassen Sie diese Gelegenheit nicht verstreichen. Danke.