… aber diese Fremden sind nicht von hier! (9), Fremdenfeindlichkeit



(Vorletzter Teil der Reihe, in der ich einen Fragebogen zum Thema Rassismus kommentiere, den die Online-Ausgabe von ZEIT Campus vor ein paar Monaten herausgegeben hat.)

Die unangenehme Wahrheit ist: Fremdenfeinlichkeit ist der Normalfall. Daß wir in anonymen Sädten zu Millionen fremd an fremd zusammenleben, daß wir gemeinsam mit Menschen, die uns gänzlich unbekannt sind, friedlich die U-Bahn benutzen, Bus fahren, Geschäfte aufsuchen, an der Fußgängerampel warten, in der Kassenschlange stehen, ist durchaus nicht selbstverständlich, ja, es ist sogar, vor dem Hintergrund, daß sich über die weitesten Strecken der Menschheitsgeschichte Fremde, die einander unverhofft in der Savanne über den Weg liefen, geneigt waren, sich gegenseitig den Schädel einzuschlagen, ein kleines Wunder. Bis zum Auftreten erster Städte, Ballungszentren und Hochkulturen hat jeder Mensch auf Erden als Mitglied einer übersichtlichen Stammesgesellschaft gelebt, in der jeder jeden kannte. Der Normalfall war auch, daß Stammesfremde, wenn sie die Grenzen des Territoriums überschritten, ohne Federlesens von Migliedern benachbarter Stämme getötet wurden, eine Reaktion, die sich unter Stammesgesellschaften bis weit ins zwanzigste Jahrhundert gehalten hat. So sah die Welt aus, seit es den Menschen gab, „bis gestern“, wie Jared Diamond schreibt. Von solchen Verhältnissen zu einer Gewissensprüfung wie der hier kommentierten ist es ein weiter Weg. Alles andere als eine moderne Erscheinung, ist uns die Fremdenfeindlichkeit wahrscheinlich schon in die evolutionäre Wiege gelegt. Daß wir sie überwinden können, ist eine großartige Kulturerrungenschaft und eine der vielen erstaunlichen Leistungen unseres flexiblen Gehirns, das uns erlaubt, Narrative umzuschreiben und völlig neue Lebenswelten zu erschaffen. Daß es dabei manchmal hakt, weil uns atavistische Tendenzen in die Quere kommen, darf uns nicht erstaunen. Statt aber schon das Gefühl eines Vorbehalts gegenüber Fremden moralisch zu verdammen und nach Art des Fragebogens zur Sünde zu erklären, sollten wir dem Phänomen (und eigentlich ist das Miteinanderauskommen das Phänomen, nicht die Fremdenfeindlichkeit) mit Verständnis und demselben flexiblen Gehirn begegnen, der diese Welt mit ihren Städten, ihren Verkehrsmitteln, ihren komplexen Gesellschaften, ihrer Technologie und ihren vielfältigen Migrationsbewegungen erst geschaffen hat. Selbst noch die eigenen Gedanken zu züchtigen, führt in Erschöpfung und letztendlich in Selbsthaß: Wir werden nie gut genug sein. Wir werden nie unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Wir werden nie frei von rassistischen Tendenzen, frei von Neid, Habsucht, Völlerei und Faulheit sein. Wir werden uns Rosenmontag nie in einer Horde Jecken in Köln wohl fühlen, es sei denn, man würde selbst zum Jecken. Wir können uns aber selbst keinen Migrationshintergrund oder eine afrikanische Abstammung zulegen, wenn wir nunmal in die Familie Holzkötter hineingeboren und in Sprockhövel aufgewachsen sind. (Man bekommt direkt den Eindruck, das ist genau das, was uns der Fragebogen vorwirft: keine Migranten zu sein. Als wäre man erst dann ein guter Mensch.)
So manches, was uns in die Wiege gelegt wurde (die Bereitschaft, den eigenen Nachwuchs zu töten, wenn die Zeiten rauh sind; die Neigung zu Vergewaltigung; das Streben nach Dominanz; die Neigung vieler Männchen, sich einen Harem zuzulegen, und viele andere) finden wir aus guten Gründen unmenschlich und ausmerzwürdig. Zwar nutzt uns die Erkenntnis, warum Männer zur Vergewaltigung neigen und wir alle Rassisten sind, nicht viel, denn das macht das Übel weder besser, noch schafft die Erkenntnis es von selbst aus der Welt. Ein Mißverständnis besteht allerdings darin, solche Neigungen deshalb für entschuldbar zu halten. Ein so flexibles Gehirn wie das menschliche kann sich nicht rausreden; schon der Versuch, sich mit seinen ererbten Neigungen zu rechtfertigen, beweist die Schuldfähigkeit dessen, der so argumentiert. Denn das ist der Mensch: ein Wesen, das schuldig werden kann. Denn der Mensch kann sich gegen seine Neigungen entscheiden, und manchmal muß er es auch. Er kann es aber besser, wenn er weiß, was seine Neigungen sind und wo die Neigungen herkommen. Immer aber kann und muß er es aus Gründen. Und hier sind wir endlich beim IAT angelangt.

