Ein Winkel, aus dem sonst nie Licht einfällt, zeigt sich hell erleuchtet. Die Quelle befindet sich oberhalb des Fensterrahmens, vom Bett aus nicht zu sehen. Als hätte sich im Laminat eine bislang verborgene Falltür zu einem Untergeschoß geöffnet, aus dem Licht unklarer Herkunft herauströmt, klafft vor dem Bett ein helles Dreieck. Vorsichtig tastet man mit dem Pantoffel in der verschwommenen Lichtbrühe herum. Wie leicht rutscht man hier ab. Es ist, als hätte das Zimmer sich gedreht und dabei noch Schlagseite bekommen. Die Himmelsrichtungen stimmen nicht mehr, das Fenster zeigt die bleichen Giebel fremder Häuser. Schornsteine, Antennen, ein schwebender Zaun. Umrisse sind verlängert, Kanten gestaucht, Mobiliar und Gerätschaften tragen Masken, auf der Spüle sitzt ein gläserner Elefant, aus dem Sofa scheint eine riesige Zunge zu hängen. Es ist weder Tag noch Nacht. Es ist beides zugleich. Tiefe Stille herrscht, während der Tau fällt und der Mond die Morgendämmerung vorwegnimmt. Es ist, als hinge man kopfüber von einem gekippten Spiegel, und das Licht liefe wie sanft pochende Lymphe in den geblendeten Schläfen zusammen.
Monat: Juni 2018
Frei von
“Ein Becher Wein zur rechten Zeit ist mehr wert als alle Reiche dieser Erde”
„Nichtraucher (Nichttrinker/Vegetarier/Veganer/Ultraviolette) leben im Schnitt fünf Jahre länger.“ Solche und ähnliche Sätze mit variierenden Jahren und Abstinenzobjekten bekommt man mit schöner Regelmäßigkeit zu lesen, wenn man nur zufällig eine beliebige Tageszeitung oder Illustrierte aufschlägt. Die erste Reaktion des Lesers wird wohl sein, solche Aussagen auf sich selbst anzuwenden und, sei’s, daß man Raucher, sei’s Trinker, Fleischesser, Milchtrinker oder ein anderen Formen der Sünde Verfallener sei, sich zu fragen, ob man damit rechnen müsse, fünf Jahre eher aus diesem irdschen Jammertal abtreten zu dürfen oder fünf Jahre länger in demselben schmachten zu müssen. Prüft man nach diesem ersten panischen Reflex solche Befunde in Ruhe auf ihre Eignung, lebenspraktische Anleitungen aus ihnen zu ziehen, lassen sich ein paar wichtige Punkte festhalten.
Da ist als erstes die Frage, ob kumulativer Verzicht kumulative Wirkungen erziele? Wenn ich also beispielsweise auf Tabak und auf Alkohol verzichte, jeder Verzicht einzeln mein Leben aber schon um fünf Jahre verlängert, darf ich dann erwarten, zehn Jahre länger zu leben als Menschen, die neben dem Rauchen auch noch saufen? Und wenn ich dann noch das Fleisch weglasse, mache ich dann den Deal mit fünfzehn Jahren? Demzufolge müßte ja jemand, der sich von Sojabohnen und Magerquark ernährt, nicht raucht, nicht trinkt, nicht am Straßenverkehr teilnimmt und von den Salzstangen das Salz wegkratzt, mindestens hundert Jahre alt werden.
