… aber diese Fremden sind nicht von hier! (4), Sünde

(In dieser Reihe kommentiere ich einen Fragebogen zum Thema Rassismus, den die Online-Ausgabe von ZEIT Campus vor ein paar Monaten herausgegeben hat.)

An mehreren Stellen prüft der Fragebogen die Gefühle des Lesers: In 10 und 11 nach dem Sich-Fremd-Fühlen; 23 nach der Reaktion auf fremdenfeindliches Verhalten anderer; 26, 27 nach den Gefühlen gegenüber neuen Nachbarn; 29, 30 nach Assoziationen; 33 nach dem Sich-Fremd-Fühlen in anderer Perspektive. In diesen Fragen gleicht der Bogen durchaus einem Beichtspiegel der katholischen Kirche, und Rassismus erhält hier den Stellenwert einer veritablen Sünde. Man ziehe nur einmal zum Vergleich den hier veröffentlichten Beichtspiegel heran: Hatte ich [den Eltern] gegenüber ein aufrichtiges Wohlwollen? … Habe ich mich meiner Eltern geschämt? … War ich unschamhaft im Denken … Habe ich die eheliche Treue verletzt in Gedanken und Begierden? … War ich hochmütig, hoffärtig. ehrsüchtig, gefallsüchtig, putzsüchtig, unbescheiden, herrschsüchtig? … War ich missgünstig, neidisch, eifersüchtig, schadenfroh?
Unschwer zu erkennen ist: Schon Gefühle wie Neid oder spontane Gefühlsreaktionen wie Zorn sind sündig und beichtpflichtig! Was der Fragebogen in 26 vom Leser wissen will, ist ja nicht, ob der die Afghanische Familie zum Kennenlernen einlädt, sondern wie er sich fühlt. Daß es den Leser vielleicht gruselt, er aber sein Fremdeln durch offensive Herzlichkeit zu überwinden sucht, eine solche Reaktion zieht der Fragebogen nicht einmal in Betracht. Wenn es dich vor Afghanen gruselt, bist du ein Rassist, egal, ob du sie im Hausflur grüßt, ihr Kind zum Arzt fährst, ihnen die idiotische Müllordnung erklärst – oder ihnen vor die Wohnung scheißt. Sich vor Fremden gruseln ist Sünde, basta.

