(In dieser Reihe kommentiere ich einen Fragebogen zum Thema Rassismus, den die Online-Ausgabe von ZEIT Campus vor ein paar Monaten herausgegeben hat.)
Der nächste in diesem Themenfeld ständig begegnende Begriff ist derjenige der Diskriminierung, und ebenso wie Rassismus ist es ein Wort, das allzu leicht über die Lippen schlüpft. „Ausgrenzung“, „Benachteiligung“, „Diffamierung“, „Unterdrückung“ fallen vielleicht als Synonyme ein; aber etwas anderes liegt diesen Situationen im Begriff der Diskriminierung voraus. Es ist schon in der Wortherkunft angelegt: Diskriminieren bedeutet zunächst nichts weiter als „einen Unterschied feststellen oder behaupten“. Und zweitens, so wie dieses Wort normalerweise verwendet wird: diesen Unterschied zu einem (expliziten oder impliziten) Werturteil machen. Das Gegenteil von Diskriminierung ist die Gleichbehandlung. Wenn man aber mal anfängt, über Gleichbehandlung nachzudenken, stellt man schnell fest, daß das ein schwieriges Konzept ist, man könnte sogar sagen, eine Illusion. Wir machen ständig Unterschiede, und meistens ist damit eine Wertung verbunden. So unterschieden wir recht scharf zwischen Angehörigen unserer Familie und Menschen, die nicht dazu gehören; wir unterscheiden zwischen unseren Freunden, Menschen, die wir nur locker kennen und ganz Fremden; wir unterscheiden zwischen unserem Partner und allen anderen, die es im Moment nicht, noch nicht oder nicht mehr sind; wir unterscheiden zwischen unserem Ex und Menschen, mit denen wir nie intim waren; wir unterscheiden zwischen Menschen, die dieselbe Sprache sprechen wie wir und denen, deren Sprache wir nicht verstehen. Zum Teil sind solche Unterscheidungen sogar gesetzlich zementiert, etwa im Eherecht, in der Fürsorgepflicht gegen die eigenen Kinder, in der Pflegeverantwortung gegenüber den Eltern oder Großeltern, oder im Erbrecht. Das ist nicht nur Gesetz, wir empfinden es so auch als richtig.
Dennoch wird niemand behaupten, daß wir jemanden außerhalb unserer Familie diskriminieren, weil wir ihn nicht zum Weihnachtsessen laden; oder daß wir einen Unbekannten diskriminieren, weil wir nicht ihm, wohl aber unserem Freund eine Übernachtungsmöglichkeit in unserer Wohnung anbieten. Wir kümmern uns um unsere eigenen Kinder und nicht um die von Fremden, wir pflegen unsere eigenen Angehörigen und nicht die der ersten Person, der wir in der Straßenbahn begegnen. Für deren Bildung und Gesundheit zahlen wir höchstens Steuern und entrichten Versicherungsbeiträge; persönlich involviert fühlen wir uns nicht. Man könnte sagen, unser Verantwortungsgefühl gegenüber anderen Menschen ist gestaffelt, je nachdem, wie nahe uns jemand steht. Die Eigenschaft von Menschen, uns nahezustehen, ein Freund oder Familienangehöriger zu sein, ist ein relevantes Merkmal, das unseren Umgang mit diesem Menschen bestimmt und festlegt, welche Zuwendungen wir ihm zu schenken bereit sind und welche Pflichten wir ihm gegenüber zu haben glauben, wobei beispielsweise egal wäre, welche Hautfarbe der Verwandte oder der Fremde hat. In der vorausgehend eingeführten Terminologie könnte man Diskriminierung nun generell bestimmen als Benachteiligung anhand irrelevanter Merkmale, und Rassismus wäre eine inhaltlich festgelegte Form der Diskriminierung, Sexismus eine andere. Familiarismus oder Amicismus (die Bevorzugung von Familienangehörigen und Freunden) wäre dagegen keine Diskriminierung, wofern das Merkmal „Gehört zur Familie“, „Ist mein Freund“, ein relevantes Merkmal ist. -ismen, könnte man sagen, füllen Diskriminierung mit Inhalt. Aus dem Gesagten geht ferner hervor, daß Sich-fremd-Fühlen keine Diskriminierung darstellt: Erstens ist es ein unabweisbares Gefühl, das unseren besten Absichten zuwiderlaufen kann (siehe dazu weiter unten); und zweitens stellt es für sich allein keine Benachteiligung dar. Drittens besteht in der Fremdheit eine Form der Reziprozität: Fremd ist man einander, nie eine Seite einer Begegnung allein. Warum also sollte mein eigenes Fremdeln gegenüber Menschen, die meine Sprache nicht sprechen, anders zu bewerten sein, als das jeweilige Fremdeln dieser Fremden mir gegenüber? Der Fragebogen legt indes nahe, daß ich mich meines Fremdelns schämen muß, während die andere Seite wegen meines Fremdelns eine Benachteiligung erfährt, für die sie in Schutz genommen werden soll. Zu der Beobachtung, daß hier mit zweierlei Maß gemessen wird, siehe unten.