Die zweite Frage, die hier kritisch zu stellen wäre, lautet: Was ist das für ein Leben, das ich so gestalte, daß es fünf Jahre länger dauert als ein vergleichbares ohne besonderen Verzicht? Nicht trinken, das bedeutet, Faßbrause statt Weizen nach der Wanderung, Apfelschorle statt Champagner nach einer bestandenen Prüfung, Kinderpunsch statt Grog, wenn man an einem eisigen Winterabend nach Hause kommt; und zur besseren Verdauung gäbe es nach dem Gänsebraten keinen Schnaps sondern Kamillentee. (Was es zum Gänsebraten gibt, wage ich nicht zu vermuten.) Verständlich, wenn dann einer angesichts solch trauriger Verhältnisse konsequenterweise auch noch die Gans durch Tofu ersetzt. „Nun war dieser brave Lehrer / Von dem Tobak ein Verehrer/, Was man ohne alle Frage / Nach des Tages Müh und Plage / Einem guten, alten Mann / Auch von Herzen gönnen kann.“ Wilhelm Buschs Zeitgenossen, die noch nichts von den vermeintlich verheerenden Folgen des Rauchens ahnten, waren in dieser Ahnungslosigkeit besser dran als wir, denn sie wußten in fröhlicher Unschuld zu genießen, was uns in unserer griesgrämigen Erkenntnis für immer verwehrt ist. Oder nicht? Denn wenn ich mich also dieser Genüsse enthalte, dann darf ich, wenn ich mich als Durchschnittsmensch erweise, fünf Jahre länger Mineralwasser statt Champagner trinken und statt zur Feierabendpfeife zum Kaugummi greifen und dabei kopfschüttelnd auf die fünf Jahre jüngeren Trinker und Raucher herunterschauen, die es sich, im Bewußtsein, daß wir alle (egal wie wir gelebt haben) einst den „schwarzen Cocytos schauen“* müssen, genußvoll über die Stränge schlagen. Die Frage ist, wer hier wen beneiden darf.
Und wer sagt, daß ich Glück habe und die fünf errungenen zusätzlichen Durchschnittsjahre bei bester geistiger und körperlicher Gesundheit zubringe? Abgesehen davon, daß vielleicht ein Verkehrsunfall oder ein Blitzschlag meinem asketischen Leben ein Ende setzt, bevor ich den Lohn der Enthaltsamkeit, jene verheißungsvollen fünf Extrajahre, genießen kann: Möglicherweise ereilt mich mit achtzig ein Schlaganfall, den ich, gestählt durch Alkohol- und Tabakabstinenz, knapp überlebe – um dann noch lange fünf Jahre mit einem Lätzchen um den Hals dahinzuvegetieren und mich daran zu freuen, daß ich im Gegensatz zu meinem trinkfesten, qualmenden Zeitgenossen dem Schlaganfall nicht erlegen bin.
Auch gilt, daß für jede Todesart, die ich mit Disziplin und Verzicht vermeide, zahllose andere in die Bresche springen werden, um mir dereinst den Garaus zu machen. Denn niemand stirbt bei bester Gesundheit, es sei denn, er käme gewaltsam ums Leben. Vermeide ich den Lungenkrebs, indem ich nicht rauche, entwickle ich vielleicht einen Darmkrebs, weil ich eben doch wieder Rindfleisch essen mußte; und ist meine Leber gesund und rosig vom vielen Mineralwasser – die Niere ist es vielleicht nicht, und vielleicht schaut Freund Hein schon lächelnd dem Hautkrebs beim Wachsen zu, den ich mir wegen zuviel Sports unter wolkenlosem Himmel zugezogen habe. Eßt kein Fleisch, eßt keinen Zucker, vermeidet Fett, und wo wir schon mal dabei sind, zuviel Brot und Butter ist sicher nicht gesund. Zuviel Stuhlgang und Blasenentleerung sollte man auch vermeiden, was da alles schiefgehen kann. Am besten, man vermeidet noch das Atmen, man weiß ja nicht, was man sich dadurch alles in die Alveolen saugt. Man sieht, die Abstinenz läßt sich jederzeit noch ein bißchen weitertreiben, bis das Leben zwar richtig lang, dafür aber auch richtig fad geworden ist. Allenfalls die Ermunterung, nur recht oft Sex zu haben, weil eine ausgelastete Prostata weniger leicht entartet, mag dabei die trüben Aussichten etwas aufhellen. Wie die entsprechende Empfehlung an Frauen lautet, weiß ich nicht.