Die Gedanken, so ein altes Volkslied, sind frei. Deshalb sind die Gedanken einer jeden Tyrannis ein Dorn im Auge, haben sich alle Diktaturen bemüht, dieses letzte Freiheitsrefugium auch noch unter Kontrolle zu bringen, handeln dystopische Erzählungen davon, in welchem Maße diese Kontrolle erfolgreich ist oder es Individuen gelingt, die Kontrolle über ihre Gedanken zu behalten. Der Versuch, unsere Gedanken, wenn nicht zu lesen, so doch zu kontrollieren, manipulieren, vorherzubestimmen, ist hingegen selbst in Demokratien allgegenwärtig. Meinungsmache, Propaganda, Werbung heißen die Werkzeuge dazu, und in neuerer Zeit ist noch die Internetspionage und -datensammlung unter dem Stichwort „Big Data“ dazugekommen. Eine der größten Erfolgsgeschichten der Gedankenmanipulation ist die katholische Kirche. Keine andere Institution hat es so gut und so lange vermocht, die Leute bei Stange zu halten. Die Gewissensprüfung anhand eines Beichtspiegels ist eines der perfideren Werkzeuge (ein anderes ist die eingeimpfte Furcht vor der ewigen Verdammnis).
Nun mögen in meinem Verhältnis zu Gott bereits Gedanken und Gefühle als Sünde gelten (mithin beziehungsrechtlich relevant sein); der Rassismus in Gedanken alleine spielt für unser Zusammenleben keine Rolle, ebensowenig wie ein Diebstahl in Gedanken strafrechtliche Relevanz hat. Wir kämen in Teufels Küche, wenn es anders wäre. Ich kann mich ja auch homoerotischen Phantasien hingeben, ohne deswegen schon homosexuell zu sein; ich kann davon träumen, meine fünfzehnjährige Nachhilfeschülerin zu vögeln, ohne ihr jemals auch nur Komplimente gemacht zu haben; und ich kann mir vorstellen, meinen verhaßten Nachbarn in der Kloschüssel zu ersäufen, ohne daß ich deswegen ein Mörder bin: Phantasien stellen (wie übrigens auch das Erzählen, widrigenfalls alle Krimiautoren Verbrecher wären) einen gefahrlosen Versuchsraum bereit, in dem sämtliche Grenzen des rechtlich Erlaubten, des moralisch Gebotenen und gesellschaftlich Geduldeten überschritten werden können. Und sie gehen niemanden etwas an. Zwischen Denken und Handeln ist daher strikt zu trennen. Der Fragebogen indes verlangt vom Leser, auch noch die verborgenen Regionen unserer Gefühle und Gedanken auf den Prüfstand zu stellen, als wäre an diesen Gedanken und Gefühlen schon irgend etwas Falsches und der Korrektur Bedürftiges. Ich kann ja tatsächlich gegen Migration sein, die Globalisierung für das größte Menschheitsübel erachten und die Ansicht vertreten, daß Kontakt und Vermischung von Kulturen schlecht sind, daß jeder Weltwinkel besser nur sein eigenes Süpplein kochen und möglichst gar nichts über die anderen Weltwinkel wissen sollte – und trotzdem die Migration als Tatsache zur Kenntnis nehmen und einem Menschen, der meinen Vorstellungen einer idealen Welt zum Trotz nunmal hier gestrandet und in echter Not ist, beherzt und mit vollen Händen helfen. Ich kann genervt sein über das arabische Gequatsche meiner Sitznachbarn im Bus, ich kann auch der Ansicht sein, daß meine Heimat nicht mehr meine Heimat ist, seit jener Raum jetzt auch von Menschen als Heimat beansprucht wird, die nicht meinem Kultur- und Sprachraum entstammen und anders aussehen und sprechen, andere Götter haben und sich anders kleiden als meinesgleichen – ich kann so empfinden, und dann aber trotzdem der Flüchtlingshilfe erkleckliche Summen Geld spenden. Und ich kann auch beim IAT in puncto Hautfarbe schlecht abschneiden und dennoch meinem nigerianischen Nachbarn bei der Deutschprüfung helfen. Mit anderen Worten: Was ich fühle (mein Ressentiment) oder sogar wie ich unbewußt reagiere (IAT), kann in starkem Widerspruch zu meinen Überzeugungen („diese Menschen leiden manifeste Not, weswegen man ihnen helfen muß“) stehen. Den Autoren des Fragebogens aber, so muß man wohl denken, reicht nicht, daß ich den afghanischen Nachbarn beim Ausfüllen von Formularen helfe und den Seenotrettern Geld spende, nein, darüber hinaus muß ich auch noch reinen Herzens sein.

Entscheidend für ein gepflegtes Miteinander ist meines Erachtens nicht, was wir denken, nicht einmal, was wir fühlen; sondern allein, wie wir handeln. Weswegen es beim Umgang mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kaum darauf ankommt, wie es in der Mördergrube unseres Herzens aussieht. Beurteilbar im Sinne einer Ethik oder eines Rechtssystems sind nur die tatsächlich ausgeführten Handlungen, nicht aber die ihnen zugrunde liegenden realweltlichen, kausalen Motivations- und Entscheidungsprozesse. „Wahrscheinlich bist auch du ein bißchen homophob, sexistisch, rassistisch etc!“ Das ist existentialistisch gedacht: Nicht was ich sage und wie ich handele, wäre dann Grundlage der Beurteilung meiner Person hinsichtlich von Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus, sondern was ich bin. Was ich aber bin, ist keine Frage mehr meiner Entscheidungen, sondern ein biographischer und biologischer Zufall, für den ich nichts kann, einerseits, den ich aber, andererseits, als potentielle Schuld auch niemals loswerde: Damit wird Rassismus zur Erbsünde, zu einem Fehler, an dem unermüdlich gearbeitet werden muß, ohne daß man freilich jemals darauf hoffen dürfte, ihn dereinst einmal zu überwinden. Mea culpa, mea maxima culpa. Wir sind alle sündig bis ins Mark. Nur daß bei diesem Vergleich eines fehlt: Die Gnade einer Beichte, die uns immer wieder erlöst. Die nimmt uns keiner ab. Weder Migranten noch Autoren der ZEIT Campus. (Obwohl die sich vielleicht berufen fühlen, weil sie womöglich, wie es damals Martin Walser zu seinem eigenen Unglück zu formulieren gewagt hat: „eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern“) So kommt es, daß der Fragebogen einem Beichtspiegel ähnelt, nur eben ohne Aussicht auf Absolution. Und wer sich selbst freispricht („Wie ehrlich warst du bei Frage 13?“), fällt erst recht der Verdammnis anheim.