IAT steht für Impliziter Assoziationstest, das ist ein Verfahren der Sozialpsychologie, um die Stärke von Assoziationen zwischen verschiedenen Gedächtnisbereichen zu messen und damit unbewußte Einstellungen (Bevorzugung oder Ablehnung) sichtbar zu machen. Dabei müssen Probanden einerseits Wörter wie schrecklich, Liebe, Vergnügen, verletzt nach positiver oder negativer Konnotation sortieren, andererseits Bilder den Schubladen der abzutestenden Kategorie – dicke oder dünne Menschen, dunkelhäutige oder hellhäutige Menschen, alte oder junge Menschen etc. – zuordnen, also Bilder dünner Menschen als „dünn“ kennzeichnen, Bilder dicker Menschen als „dick“. Dabei wird eine Bildschirmseite der Kategorie „gut“ und die andere der Kategorie „schlecht“ bzw. „dick“ oder „dünn“ (oder „alt“ und „jung“ etc.) zugewiesen. In der Mitte erscheinende Wörter und Bilder müssen dann mit den Tasten e (links) und i (rechts) zugeordnet werden. In einem dritten und vierten Schritt werden diese Zuordnungsaufgaben vermengt, wobei einmal die Seiten getauscht werden. Die Idee ist nun, daß Probanden mit einer unbewußten Bevorzugung von, sagen wir, dicken Menschen, sich bei der Zuordnung von positiv konnotierten Wörtern und Gesichtern dicker Menschen leichter tun, wenn diese auf derselben Seite erscheinen (dieselbe Antworttaste erfordern) und langsamer reagieren oder mehr Fehler machen, wenn negativ konnotierte Wörter und Gesichter dicker Menschen auf derselben Seite liegen. Was wir lieber nicht erfahren hätten: Die Mehrzahl weißer Probanden zeigt im IAT eine Bevorzugung hellhäutiger Gesichter (bei schwarzen Probanden ist das umgekehrte Ergebnis weniger eindeutig), und zwar weltweit. Insofern liegen hier die Autoren des Fragebogens richtig, wenn sie behaupten, der Rassismus ordne unser aller Denken.
Oder vielleicht doch nicht, denn die Reaktionsmuster des IAT sind ja gerade kein Denken (oder höchstens „schnelles“ Denken in der Kahnemannschen Dichotomie), sondern erfolgen unbewußt: Sind die Reaktionen nämlich nicht spontan, ist der Test nicht mehr aussagekräftig, würde er doch in diesem Fall unsere durch Nachdenken gewonnenen Überzeugungen widerspiegeln, nicht aber den Teil unseres Selbst, zu dem wir keinen Zugang haben. (So hat beispielsweise der Autor dieser Zeilen ausweislich des IAT eine „starke Präferenz“ für weiße Menschen.)
Der entscheidende Punkt ist nun, daß das Ergebnis des IATs gegen die eigenen Überzeugungen, gegen die eigenen Haltungen, ja sogar gegen das eigene Selbstbild ausfallen können. Mit anderen Worten, der, wenn der Ausdruck erlaubt ist, intrinsische Rassismus ist allenfalls von wissenschaftlichem und von pädagogischem Interesse; für die politische, gesellschaftliche, soziale und juristische Sphäre ist er unerheblich. Niemand kann für unerwünschte Werte im IAT belangt werden, kein Politiker muß sich zu seinem persönlichen IAT-Scan äußern, das Testergebnis wird weder in Ausweispapieren niedergelegt noch verpflichtend regelmäßig von allen Bürgern erhoben; es ist keine Zugangsvoraussetzung zu Berufen, und es steht auch nicht im Abschlußzeugnis der Schule. Außerdem ist der Zusammenhang zwischen impliziten und expliziten Einstellungen Gegenstand aktueller Forschung und bislang noch nicht gut verstanden. Wer andererseits seine automatischen Präferenzen kennt, wird vielleicht Anstrengungen unternehmen, sie zu unterwandern, beispielsweise betont freundlich zu dunkelhäutigen Menschen sein, ihre Gesellschaft suchen etc, während jemand, der ungeprüft überzeugt davon ist, keine solche Präferenz zu haben, sich selbst weniger scharf beobachtet und diesen Präferenzen im Alltag vielleicht größere Zugeständnisse macht, als ihm selbst lieb sein kann. Daß auch ein solcher Fragebogen wie der hier so hart kritisierte, eine solche pädagogische Wirkung haben kann, sei den Autoren zugute zu halten.
Die Größe des Menschen besteht eben darin, sich gegen seine Neigungen entscheiden zu können, und sein Schicksal darin, es manchmal auch zu müssen. Das kann uns keiner abnehmen. Seinen Neigungen zu folgen, ist ein Kinderspiel; über den eigenen Schatten zu springen manchmal sehr schwer. Wir sollten die Menschen ermuntern und ermutigen, im Kontext von Fremdenfeindlichkeit über den eigenen Schatten zu springen; offen bleibt, ob dies ein solcher Fragebogen zu leisten vermag.