Der wichtigste Einwand gegen lebensverlängernden Verzicht von diesem und jenem Genuß ist aber die Überlegung: Welche fünf Jahre bekommt denn der Abstinenzler gegenüber dem verqualmten, champagnertrunkenen Fleischesser geschenkt? Doch wohl nicht die Jahre, mit denen am meisten anzufangen wäre, etwa die Jahre zwischen zwanzig und fünfundzwanzig. Geschenkt bekommt man immer den Rest, den Bodensatz, den letzten Tropfen. Geschenkt bekommt man ein Greisendasein zwischen achtzig und fünfundachtzig. Manch einer mag dann vor seinem Mineralwasser sitzend bedauern, die Jahre zwischen zwanzig und fünfundzwanzig nicht verschwenderisch verfeiert zu haben. Ob einen der Gedanke an den vielen Sex, den man der Prostata zuliebe hatte, dann noch wärmt, ist fraglich.
*visendus ater flumine languido
Cocytos errans …
(Horaz, c. 2,14)
[Currently playing: Gustav Mahler, Trinklied vom Jammer der Erde]
Wild
Etwa nach einer Stunde, auf dem Weg, der im Kottenforst die Schmale mit der Breiten Allee verbindet, fällt mir wieder ein, was von den mannigfaltigen Träumen der vergangenen Nacht nicht sofort beim Erwachen noch präsent und dann bei der täglichen Morgenmail formulierbar gewesen ist. Möglich ist es, daß mir die Passage einer Stelle im Wald, wo ich einmal in eine ganze Rotte unversehens hineingeriet, jene Traumrotte schwimmender Wildschweine wieder aufrief: eine Menge, ein Gewimmel fast, rotbrauner Leiber, die ich von oben sah, nachdem ich sie zuerst gehört, dann mühsam wie gegen etwas die Sicht Behinderndes ausfindig gemacht hatte. Sie schwammen vor einem steilen Ufer, vielleicht einer Mauer, von dessen Krone ich hinabschaute. Das Fell klebte ihnen naß am Körper, doch schien sie das Wasser nicht im mindesten zu beunruhigen, auch wenn dieses sichtlich nicht ihr Lieblingselement war und der Traum da immerhin einer zoologischen Richtigkeit zollte. Ich erinnere mich an ein Gefühl von Erregung („Da! Da sind sie!“), einer Art von Ehrfurcht verwandt, ohne schon Furcht zu sein. Es war dem Gefühl sehr ähnlich, das ich empfand, als ich neulich in einem ganz anderen Wald warnend, man kann es nicht anders sagen: angegrunzt wurde und ich nach angestrengtem Spähen schließlich das kurze Aufblitzen der schweren Leiber etwa hundert Meter hangauf bemerkte. Dazwischen das Gewusel von Frischlingen, bevor die Tiere wie ein Spuk wieder verschwanden. Tierbegegnungen, scheint mir, eignen sich gut dazu, in Träumen wieder aufgenommen zu werden.
[Currently Playing: Franz Strauss, Hornkonzert op. 8]
Solstitium (und noch ein Bewunderer)
Nacht kommt mit Fahnen und Schiffen, die taglichten Namen des Stromes
hat sie dem spiegelnden Wind unter die Bilder gekehrt.
Hinter den Rändern von Wolken verbergen sich Bänder und Bögen.
Buchten fallen ins Land, wo es im Schilf sich verlief.
Schiffsrumpf, dem schwindenden Tag in die dämmrige Falte geschmuggelt,
taucht als des greisen Gotts Tempel am Hang wieder auf.
Weiden nehmen den Strom und führen in fort zu den Schatten.
Mondlicht, gekeltert aus den Fels, schenkt ihn den Rosen zurück.
Nicht mag ich satt mich sehn an den Staffeleien der Nymphen:
an ihrer Brüste Schwung mal ich mich kindischen Greis.
Mitnotiert 19.6.2018
Das große Springkraut und das Klebkraut machen sich Kreuze im Kalender. Asseln bevölkern das Gedächtnis der Steine.
