(Man hat mir Nougat aus der Provence mitgebracht. Etwa zwanzig 1 x 0,5 x 0,5 cm messende Nougatquaderchen. Jedes Quaderchen einzeln in Plastik verpackt, das ganze von einem weiteren Plastiktütchen umhüllt und mit einem Plastikklämmerchen verschlossen.

Die EU, heißt es, plant ein Verbot von Ohrstäbchen aus Kunststoff.

Aber was weiß ich schon.)

(Der Nachbar hat auf seiner Terrasse eine Sitzvorrichtung mit einem Regenschutz überworfen, und das Ding steht so da, daß ich jetzt vom Bett aus exakt keine Sicht mehr auf den Himmel habe. Und die große, in der Mauerkrone wurzelnde Weide, deren drei Triebe zuletzt jeweils gut einen Meter lang geworden waren, ist weg, abgeschnitten bis zur Wurzel. Den Wurzelstock allerdings können sie nicht beseitigen, ohne die Mauer aufzubrechen, was mich mit grimmiger Genugtuung erfüllt. Der Stumpf treibt bestimmt wieder aus.)

Sinn und Verwirrung (1)

Als könnte man sich entäußern, wenn man schreibt. Oder malt. Oder Musik komponiert. Als würde man ein Stück von sich selbst erschaffen. In einem Vorgang der Selbstvergewisserung, in einem Vorgang des Überlebens, wie Atemholen. Nicht schaffen zu können ist das Zerfallen des Selbst, seine Ab-Schaffung, seine Auflösung in die Banalität der kontingenten Fakten. Schreiben ist ein Ankämpfen gegen das Selbstverständliche und Zufällige. Schreiben ist das Gegenteil von Achselzucken, es bedeutet, alles ernst zu nehmen, was ist und darüber hinaus noch mehr das, was nicht ist. Es bedeutet, eine Absicht in die Welt zu setzen. Kunst ist eben darum nicht kontingent, weil sie dem Faktum, dem, was sowieso schon ist, etwas entgegenzusetzen hat, das ihr selbst, aber nicht dem Faktum innewohnt, etwas, das nicht sowieso schon da ist: Sinn.

Keine Stirnlampe mehr nötig. Den Kaffee im Morgengrauen, das ARD-Nachkonzert spielt ein Stück von Händel, bis ich mit Zähneputzen und Umziehen fertig bin, ist es hell. Hell und kalt und grün, und die noch stillen Straßen münden fern in den schon anschwellenden Strom des Morgens. Die Bäume schweben über dunklem Spiegel, wie nächtliche Schwimmer, die sich gerade mit dem Handtuch durchs Haar gegangen sind.

Müde von Träumen, in denen, immer öfter in der letzten Zeit, eine Zukunft verhandelt wird wie in einem Nebenraum, wo Großmächte tagen. Ich habe nichts zu sagen, ich muß nicht einmal mehr die Kapitulation unterzeichnen.

Der Wald als Fluchtraum. Manchmal dauert es fünf Kilometer, bis ich wieder frei atmen kann, sich die Fäuste lösen, ich den imaginären Schlüsselbund, der mir in die Handfläche schneidet, in den hungrigen Farn fallen lasse.

Später die Sonne, hinter Wimpern, Spinnenweben und Schweiß. Im Gegenlicht die geduckten Wege. Am Rand der Ebene werfen die Hügel mit Wolken.

Was für die Lebensführung insgesamt gilt, muß in verschärfter Form fürs Schreiben (und für alle anderen Formen künstlerischen Ausdrucks) gelten. Für das originelle Kunstwerk gibt es keinen Maßstab, denn auf einem Maßstab sind nur die Einheiten des Bekannten verzeichnet, die Dimensionen einer Qualität, deren Voraussetzungen bereits etabliert sind, deren Erfüllung wiederum zwar handwerkliches Geschick, jedoch keine Kreativität erfordert. Wo aber kein Maßstab, da kein Maß: Kreativität ist das Maßlose, eine Landschaft, die erst durch die Epigonen kartographiert werden wird.

Das Narrativ des eigenen Lebens nicht unter den verfügbaren, ausgeprägten, vorgeformten Modeln zu finden, aus denen heraus es sich endlich verstehen, und mittels dieses Verständnisses auch artikulieren und weiterbilden ließe, indem es in die Form des Narrativs einfach (was keinesfalls immer einfach ist) hineinwüchse: Das ist der strengste Individualismus: das eigene Model erst erschaffen zu müssen. Strenger Individualismus bedeutet, sich nach keinem fremden Maß beurteilen lassen zu wollen. Und er bedeutet auch, sich nach keinem fremden Maß beurteilen lassen zu können. Im Grunde weiß der Individualist nie, wer er ist, bis er es gewesen ist.