Wenn nun der Fragebogen uns zur Prüfung vorlegt, ob wir uns in der Umgebung von Menschen, die „Russisch oder Arabisch“ sprechen, fremd fühlen, so ist unschwer zu erkennen, wie die Antwort zu lauten hätte, deren wir uns nicht schämen müßten. Einmal ganz davon abgesehen, daß Sprache kein Rassenmerkmal ist: Sich in unvertrauter Umgebung fremd zu fühlen, ist kein Rassismus, ob es sich bei der fremden Umgebung um fremde Sprachen, Fans des falschen Fußballvereins, eine Gruppe quiekender Ausflüglerinnen oder eine Versammlung Gothic Fans im entsprechenden Outfit handelt. Wer hat sich nicht schon fremd gefühlt auf einer Party, auf der außer dem Gastgeber lauter unbekannte Leute waren? Außerdem ist der Kontext entscheidend: Man kann sich als Mann (oder Frau) unter Frauen (oder Männern) wohl fühlen, aber sehr fremd, sobald man etwa als Mann eine Frauenarztpraxis betritt oder als Frau die Umkleidekabine einer (männlichen) Fußballmannschaft. Man sieht: Die Möglichkeiten, sich in irgendeiner Umgebung fremd zu fühlen, sind nahezu beliebig vielfältig, und es ist sehr wahrscheinlich, daß man sich, wenn man sich in einer zufälligen deutschen Großstadt bewegt, im Laufe eines Tages mehr als nur einmal fremd fühlen wird. Ich persönlich fühle mich im rheinischen Straßenkarneval mehr als nur ein bißchen fremd. Vielleicht bin ich ja tatsächlich ein Rassist, aber nicht, weil ich mich dort und in vielen anderen Situationen fremd fühle. Ist es schlimm, sich fremd zu fühlen? Nein, es ist völlig normal. Sich fremd zu fühlen ist eine Erfahrungstatsache in modernen multikulturellen Gesellschaften und etwas, das Bewohnern moderner Großstädte Tag für Tag zugemutet wird und auch zugemutet werden darf. Die Kunst besteht nicht darin, sich nicht fremd zu fühlen; die Kunst besteht darin, die Fremdheit auszuhalten. Wie überwindet man Fremdheit? Ganz einfach: Indem man sich an sie gewöhnt. Denn das gewöhnliche Fremde ist schon deshalb nur halb so fremd, weil es gewöhnlich ist. (Weswegen Xenophobie hierzulande paradoxerweise in denjenigen Regionen am pointiertesten ist, wo es die wenigsten Einwanderer gibt.) Daß wir diese Übung meistens hinkriegen, ist eine enorme zivilisatorische Errungenschaft. Der Fragebogen jedoch suggeriert dem Leser, er habe rassistische Tendenzen schon allein aufgrund eines bloßen Gefühls. Das ist töricht, weil es beim Befragten bestenfalls Unsicherheit, schlimmstenfalls Renitenz erzeugt (eine Renitenz, übrigens, die die Autoren einkalkulieren, wenn sie vorwegnehmend in Frage 4 auf sie reagieren). Fremdeln ist nicht schlimm. Was wäre schlimm? Der Versuch, das Sich-fremd-Fühlen durch aggressive Ablehnung zu bewältigen. Es ist jedoch ganz im Tenor des Fragebogens, hier nicht tatsächliches Verhalten, sondern Gefühle zu erfragen: Habe ich sündige Gedanken gehabt?