Ins Licht gerollt wie Zirkustrommeln: Schnitte, Stümpfe, Stämme, blanke Flächen. Die Sonne sieht mich, wie ich über die Lichtung strebe. In Tiegeln hört man das Harz kochen.
Fahle Dochte ohne Wachs, fern von ihrer Flamme. Heimliches Glühen im Sumpf, schwarz gehandelte Ware. Trunkener Rost von Ameisen. Spiegel klemmen sich zwischen die Fingerspitzen. Der Wald nagt an den Wegen wie an wieder ausgegrabenen Knochen.
Zwei Autos, die gleich verdurstenden Tieren über den Waldweg holpern. In den Windschutzscheiben heben die Spiegelungen verzweifelte Hände empor. Ein verendetes Fahrzeug hängt über einem Graben. Erste Fliegen senken ihren Rüssel in den noch warmen Lack.
Eingetieft in das Siegelwachs der morgendlich weichen Schatten ruht in sich das Muster des Buchfinken. Hell und dunkel, federwechselnd, das weise ende einer langen Geschichte, ist er mir immer schon begegnet. Sein Blick, mit dem er mich erspäht hat, pflanzt sich durch alle Erinnerung fort und heftet die Begegnung fest im Strom der Zeit.
Wenn am Tümpel mein Schatten ins Naß fällt und sich zum Schlaf der Libellen legt, bin ich der eilende Zeiger einer Sonnenuhr, der dem Morgen davonflieht und keine Stunde mitnimmt, den Wald nicht leichter macht um auch nur einen Augenblick.
Untergänge (2)
Die Dachterrasse ist untergegangen. Wo gestern noch Vögel herumhuschten, Bienen summten, Fliegen durchs Sonnenlicht schossen, blickt jetzt das Wohnzimmerfenster auf den ebenen, bis zum Rand der Sichtweite, die höchstens zehn Meter beträgt, von hügelartigen Unebenheiten gewellten, wie mit abgelagerter Asche bedeckten Grund eines Meeres, in dessen träger Strömung graue, ins Milchigweiße spielende Partikel und Trübstoffe umhertreiben oder wie Flocken niederzugleiten scheinen. Gäbe es die Blitze nicht, läge die Landschaft in vollkommenem Dunkel, in dem dumpfes Wellengetön, das Grollen einer fernen Brandung, das Knistern ablaufender Gischt aus gewaltiger Höhe herabdringen. Doch ab und zu zerreißt die Dunkelheit wie ein Tuch. Scheinwerfer streifen immer wieder den Grund, tauchen das Terrain sekundenlang in magnesiumblaues Licht und erlöschen wieder, bevor die Schemen jenseits des Rands der Terrasse in die Erkennbarkeit getreten wären. Etwas wie Felsen scheint dort draußen zu liegen; wenn das Licht dort einfällt, sieht man die Schatten von Wülsten, Bändern und pilzförmigen Ausstülpungen des Meeresbodens. Vielleicht sind es Felsen, vielleicht Wracks, vielleicht ins Riesenhafte der Tiefsee hinein gesteigerte Ausgaben von Korallen oder Schwämmen oder anderer, bislang nicht klassifizierter Lebewesen. Etwas Bürstenartiges scheint auf ihnen zu hocken und das Suspensat der Trübstoffe zu durchkämmen. Aber bevor die Dinge selbst sich von ihrem ringartig um sie gelagerten, tintenschwarzen Schatten lösen und erkennbar werden, ist das Licht schon wieder erloschen. Allenfalls als Nachbild auf der Netzhaut bietet sich zur Spekulation an, was in unmittelbarer Nähe des Fensters als schlanke Aufbauten oder Säulen blitzartig aus der Folie der Finsternis stürzt und wieder darin verschwindet. Von Algen- und Muschelbewuchs verkrustet, läßt sich die einstige Funktion von Schornsteinen und Satellitenschüsseln nur noch vermuten. Der Scheinwerfer flackert, der Kegel tanzt, die Schatten krümmen sich, es scheint das Licht aus mehreren Quellen zu stammen. Plötzlich erklingt ganz in der Nähe etwas wie das Rutschen und Schürfen von Kies. Und während die Brandung verstummt, ist es, als ob über die Lichtkegel eine massive Braue fiele. Ein oberer Grund scheint sich in einer trägen Drehung herabzuwälzen, der den Raum bis zum unteren Grund rapide zum Verschwinden bringt. Für einen kurzen Moment, bis das Licht ganz ausgeht, erhellt der Blitz ein Stück pockennarbige Oberfläche, leuchtet eine Kaskade berstenden Felsens oder Mauerwerks wie eine Lilie aus Schnee auf, ehe sich vollkommene Finsternis niedersenkt und diese letzte Bewegung mit sich nimmt.