DSGVO

Mich als nicht-kommerziellen, fremdgehosteten Blogger für die Datenerhebung meines Hosting-Services in die Verantwortung zu nehmen ist so, als wäre ich persönlich haftbar für die Brandschutzmängel in einem Haus, in dem ich eine Wohnung angemietet habe. Oder für die Mißachtung der Hygienevorschriften in einem Hotel, in dem ich eine Nacht verbringe. Und es ist so, als hätte ich die Pflicht, mich über eventuelle Brandschutzmängel oder Hygienenachlässigkeiten vorab zu informieren und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten, auch wenn sie jenseits meiner technischen Möglichkeiten liegen.

(Ich muß ja auch nicht persönlich für einen Datenleak bei meinem Internet-Provider geradestehen, nur weil ich dessen Dienste im Sinne des Vertrags für ein Telephonat genutzt habe. Aber vielleicht kommt das ja auch noch.)

Kühl ist es an diesem ersten Mai und gar nicht maiartig, eher so wie maiandachtartig. Die Wege strecken sich menschenleer, Wind ist das einzige Geräusch. Endlich. Der Wald hat den Lärm der Maifeiern, die elektrisch wabernden Musikschwaden, das Grölen Betrunkener, das schrille Lachen halbstarker Mädchen, so gründlich vergessen wie nie gehört, frischer Westwind streift über die Alleen, Böen mit Seegeschmack lassen die Bäume rauschen, und hinter dem Rauschen ist noch mehr Rauschen und noch mehr Rauschen, und dahinter ist nichts.

Das innere Reden und das äußere Schweigen. Du schweigst. Seit Wochen schweigst du, auch wenn es nur ein Tag gewesen ist, bislang. Also muß ich reden. Und das tu ich. Ich nehme kein Blatt vor den Mund. Ich beschimpfe dich und verleugne dich, ich überlade dich mit Vorwürfen und Anklagen, ich laufe durch den Wind und fuchtele mit den Händen, schneide Grenzen in die Luft, grenze mich ab von dir, grenze mich ab aus dieser Geschichte. Und fürchte mich. Und schäume vor Wut. In mein Leben bist du hereingeschneit, nun verschwindest du vielleicht wieder daraus, und beide Male habe ich nur zusehen können. Ich weiß, daß das nicht stimmt. aber es tut gut, es so zu sehen, es so auszusprechen und hinauszukeuchen, während ich übers Feld renne, während irgendwo wütende Gänse antworten, während zu Hause dein Schweigen hockt und auf mich wartet.

Zu gehen, denke ich, das wäre mein Part gewesen, das steht niemandem zu außer mir.

Und auch das ist falsch. Aber oh, wie herrlich der Ingrimm ist, mit dem ich das denke.

Überall Spuren der Waldarbeit, Stapel trocknender Baumstämme, die walzenförmigen Abdrücke von Traktorreifen, abgeschabte Rindenstücke. Aber keine Fahrzeuge weit und breit, heute ist ja Feiertag. Am niedrigen Gewölk hobelt immer wieder die Sonne, eine tote Hornisse leuchtet auf dem Weg wie die Scherben eines zertretenen Bonbons, die Pferdeäpfel frösteln in der Brise wie evakuierte Inseln. Wasserlassen am Wegesrand, Blick zur Rodung, Blick in Laubflächen, in verwickelte, komplizierte Ränder, die sich ineinander verhaken und verhäkeln, bis es ein Wald ist. Ich lausche nach dem Geräusch unerreichbar langsamen Grüns. Ich nehme meine Zeit in Besitz, denke ich. Hier bin ich zu Hause, hier kenne ich mich aus, hier kann ich beinahe verschwinden, bis ich mich selbst nicht mehr finde. Bis ich mich am eigenen Fuß hinter einem Holzstoß hervorziehen muß.

Kein Regen, in Fetzen gerissenes Licht, abgewetzte Ränder, die Luft hat eine körnige Substanz. Der Wind schmeckt nach Übermorgen. Im Unterholz rascheln Rehe. Alles wird wieder gut, denke ich, und ich denke, Zeit, wieder im Wald zu übernachten, und die Böen rauschen, und hinter Rauschen und Rauschen ist nichts.