Fremd bin ich eingezogen
The way my heart flutters when you look at me lesen genau in dem Moment, wo das eigene Herz wieder einmal stolpert, leider nur aus medizinischen Gründen.
Und wie ein Kommentar meiner Träume („Haben wir’s dir nicht immer schon gesagt?“) steht das Bücherregal am Fußende des Gästebetts, als ich mich mühsam erhebe. Fremde Türen, steif wie Katzenklappen, versperren den Weg zur Toilette. Die Wohnung riecht nach fremdem Revier. Vier dunkle Türen im Flur, von denen eine besonders dunkel ist. Man kann sie nicht verfehlen, und wenn man sich noch so Mühe gibt.
Tags zuvor, du in eurer Küche: Als trügst du eine andere Frisur und Kleider, die ich noch nie an dir gesehen habe. Dein Lachen, dein Gesicht so fremd wie die Stimme eines Menschen, der plötzlich Dialekt spricht, obwohl man nie etwas anderes als Hochdeutsch von ihm gehört hat. Freundlich, warm, gemütlich und sanft verstörend. Eine unbeabsichtigte, arglose Korrektur: So bin ich auch. Das bin auch ich.
Keine Phantasien, keine Träume suchen mich heim, kein luzides Glückserschrecken öffnet die Zimmertür im Halbschlaf. Die Nacht bleibt aus, eine Stunde stellt sich nicht ein. Die Luft ist eine Ausstülpung, wie ein Handschuh ohne Hand. Nur Leere und Warten und auf links gedrehter Schlummer von Straßenlaternen. Die Badezimmertür schließt nur mit Druck, es reicht ein Nachmittag in eurer Wohnung, um es zu lernen. Die andere Tür, links davon, hat ihre Klinke eingezogen und bleibt stumm, bleibt eine Nacht lang stumm, streng wie ein Wächter ohne Nase, und so hoch, daß das Schlüsselloch oben im Dunkel verschwindet wie ein Einbrecher am Seil. Draußen, in den Straßenschluchten, zirpen die kleinen Stimmen einer großen Nacht, wie Insekten im Pelz eines gewaltigen, schlafenden Tieres. Meine Uhr, mein Buch, meine Brille im Kreis des Leselämpchens. Gerettete Dinge, unersetzliche Koordinaten, mein ganzer Besitz. Ich kann weder schlafen noch lesen.
Ich erwache, wie einem ein unterbrochener Gedanke wieder einfällt, und es ist, als hätte ich gar nicht geschlafen. Unberührt steht ein Glas Wasser auf dem Nachttisch. Ausgestelltes, nicht abgeholtes Orakel. Die Bücher haben mich im Dunkel die ganze Zeit beobachtet, meinen Schlaf und meine Schlaflosigkeit; wenn ich weg bin, werden sie dir von mir erzählen. Ich weiß nicht, ob ich das hoffen oder fürchten soll. Durch den Vorhang atmet ein Morgen, der wieder mir gehört.
Die Bücher in diesem Zimmer, Titel um Titel, kennen dich alle besser als ich.
Und Tage später begreife ich, daß das nicht stimmt, daß es umgekehrt ist: So wie ich dich in eurer Wohnung sah, bist du wirklich, die Fremde bist du nicht dort, die Fremde bist du, wenn du bei mir bist und ich dich liebe.
Auf das Pfeifen der ersten Mauersegler mußtest du mich hinweisen, ich hätte es vor lauter Aufregung nicht gehört.
Oder man nehme nur einmal den Berg an Krims und Krams von Favoralia, die nicht nur diese, sondern jede Weltmeisterschaft der Apopudoballie in ihrem Kielwasser noch immer nach sich geschleift hat: Armreifen und Stirnbänder, Halstücher, Drei-Farben-Schminke, Fähnchen, Flaggen, Wimpel, Autospiegelüberzüge, Banner, Tücher, Poster, Trillerpfeiflein, Ratschen, Blütenkränze, Tröten. Ferner Hüte, Kappen, Sonnenbrillen, künstliche Fingernägel in schwarzrotgold. Nicht zu vergessen die WM-Ausgaben verschiedener Süßwaren- und Snackhersteller, ikosaederförmige Verpackungen, die mit Fruchtgummi gefüllt sind, Fußbällchen aus Schokolade (in schwarz-weißer fünfeckfleckiger Verpackung) und was der originellen Einfälle mehr sind: So gibt es tatsächlich einen Tippspielplan aus Schokolade.
Das alles, vom Armreif bis zur Picknickdecke, vom Hasenohrenstirnreif bis zum Rucksäcklein, ist überwiegend aus Plastik und wird spätestens am 16. Juli auf dem Müll landen, wo es sich zu den Weihnachtsmannbärten, Santa-Claus-Zipfelmützlein, den Plastikosterhasen, den geleerten Einwegadventskalendern und all dem andern überflüssigen Saisonschrott gesellen darf.
Diesen Wahnsinn zu verbieten, das wäre mal eine Aufgabe. Wem das zu schwierig ist, verbietet lieber Ballonhalter und Ohrstäbchen.
(Und wie das Händiegequatsche eines Sitznachbarn in der Straßenbahn noch viel mehr nervt, wenn der Quatschende sich das Schächtelchen vors Maul hält als spräche er mit einer Knäckebrotscheibe.
Reinbeißen, denke ich, einfach mal reinbeißen. Dann ist Ruhe.)
Mal was Schönes
Vier Eier hartkochen, abkühlen lassen. Das Eigelb mit etwas Öl und 200g Crème fraîche im Mixer glattrühren, mit Essig, Zucker, Salz und Pfeffer abschmecken. Eiweiß kleinhacken, daruntermischen.
Spargel in Salzwasser bißfest kochen, abschrecken. Sauce drübergießen. Dazu Salzkartoffeln und zur Begleitung einen gut gekühlten, nicht zu trockenen Müller-Thurgau.
Ich weiß manchmal gar nicht so genau, wogegen sich dieser flammende Zorn richtet. Ich knalle Türen, ich werfe mit Besteck um mich, ich pfeffere eine Zeitung an die Wand, ich brülle in den Backofen. Ist es der Nachbar, wenn der sich wieder mit seinem Diesel anschleicht und im Zentimetertempo in die Hofeinfahrt ruckelt? Ist es die Waschmaschine der Vermieter im Keller, die ihr Tatütata durchs Treppenhaus plärrt, mit dem sie anzuzeigen beabsichtigt, daß der Waschgang beendet sei? Ist es das Stocken des Cursors im Mailprogramm, weil dieses wieder mit Kram im Hintergrund beschäftigt ist, der im Moment keine Priorität für mich hat? Oder das Fähnchen in der Taskleiste, mit der mir mein Betriebssystem nervtötend hartnäckig zu verstehen gibt, daß Aktualisierungen verfügbar sind? Will ich das überhaupt wissen, unaufgefordert? Will ich das haben? Bin ich unterzuckert? Ist es die Hitze? Ist es die Stumpfheit der Menschen, die auf ihr orakelndes Schächtelchen starren und denken (wenn sie überhaupt denken), der Klimawandel gehe nur die Bewohner Bangladeschs was an? Ist es die Art, wie mein Bett knarzt oder mein Kessel pfeift? Bin ich es am Ende noch selbst, den ich einfach nicht mehr ertrage?
Oder ist es ganz allgemein, weil die Dinge sich behaupten und da sind und nicht daran denken, mir entgegenzukommen oder wenigstens schamvoll zugrunde zu gehen? Diese dumpfe Hartnäckigkeit in allem, diese Trägheit, mit der sich alles behauptet, dieser Widerstand, dieser Unwille, sich ändern oder wenigstens abschaffen zu lassen? Das quälende Nicht-voran-Kommen der Welt?
Ich möchte mehr Sex und mehr Text. Ich möchte mehr Wein und mehr Küsse und mehr Spargel und mehr verrückte Geschichten und mehr Symphonien und viel mehr trunkene Sonnenaufgänge. Ich möchte mehr Briefe und mehr Papier, ich möchte mehr Zeit und mehr Gedanken, mehr Luft, mehr atmen, mehr Horizont. Ich möchte mehr Wasser. Und tieferes. Und kälteres. Ich möchte mehr Schlaf und mehr Kerzen.
Ich möchte nicht noch mehr Aktualisierungen. Ich möchte nicht noch mehr Bahnhof. Ich möchte keine Kommunikation mehr, sondern nur noch Gespräche. Ich will keine Werbung mehr, nur noch Dichtung, wer das nicht kann oder mag, hat mir eh nichts Relevantes mitzuteilen. Lärm will ich nicht mehr und Massen nicht mehr (außer Massen von Wein und Spargel, und oh, Schinken natürlich). Ich will keine Naturschutzgebiete sondern Natur. Scheinzwänge will ich nicht mehr und nicht mehr gegängelt werden. Ich will nicht mehr nach meiner Paybackkarte gefragt werden, oder ob ich das Brot geschnitten haben will. Ich will keine Punkte sammeln. Ich will keine Supermärkte mehr, sondern einkaufen gehen. Ich will nicht noch mehr Autos, nicht noch mehr Straßen, nicht noch mehr Parkhäuser, und auch nicht mehr Wachstum, keine neue Bioformel, keine Zahnpasta mit Maxibrush-X-o-Dent-Plaquentferner, ich will keine Produkte sondern schöne Dinge, ich will weder Global- noch Digital- noch sonst welche -isierungen, und Fortschritt, Fortschritt will ich schon gar keinen.
Ich möchte meine Ruhe und ansonsten, daß mal endlich, endlich, endlich irgendwas gut wird, statt immer nur besser und besser.
Sinn und Verwirrung (2)
Beim Lesen von Unterleuten über Komplexität nachgedacht, über die Komplexität der Nichtlinearität. Es ist ähnlich wie bei City on Fire, das ich mit einem ähnlichen Unbehagen las. Das Staunen des Heimwerkers vor dem millimetergenauen Paßwerk eines Profis. Die winkelgetreue Abschrägung eines Pfostens, der später zu einem schrägen Dach passen muß. Es ist wie bei einem in sich verschlungenen Ornament, bei dem man genau dort, wo viel später einmal ein Strang den andern überlappen soll, beim Zeichnen eine Lücke eingeplant werden muß. Und nicht nur das: Wo sich die Stränge auch noch verknoten, verzwirnen, zugleich vor- und hintereinander verlaufen, ein Gewebe bilden, geplant, doch so, daß sich der geplante Eindruck von planlosem Durcheinander einstellt, einem Durcheinander, das am Ende in Ordnung zurückgeführt wird. Ich rätsele darüber, wie sich Linearität durchbrechen läßt. Ich finde keine Lösung. Henne und Ei: Man kann nirgendwo anfangen, ohne daß alles schon da ist.